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RIDING HOME

Death Raiders MC 1

Ronja Weisz

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© 2017 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864437465

ISBN eBook-mobi: 9783864437472

eISBN eBook-epub: 9783864437489

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Die Autorin

Kapitel 1

Silver Springs, Nevada Chapter des Death Raiders Motorradclubs

Manche Dinge wird Ronan in diesem Land nie wirklich kapieren. Wie den Drang der Amerikaner, sich nach ihrem Tod in grauen, wertlosen Staub zu verwandeln und in eine Blumenvase stecken zu lassen, die die Familie dann auf den Kaminsims packt. Ein Toter gehört in einen Sarg, wo die Natur waltet, wie sie es das ganze Leben schon getan hat. Der Mensch wird alt, bekommt Falten und verwest am Schluss. Das ist der Lauf der Dinge. Aber das ist nur seine bescheidene Meinung, die er an diesem Tag lieber für sich behält.

Er sieht mit zusammengekniffenen Augen zu, wie Calebs Old Lady unter herzzerreißendem Schluchzen den Auslöser betätigt, der den Eichenholzsarg auf einer Schiene in die Brennkammer befördert. Der Raum ist mit weißen Blumen und brennenden Kerzen geschmückt. Die Männer vom Bestattungsinstitut stehen mit schicken Anzügen und gesenkten Köpfen daneben. Alles wirkt anmutig und würdevoll. Also exakt das, was der Tod nicht ist.

Ronan erinnert sich daran, wie sein Großvater starb, als er noch ein kleiner irischer Grünschnabel war. Er war der erste, schön drapierte Tote gewesen, dem er gegenüberstand. Heute weiß Ronan, dass nichts am Tod schön ist. Der Anblick seines Großvaters nichts weiter als eine Selbstdarstellung, die die Realität verschleiert. Der Tod ist hässlich und hämisch.

Ronan sieht zu ihrem Präsidenten hinüber, der gerade die letzten Worte gesprochen hat und nun mit einer demütigen Haltung dem Körper seines Vizepräsidenten beim Brennen zusieht. Seine Rede war knapp gewesen, darauf bedacht, nur das Beste zu betonen. Das war kein Tod, der seiner würdig gewesen ist, wiederholt Ronan den Abschlusssatz noch einmal in Gedanken und verkneift sich ein amüsiertes Schnauben. Nein, das war es tatsächlich nicht.

Caleb war zu Lebzeiten kein so großartiger Mann wie ihr Präsident Ezra gewesen, aber er hatte von ihm gelernt, war bereit, in dessen Fußstapfen zu treten. Der ganze Club stand hinter ihm. Als Vizepräsident hatte er in der Vergangenheit oft genug gezeigt, dass er das Zeug hatte, das Nevada Chapter in naher Zukunft anzuführen. Ronan schüttelt kaum merklich den Kopf, als er an Calebs Tod zurückdenkt. Er hatte der verfluchten Klapperschlange schon den Kopf abgeschlagen, ihn in den Händen gehalten, um ihn seinem Sohn zu zeigen, da hat das abgetrennte Mistvieh tatsächlich noch mal zugebissen. Und was macht dieser Vollidiot dann? Behauptete, dass das Gift im Schwanz der Schlange steckt und der Biss gar nicht mehr tödlich ist. Als er seinen Irrtum bemerkte, war es schon zu spät. Ein selten dämlicher Tod.

Und alles, was von der ganzen Scheiße jetzt noch übrig bleibt, ist die brennende Leiche ihres Vizepräsidenten, der nach dem Grillprozess als Häufchen Asche auf dem Kamin seiner Old Lady beim Hausputz zuschauen darf.

Der Tod ist hässlich und hämisch.

Er verlässt das Krematorium als Erster, kann es kaum abwarten, endlich draußen an der frischen Luft zu sein. Dort lehnt er an dem eindeutig zu bunt gestaltetem Willkommensschild in Form eines Grabsteines und steckt sich eine Kippe an. Während er den Qualm erleichtert aus seinen Lungen atmet, sieht er den flüchtigen Wolken nach. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Allmählich löst sich die Trauergemeinschaft auf und läuft in den Sonnenuntergang, wo auf dem Parkplatz des Krematoriums eine Reihe Motorräder auf sie wartet. Erste Motoren dröhnen heulend auf, Staub- und Sandwolken wirbeln hinter den Reifen umher. Ronan hat sich noch nicht bewegt, tut es auch dann nicht, als sich sein Präsident neben ihn stellt. Ezra fährt sich mit der Hand nachdenklich durch seinen weißen, strubbligen Vollbart, hält ihn am Kinn in einer Faust und regt sich nicht mehr.

„Das war ’ne bewegende Rede“, sagt Ronan und stört damit die angenehme Stille zwischen ihnen.

Ezra schnaubt. „Was hätte ich sagen sollen? Scheiße, der Idiot ist als das gestorben, was er sein Leben lang gewesen ist.“

„Als Tierfreund?“, fragt Ronan schmunzelnd.

Sein Präsident schenkt ihm einen spöttischen Blick. „Als verfluchter Oberlehrer. Nenn mir einen, der ihn nicht einen Kopf kürzer machen wollte, wenn er wieder stundenlang über die Flora und Fauna Nevadas referiert hat! Wette, dass er seinem Sohn gerade erklärt hat, wo das Gift aus der Schlange kommt.“

„Schätze, sein Sohn weiß es nun.“

„Du bist ein sarkastischer Bastard, Ronan.“ Ezra lacht heiser auf und lehnt sich neben ihn an das massive Willkommensschild. Sie sind inzwischen die Letzten. Lediglich Ezras Harley Davidson Chopper und Ronans Sportster stehen einsam an der Straße wie treu wartende Begleiter.

„Du weißt, was ich dich nun fragen muss?“ Ezras durch jahrelangen Zigarettenkonsum geprägte Stimme durchbricht die Stille.

