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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/2xSamara.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-9604-1293-9

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Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen.

Sprichwort aus Afrika

1

Alberta wurde vom Klingeln an der Haustür geweckt. Sie sah blinzelnd auf den Wecker, der neun Uhr siebzehn anzeigte, und drehte sich dann auf die andere Seite. Philip war bereits aufgestanden, seine Bettseite war leer. Alberta vernahm dumpfe Stimmen im Flur. Wer konnte das sein? Es war Samstagmorgen. Widerwillig stand sie auf und warf sich ihren Morgenmantel über. Nur im Pyjama hinauszugehen, wollte sie Till und vor allem Lina noch nicht zumuten. Schließlich lebten sie erst seit gut einem halben Jahr zusammen, und das Patchwork war an der einen oder anderen Stelle noch ein wenig löchrig. Aus dem Esszimmer drangen das Geklapper von Geschirr und ein Rumpeln wie von einem schweren Karton.

»Was ist hier los?«, fragte Alberta laut, als sie das Zimmer betrat, und Philip, Till und Lina, die um den Tisch standen, zuckten erschrocken zusammen. Till stieß sogar einen grellen Schrei aus. Alberta lachte schadenfroh und kam näher.

»Mann, hast du mich erschreckt«, sagte Till und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

»Was macht ihr hier?«, wollte sie wissen.

Lina hatte ihre Nase schon wieder ins Handy gesteckt, als sei sie völlig unbeteiligt. Philip drehte sich um, grinste und versperrte den Blick auf das Paket, das auf dem Frühstückstisch stand.

»Tataaaa!«, rief er und machte einen präsentierenden Schritt zur Seite. Feierlich reichte er Alberta eine Schere. »Das ist eben vom Verlag gekommen.«

»Mein Buch«, sagte Alberta.

»Ganz recht. Dein neuer Roman – und eine kleine Überraschung gibt es obendrauf.«

»Was’n für ’ne Überraschung?«, wollte Till wissen und reckte neugierig das Kinn.

»Geduld, Geduld«, mahnte Philip und ließ Alberta den Karton öffnen. Lina tippte mit beiden Daumen auf ihrem Handy herum, als hätte sie einen spastischen Anfall in den Fingern.

Alberta durchtrennte mit der Schere die Klebestreifen, hob den Deckel hoch und fand unter einer Lage Packpapier die zwanzig Freiexemplare ihres neuen Kriminalromans. Sie nahm eins davon in die Hände. Till kam um den Tisch gelaufen, die Digicam im Anschlag, die eigentlich nie seine Hände verließ. Er filmte das Cover und stoppte die Aufnahme.

»›Der aus dem Nebel kam‹?«, fragte er. »Wer soll’n das sein?«

»Der Mörder, du Spasti«, sagte Lina, ohne vom Display aufzublicken.

»Arschkuh!«, blaffte Till.

»Hirni!«

»Du … Scheißarschziege!«

Alberta lachte laut auf.

»Ruhe!«, rief Philip. »Und du lach gefälligst nicht«, ergänzte er an Alberta gewandt.

Sie legte eine Hand über ihren Mund und senkte schuldig den Blick.

»Solche Ausdrücke will ich in diesem Haus nicht hören, verstanden?«, sagte Philip streng.

»Papa redet mit dir, du Hirni«, sagte Lina und glotzte ihren Bruder höhnisch an.

»Arschziege!«

»Ru-he! Ich rede mit euch beiden, und ich will keine diskriminierenden Ausdrücke und auch sonst keine Beleidigungen hören, klar?«

Für einen Moment trat Stille ein.

Philip entspannte sich wieder. »So, jetzt setzen wir uns alle wie eine ganz normale Familie an den Tisch und frühstücken zusammen.«

»Eine ganz normale Familie ist das ja sowieso nicht«, stichelte Lina und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

»Ja, dank eurer Mutter, und jetzt will ich etwas sagen.« Philip setzte sich kerzengerade hin und wartete.

Alberta nahm neben ihm Platz, ganz Ohr, was nun folgen würde.

»Kommt jetzt die Überraschung?«, fragte Till.

»Ja, wenn ihr den Mund haltet und euch nicht wie Neandertaler verhaltet, schon.«

»Ist Neandertaler eine Beleidigung?«, wollte Till wissen, woraufhin Philip nur mit dem Zeigefinger drohte.

»Also«, begann er und räusperte sich. »Da wir nach einem sehr bewegten letzten Jahr, in dem wir geheiratet und unseren Verleger als Verbrecher entlarvt haben, nun an einem Punkt angekommen sind, an dem alles wieder in geregelten Bahnen verläuft – Albertas neuer Roman ist in einem anderen Verlag erschienen, in dem auch ich zufällig einen neuen Job gefunden habe –, möchte ich als Zeichen … als Ausdruck meiner Freude …«

»Mann, komm zum Punkt, Papa«, forderte Lina ihn auf.

»Ich rede, wie’s mir passt, klar?«, schoss er zurück, hatte nun jedoch den Faden verloren. »Bin ich … also … äh … wo war ich?«

»Freude«, half Alberta aus.

»Ach ja … zu meiner Freude und zu eurer auch möchte ich euch zu einem verlängerten Wochenende in die Berge einladen. Zum Skilaufen. Na, was sagt ihr?«

Die drei sahen sich überrascht an.

»Schön!«, sagte Alberta.

»Aber wir können doch gar nicht Ski fahren«, erinnerte Lina ihn.

»Ich weiß, das wollen wir ja an dem Wochenende lernen«, entgegnete er freudig.

»Super«, meinte Lina wenig begeistert.

»So richtig auf Skiern?« Till war sich anscheinend nicht ganz sicher, ob er sich freuen sollte.

»Natürlich. Du fährst Ski, richtig Ski.«

»Und du könntest dabei auch filmen«, gab Alberta zu verstehen.

»Cool! Ja, dann komm ich mit.«

Philip nickte erleichtert.

»Das ist aber lieb von dir«, raunte Alberta. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Wo fahren wir denn hin?«

»Oberstdorf.«

»Wo ist das?«, fragte Till.

»Am Arsch der Welt«, meinte Lina und tippte schon wieder auf ihrem Handy herum.

»Das ist im Allgäu, am … am südlichsten Zipfel von Deutschland«, erklärte Philip.

