Ossowski, Leonie Weckels Angst

PIPER

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ISBN 978-3-492-97261-1

Juni 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Piper Verlag GmbH, München 1974

Die 1. Auflage erschien unter dem Titel »Mannheimer Erzählungen«

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Die Metzgerlehre

Ein Schwein wurde geschlachtet. Es war Fietschers erster Arbeitstag, bisher hatte er noch nichts zu tun. Er sah nur das Schwein an und dachte darüber nach, wie es wohl sterben würde.

Fietscher hatte nie Metzger werden wollen. Er wollte nicht schlachten, nicht Fleisch schneiden, keine Wurst machen und nicht im Blut rühren.

Er wollte zur See fahren und das hatte man ihm verboten. Was also dann? Genau das wußte er nicht. Trotz vieler Vorschläge hatte er sich für nichts anderes als für das Aufdemwasserherumfahren entscheiden können. Trotzdem sagte der Vormund: Metzger. Jeder Widerspruch blieb sinnlos.

Also das Schwein. Es lief herum und quiekte und war groß und fett. Ein schönes Schwein, von dem man lange essen konnte, sagte der Bauer, während die Bäuerin Eimer und Schüsseln für das Blut zurechtstellte. Das Schwein lief hin und her. Nicht sehr weit, denn es war am Hinterbein an einen Baum gebunden und sah Fietscher unter rosa Wimpern an.

Steh nicht so rum, sagte der Metzger, dem – wie den meisten Metzgern – ein Finger von den Händen fehlte, hol das Schießeisen.

Fietscher lief zum Auto und kam unverrichteter Dinge zurück. Er hatte das Schießeisen in der Metzgerei liegen gelassen. Da fiel dem Metzger ein gutes Mittel gegen Fietschers Vergeßlichkeit ein.

Fietscher sollte jetzt das Schwein selber totschlagen. Die Bäuerin war dagegen, hatte das Schwein ein Jahr gefüttert und eine Beziehung zu ihm gewonnen, der Bauer nicht. Fietscher wurde blaß, und es würgte ihn im Hals. Das Schwein quiekte, zwinkerte und spürte Angst. Das sah Fietscher ihm an.

Ich kann nicht, sagte er.

Der Metzger war anderer Meinung, drückte ihm eine Axt in die Hand, stand mit einem großen Vorschlaghammer neben ihm, bereit, den zweiten Schlag zu führen und schon im vorhinein Fietscher nichts zutrauend.

Also los!

Ich kann nicht.

Da bekam Fietscher einen Schlag, nicht doll und vorerst nur ins Genick, aber er stolperte, fiel vorneüber auf das Schwein, umarmte es, um nicht in den Dreck zu rutschen, und sah sich Auge in Auge mit ihm.

Alle lachten: die Bäuerin, der Bauer, der Metzger.

Los!

Fietscher stand auf und wußte Bescheid. Auch das Schwein wußte wohl Bescheid, quiekte jedenfalls nicht mehr, zeigte Vertrauen und stand ganz still.

Da schlug Fietscher mit dem verkehrten Ende der Axt zu.

Es war ein großartiger Schlag. Das Schwein fiel gleich um.

Der Metzger brauchte nicht zum Nachschlag auszuholen. Fietschers Schlag hatte genügt. Hohl und dumpf dröhnte er auf dem Schweineschädel, brummte noch nach und hinterließ keine Spur. Das Schwein hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, die Augen zuzumachen, so gut saß der Schlag.

Der Metzger war sehr zufrieden, warf den Hammer weg und stach das Tier ab. Die Bäuerin holte die Schüssel für das Blut, der Bauer das Wasser für den Trog. Alles ging wie am Schnürchen.

Nur in Fietschers Ohren brummte der Schlag und fing dort ein Getöse an, so daß er die Zurufe des Metzgers nicht verstand!

Weiß der Himmel wie lange er nutzlos herumgestanden oder auch diesen oder jenen Handgriff gemacht hatte.

Plötzlich drückte ihm der Metzger den Kopf des Schweines in die Hand. Trag ihn in die Küche!

Fietscher hielt den Schweinekopf an den Ohren. Die offenen Augen waren auf ihn gerichtet. Immer noch läppisch vertrauensselig sah das tote Vieh ihn an.

Da rannte er los. Nicht in die Küche, sondern am Haus vorbei, herunter zum Neckar bis zur Brücke, unter der ein Kahn mit Koks durchfuhr. Fietscher ließ den Schweinekopf fallen, mitten auf den Koks, wo er still und rosa liegen blieb und nun mit offenen Augen in aller Ruhe bis Stuttgart fahren würde.