„Du kennst meine Antwort.“

„Du hattest damals recht, als du sagtest, dass Caleb ein guter Kandidat ist, den die anderen schätzen lernen werden. Doch die Dinge haben sich geändert. Soll ich jetzt etwa Cope zum Vize machen oder Neil?“

„Nein“, antwortet Ronan ihm bestimmt und sieht zu seinem alten Freund. „Ich bin für den Job nur auch nicht der Richtige.“

„Sagst du mir vielleicht warum?“

Nun blickt Ronan wieder weg von Ezra in die karge Landschaft hinaus. Etwas weiter hinten erheben sich Sandsteingebilde in die Höhe, leuchten feuerrot im Sonnenuntergang. Er kneift die Augen zusammen, als schmerzhafte Erinnerungen seine Gedanken kreuzen. „Ich bin kein Anführer.“

„Ich brauch dich als meine rechte Hand, als den, dem ich vertraue wie keinem Zweiten.“

„Ich geh nirgendwo hin, Ezra. Wenn du mich brauchst, bin ich da. Du hast meine Loyalität und meine Treue, das war noch nie anders.“

Ezra seufzt daraufhin und fährt sich kratzend durch seinen Bart. „Ich kann dich nicht umstimmen? Der Posten schreit nach ’nem Haufen Weiber und Gefälligkeiten.“

„Noch mehr Weiber? Ich komm bei denen, die sich im Clubhaus rumtreiben, schon nicht nach“, sagt Ronan müde lachend.

„Hab ich da was nicht mitbekommen? Hast du dir etwa einen meiner Ratschläge zu Herzen genommen und endlich Trost zwischen zwei Schenkeln gesucht?“

Ronan antwortet darauf nichts, sondern stößt sich von dem Willkommensgrabstein ab und trottet gemächlich auf sein Motorrad zu. Er hört, dass ihm Ezra folgt. Während Ronan ein Bein über den Sattel schwingt und mit einem Seufzen in das weiche Leder gleitet, bleibt Ezra direkt vor ihm stehen. Er greift nach Ronans Lenker und beugt sich zu seinem Freund nach vorn.

„Letztes Wort?“

„Das Clubhaus ist voller potenzieller Kandidaten, denen du nur die Flausen austreiben musst“, antwortet Ronan.

„Du weißt, dass das nicht alles ist, was man ihnen austreiben müsste.“ Ezra schüttelt seinen Kopf frustriert, hält Ronans Lenker weiterhin fest umschlossen und sieht nun zu seinen eigenen, altersgezeichneten Händen hinab. Ronan wartet geduldig darauf, dass Ezra mit den letzten Gedanken rausrückt, die ihm offensichtlich quälend durch den Kopf spuken. Als der alte Mann wieder zu Ronan sieht, trägt er den Blick eines Anführers im Gesicht. „Du wirst ein Auge auf Henry haben. Ich weiß, dass er nicht der Präsident ist, den die Männer sehen wollen. Scheiße, der Junge ist nicht mal das, was ich in ihm sehen will. Aber vielleicht ist da noch eine letzte Chance. Vielleicht kann er sich beweisen, den Respekt der Brüder erlangen. Auch wenn uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Mach einen Anführer aus ihm. Einen, dem die Menschen folgen, weil sie’s wollen und nicht weil sie’s müssen.“

Bevor Ronan den Mund öffnen kann, schließen sich Ezras Hände noch fester um den verchromten Lenker. „Erzähl mir jetzt nicht, dass du dafür auch nicht der Richtige bist, verfluchte Scheiße! Ich weiß, was du aus den zitternden Schlappschwänzen in Irland gemacht hast.“

„Und? Hat’s was gebracht? Wo sind diese Soldaten jetzt?“, antwortet er mit dunkler Stimme.

„Niemand hätte ihr Schicksal aufhalten können. Nicht einmal der härteste Ire, den ich kenne. Du hast geschafft, dass aus dem verweichlichten Haufen noch mal Männer wurden, bevor sie ihrem Schöpfer ins Gesicht blicken durften.“

Ronan schnaubt verächtlich und senkt den Blick, die Hände in seinem Schoß. Ezra macht es sich verflucht einfach bei dieser ganzen Geschichte. Er hat nicht sehen müssen, wie viel Stolz und naive Vaterliebe diese Jungs an den Tag gelegt hatten. Sie waren alle von Anfang an chancenlos gewesen. All die Nahkampftechniken, die Ronan ihnen beibrachte, die Kampfespsychologie, die ihm so oft schon das Leben rettete, waren umsonst gewesen, als die Autobombe den Konvoi in die Luft gejagt hatte. Wenn er nachts nicht von ihr träumte, dann träumte er von all den Gesichtern der Menschen, die nicht mehr lebten. Für die er gestorben wäre, wenn man ihm die Chance gegeben hätte. Doch er lebt noch immer. Bis heute.

Nein, er ist kein Anführer. Er kann unmöglich noch einmal so viel Leidenschaft, so viel Herzblut in Menschen stecken und dann nachts wieder nur ihre toten Gesichter vor sich sehen. Selbst wenn sie noch leben.

Ezra lässt seinen Lenker los und richtet sich schwerfällig auf. Er ist ein hochgewachsener Mann, doch das Alter beginnt an ihm zu nagen, will ihn allmählich in die Knie zwingen. Wie alt er wohl mittlerweile ist? Über sechzig sicherlich. Und er ist müde. Bald schon wird er zu müde sein, um die Straßen mitzunehmen. Caleb hätte dann seinen Posten übernehmen müssen. Er war der Einzige mit Verstand, mit Führungsqualitäten. Er hatte Ezra in seiner Richtung immer zugestimmt, hätte den Club in dem Fahrwasser gelassen, das Ezra nach harter Arbeit endlich erreicht hatte. Doch nun sind all die Pläne hinfällig. Übrig bleibt nur noch ein Haufen Idealisten, Schläger und Dummschwätzer. Er liebt jeden Einzelnen von ihnen wie einen Bruder, aber verflucht noch mal, keiner von ihnen wird dieser Position gerecht. Schon gar nicht Henry, Ezras Sohn. Ein Hitzkopf und Angeber.

Das müsste nicht einmal Ronans Problem sein, denn obwohl er auf das Drängen Ezras hin, das Dublin Chapter verließ und dem Nevada Chapter beitrat, hat er sich bislang immer geweigert, Führungsverantwortung zu übernehmen. Ab und an hilft er bei der Rekrutierung, bildet die Anwärter aus, aber er macht es ohne Liebe zur Sache. Er erledigt es so emotionslos, wie man pissen geht. Sich nun persönlich um Henry zu kümmern, ist eine andere Liga. Er mag ihn nicht sonderlich, das ist jedoch keine Kunst, doch um Ezra nur annähernd zurückzuzahlen, was er ihm schuldet, muss er das Beste aus dem Jungen herausholen. Ronan hat keine Ahnung, ob er es nochmals schafft, so viel Motivation in sich zu wecken.