»Sag ich doch, am Arsch.«

»Also ich freu mich drauf. Ich wollte schon immer mal Skifahren lernen«, sagte Alberta.

Lina blickte abschätzend und mit einer zweifelnd gehobenen linken Augenbraue an ihr herab. Alberta wog gut hundertdreißig Kilo bei einer Größe von einem Meter neunundsechzig.

»Wart’s ab«, sagte Alberta nur lächelnd und nahm sich ein Brötchen.

2

»Mein Gott«, fluchte Philip, als er sämtliches Gepäck in ihren Golf Variant gestopft hatte. Der Kofferraum und die hintere Ablage waren dermaßen voll, dass er die Klappe nicht zubekam. »Fünf Tage Urlaub mit Gepäck für vier Wochen!« Er stemmte sich mit einer Hand gegen den Kofferstapel und versuchte mit der anderen, die Klappe zuzudrücken. Es funktionierte nicht.

Till, Lina und Alberta kamen aus dem Haus.

»Und, klappt’s?«, fragte Alberta belustigt.

»Nein, wir müssen offen fahren. Oder was rausschmeißen.«

»Das geht nicht, wir brauchen warme Sachen, das ist im Winter nun mal so.«

»Es ist Frühling, falls ihr das noch nicht bemerkt haben solltet«, sagte Lina. »Niemand geht bei solchen Temperaturen Ski fahren. Niemand außer uns natürlich.«

»Es ist März, meine Liebe, und im Allgäu kann es ganz anders aussehen«, erwiderte Philip.

»Es sind siebzehn Grad, Papa.«

Lina öffnete ihre Tür und erstarrte.

»Was ist das denn? Wo soll ich’n da noch sitzen?«

»Ihr habt doch den ganzen Kram eingepackt, das geht hinten nicht mehr rein, also mecker nicht.«

»Na, wenigstens passiert mir nichts, wenn wir einen Unfall haben. Ist ja wie’n Ganzkörper-Airbag.«

Alberta schob Philip liebevoll beiseite und wuchtete die Kofferraumklappe zu.

»So macht man das«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. »Lass uns losfahren.«

Über die an diesem Vormittag kaum befahrene A 9 gelangten sie zügig in den Süden. Erst um München herum wurde der Verkehr stärker, aber insgesamt kamen sie ohne große Staus nach siebeneinhalb Stunden in Oberstdorf an. Das lang gestreckte Tal, in das sie nun hineinfuhren, lag frühlingshaft anmutend in einem saftigen Grün vor ihnen. Ein blauer Himmel, der nur hie und da von weißen Wölkchen bevölkert wurde, spannte sich über die pittoresk wirkende Schneise zwischen den rechts und links aufragenden Bergen, auf denen erst viel weiter im Süden Schnee auf den Kuppen zu erkennen war.

»Nun seht euch das an! Ist das nicht wunderbar?«, schwärmte Philip begeistert.

»Mein Hintern tut weh«, quengelte Till.

»Wo soll’n wir denn hier Ski fahren? Ich hab doch gleich gesagt, dass das ’ne dämliche Idee war«, sagte Lina mit Blick auf die schneefreie Landschaft.

»Freut mich sehr, dass ihr euch so freut.« Philips gute Laune begann sich schon wieder aufzulösen.

»Dann wandern wir halt, irgendwas fällt uns schon ein. Hier kann man sicher ’ne Menge unternehmen«, meinte Alberta und lächelte in Richtung Rückbank.

»Schuhplatteln oder was?«, sagte Lina mit einem gelangweilten Blick aus halb geöffneten Augenlidern.

»Nein«, rief Alberta begeistert, »viel besser: Löffelklopfen für den strammen Buben und Dirndlknüpfen für die junge Maid!«

Lina guckte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Till filmte die beiden und streckte auf einmal seinen Finger aus.

»Da, da ist ein Schwimmbad!«

»Na, seht ihr. In fünf Tagen schafft ihr locker das Goldabzeichen«, sagte Alberta zufrieden und setzte sich wieder gerade hin.

»Da ist ein Fluss!« Till filmte seitlich aus dem Fenster.

»Wahnsinn, weil wir in Berlin ooch jar keene Flüsse kennen, du Nullchecker«, murrte Lina und rutschte tiefer in ihren Sitz.

Sie fuhren in einen Kreisel und nahmen die Ausfahrt in Richtung Oberstdorf, das jetzt deutlich erkennbar unter dem Nebelhorn am Fuße des Berges leuchtete. Die berühmte Schanze thronte über den rötlich schimmernden Dächern des Ortes. Am Ortseingang passierten sie große Plakate, auf denen Skisportler aus Oberstdorf abgebildet waren.

»Wow, kommen die alle aus dem Ort hier?«, wollte Till wissen.

»Nun tu nicht so, als ob du dich fürs Skifahren interessierst«, meinte Lina.

»Du hast doch gar keine Ahnung!«

»Jetzt seid doch mal still dahinten, ich versteh hier kein Wort!« Philip regelte die Lautstärke seines Navis bis zum Anschlag und beugte sich vor. Auf dem Display drehte sich plötzlich das Bild, und sie fuhren scheinbar in die entgegengesetzte Richtung.

»Was macht es denn jetzt?«, fragte Alberta.

»Schscht!«, zischte Philip und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad.

»Im Kreis-verkehr die zweite Aus-fahrt Richtung Sont-hofen, Kemp-ten nehmen«, diktierte das Navi.

Philip steuerte in den Kreisel und wurde langsamer.

»Hier geht’s aber gar nicht nach Sonthofen«, sagte er. »Zweite Ausfahrt hat sie doch gesagt!«

»Ja, Sonthofen steht da vorn.« Alberta deutete auf das gelbe Hinweisschild.

»Scheiße.« Philip fuhr an der Ausfahrt vorbei. »Von hier sind wir doch gekommen.« Er ignorierte auch diese Abfahrt.

»Die zweite Aus-fahrt Richtung Sont-hofen … die zweite Aus-fahrt … Oberst-dorf Zen-trum … die zweite …«

»Jetzt dreht sie durch«, sagte Lina mit einem Blick auf die rotierenden blauen Straßen auf dem Display.

»Im wahrsten Sinne …«, bekräftigte Alberta.

»Ja, prima. Das hat uns noch gefehlt.« Philip ließ ungehalten seine Hände aufs Lenkrad fallen und fuhr den Kreisel ein drittes Mal.