Und endlich hörte das Brummen vom Schlag in Fietschers Ohren auf. Er ging zurück zum Metzger, steckte ohne Mucken und Tränen gewaltige Prügel ein, ohne eine Erklärung für sein Handeln abzugeben. Eine Zufriedenheit hatte ihn mit dem Davonfahren des Schweinekopfes auf dem Schiff erfüllt, die ihm niemand nehmen konnte.

Das Gespräch

Der Hobel ist eine Kneipe. Im Hobel sitzen eine Menge Typen, die in anderen Kneipen nicht sitzen. Warum sie gerade im Hobel sitzen, das wissen sie nicht.

Vor der Kneipe steht Herr Fuchs.

Als einer der Typen vom Klo kommt, sieht er Herrn Fuchs vor dem Hobel stehen.

He, Hamburger, sagt der Typ, der Fuchs steht vorm Hobel. Der Hamburger – der Hamburger heißt, weil er mal in Hamburg war – verzieht das Gesicht und lacht.

Vor dem Hobel scheint Herrn Fuchs die Sonne ins Kreuz. Er schwitzt und knöpft sich die Jacke auf. Er kann sich nicht entschließen, in den Hobel zu gehen, obwohl er weiß, daß seine Unschlüssigkeit keinen guten Eindruck macht.

Die Typen im Hobel kennen alle Herrn Fuchs und reden jetzt über ihn.

Wenn’s der Hamburger will, sagt einer, mach ich den Fuchs so kaputt, daß der nie wieder in den Hobel kommt.

Aber der Hamburger will das nicht, und die anderen haben im Augenblick mit Herrn Fuchs nichts zu schaffen.

Der geht von allein kaputt, sagt der Hamburger und sieht auf die Tür, durch die jetzt Herr Fuchs den Hobel betritt.

Guten Tag!

Guten Tag!

Alle Typen sehen Herrn Fuchs an, aber nicht lange. Nur der Hamburger zeigt Ausdauer. Alles klar, Herr Fuchs? fragte er.

Herr Fuchs nickt und will sich an den Tisch setzen.

Besetzt, sagt ein Typ. Herr Fuchs bleibt stehen.

Da kann man nichts machen.

Nein!

Herr Fuchs sieht die Typen der Reihe nach an. Der Hamburger hat die Füße weit ausgestreckt. Auf seiner linken Hand ist eine Spinne mit Netz tätowiert.

Ich würde Sie gerne sprechen, sagt Herr Fuchs.

Na denn los, sagt der Hamburger.

Herr Fuchs schüttelt freundlich den Kopf. Nicht hier, sagt er, ich möchte allein mit Ihnen reden.

Über mich? fragt der Hamburger.

Nein, sagt Herr Fuchs, über mich.

Die Typen sehen Herrn Fuchs zum zweiten Mal an und einer, der Herrn Fuchs unter dem Namen Zopper bekannt ist, klatscht sich auf die Oberschenkel.

Der Fuchs will mit dem Hamburger nicht etwa über den Hamburger reden, sondern über sich selbst – das ist stark!

Maiermann grinst beifällig und rülpst. Vielleicht, sagt er, interessiert sich Herr Fuchs für die Fliege auf dem Hamburger sein Schwanz!

Reden Sie keinen Unsinn, Herr Maiermann, mit so etwas bringen Sie mich nicht in Verlegenheit.

Der Hamburger trinkt sein Bier aus und fragt den Hobelwirt, ob er mit Herrn Fuchs für ein kurzes Gespräch nach hinten gehen dürfe. Der Wirt hat nichts dagegen.

Der Hamburger nickt Herrn Fuchs zu. Von mir aus, sagt er mürrisch, können Sie Ihren Gesang bringen, aber kurz, wenn ich bitten darf, ich hab noch was vor!

Herrn Fuchs fällt der Anfang schwer. Er steht in der Mitte des Raums, während der Hamburger an Gegenständen auf den Regalen herumfummelt. Flaschen, Zeitungen, Bierdeckel und künstliche Blumen.

Auf die Dauer kann ich so nicht mit Ihnen arbeiten, sagt Herr Fuchs. Der Hamburger zeigt kein Interesse. Er liest Plattentitel, drückt ein paar Tasten an einem Tonbandgerät und will allem Anschein nach Musik machen.

Herr Fuchs nimmt einen neuen Anlauf.

Wie stellen Sie sich denn die Sache zwischen uns vor?