„Nimm ihn mit auf ’n paar Touren, lehr ihn, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Wann man grausam und wann man mitfühlend sein muss. Du bist in dieser hassverseuchten Welt der Einzige, den ich kenne, dem der Unterschied bewusst ist“, spricht Ezra, sobald er Ronans Zögern bemerkt.

Ronan blinzelt gegen die tief stehende Sonne zu ihm auf. „Ich kann dir nicht versprechen, dass aus ihm nur annähernd ein Mensch wie du wird.“

„Muss er nicht. Ich sauf zu viel, rauch zu viel, wäre gut, wenn er mir nicht in allem nacheifert. Und wenn er nachher nicht Präsident, sondern nur ein besserer Kerl ist, haben wir alle gewonnen.“ Während er das sagt, schwingt sich Ezra routiniert auf sein Motorrad, lässt den Motor aufheulen und schiebt sich rückwärts auf die Fahrbahn. Ronan zögert einen Moment, bis er es ihm gleichtut und ihm auf die sandbenetzte Straße folgt.

Die Sonne ist mittlerweile vollständig vom Horizont verschwunden, hinterlässt lediglich einen blassen Farbverlauf wie einen bunten Schweif. Ronan zieht sein Halstuch über Mund und Nase und verengt die Augen, als sich der kühle Fahrtwind mit den Staubresten mischt. Seine Gedanken hängen während der Fahrt zurück zum Clubhaus weiterhin im Gespräch mit Ezra fest. Er beneidet seinen Freund nicht um dessen aktuelle Position. Caleb wäre nicht er gewesen, aber ein würdiger Nachfolger. Henry ist ein kleiner Junge, nicht einmal ein richtiger Mann, trotz seiner siebenundzwanzig Jahre. Ronan will es sich nicht eingestehen, aber der Grund, warum ihm Ezras Auftrag so aufstößt, ist die Tatsache, dass er nicht glaubt, ihm gerecht zu werden. Egal, wie viel Arbeit er in den Jungen steckt. Er ist zu jung, zu unerfahren. Noch nie zuvor musste Henry Verantwortung übernehmen, Entscheidungen wurden ihm immer von alten, stark behaarten Bikern abgenommen. Das wird auch passieren, wenn sich der Club dazu entscheidet, Henry trotz aller Bedenken zu ihrem neuen Präsidenten zu machen. Und dass sich der Club dazu entscheidet, hält Ronan für so gut wie unmöglich, selbst mit den Einflüssen von Ezra und ihm.

Aber Ronan kennt Ezras Traum, versteht ihn. Er will seine letzte Tour nicht antreten in dem Wissen, dass von ihm nichts übrig bleiben wird als sein Foto an der Clubwand und einem kleinen Scheißer, der seinem Namen keine Ehre machen würde.

Nichtsdestotrotz macht Ezra dieser ganze Mist nun das Leben schwer, und nichts sonst interessiert Ronan. Und das bedeutet eine Menge, denn es gibt wirklich nur noch verdammt wenig, was Ronan in dieser Welt überhaupt interessiert.

Kapitel 2

„Mein Dad? Uff, der ist ein ziemliches Arschloch.“ Livvy zieht an ihrer Zigarette und bläst den Qualm mit vorgeschobener Unterlippe nach oben.

„Aber … bist du nicht seinetwegen hier?“, fragt Chloé neben ihr.

Livvy schenkt ihr nur einen schnellen Blick, zuckt dann achtlos mit den Schultern. „Wenn du damit meinst, dass er mich gezeugt hat. Yep, ich bin nur dank seiner Spermien hier.“

„Nein, ich meine hier in Silver Springs.“

Livvy sieht mit einem Blick zu Chloé, der ihr sagen soll, dass Livvy durchaus klar ist, was sie damit meint. Doch um ehrlich zu sein, hätte Livvy die Frage nur gern umgangen. Gibt es denn eine elegante Art, um zu sagen: Ich bin nur hier, weil mein Motorradgang-Vater der einzige Mensch auf dieser gottverdammten Welt ist, der mir einen Job und ein Dach über dem Kopf geben kann? Vermutlich nicht.

„Ich musste raus aus Carson City, was anderes machen. In Silver Springs gibt’s einfach so viel zu erleben, und das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“

„Ernsthaft?“ Chloés jugendlich wirkendes Gesicht trieft nur so vor Verwunderung.

Livvy verkneift sich mit Mühe und Not ein Augenrollen. Chloé ist unheimlich nett und freundlich, aber nicht wirklich das hellste Licht am Nachthimmel. Jedem anderen Menschen hätte der Sarkasmus in Livvys Stimme schon deswegen auffallen müssen, weil sie sich zusätzlich dazu gerade an einem besonders hässlichen Ort in Silver Springs befinden.

Sie stehen am Hintereingang des Casinos, in dem sie beide an der Bar arbeiten. Neben ihnen ein riesiger, stinkender Müllcontainer, vor ihnen eine weite Betonwüste, die irgendwann durch eine karge Steppenlandschaft abgelöst wird, die man in der Dunkelheit lediglich erahnen kann. Und dann? Dahinter gibt es erst einmal eine ziemlich lange Zeit nichts außer Steppe, Felsen, verdorrte Büsche und ekelhafte Krabbeltiere. Außer wenn man auf Einsamkeit und Trostlosigkeit steht, hat man hier nichts zu suchen. Livvy schafft es einfach nicht nach den knapp vier Monaten, die sie bereits hier weilt, ihre Abneigung gegen alles und jeden an diesem Ort zu verbergen. Fairerweise muss man dazu aber auch sagen, dass sie es gar nicht groß versucht.