»Papa, wie oft willst du eigentlich noch hier rumfahren?«, fragte Till mit einem irritierten Blick aus dem Fenster.

»Die zweite Aus-fahrt Rich-tung … Rich-tung Oberst-dorf … Richtung Sont-hofen …«

»Ach, leck mich doch«, fluchte Philip und nahm die Ausfahrt Richtung Zentrum.

»Sehr gut, Schatz, jetzt verlassen wir uns einfach auf unseren Verstand und lesen die Schilder«, sagte Alberta zufrieden.

»Bitte wenden«, sagte das Navi.

»Ach.« Philip startete das Navi neu, und der virtuelle Ortsplan leuchtete auf.

»Auf Sont-hofener Straße Rich-tung Süd-westen starten …«

»Wo is’n Südwesten?« Till beugte sich neugierig vor.

»Wir fragen einfach«, schlug Alberta vor.

»Oh, bitte nicht«, jammerte Philip.

Vor ihnen tauchte ein weiterer Kreisverkehr auf.

»Fahr einfach da rüber, da sieht’s gut aus«, sagte Alberta und deutete nach rechts.

»Da sieht’s gut aus …«, mokierte sich Philip leise, lenkte den Wagen aber in die erste Ausfahrt.

»Da drüben geht’s aber zum Bahnhof!«, rief Till und deutete nach links.

»Sieht das hier wie’n Zugabteil aus?« Philip schüttelte den Kopf und näherte sich mit der Nase immer weiter der Windschutzscheibe.

»Nach ein-hundert Metern: Sont-hofener Straße wird zur Wal-ser-straße. Nach zwei-hundert Metern links abbiegen in Wind-gasse.«

Sie folgten einer Rechtskurve, und alle blickten nach links, um das Straßenschild zu lesen.

»Windgasse, da ist es!«, rief Till.

»Links abbiegen in Wind-gasse.«

»Ganz schön eng. Sieht aus wie ’ne Einfahrt«, murmelte Philip und steuerte den Wagen zwischen zwei Bauernhäusern hindurch.

»Nach ein-hundert Metern rechts abbiegen auf West-straße.«

Philip tat wie ihm geheißen und bog rechts ab.

»Links abbiegen … rechts abbiegen«, sagte die Navidame.

»Jetzt hat sie wieder den Verstand verloren.«

»Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«

Alle drehten ihre Köpfe nach links.

»Hotel Äpflblümle«, lasen sie über einer gläsernen Schiebetür.

»Gibt’s ja nicht«, staunte Philip, »wir sind da.«

»Mein starker Fährtenleser hat uns sicher ans Ziel gebracht«, sagte Alberta und strich ihm über den Oberschenkel.

»Oh Gott.« Lina verdrehte die Augen und stieg aus.

Sie ließen das Gepäck zunächst im Auto und gingen an die Rezeption, um sich anzumelden.

Hinter dem Tresen war niemand zu sehen, also schlug Alberta mit den Fingerspitzen auf die Klingel, während Till zur Sitzecke neben dem Eingang lief und prüfte, ob der Kamin echt war.

»Griaßt euch!«, rief eine fröhliche Stimme, und eine nette Dame näherte sich ihnen von rechts. »Ich bin die Frau Schelm.«

»Hallo, wir sind Familie Reimers/Rose, wir haben ein Apartment gebucht«, stellte Philip sie vor.

»Ah, sicherlich. Des isch des Apartment Abendrot gleich gegeüber.«

Sie gab allen die Hand und wuschelte Till durchs Haar.

»Haben Sie eine guate Fahrt g’habt?«

Philip atmete unschlüssig ein.

»Papa ist sauer auf unsere Navitante«, erklärte Till.

»Ah so. Gab’s da ein Problem, ja? Joa, des kann mitunter an die Berge lieg’n. Da ischt’s mit dema Empfang manchmal a bissl schwr’g, gell?«

»Sind wir denn gar nicht mehr in Deutschland?«, fragte Till. »Die sprechen hier ja eine ganz andere Sprache.«

Die drei Erwachsenen lachten laut auf, nur Lina stand an den Tresen gelehnt da und schien Tills Meinung zu teilen.

»Ich bemühe mich, Hochdeutsch mit dir zu sprechen«, versprach Frau Schelm. Till nickte zufrieden. »So, und jetzt zeige ich Ihnen kurz, wo es was zu essen gibt, danach gehen wir rüber in Ihre Wohnung.«

Frau Schelm führte sie durch einen schmalen Flur in ein gemütlich und nett eingerichtetes Esszimmer.

»Gleich hier ist Ihr Tischle, und dort drinnen kocht mein Mann dann heut Abend für Sie.«

»Toll, da freuen wir uns drauf«, sagte Alberta.

»Ja, du besonders, stimmt’s?«, sagte Lina und klopfte sich auf den Bauch.

Frau Schelm registrierte etwas erschrocken, wie respektlos Lina mit Alberta sprach.

»Ja, hier gibt es dann morgens auch das Frühstücksbüfett«, ergänzte sie rasch, »ab sieben Uhr. Gehen Sie zum Skilaufen?«

»Ja, wir wollen alle damit anfangen«, sagte Philip.

»Na ja, wollen …« Lina schniefte abwertend durch die Nase.

»Gemma erscht amol rüber.«

Sie folgten der Dame des Hauses über die Straße.

»Hier isch die Tiefgarage, da können S’ sich einfach einen Platz aussuche.«

»Isch gut«, sagte Philip, und Frau Schelm drehte sich lächelnd zu ihm um.

Sie betraten das von der Sonne beleuchtete Haus. Als Frau Schelm die Tür zu ihrem Apartment öffnete, lief Till begeistert als Erster hinein.

»Wow, coole Wohnung! Viel geiler als unsere! Guck dir mal den Fernseher an!« Er blieb ehrfürchtig vor dem schwarzen Bildschirm stehen.

»Das ist wieder mal das Wichtigste, was?« Philip sah sich aufmerksam um.

»Sieh dir nur den Ausblick an, Till«, sagte Alberta und öffnete die Balkontür. Die Umgebung sah aus wie ein Postkartenmotiv. Über den Dächern des Ortes sah man die geschwungenen Konturen sanft ansteigender grüner Hügel, die bis zu den majestätischen Bergspitzen hinaufreichten, welche von Schneekuppen gekrönt in der Sonne schimmerten. Rosa Wolken flankierten die Bergkämme. »Das ist ja Wahnsinn«, ergänzte sie atemlos.