Der Hamburger zeigt sich erstaunt. Ich denke, sagt er, und beginnt gewissenhaft eine Batavia zu drehen, Sie wollen über sich sprechen!

Das ist sozusagen dasselbe, antwortet Herr Fuchs. Inzwischen ist mehr Sicherheit in seiner Stimme zu hören. Er steht auch nicht mehr mitten im Raum, sondern nimmt zwischen den hochgestellten Stühlen Platz. Sie sind mir doch scheißegal, grinst der Hamburger, ich habe Sie mir nicht ausgesucht, oder?

Ich Sie mir auch nicht, kontert Herr Fuchs.

Die Antwort ärgert den Hamburger. Immerhin, sagt er, ohne so Typen, wie ich einer bin, können Sie Ihren Job nicht machen.

Und ohne so Typen wie mich – Herr Fuchs drückt sich in die Stuhlbeine zurück, kramt in seiner Hosentasche und wiederholt – ohne so Typen wie mich wandern Sie in den Knast zurück, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Der Hamburger vergißt seine Zigarette. Er starrt Herrn Fuchs ins Gesicht und kommt auf ihn zu. Obwohl der Hamburger sehr gewalttätig aussieht, zeigt Herr Fuchs keine Angst.

Willst du mich vielleicht erpressen? zischt der Hamburger.

Herr Fuchs schüttelt den Kopf. Er will den Hamburger wirklich nicht erpressen.

Aber der glaubt ihm nicht, packt ihn kurz an der Jacke, läßt allerdings gleich wieder los und brüllt: Von mir aus mach ich Endstrafe, die zwei Jahre reiß ich auch noch runter!

Draußen in der Hobelwirtschaft sehen sich Zopper, Maiermann und Littel an. Alle drei haben gehört, was der Hamburger in der Hinterstube gebrüllt hat.

Klingt nicht gut, was der Hamburger da sagt, meint Littel.

Zopper winkt ab, nickt rüber zu dem Typ, der dem Hamburger angeboten hatte, Herrn Fuchs kaputt zu machen, und sagt, daß noch nicht aller Tage abend sei.

Littel beruhigen Zoppers Worte nicht. Im Gegenteil, er hält Zopper für eine Maulhure und glaubt nach wie vor, daß das Gespräch da draußen kein gutes Ende nehmen wird.

Inzwischen ist der Hamburger still geworden. Keiner in der Wirtschaft kann mehr hören, was er und Herr Fuchs jetzt sagen.

Obwohl er den Zeitungsartikel, den Herr Fuchs ihm zuschiebt, wörtlich kennt, liest ihn der Hamburger gründlich durch.

Na und? sagte er schließlich.

Der Mann ist tot, antwortet Herr Fuchs.

Das steht nicht hier!

Gestern ist er im Krankenhaus an seinen Verletzungen gestorben.

Herr Fuchs macht eine Pause. Er weiß ziemlich genau, was der Hamburger jetzt wissen will. Aber dem Hamburger fehlt der Mut für die Frage. Ihm wird heiß und er spürt, wie Herr Fuchs das Hervortreten der Schweißperlen beobachtet. An den Schläfen, der Stirn und unter der Nase.

Ich war’s nicht, wenn Sie das meinen, sagt der Hamburger endlich.

Doch, sagt Herr Fuchs und ist ganz cool dabei, Sie waren das, und ein paar von Ihren Freunden da draußen haben mitgemacht.

Hat er …? Der Hamburger schafft die Frage wiederum nicht, bleibt mitten drin stecken und läßt den Mund offen.

Nein, sagt Herr Fuchs immer noch ganz cool und starrt auf den runden Mund vom Hamburger.

Er hat nichts mehr sagen können, er ist nämlich gar nicht mehr zu Bewußtsein gekommen.

Der Hamburger klappt seinen Mund zu und sieht wieder manierlich aus.

Was wollen Sie dann noch von mir?

Eigentlich nicht viel, sagt Herr Fuchs und beginnt den Hamburger zu duzen, ich will nur wissen, warum du das gemacht hast, verstehst du?

Nein, sagt der Hamburger und versteht es wirklich nicht.

Ich meine – Herr Fuchs läuft auf und ab –, daß es doch jetzt um dich geht. Der Mann, der ist ja tot, dem kann keiner mehr helfen, den kann nichts wieder lebendig machen.

Wenn Sie meinen, daß ich es war, sagt der Hamburger förmlich, haben Sie sich geirrt. Außerdem habe ich keine Zeit und Sie keine Beweise.