Aber Chloé, das kleine Naivchen vom Land, die nie aus Silver Springs weggekommen ist, schien eigenartigerweise einen Narren an ihrer neuen Kollegin gefressen zu haben. Vielleicht sucht sie auch deshalb Livvys Nähe, weil sie weiß, dass Livvy nicht nur eine neue, unbedeutende Kollegin ist. Sie ist zudem die Tochter von Copeland Franklin, dem Sergeanten des Motorradclubs der Death Raiders. Und diesem berühmt-berüchtigten Club gehört zufälligerweise das Casino, in dem sie arbeiten. Es ist keine Sache, auf die Livvy besonders stolz ist. Weder auf ihren Vater, mit dem vierthöchsten Rang des Clubs, noch auf den Club selbst oder gar den Job, den sie nur dadurch erst erhalten hat. Sie befindet sich aktuell an dem tiefsten Tiefpunkt ihres jungen Lebens, das ist ihr klar. Aber so sehr sie auch versucht, sich diese Stelle ihres Lebens mit Sarkasmus und Gleichgültigkeit schönzureden, allein dass sie in dem schäbigen Hinterhof in Fliege, Hemd und einer lächerlichen Weste steht und dem Ende ihrer Barkeeperschicht entgegenfiebert, ist eine ständige Erinnerung daran, dass ihr Leben noch nie zuvor so beschissen war.

Livvy will sich gerade zusammenreißen und Chloé eine Antwort geben, die etwas versöhnlicher klingt, als ihr Handy in der Schürze vibriert. Die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger flippt sie durch die Nachricht ihres Vaters.

Schon Feierabend? Komm anschließend ins Clubhaus.

Sie verkneift es sich, darauf mit Aye, aye, Sir zu antworten, und schiebt das Handy mit einem Seufzen in die Thekenschürze zurück.

„Ich werd mich dann mal auf den Weg machen.“

„Gehst du noch ins Clubhaus?“ Chloé sieht sie mit großen Augen an.

Ihre Faszination den Club betreffend wird Livvy wohl nie nachvollziehen können, vielleicht muss man dazu in der Gegend aufgewachsen sein. Die Death Raiders sind immerhin kein kleines Licht hier. Neben dem Casino sind sie Inhaber von zahlreichen Läden in der Umgebung. Tätowierstudios, besonders kundenfreundliche Massagestudios und sogar unabhängige Tankstellen zählen zu ihrem Besitz. Alles selbstverständlich legal und absolut vertrauenswürdig.

„Nur kurz, schätze ich. Mein Dad will mich sehen.“

„Du hast echt Glück, dass du eine Angehörige bist und da raus- und reinspazieren kannst, wie du willst.“ Chloé lehnt ihren blonden Bubikopf gegen die Hauswand und seufzt.

„Warst du schon mal im Clubhaus?“

„Einmal. Zu einer Party. Eine Freundin von mir, Megan, hatte was mit einem Mitglied. Sie war echt kurz davor seine Old Lady zu werden, doch dann hat er sie abserviert. Als das noch lief, hat sie mich zu dieser Party mitgenommen. Der Ton da ist ein ziemlich rauer, aber das sind noch echte Männer und nicht so verweichlichte Typen, die sonst so rumlaufen.“

Ja, echte, saufende, furzende und stinkende Männer, die sich selbst für die Größten im Land halten, denkt Livvy zynisch, verkneift sich aber jeden Kommentar. Hauptsächlich, weil Chloé mit ihren Ausführungen noch nicht fertig zu sein scheint. Sie lehnt sich im Schatten der Hauswand ein wenig nach vorn, als wenn sie Livvy in ihr größtes Geheimnis einweihen will.

„Ich habe damals da einen Kerl kennengelernt. Einen Anwärter, der bald seine Kuttentaufe bekommt. Wir schreiben uns ab und zu, aber er ist echt superschwer beschäftigt im Club und deswegen klappt es nicht, dass wir uns wiedersehen. Als Anwärter muss man den ganzen Scheiß machen, ständig auf Abruf stehen, da hat man kaum Zeit für anderes. Aber wenn er Vollmitglied ist, dann kann das echt was mit uns werden.“

Es fällt Livvy schwer, ihre Gesichtszüge neutral zu halten, während sie in Gedanken Oh, Süße stöhnt.

„Wie heißt er? Vielleicht kenne ich ihn.“

„Davis.“

Livvy kennt ihn tatsächlich, doch das wird sie Chloé unter keinen Umständen sagen. Denn dass sie ihn kennt, liegt nur daran, dass er sie auf eine äußerst plumpe Art versucht hat anzubaggern, als sie gerade mal zwei Tage in Silver Springs war. Also noch bevor er wusste, dass sie Copes Tochter ist. Seitdem würdigt er sie keines Blickes mehr, als würde er lichterloh in der Hölle brennen, wenn er nur einmal kurz zu ihr sieht. Vermutlich einer der wenigen Vorteile, Copes Tochter zu sein. Vermutlich sogar der einzige Vorteil.

„Hm.“ Livvy wiegt den Kopf kurz hin und her. „Nee, sagt mir nichts. Aber so oft bin ich nicht da.“

„Na ja, vielleicht siehst du ihn und grüßt ihn von mir.“ Chloé zuckt mit ihren zierlichen Schultern, als wäre es keine große Sache.

Aber Livvy sieht genau, dass hinter ihren Worten große Wünsche stehen, die ihr ein Idiot wie Davis sicherlich nicht erfüllen kann. Mit einem Schlag hat sie Mitleid mit ihr. Es ist egal, ob sie große Gefühle für ihn empfindet, aber es steht außer Frage, dass er sie wie Scheiße behandelt. Dass dieser Umgang mit Frauen an der Tagesordnung des Clubs steht, ist Livvy nicht zum ersten Mal aufgefallen, aber Chloé wirkt so verletzlich, auch wenn sie versucht, es nicht zu zeigen.

„Hey, nächsten Monat hat Henry Geburtstag und feiert im Club. Wenn du magst, dann nehm ich dich mit.“

Chloés Gesicht beginnt sofort zu strahlen, und Livvy bereut ihre Aussage in diesem Moment schon wieder. Sie hatte gehofft, dass Chloé dadurch erkennen würde, was Davis für ein mieser Kerl ist und schlussendlich mit ihm abschließen kann. Doch für Livvy bedeutet das nun, dass sie selbst daran teilnehmen muss, und vor solchen Events hat sie sich bislang, wo es nur ging, erfolgreich drücken können.