»Schö, gell?«

Frau Schelm erklärte ihnen noch die Details der Wohnung und ließ sie dann allein, damit sie ihre Koffer holen und einziehen konnten.

Till bot Alberta und Philip sofort an, mit Lina auf der Ausziehcouch zu schlafen, damit sie als »ältere Leute«, wie er sich ausdrückte, keine Rückenschmerzen und später mal »Osteoparese« bekämen. Die beiden durchschauten jedoch seine List, sich damit den Fernseher für die ganze Nacht zu sichern, und lehnten dankend ab.

Philip war reichlich müde von der Autofahrt, doch sie mussten heute noch ihren Kurs buchen und das Equipment besorgen, damit sie gleich morgen früh loslegen konnten. Bei Frau Schelm erkundigten sie sich, welche Skischule sie empfehlen würde. Es gab drei Anbieter hier vor Ort, die rote, die grüne und die blaue Schule. Mittels demokratischer Abstimmung kamen drei Stimmen für Rot und nur Philips Stimme für Blau zusammen, womit unumstößlich feststand, wo sie ihre ersten Erfahrungen mit dem Skilaufen machen würden.

So spazierten sie eine Stunde später durch die Fußgängerzone von Oberstdorf. Alberta hatte beim Auspacken eine leichte Übelkeit verspürt, die sich an der frischen Luft aber gleich wieder gelegt hatte. Es war so warm, dass man nur mit einem Pullover bekleidet hätte gehen können. Till lief wie wild herum und filmte alles Mögliche, von Gullydeckeln über Wassertröge bis hin zu »hartgeilen Messern«, wie er sich ausdrückte, in den Auslagen der Schaufenster. Lina verloren sie gleich im ersten Klamottenladen, der auftauchte. Alberta störte das nicht. Sie war ganz entspannt und vor allem zufrieden und glücklich. Das Zusammenleben in der Familie, nachdem sie und Philip geheiratet hatten und zusammengezogen waren, verlief zwar nicht über die Maßen harmonisch, doch Alberta hatte es sich noch schlimmer vorgestellt. Till hatte sie quasi mit offenen Armen aufgenommen. Lina war da ein anderes Kaliber, doch immerhin grenzte es bei ihr schon fast an eine Liebeserklärung, dass sie sie nicht mehr »Walross« oder »Tonne« nannte. Auch an die neue, engere Zweisamkeit mit Philip hatte Alberta sich gewöhnen müssen. Er umgekehrt mit Sicherheit auch. Sie war allerdings nicht diejenige, die nachts schnarchte, dass die Gläser im Schrank zitterten.

»Wo bleibt sie denn?«, fragte Philip ungeduldig.

»Ich geh mal rein und schau nach ihr.«

Alberta betrat das Bekleidungsgeschäft, das nicht gerade in Linas üblichem Preissegment lag. Sie stand an einem Ständer mit Winterjacken und wurde soeben von einer Verkäuferin angesprochen.

»Ich finde, die Jacke steht Ihnen ausgezeichnet.«

Lina blickte etwas erschrocken auf.

»Was? Ach ja?«

Die Verkäuferin führte sie vor einen großen Spiegel und stellte sich hinter sie.

»Todschick. Der gleiche Ton wie Ihre Augen, junge Dame.«

»Ich wollt eigentlich nur mal …«

»Und ich glaube, Sie haben Glück. Dieses Modell ist um … zehn Prozent reduziert.«

»Was kostet sie denn?«, wollte Lina wissen und stellte den Kragen hoch, während sie sich im Spiegel begutachtete. »Ich hab nämlich kein Preisschild gefunden.«

»Der neue Preis ist sechshundertfünfundsiebzig Euro.« Die Dame grinste breit und gütig. Alberta sah, wie Lina die Röte ins Gesicht stieg, und eilte ihr zu Hilfe.

»Lina, da bist du ja«, sagte sie, und die beiden drehten sich zu ihr herum.

»Ah, da kommt ja die Mama!«, sagte die Verkäuferin erfreut.

»Das ist nicht …«, begann Lina und kochte in der Winterjacke wie ein Hummer im Wasser.

»Ihre Tochter hat sich eine wunderbare Jacke ausgesucht«, redete die Verkäuferin da schon weiter, »und ist ganz hingerissen von ihr. Schauen Sie doch mal …«

Alberta nickte anerkennend. »Ganz toll, wirklich. Aber wir suchen eigentlich eher etwas für mich«, meinte sie. »Meine Tochter wollte mir helfen, ein Abendkleid zu finden.«

Das Lächeln der Verkäuferin verschwand, als hätte man es ihr aus dem Gesicht geschlagen.

»Ach … ein Abendkleid … für Sie?« Sie traute sich kaum, auf Albertas Maße zu schauen, und ihre Augenlider begannen wild zu flattern. »Tja, nein, also … Abendkleider haben wir … ist nicht unsere … äh … äh … führen wir gar nicht.«

»Ach, wie schade«, sagte Alberta fröhlich, während Lina sich aus der Jacke zu schälen begann. »Könnten Sie mir denn ein Geschäft empfehlen?«

Die Dame riss erschrocken ihre Augen auf. »Für Sie? Ja, also … ich …« Ihre Mundwinkel begannen unschlüssig zu zucken, sie brachte nicht ein Wort über die Lippen.

»Vielleicht ein Outdoorladen?«, fragte Alberta. »Mit einer Zeltabteilung?«

»Was?«, stieß die Dame schrill hervor.

»Ich mach nur Spaß.« Alberta lächelte besänftigend und zwinkerte ihr zu.

Die beiden verließen den Laden. Lina atmete tief ein, als sie wieder auf den Platz traten.

»Und? Was gefunden?«, fragte Philip.

»Lina waren die Sachen zu billig, aber ich hab zwei Kleider gefunden, die bloß noch zusammengenäht werden müssen.«

Alberta lachte laut los, und Lina konnte nicht anders, als mit einzustimmen.

Sie marschierten weiter über den Platz, vorbei an der Kirche und die Oststraße hinauf bis zur Nebelhornbahn. Till wollte natürlich gleich hochfahren, er witterte die unglaublichen Motive, die sich dort oben auftun würden, aber Philip vertröstete ihn auf später, weil sie zuerst ihre Angelegenheiten in der Skischule regeln wollten. Die lag nur ein paar Meter weiter links. Lina blieb an der Tür des Ladens stehen wie ein Pferd, das vor einem Hindernis verweigerte.