Ich gebe zu, ich habe keine.

Herr Fuchs sieht hilflos aus. Fast ist der Hamburger geneigt, abermals zu lachen.

Ist noch was? fragt er.

Herr Fuchs nickt. Sicher ist da noch etwas: Ich wollte Ihnen nämlich sagen, daß ich meinen Job aufgebe.

Was? – Der Hamburger bläst langsam Luft durch seine Backen, und an was für ein Arschloch komm’ ich dann?

Herr Fuchs hebt stumm die Schultern. Er weiß es nicht.

Kommt gar nicht in Frage, sagt der Hamburger, Sie können doch Ihren Job nicht einfach aufgeben!

Warum nicht, sagt Herr Fuchs, zumal Sie ja selbst der Ansicht sind, daß es zwischen Ihnen und mir nichts Gemeinsames gibt, ich aber meinen Job nicht ohne Typen wie Sie ausüben kann.

Und was soll ich machen, wenn ich an so einen Scheißkerl komme, der mir keine Luft läßt und mir alles vorschreibt?

Das weiß ich nicht, sagt Herr Fuchs, das ist dann auch nicht mehr mein Bier.

Der Hamburger dreht sich eine neue Zigarette. Die tätowierte Spinne auf seiner Hand zittert.

Bin ich denn überhaupt für Sie wer? War ich denn für den wer, der jetzt angeblich krepiert sein soll?

Was Sie für die anderen waren oder nicht, kann ich nicht beurteilen, sagt Herr Fuchs, aber ich weiß, was Sie für mich sind.

Was?

Na eben der Hamburger!

Das ist nicht viel für Sie, oder?

Eigentlich gar nichts.

Eine Stunde später saßen Herr Fuchs und der Hamburger immer noch in der Hinterstube des Hobelwirts. Als Littel es nicht mehr aushalten konnte und nachschauen ging, schmiß ihn der Hamburger raus.

Wer ist denn der Kerl überhaupt, wollte der Hobelwirt wissen, und Zopper antwortete ihm, daß der Kerl irgend so ein Scheißbewährungshelfer vom Hamburger sei.

Vater und Sohn

Die Suppe schmeckt nach Sellerie. Alle Kinder essen die Suppe. Der Vater mag Sellerie.

In der Küche riecht es nach kaltem Pfeifenrauch und dem, was gerade so auf dem Herd steht.

Nebenan liegt die kranke Mutter im Bett. Hin und wieder ruft sie etwas in die Küche hinüber. Niemand antwortet ihr, auch der Vater nicht.

Jürgen hat sie noch nicht begrüßt, trotzdem weiß er, wie sie im Bett liegt.

Sie liegt immer im Bett, den Kopf durch drei Kissen nach vorn abgeknickt. Der dünne unansehnliche Zopf, an dem sie stets herumspielt und der wie ein räudiger Katzenschwanz aussieht, hängt ständig über die Bettkante hinaus.

Auf dem Nachttisch steht Kamillentee.

Ist der Junge da? hört Jürgen sie fragen.

Die Geschwister löffeln, schlucken, löffeln und sehen Jürgen dabei an.

Was gibts zu gucken, sagt der Vater. Seine Stimme dröhnt. Jürgen hat sie nicht vergessen.

Die Geschwister glotzen sofort in die Teller zurück und schlucken schneller. Alle schmatzen.

Ehrlich, in den zwei Jahren, die Jürgen im Heim verbrachte, hat sich hier nichts verändert.

Vielleicht, daß seine jüngste Schwester jetzt Hosen über ihrem Babyhintern trägt und deshalb nicht mehr dahin scheißt, wo es gerade aus ihr herausfällt.

Na Doris, sagt Jürgen und räuspert sich, weil es der erste Satz ist, den er zu Hause spricht, kennst du mich noch?

Doris blubbert Unverständliches. Der Rotz ihrer immer verschnupften Nase vermischt sich mit der Suppe.

Der Vater sitzt am Ende des Tisches. Allein in seiner Suppe schwimmt das Kochfleisch. Wer seine Familie ernähren will, muß etwas zwischen die Zähne bekommen.

Jürgen sieht auf die Hände des Vaters. Sie sind groß und schwammig wie frischgebackene Eierkuchen. Aber sie sehen nur so aus. In Wirklichkeit sind sie hart. Wenn sie zuschlagen, ist es, als wäre man zwischen Straßenbahnräder oder Elefantenfüße geraten, in einen Fleischwolf oder unter einen Preßlufthammer.