„Gott, Livvy, das wäre echt der Wahnsinn! Danke!“

„Kein Ding.“ Livvy quält sich zu einem Lächeln und schnippt die Zigarette auf den Betonboden. „Ich muss jetzt los.“ Bevor sie eilig von hier verschwinden kann, hat Chloé sie in eine innige Umarmung gezogen, die Livvy ein überraschtes Japsen entlockt. Mit Mühe kämpft sie sich frei und betritt das Casino durch den seitlichen Mitarbeitereingang.

Es ist fast Mitternacht und sie hundemüde. Eigentlich will sie auf dem schnellsten Weg in ihr Bett, aber da das Clubhaus der Death Raiders direkt an das Casino angrenzt, kann sie ihrem Vater nicht glaubhaft vermitteln, warum sie seiner Aufforderung nicht nachgekommen ist. Außerdem, und das gesteht sie sich nur zähneknirschend ein, ist sie neugierig. Heute war Calebs Beerdigung. In den vier Monaten, die Livvy inzwischen in Silver Springs lebt, hat sie den Vizepräsidenten als einen angenehmen, geschwätzigen Mann erlebt, der immer ein freundliches Lächeln für sie übrig hatte. Ja, seine Vorträge über die Pflanzen Nevadas waren nervtötend und einschläfernd gewesen, aber im Gegensatz zu ihrem grobschlächtigen Vater war er ein Typ Biker, mit dem sie besser zurechtkam.

Und nur, weil sich Livvy nicht sonderlich für die Sitten und Bräuche der Raiders interessiert, heißt es nicht, dass sie sie nicht versteht. Calebs Tod reißt eine Lücke in die Clubstruktur, und sie kann sich nur eine Person vorstellen, die diese Lücke füllen kann. Sie schüttelt kurz energisch den Kopf, um die Gedanken an Ronan loszuwerden, während sie sich in der Mitarbeiterumkleide in ihre normalen Klamotten wirft.

Die Verbindungstür zum Clubhaus erreicht man über einen langen Flur im Casino, der nur von leitenden Angestellten betreten werden darf. Hauptsächlich, weil hier auch die Einnahmen des Tages gelagert werden. Als Tochter eines Raiders-Mitgliedes besitzt Livvy eine Chipkarte, die ihr Zugang zu diesem Bereich gewährt.

Es fühlt sich immer wieder so an, als würde sie auf das Höllentor höchstpersönlich zulaufen, wenn sie am Ende des Ganges auf die auffällig dekorierte Clubtür zusteuert. Zahlreiche Totenschädel, Bikersymbole und Warnhinweise wirken überaus einladend auf jeden hier.

Der Kontrast von dem Flur zu dem Raum dahinter könnte größer kaum sein. Von dem hell erleuchteten, fast steril wirkenden Casinogang kommt man auf direktem Weg in den Aufenthaltsraum des Clubs. Alles wird schlagartig dunkel und bedrückend. Eine Duftwolke aus kaltem Zigarettenrauch und nassem, nach Alkohol stinkendem Holz schlägt einem entgegen. Im Hintergrund läuft stets irgendeine Hardrockband, die sich mit tiefem Stimmengemurmel mischt. Doch nicht heute. Heute ist zu Livvys Verwunderung alles still.

Sie verharrt einen Augenblick, die Tür noch in ihrer Hand, und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Der Haupteingang zum Clubhaus liegt auf der gegenüberliegenden Seite. Er führt zu einer Art Hinterhof, in dem all die heiligen Motorräder stehen und der nicht über den US-Highway zu erreichen ist wie das Casino, sondern nur über eine Schotterpiste. Jeder weiß zwar, wie das Hauptquartier des Nevada Chapters zu finden ist, aber keiner will, dass man rein- und rausspazieren kann, wie man möchte. Doch Livvy hat das Gefühl, dass die Menschen hier sowieso so viel Schiss vor den Raiders haben, dass keiner es wagen würde, wenn ihm sein Leben teuer ist.

„Liv?“ Eine Stimme reißt sie aus den Gedanken. Sie kommt von der schmuddligen Couchecke direkt unterhalb einer verschmierten und getönten Fensterfront. Es ist nur spärliches Kneipenlicht an, doch sie erkennt Henry trotzdem auf einer schwarzen Ledercouch sitzend, die Arme über die Lehne ausgebreitet.

„Hey Henry“, antwortet sie ihm und schließt die Tür hinter sich, tritt an der urigen Holzbar vorbei in seine Richtung. „Wo sind die anderen?“

Er nickt mit dem Kinn nach oben, wo eine Treppe in die heiligsten Hallen des Clubs führt. „Sind noch in einer Versammlung.“

„Und was machst du dann hier?“ Sie lehnt sich mit verschränkten Armen an einen Holzpfosten, der die Bar in der Mitte des Raumes begrenzt. Beide Arme über die Lehne ausgestreckt, das Bein lässig an dem Knöchel über das Knie gelegt, wirkt er, als würde ihm der Club gehören. Er hebt sein Kinn leicht an, sein Mundwinkel zuckt verräterisch.

„Schätze, die reden über mich. Ich wollte sie dabei lieber allein lassen.“ Nun zuckt er mit den Schultern, als wäre es keine große Sache.

Livvy erkennt jedoch die gespielte Geste. Henry ist ein Blender durch und durch. Er läuft immer ein bisschen breitbeiniger, schaut immer ein bisschen finsterer als alle anderen. Nur mit dem Unterschied, dass es bei ihm aussieht, als würde es ein Zwölfjähriger tun. Er würde ihr vermutlich den Kopf abreißen, wenn sie das laut sagen würde.

„Warum sollten sie das tun?“, fragt sie. Hauptsächlich, weil sie weiß, dass er diese Frage erwartet.

„Sorry, Kleine. Das ist Clubangelegenheit.“ Henry schmunzelt mit geneigtem Kopf.

Sofort bereut Livvy, dass sie überhaupt gefragt hat. Manchmal hat sie das Gefühl, mit Henry einen anderen, offeneren Umgang pflegen zu können als mit den anderen. Nur, weil er ungefähr in ihrem Alter ist. Aber in solchen Momenten wird ihr klar, dass man mit Henry am besten gar keinen Umgang pflegt.