»Leute, die lachen uns doch aus. Man kann im T-Shirt rumlaufen, so warm ist es hier. Wir sind hier mit Sicherheit die einzigen Idioten, die nach einem dämlichen Skikurs fragen.«

»Du kannst ja so tun, als würdest du nicht zu uns gehören«, schlug Alberta vor und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Als sie die Tür aufzog, war der Laden brechend voll. Überall probierten Menschen Skistiefel an, stapften damit auf dem Teppich herum und standen in Schlangen an den Kassen.

»Was is’n hier los?«, entfuhr es Lina, und sie starrte mit offenem Mund auf das rege Treiben.

»Hier kannscht an Skikurs b’lege«, begrüßte sie lächelnd ein junger, gut aussehender Mann mit blondem Vollbart, und Lina errötete ein zweites Mal an diesem Tag. »Griaßt euch, was kann ich für euch tue?«

»Wir wollen alle einen Skikurs machen und brauchen die volle Ausrüstung«, antwortete Alberta.

»Jafrile. Also viermal Stiefel, Skier und Helme. Fangen wir doch bei die Kleinen an. Was habts ihr denn fia a Größe?«

Till sah Alberta verzweifelt an.

»Was hat er gemeint?«

»Deine Schuhgröße.« Alberta lächelte.

»Ach so. Vierunddreißig.«

»Vierunddreißig. Und du?«, fragte er Lina, deren Gesicht in ein noch tieferes Rot wechselte. Sie konnte nichts sagen, sah den jungen Kerl nur fasziniert an. Alberta und Philip wussten sofort, was los war.

»Dei Größe?«, wiederholte er fast liebevoll.

»75 B«, hauchte sie.

Der junge Mann zuckte kurz zurück, und erst jetzt schien Lina aus ihrer Trance zu erwachen. Sie ahnte nur, dass sie etwas nicht so Passendes gesagt haben musste.

»Äh … tja, also …«, stammelte er.

»Die junge Dame hat Schuhgröße neununddreißig«, half Alberta aus.

»Guat«, sagte er dankbar und verschwand zwischen den hohen Schiebeschränken an der hinteren Wand.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, wollte Lina flüsternd von Alberta wissen.

»Du hast gesagt …«, hob Till, der nicht die geringste Ahnung hatte, was diese Zahl bedeutete, laut an. Doch Philip hielt ihm den Mund zu, ehe er es für den mit gut dreißig Personen gefüllten Laden gut hörbar hinausposaunen konnte.

»Dreiundneunzig, Schätzchen«, entgegnete Alberta, »du hattest einen Zahlendreher.«

Till wollte protestieren, doch schon legte sich Philips Hand wieder über seinen Mund.

Der junge Mann kam mit zwei Paar Skistiefeln zurück und bat Lina und Till, sich zu setzen.

»Seids scho mol g’fahre?«

Wieder schaute Till ratlos auf.

»Nein, noch nie«, antwortete Alberta für ihn.

Er erklärte den beiden, wie man in die Stiefel einzusteigen hatte, und führte Linas Fuß vorsichtig in den Schaft. Alberta glaubte, dass sie bald kollabieren würde, so sehr glühte sie vor sich hin.

»Und jetzed zu euch beidn. Habts ihr scho Erfahrung?«

»Ich ein bisschen. Ich bin als Kind mal in der Schule gefahren«, sagte Alberta.

»Also keine Erfahrung«, präzisierte er.

Alberta schürzte ein wenig beleidigt die Lippen, weil sie mit dieser Aussage nicht ganz einverstanden war.

Als alle die passenden Stiefel hatten, schickte der fesche junge Mann sie – sehr zu Linas Enttäuschung – zu seinen Kollegen in den Nachbarraum, wo sie die Skier bekommen sollten. Hier warteten bereits andere Kunden in zwei Schlangen darauf, bedient zu werden. Ständig kamen neue Leute herein oder gingen hinaus und wurden begrüßt und verabschiedet. Die meisten schienen Stammgäste zu sein, denn die Skilehrer und Mitarbeiter hier kannten bereits oder immer noch ihre Namen. Sie stellten sich an dem Schalter an, an dem ein zünftig wirkender Mann mittleren Alters mit gebräunten Wangen und einer weißen Aussparung um die Augen die Kunden betreute. Der Stress und die Hektik machten ihm offenbar nichts aus, denn er strahlte übers ganze glänzende Gesicht und machte immer wieder Scherze, während aus den Regalreihen hinter ihm lautes Gelächter von seinen Kollegen herüberdrang.

Lina und Till waren schon ungeduldig geworden, sie schwitzten und nörgelten, als sie endlich an der Reihe waren und Jochen, wie auf einem Namensschild auf der Brust des Mannes zu lesen stand, sich um sie kümmerte.

»Griaß Gott! Was kann i füa euch tue?«

»Wir brauchen Skier. Die ganze Familie«, erklärte Alberta. Er sah ihr abschätzend auf den Bauch.

»Füa di auch?«

»Sicher. Warum denn nicht?«, fragte sie nach. Till, Lina und Philip traten sicherheitshalber einen Schritt zurück, für den Fall, dass Alberta gleich in die Luft ging.

»Na, i mein ja nua … die meischten Muttis von deinem Kaliber bleibe lieber drunten und gucke zua«, entgegnete er lächelnd.

»Was für Muttis meinst du denn genau?« Alberta stemmte die Hände in die Hüften.

Auch die anderen Gäste wurden nun auf die Szene aufmerksam und schauten zu ihnen herüber.

»Na, solche herrlichen Prachtbomben wie du!« Er lachte los, ohne sich dabei lustig machen zu wollen. Es war ein ehrliches Statement, tief aus seinem Herzen.

Alberta entspannte sich. Der Rest des Ladens jedoch hielt den Atem an. Es war auf einmal mucksmäuschenstill.

»Das«, sie erhob ihre Stimme und den Zeigefinger zugleich, »ist wahrscheinlich eins der tollsten Komplimente, die ich je bekommen habe, mein kleiner Goldbär.« Sie kniff ihn in die Wange, und hinter ihm im Lager kreischten seine beiden Kollegen vor Lachen auf. »Diese Prachtbombe jedenfalls fährt. Und zwar mit Vollgas«, sagte Alberta und stellte ihre Schuhe auf den Tresen.