Er sieht einen eindeutig zu langen Moment zu ihr, dann erhebt er sich ruckartig, nur um anschließend in gemächlichen Schritten näher zu kommen. Livvy spannt sich innerlich an, doch nach außen hin lässt sie es sich nicht anmerken, sie verengt die Augen lediglich leicht, warnend. Er kratzt sich an der Seite seines abrasierten Schädels, da wo er sich eigenartige Tribals in sein dunkelblondes Haar rasiert hat. Mit dem Mohikanerhaarschnitt und der etwas zu groß wirkenden Lederjacke sieht er eher aus wie ein Hipster als ein Biker. Noch etwas, was sie lieber nicht laut sagt.

„Kannst es dir sicherlich auch so denken. Bist doch ’n schlaues Mädchen, oder nicht? Caleb ist tot, und nun werden die Karten neu gemischt. Das ist ’ne große Sache für uns alle.“

Warum er dabei das Wort alle ganz besonders betont, begreift Livvy einen Hauch zu spät. Ein amüsiertes Lächeln huscht über sein jugendliches Gesicht, welches er auf erbärmliche Art mit einem löchrigen blonden Dreitagebart älter erscheinen lassen will.

„Eigentlich ein Unding, dass Fox News eure Wahlen nicht live überträgt, dabei könnte es den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern.“ Livvy schenkt ihm ein breites, künstliches Lächeln und neigt unschuldig ihren Kopf.

Henry lacht daraufhin heiser auf, wedelt mit dem Zeigefinger vor ihrer Nase herum. „Du bist ’n ziemlich freches Ding, weißt du das, Kleine?“ Er lehnt sich nach vorn zu ihr. Livvy presst ihren Rücken fester an die Holzsäule zurück. „Aber ich steh drauf“, raunt er und stützt sich kurz oberhalb ihres Kopfes mit der Hand an dem Pfosten ab.

Livvy schwankt noch zwischen der Möglichkeit, ihr Knie zwischen seine Beine zu rammen oder sich elegant aus seiner Nähe zu winden, als die Treppenstufen zu ihrer Seite knarren. Sie sieht erschrocken zu der Treppe, als Ronan als Erster in den Aufenthaltsraum tritt. Sein ausdrucksloser Blick schweift von ihr zu Henry und dann zielsicher zu Henrys Hand, die noch immer kurz oberhalb ihres Kopfes den Pfosten umgreift. Hastig zieht Henry sie weg, doch diese überhastete Reaktion macht all das wohl nur noch offensichtlicher. Sie kann sehen, dass Ronan kurz zögert, dann greift er jedoch nach einer Zigarette, die hinter seinem Ohr klemmt, steckt sie sich gemächlich an und kommt in langsamen Schritten auf sie zu. Er bleibt neben Henry stehen, würdigt Livvy keines Blickes. Im direkten Vergleich wirkt er um einiges stärker und Respekt einflößender als Henry, der irritiert zu ihm aufsieht.

„Komm mit, Junge“, murmelt Ronan und pustet den Zigarettenqualm lässig aus seinem Mundwinkel.

„Ich spreche gerade mit Livvy.“

„Das war keine Bitte.“ Ronan wendet sich ab und schlendert auf den Ausgang des Clubhauses zu.

Henry sieht ihm nach, und Livvy kann erkennen, wie er die Zähne fest aufeinanderbeißt. Dann huschen seine Augen nur einen Sekundenbruchteil lang zu Livvy, und ohne ein Wort zu sagen, folgt er Ronan nach draußen.

Was zur Hölle war das denn? Dabei weiß Livvy nicht einmal, ob sie Henrys selbstbewussten Vorstoß ihr gegenüber oder Ronans Auftritt meint. Er schert sich normalerweise nicht um Henry, wie es andere tun. Keine Ahnung, ob Livvy die beiden jemals miteinander hat sprechen sehen. Aber auf der anderen Seite gibt es sowieso nur wenige, mit denen sie Ronan sprechen sieht. Was daran liegen könnte, dass er generell sehr wenig spricht.

Henrys Reaktion auf Ronan wiederum ist typisch. Ronan ist zwar ein stiller Typ, aber wenn er mal spricht, dann hört jeder zu. Es macht den Eindruck, als wäre alles, was er sagt, bis ins Kleinste durchdacht. Damit ist Ronan so ziemlich das Gegenteil von Livvy und ihrem losen Mundwerk.

Aber Gegensätze ziehen sich bekanntlich an, oder nicht? Livvy sieht eilig von der Tür weg, durch die die beiden eben noch verschwunden sind, als könnte Ronan ihre Blicke selbst durch die Wand spüren. Seit diesem einen kurzen Moment vor einem knappen Monat schafft sie es einfach nicht, ihre Gedanken in Bezug auf ihn unter Kontrolle zu bekommen. Und das ist ihr in ihrem bisherigen Leben wirklich äußerst selten passiert.

Den Mitgliedern des Clubs ist es untersagt, in dem Casino in ihren Kutten herumzulaufen, um die Gäste dort nicht unnötig zu verschrecken. Aufgrund Ronans fehlender Kutte hatte sie ihn deshalb zunächst nicht bemerkt, bis zwei aufdringliche Gäste direkt vor ihrer Nase zu pöbeln begonnen hatten. Es kam laut Chloé immer mal wieder vor, dass sich betrunkene, frustrierte Spieler an sie heranmachten. Normalerweise reichte es aus, einen schnellen, Hilfe suchenden Blick zu dem Wachmann zu werfen. Sein Platz war allerdings an diesem Abend leer gewesen. Also hatte Livvy versucht, selbst Herrin der Lage zu werden, was dank ihrer großen Klappe dazu führte, dass die Männer mehr angestachelt als abgeschreckt wurden. Aus Deeskalationssicht war es auch nicht die beste Idee gewesen, die beiden Kerle mit Fäkalsprache dazu aufzufordern, den Raum zu verlassen.