»Des isch a Frau nach mei’m G’schmack!«, freute sich Jochen und holte einen Zettel hervor. »Dann brauch i jetzed a paar Angaben von dia.«

»Gern.«

»Größe?«

»Eins neunundsechzig.«

»Schuhgröße?«

»Neununddreißig.«

»G’wicht?«

Wieder wurde es still im Laden. Jochen blickte entschuldigend auf.

»Einhundertneunundzwanzig Komma vier!«, sagte Alberta laut und deutlich. Ein belustigtes Raunen ging durch den Raum.

Jochen grinste und schielte wieder auf sein Blatt.

»Joa, guat, des gibt’s nit mehr auf meiner Skala«, meinte er, »I schreib einfach … äh … maximal. Hascht Erfahrung?«

»So einige.«

»Mit’m Ski, mein i.«

»Ja, als Kind bin ich mal gefahren.«

»Also keine.« Er machte einen Strich in die Zeile. »Dann geb i dir a’n schönen kurzen und nit so schnellen Ski, damit du mit dei’m G’wicht nit gleich h’nunter ins Tal kachelst, gell?«

Sie lachten beide, und im Lager erklang ein schallendes Echo.

Jochen füllte drei weitere Zettel für Philip, Lina und Till aus und verschwand im Lager. Als er zurückkam, stellte er die Skier für die ganze Familie ein. Die ganze Zeit über standen sie, sehr zu Linas Missfallen, im Zentrum der Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

»So, isch fertig«, sagte Jochen und klatschte in die Hände. »Drüben im Depot könnts ihr die Stiefel abstelle, und morgen um neun treffen wir uns alle hier vorm Laden wieder. Dann geht’s mit die Busse h’nauf!«

»Ich versteh die einfach nicht«, klagte Till, »sind wir wirklich noch in Deutschland?«

Jochen warf seinen Kopf in den Nacken und lachte laut.

»Da g’wöhnst di scho dran.«

»Hä?«

Wieder lachte der gesamte Laden, und die vier zogen mit ihrer Ausrüstung von dannen.

»Merkt euch bloß eure Nummern, Kinder«, warnte Philip, als er im Depot auf der anderen Straßenseite die vielen anderen Skier sah, die alle gleich aussahen.

Sie suchten sich eine freie Stelle und hängten ihre Stiefel dort dicht beisammen.

»So«, sagte Alberta. »Ich finde, jetzt haben wir uns was Ordentliches zu essen verdient, was meint ihr?«

»Dann kannst du die hundertdreißig noch vollmachen«, meinte Lina trocken.

»Lina!«, drohte Philip.

»Was denn? Der Typ im Laden durfte sich auch lustig machen.«

»Das ist was anderes.«

»Ach ja? Der is’n Fremder, und ich bin immerhin ihre Tochter. Also … Stieftochter«, korrigierte sie sich, und Alberta nahm sie dafür in den Arm.

»Sieh nur, wie lieb sie zu mir ist«, sagte sie zu Philip.

»Ja, ja«, grummelte Lina. »Jetzt lass mich wieder los, bevor du mir das Genick brichst.«

Sie schlenderten durch die Fußgängerzone zurück zum Hotel. Es war inzwischen dunkel geworden, warmes Licht fiel aus den Fenstern auf die Bürgersteige. Sie waren hungrig und gingen gleich in den Speiseraum des Hotels, wo sie an ihrem gedeckten Tisch Platz nahmen. Frau Schelm kam aus der Küche und begrüßte sie freundlich.

»Was gibt’s denn heute?«, fragte Lina.

Till nahm die Karte zur Hand, die auf dem Tisch auslag, und begann zu lesen.

»Okay, jetzt ist klar, dass wir im Ausland sind«, verkündete er. »Ich kapier nix von dem, was hier auf der komischen Karte steht.«

»Soll ich euch was sagen?« Alberta überflog die Karte und legte sie wieder beiseite. »Ich kann’s auch nicht erklären. Wir müssen fragen.«

»Familie Reimers/Rose«, sagte Frau Schelm, als sie an den Tisch kam und eine Hand auf Albertas Lehne legte, »was kann i für Sie tue?«

»Ja, wir bräuchten eine Erklärung für … so einiges«, begann Alberta, und Frau Schelm fing an zu grinsen. »Wir können nicht mal die Karte lesen. Kutteln, Flädle, Kraut …«

»Des isch scho a Problem, gell? Also gut, dann wollen wir mal sehen«, ergänzte sie in perfektem Hochdeutsch und erklärte ihnen das gesamte Drei-Gänge-Menü in allen Einzelheiten in verständlicher Sprache. Die Kinder staunten und wunderten sich anschließend noch eifriger über die Portionen, die wenig später serviert wurden. Till konnte kaum über seinen Teller gucken.

»Ist das für die ganze Woche?«

Am Nebentisch begann ein Ehepaar zu lachen und schaute belustigt zu ihnen herüber.

»Sei still, die Leute gucken schon«, fuhr Lina ihn an.

»Guten Appetit«, wünschte Philip, »willkommen in Oberstdorf. Möge der Urlaub … sagen wir mal, weniger aufregend verlaufen als der letzte.« Er hob sein Bierglas, und sie stießen an.

Alberta dachte kurz an letztes Jahr zurück, als man ihre Standesbeamtin während der Hochzeitszeremonie erschossen hatte. Nein, in der Tat, da wünschte sie sich für diesen Urlaub gewaltfreiere Tage. Sie freute sich aufs Skifahren und hoffte, dass sie schnell wieder lernte, wie man auf den Skiern stand. In der Schule hatte sie sich ganz geschickt angestellt.

Sie aßen in Ruhe zu Abend, auch wenn keiner von ihnen die Teller leeren konnte. Im Apartment legten sie sich danach völlig erledigt sofort in die Betten. Um acht Uhr mussten sie zum Frühstück unten sein, um neun war Abfahrt vor der Skischule.

3

Alberta hatte so fest geschlafen, dass sie sich beim Aufwachen an keinen Traum erinnern konnte. Sie konnte sich genau genommen kaum daran erinnern, wie sie ins Bett gekommen war. Auf jeden Fall hatte sie zu viel gegessen. Das Drei-Gänge-Menü lag wie ein schwerer Kloß in ihrem Bauch.

»Ach du Scheiße!«, hörte sie Lina im Nebenzimmer rufen. Es klang nach einem Notfall. Also sprang Alberta aus den Federn und rechnete schon damit, dass Till sich das gestrige Menü noch mal »durch den Kopf hatte gehen lassen«. Aber im Kinderzimmer, das ja eigentlich das Elternschlafzimmer war, stand Lina vor dem Fenster, während Till verschlafen von seiner Schwester zu Alberta blinzelte.

»Was ist?«, fragte sie atemlos. Jetzt erschien auch Philip hinter ihr.

»Mmh?«, machte er nur.

»Seht euch das an!« Lina zog mit einem Ruck die roten Gardinen auf.

Weiß! Alles war weiß! Draußen lagen bestimmt dreißig Zentimeter Schnee. Die Landschaft, der Ort, die Autos auf der Straße, alles war in einen dicken, bauschigen weißen Mantel gehüllt.

»Alter!«, rief Till und griff instinktiv zu seiner Kamera.

»Krasse Scheiße«, sagte Lina fasziniert und überrascht zugleich.

Niemand widersprach ihr. Es war wie ein Wunder. Ein echt krasses Wunder. Wie hatte das vor sich gehen können, wo doch gestern noch Frühling gewesen war? Einfach so, über Nacht. Nur noch vereinzelt niederrieselnde Flocken erinnerten daran, dass all diese Schneemassen aus den bläulichen Wolken gefallen sein mussten, die am Himmel hingen, sich in der Morgendämmerung aber bereits wieder auflösten.

»Als ob man den Ort mit einer riesigen Schneekanone zugeballert hätte«, meinte Till, während er auf das Display starrte. Besser hätte man es nicht ausdrücken können.

»Tja.« Alberta erholte sich als Erste von dem Schock. »’s is Skiurlaub, meine Lieben. Auf geht’s!«

Als sie frühstückten, dröhnten draußen vor dem Fenster die Schneeschieber durch die Straßen und Gassen und warfen ihr orangefarbenes Licht auf den Neuschnee.

Wieder in ihrer Wohnung, stopften sie sich in die neu gekauften Skiklamotten, die auf keinen Fall von Lidl hatten sein dürfen, wie Lina sofort zur Bedingung gemacht hatte. Sie wolle nicht wie diese asozialen Kinder rumlaufen, bei denen man auf den ersten Blick erkannte, dass ihre bescheuerten Eltern ihnen Klamotten für drei Euro fünfzig gekauft hatten, weil sie ihr Hartz-IV-Geld schon für einen neuen Plasmafernseher verballert hatten, hatte sie ihrem Vater erklärt.

Till war das völlig egal, Philip musste ihm nur eine Befestigung für seine GoPro auf den Helm montieren, und alles war für ihn in Butter.

Vor der Skischule herrschte großer Andrang.

Lina hob irritiert die Augenbrauen. »Wird der Ort evakuiert oder was?«

»Nein, die wollen alle Ski laufen«, antwortete ihr Vater.

»Na, viel Spaß. Das geht ja gut los.«

Sie zwängten sich zwischen den Leuten hindurch ins Depot, suchten ihre Ausrüstung zusammen und gingen rüber ins Geschäft.

»Scheiße, meine Skier sind weg«, meinte Lina.

»Meine auch«, pflichtete Till ihr bei.

»Habt ihr euch denn nicht die Nummern gemerkt, verdammt?« Bei Philip lagen die Nerven schon wieder etwas frei.

»Die Skier wurden von der Skischule schon mitgenommen, die müsst ihr oben am Berg raussuchen«, klärte sie ein Mann in dunkler Jacke und hellem Schal auf, der nicht so aussah, als würde er Ski laufen gehen.

»Ah, danke«, sagte Alberta, »wir sind Anfänger, ist unser erster Tag.«

»Draußen bei den Skilehrern erfahrt ihr, wo ihr hinmüsst«, sagte der Mann und deutete auf die Straße.

Sie warfen sich ins Getümmel und fanden schließlich Jochen, der glänzend und strahlend wie gestern in der Morgensonne stand und die Leute einwies.

»Ahhh, die Prachtbombe!«, sagte er und breitete die Arme aus.

»Wo müssen wir denn hin?«

»Nur die Spitzenfahrer werden heut gleich h’nauf ans Nebelhorn g’bracht. Ihr könnts in jeden Bus steige, den ihr wollt. Die fahrn heut alle zum Söllereck.«

»Und welchen Lehrer kriegen wir dann?«, fragte Philip.

»Des wird am Berg entdschied’n. Dich nehm ich auf jeden Fall unter meine Fittiche«, sagte er zu Alberta und legte lachend einen Arm um ihre Schultern.

Es kam Bewegung in die Menge, als der erste Bus vorfuhr. Anscheinend wollten gleich alle dreihundert Menschen hier darin unterkommen und stürmten ihn wie eine Flüchtlingsgruppe, die aus dem Krisengebiet gebracht werden sollte. Alberta und Philip hielten die Kinder zurück und warteten auf den zweiten Bus. Vor ihnen spielten sich dramatische Szenen zwischen Eltern und Kindern ab, die getrennt worden waren und nun durch die Scheiben des Busses hindurchzuschreien versuchten, um sich zu verständigen. Die Skilehrer gaben ihr Bestes, um die Familienzusammenführung zu ermöglichen, oder versprachen, sich um die Kinder zu kümmern, bis sich alle am Söllereck wiedertreffen würden.

Das Einsteigen in den zweiten Bus erfolgte wesentlich gesitteter und ruhiger, doch am Ende war auch dieser bis auf den letzten Stehplatz gefüllt. Die Heizung lief auf Hochtouren, und alle fingen an, in ihren Skiklamotten wie die Affen zu schwitzen. Alberta und Philip standen eingequetscht in der Kinderwagenecke. Hinter ihnen saßen zwei Jungen im Alter von vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahren. Sie trugen eierschalenfarbene Skianzüge mit Pudelmützen der gleichen Farbe und hatten ihre Skibrillen bereits auf den Nasen. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten sie und zeigten immer wieder auf Alberta.

»So’n fetter Hefekloß!«, flüsterte der Kleinere der beiden und kicherte.

»Wenn die sich an die Scheibe lehnt, kippt bestimmt der Bus um.« Der Größere nickte eifrig über seinen eigenen Witz und lachte lautlos.