Die Lage schwang vollständig um, als einer der beiden langsam wie ein Tier auf der Jagd, den Tresen umrundete. In diesem Moment war Ronan aufgesprungen, hatte den Kerl am Kragen gepackt und so heftig nach hinten gerissen, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Rücken fiel wie eine Schildkröte. Im Sekundenbruchteil war Ronan über ihm gewesen, hatte seinen Fuß auf dessen Kehle gestellt und sein Messer in Richtung des zweiten Kerls gezückt. Unter ihm gurgelte und keuchte der Typ, versuchte, wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu schnappen, während Ronan bewegungslos auf dessen Luftröhre stand. In diesem Moment waren die Wachmänner aufgetaucht, die die beiden Männer mit sich nahmen. Alles geschah in so unglaublicher Geschwindigkeit, dass Livvy bis heute nicht weiß, ob das tatsächlich geschehen ist. Zumal Ronan ihr gegenüber nie ein Wort darüber verlor. Nachdem die Kerle verschwunden waren, hatte er ihr nur einen seiner finsteren Blicke zugeworfen. Als wäre all das ihre Schuld gewesen. Üblicherweise hätte sie sich bei ihm bedankt oder ihn für diesen schuldvollen Blick angeschnauzt, aber entgegen ihrem normalen Verhalten hatte sie ihm lediglich hinterhergestarrt.

Seither versucht sie, aus neutraler Distanz zu verstehen, warum er ihr nicht mehr aus dem Kopf geht. Warum er sich so eigenartig verhält. Alles, was sie bislang über ihn herausfinden konnte, ist, dass er ein geheimnisvoller Mann ist, aus dem sie nicht schlau wird. Und das ist tatsächlich nicht viel.

Dabei ist seine Art nicht das größte Hindernis an der Sache. Ronan ist nicht nur knapp älter. Er ist beachtlich älter als sie. Wie alt genau weiß sie nicht, aber sie schätzt ihn auf Anfang oder Mitte vierzig. Und mit ihren fünfundzwanzig Jahren liegt einiges an Jahren zwischen ihnen. Es ändert allerdings nichts an dieser eigenartigen Anziehungskraft, die sie ihm gegenüber empfindet. Die Fältchen um die Augen, wenn er sie missmutig verengt oder die grauen Strähnen in seinen dunklen Haaren, die er sich immer wieder hinter sein Ohr streicht, stören sie nicht im Geringsten. Sie ertappt sich dabei, wie sie ihm fasziniert zusieht, wenn ihm die Strähnen ins Gesicht fallen, seinen dunklen, mysteriösen Blick verbergen. Dann wünscht sie sich zu verstehen, was sich hinter diesem Blick verbirgt, und im nächsten Moment schämt sie sich schon fast für diese Gedanken.

Denn das Letzte, was Livvy in ihrer beschissenen Situation gebrauchen kann, ist eine teenagerhafte Schwärmerei für einen irischen Biker, der mit der Lebensform, die hier zelebriert wird, so gar keine Probleme zu haben scheint.

Kapitel 3

Ronan wartet geduldig, bis Henry hinter ihm auftaucht. Er hat dem Jungen den Rücken zugedreht, als die Schritte stoppen. Die Kippe zwischen den Lippen dreht er sich zu ihm herum und schlägt ihm mit der Faust gegen das Jochbein. Er trifft ihn nicht richtig, rutscht leicht ab, was Glück für Henry bedeutet. Ein Glück, über welches sich Henry in diesem Moment ganz und gar nicht freut.

„Scheiße! Fuck! Hast du sie noch alle?“, brüllt der Junge vor ihm und betastet sich die Wange in einer nach vorn gebückten Haltung.

Ronan zieht an seiner Kippe, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hält, und lockert kurz seine verkrampfte Faust. Immerhin hat es den Jungen nicht von den Füßen gefegt, das spricht für ihn.

Anstatt Henry eine Antwort zu geben, packt er ihn am Hemdkragen und drängt ihn wortlos zurück, bis er mit einem Stöhnen gegen die Hauswand prallt. Dann nimmt er die Kippe in aller Seelenruhe aus dem Mund und wirft sie achtlos zur Seite.

„Was glaubst du, was passiert wäre, wenn stattdessen Cope als Erstes runtergekommen wäre, hm?“, knurrt Ronan mit tiefer Stimme.

Henry versucht, sich aus dem Griff zu winden, aber er hat keine Chance bei seinem Gegenüber. „Was? Glaubt Cope etwa, dass sie ’ne verfickte Jungfrau ist?“

„Bist dümmer, als du aussiehst, wenn du glaubst, dass das eine Rolle spielt. Pack sie noch mal an und er wird dich einen Kopf kürzer machen, hast du das verstanden?“ Ronan sieht Henrys widerspenstige Augen in der Dunkelheit aufleuchten. Er ist meilenweit davon entfernt, irgendetwas zu verstehen, was von Bedeutung ist. Wie konnte aus Ezras Genen nur so ein Vollidiot entstehen?

Er erwidert nichts, doch das reicht Ronan für den Moment. Langsam lässt er Henry los, der seine Klamotten richtet und sich mit einem Zischen an die gerötete Wange fasst. Er hat nicht einmal einen Kratzer. Schade eigentlich.

„Was willst du von mir?“, fragt Henry, als Ronan keine Anstalten macht, etwas zu sagen.

Er starrt ihn nur an und versucht sich einzureden, dass er schon schlimmere Kandidaten vor sich hatte. Doch das waren andere Zeiten. Er war damals ein anderer Mensch. Es gibt keine Faser in seinem Körper, die Bock darauf hat, sich länger als notwendig mit diesem Kerl zu beschäftigen.

„Du wirst kein Vize werden. Ich hoffe nicht, dass du so dumm warst und dir darauf Hoffnungen gemacht hast.“ Er sieht die Überraschung in Henrys Blick und ist sich sicher, dass genau das der Fall war.

Henry schnaubt verächtlich. „Was? Weil du es wirst? Ist es das, worum es hier ging?“ Er deutet auf seine gerötete Wange.

„Nein, das war einzig nur, weil du Copes Mädchen angepackt hast. Und nein, ich werd’s auch nicht werden.“

„Wer dann?“, fragt Henry überrascht. Er lehnt wie ein Schluck Wasser an der Wand zum Clubhaus, als würde er sich nicht trauen, sich vor Ronan zur vollen Größe aufzurichten.

Ronan gibt ihm etwas Raum, indem er einen Schritt zurücktritt, und verschränkt die Arme vor der Brust. „Niemand. Vorerst.“

„Verarschst du mich? Mein Dad stellt die Regeln des Clubs infrage, weil er weder dir noch mir das zutraut?“ Nun richtet er sich endlich vor Ronan auf.

„Falsch. Ezra traut es nur dir nicht zu. Ich hab abgelehnt.“

„Warum solltest du das tun?“

„Das geht dich nix an, Junge. Fakt ist, dass Ezra dich gern auf dem Posten sehen würde, aber leider ist er damit der Einzige am Tisch. Du hast dich nicht gerade beliebt gemacht. Und mit solchen Aktionen wie eben wird das auch ’ne Weile so bleiben.“ Ronan nickt zur Eingangstür, hinter der sich noch immer irgendwo Livvy befindet. Dann tritt er erneut einen bedrohlichen Schritt auf Henry zu, der versucht, nicht eingeschüchtert zu wirken. Aber Ronan kann das Unbehagen in seinen Augen sehen. Das muss er in den Griff bekommen, wenn aus ihm was werden soll. „Willst du den Posten?“ Ronans durchdringender Blick bohrt sich in Henrys, der nach anfänglicher Skepsis in Entschlossenheit wechselt.

„Ja“, antwortet er mit fester Stimme.

„Dann musst du kapieren, dass das hier nicht dein beschissenes Königreich ist. Nur weil dein Daddy auf dem Thron sitzt, wirst du das noch lange nicht, verstanden?“

Henry nickt, hängt nun an Ronans Lippen.

Ronan lässt sich einen Augenblick Zeit, bis er weiterspricht. Sein Blick springt abwartend zwischen Henrys Augen hin und her. Er sieht keine Abwehr mehr in ihnen, nur Neugierde, Offenheit. Exakt das, was er braucht, um weiterzukommen.

„Die Männer da drin müssen für dich stimmen, also musst du ihnen beweisen, dass du die Eier hast, sie zu führen. Tatsache ist, dass du die nicht hast. Noch nicht. Ezra hat mich gebeten, dir welche zu verpassen.“

„Was soll das heißen?“

„Dass wir beide uns in nächster Zeit häufiger sehen werden. Es gibt einiges zu tun, was Calebs Job gewesen wäre. Das werden wir übernehmen, und du wirst dich nicht anstellen wie das verwöhnte Balg einer Luxusfamilie, haben wir uns da verstanden?“

Nun kehrt erneut Trotz in Henrys Blick zurück. „Was soll mir das bringen? Nur weil ich Caleb hinterherräume, wird mich keiner da drin wählen.“

„Das nicht“, sagt Ronan zustimmend. „Aber wenn du mich überzeugst, werden sie vielleicht meinem Rat folgen.“

Daraufhin schweigt Henry, und Ronan kann sehen, wie sich seine Gedanken zu überschlagen beginnen. Er weiß, dass die Männer Ronan respektieren. Dass sie ihn vermutlich sogar eher auf dem Posten hätten sehen wollen als Caleb. Ronan ist ein aufrichtiger, direkter Mann. Sagt er, dass Henry ein guter Nachfolger wird, glauben sie ihm. Das weiß Henry ebenfalls, aber am Ende seiner Gedankenkette bleiben noch immer Zweifel.

„Du wirst mich doch nie empfehlen.“

„Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es tue. Aber ich geb dir eine Chance, Junge. Du bist ab sofort ein unbeschriebenes Blatt für mich. Überzeug mich, und du überzeugst sie.“ Er nickt zu dem Clubhaus hinüber. Sie sehen sich einen Augenblick schweigend an, bis Henry schließlich mit dem Kopf nickt, die Lippen aufeinandergepresst. Ronan erwidert das Nicken knapp und wendet sich dann ab. Auf halber Strecke zu der Eingangstür späht er nochmals über seine Schulter zurück.

„Und vergiss gefälligst die Kleine da drin. Die macht dir nur Ärger.“

Im Aufenthaltsraum herrscht mittlerweile Leben. Ein AC/DC-Klassiker dröhnt aus den Boxen, lautes Männerlachen füllt den Raum und es stinkt nach frischem Zigarettenqualm, Leder und Männerschweiß. Ronan will sich nur in sein Zimmer verkriechen, sich da vielleicht noch ein Glas Whiskey in den Rachen kippen und dann pennen gehen, doch stattdessen bleibt sein Blick an Livvy hängen.

Verflucht, die Kleine macht es ihm echt nicht leicht. Kein Wunder, dass er sie andauernd aus den Fängen von Idioten befreien muss. Sie lehnt an der Bar, hat ihre Arme bockig vor dem Körper verschränkt. Es ist Mai, und in der Nacht kann es hier schon mal an die null Grad werden. Doch sie steht hier, in einer knappen Jeansshorts und einem weit aufgeknöpften Flanellhemd in einem Raum voller notgeiler Biker. Copes Tochter hin oder her, aber bei manchem reicht schon ein Vollrausch aus, um diese Tatsache schnell zu vergessen.

Ronan sieht sich um, kann Cope aber nirgendwo entdecken, was wohl der Grund für die Schnute ist, die Livvy zieht. Er atmet tief ein und aus und schlendert in ihre Richtung. Dort umrundet er den Tresen und greift sich ein Whiskeyglas samt passender Flasche. Als er zu ihr aufsieht, blickt sie neugierig zu ihm. Anbietend hebt er die Flasche in die Höhe.

„Ich muss fahren“, erklärt sie mit einem Hauch Verwunderung in der Stimme.

Weil er ihr etwas anbietet? Oder weil er ihre Nähe sucht? Wer weiß das schon.

„Schätze, dein Dad wird das übernehmen, sobald er alles mit Ezra besprochen hat.“ Ronan nickt nach oben, wo sich Ezra, Neil und Cope über den letzten Verwaltungskram unterhalten.

„Mein Dad wird sicherlich mit seiner Maschine fahren wollen, und ich bevorzuge dann doch meine vier Reifen.“

Ronan entgeht dabei nicht ihre Betonung des Wortes Dad, als würde sie die Bezeichnung für ihren Vater lächerlich finden.

Cope hat ihm von seiner Tochter erzählt, schon bevor sie eines Tages vor seiner Tür stand. Er hat sie und ihre Mutter verlassen, als Livvy gerade einmal sechs war. Eine seiner größten SündenDeath Raiders