»Wusste gar nicht, dass Elefanten auch Ski fahren dürfen«, entgegnete der andere, und sie wären vor Lachen beinah mit den Köpfen zusammengestoßen.

Lina, die neben ihnen auf dem Gang stand, hatte aufmerksam zugehört. »Darf ich mal?«, fragte sie eines der Mädchen, das von ihrer Mutter getrennt worden war und nun an ihrer Hello-Kitty-Trinkflasche nuckelte, um sich zu trösten. Die Kleine händigte Lina ihre Flasche aus und sah zu, wie diese sich über die beiden Jungen beugte und jedem in aller Seelenruhe einen kräftigen Strahl Wasser zwischen die Beine spritzte. Sie waren so überrascht, dass sie gar nichts sagen, sondern nur verdattert gucken konnten. »Danke«, sagte Lina zu dem staunenden Mädchen und gab ihr die Flasche zurück.

Für den Rest der Fahrt waren die Jungs still und Lina zufrieden.

Nach einer knappen Viertelstunde sprangen alle erleichtert aus dem Glutofen des Businnern an die kalte, frische Luft. Mit den schweren Skistiefeln an den Füßen marschierten sie polternd den Anstieg hinauf bis zur Hütte der roten Schule, an der wie ein bunter Jägerzaun aufgereiht die Skier standen.

»Gott, ich bin jetzt schon völlig durchgeschwitzt«, stöhnte Philip und verschnaufte.

Alberta, Till und Lina schauten zu, wie die Gondeln die Station verließen und am Seil nach oben schwebten.

»Kommt, wir müssen unsere Bretter suchen«, sagte Philip dann.

Als sie die Reihe abgingen, hörten sie, wie jemand rief: »Guckt euch die an, voll eingepinkelt, haha!«

Sie drehten sich um und sahen zwei Jungen mit nassen Flecken im Schritt verschüchtert den Berg heraufkommen. Alle Kinder fingen an zu lachen, woraufhin sich die beiden schmollend an die Seite setzten und ihre nassen Hosen unter ihren Helmen versteckten.

»Wie kann denn so was passieren?«, fragte Alberta. »Die sind doch schon bestimmt fünfzehn oder so.«

»Tja«, meinte Lina leichthin und zuckte mit den Schultern. »Bis man aus diesen Anzügen raus ist, kann’s manchmal schon zu spät sein.«

Als sie ihre Skier gefunden hatten, gingen sie zunächst zu Jochen, der schon eine Schar von Menschen um sich versammelt hatte.

»Alberta, kommts ihr a scho?«

»Bleiben wir jetzt bei dir?«

»Na, die Kinder auf jeden Fall nit, des mach’n die Lisa und der Toni da drüben. Wie alt bischt du denn?«, fragte er Lina und stützte lässig einen Arm auf seinen Skistock.

»Dreizehn.«

»Dreizehn …« Er leckte sich schmatzend die Lippen. »Da kannscht di entscheid’n, ob du mit dei Eltern im Kurs bleibscht oder mit dei kleinem Bruder.«

Lina wusste offensichtlich nicht, was sie tun sollte. Es war die klassische Entscheidung zwischen Not und Elend.

»Dei Bruder geht auf jed’n Fall ins Hasiland«, erklärte Jochen.

»Hasiland?«, wiederholte Lina mit einem Anflug von Entsetzen in der Stimme.

»Joa, da gehen die Anfänger immer hin.«

Lina blickte zu Alberta und Philip. Beide lächelten aufmunternd.

»Ach Scheiße, dann geh ich halt mit Till. Einer muss ja auf ihn aufpassen.«

»Kannst auf dich selber aufpassen«, gab Till zurück, und beinah wären ihm die Skier aus dem Arm gefallen.

»Klei, aber wehrle, gell?«, freute sich Jochen über Till.

Alberta und Philip brachten die beiden zu ihrer neuen Gruppe um Lisa und Toni. Toni stand gerade mit dem Handy am Ohr vor den beiden immer noch verdrossen dahockenden Jungen mit den nassen Hosen.

»Ja … ja … zwai Kerle«, rief er ins Telefon. »Wie heißt ihr?«

»Fred und Tom«, murrte der Größere, ohne den Kopf zu heben.

»Fred und Tom«, gab Toni weiter und wartete auf eine Antwort. »Ja, super. Was mached mir jetzed? Guat, aber die beid’n Seckl ham noch nit amol Handschuh mit!« Er legte wütend auf.

»Und?«, fragte seine Kollegin.

»Die sollten in der Fortgeschrittenengruppe ob’m am Nebelhorn sein. Stattdessen sitzed s’ hier, und mir müssen uns um sie kümmere. I besorg jetz a paar Handschuh für die Deppen.«

»Okay, wir lassen euch dann mal allein«, sagte Philip und nahm beide in den Arm. »Ich wünsch euch viel Spaß. Wenn was ist, die haben unsere Handynummer, alles klar?«

»Ja, Papa, die hab ich doch sowieso«, erinnerte ihn Lina genervt.

»Macht’s gut, ihr beiden, und viel Spaß! Vielleicht können wir ja später noch mal zusammen fahren.«

»Mmh-mh.«

Alberta und Philip winkten und mischten sich dann wieder unter die Teilnehmer des Anfängerkurses für die Erwachsenen.

»So, ihr Lieben«, begann Jochen, und ein zweiter Skilehrer gesellte sich zu ihm. Er war schlank und hatte schon graues Haar, obwohl er im Gesicht noch recht jung aussah. Er lächelte lustig in die Runde und schien jeden der Umstehenden einmal auf seine Fähigkeiten hin abzuschätzen. An Alberta blieb sein Blick einen Moment länger haften. »I bemüh mich, so zu spreche, dass alle mich verstehe. Die graue Eminenz neben mir isch mei g’schätzter Kollege Schtavros aus dem Skimekka Griechenland. Wir werden den Kurs unter uns aufteile, weil des sonscht einfach z’viel des Guat’n isch. Also, wer von euch isch denn noch nie auf Skiern g’stande?«

Zaghaft gingen einige Hände in die Höhe, und auch Philip hob den Arm, überrascht, dass Alberta es nicht tat.

»Was ist?«, flüsterte er.

»Na, ich hab schon mal draufgestanden, wie oft soll ich dir das noch sagen?«