Buchcover

Anny von Panhuys

Die geheimnisvolle Besucherin

Roman

Saga

1.

Albin Albus hatte als Vertreter einer grossen Wäschefabrik in ein sehr angesehenes, man konnte sagen „tonangebendes“ Wäschegeschäft Berlins hineingeheiratet.

Bald starben seine Schwiegereltern, dann, vor ungefähr einem Jahr, verschied auch seine junge Frau und nun lebte er mit seinem um zehn Jahre jüngeren Bruder Günter zusammen, der auf seine Kosten in Berlin Musik studierte. Sie stammten aus einem Krähwinkelort im Schwarzwald. Wie zwei Junggesellen lebten sie, und eine Wirtschafterin sorgte für den Haushalt.

Die Brüder ähnelten sich, aber die Züge des älteren verrieten Energie, manchmal eher Dickköpfigkeit; der jüngere hatte einen frauenhaft weich geschweiften Mund. Vielleicht hätte ein Menschenkenner Günter Albus für einen nicht ganz standfesten Charakter gehalten.

Es war etwas nach sieben Uhr abends, der Stunde des Geschäftsschlusses. Die Rolläden schoben sich langsam über die Schaufenster des Wäschegeschäfts von Edlow, Nachfolger Albin Albus, entzogen den Blicken der Vorübergehenden die geschmackvollen Wäschestücke, die auch das Herz einer verwöhnten Frau höher schlagen liessen. Nachtgewänder und Schlafanzüge lagen in den Fenstern, die in Mädchen und Frauen das heisse Verlangen erwecken, dergleichen tragen zu dürfen. Tageswäsche lockte, die von Feenhänden gearbeitet schien.

Das Beste und Eleganteste, was hier zur Schau ausgestellt wurde, war in der eigenen Arbeitsstube angefertigt worden, die Karola Michael seit dem Tod der jungen Frau leitete.

Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt, aber es ging ihr im Beruf alles spielend leicht von der Hand, so leicht wie einer, die über die Übung von Jahrzehnten verfügt. Der Vergleich passte nicht, denn Übung kann niemals Begabung voll und ganz ersetzen, Karola schien für ihren Beruf geboren. Sie entwarf lässig und schnell immer neue und schicke Modelle von Wäschestücken, stellte Stoffe und Spitzen und Stickereien so geschmackvoll und reizvoll zusammen, dass sie zu einmaligen Wunderwerken wurden.

Albin Albus wusste, was für eine besondere Könnerin seine Direktrice war, und hatte es sich schon überlegt, dass es am klügsten wäre, wenn er diese Perle für immer an sein Geschäft fesselte, indem er sie heiratete, was ihn ausser dem praktischen Beweggrund auch sonst ein ganz angenehmes Vorhaben dünkte. Denn Karola Michael war schlank und blond und auffallend hübsch.

Schon so manches liebe Mal hatte ihn ein ungestümes Verlangen, ihren frischen Mund zu küssen, beinah überwältigt, aber immer war ihm noch rechtzeitig eingefallen, er könne sich bei ihr durch Voreiligkeit schaden. Er musste eine passende Gelegenheit abwarten, um ihr zu sagen, wie er sich ihre gemeinsame Zukunft dachte.

Ja, die erstbeste passende Gelegenheit musste er dazu benützen.

Karola wollte eben als letzte die Arbeitsstube verlassen, als sich die Tür öffnete und Günter Albus hastig eintrat. Er lächelte Karola zärtlich an, sagte halblaut: „Ich konnte nicht über mich bringen, Dich ohne Abschiedskuss gehen zu lassen.“

Er trat näher und sie lächelte ihn auch an, machte ihm aber leise den Vorwurf: „Dasselbe erzählst Du mir fast jeden Abend und Du sollst doch vorsichtig sein! Ich glaube nicht, dass es Deinem Bruder recht wäre, wenn er wüsste —“

Sie verstummte. Günter Albus hatte ihren Mund mit seinen Lippen verschlossen. Er hielt die schlanke Blondine so fest in den Armen, als dächte er nicht daran, sie je wieder freizulassen.

Sie machte ein paarmal den Versuch, sich loszuwinden, aber er hielt sie fest und küsste sie weiter.

Neben der Arbeitsstube befand sich ein Raum wie ein grosses langgestrecktes Zimmer. Hier standen ein Dutzend Gliederpuppen von grosser Menschenähnlichkeit. Zwölf stumme, starre, aber sehr reizvolle Mannequins in Schlafanzügen, Nachtgewändern oder in geschmackvoller Tageswäsche hatten hier ihr Heim. Albin Albus nannte ihren Aufenthaltsort den „Ausstellungssaal“. Besonders schicke und teure Wäsche wurde hier an den schweigsamen, immer dienstwilligen Helferinnen ausgeprobt auf Sitz und Wirkung.

Junge Bräute, die sich die Leibwäsche für ihre Ausstattung anschafften, verliessen den „Ausstellungssaal“ manchmal mit Herzklopfen, so schwer war ihnen die Wahl geworden.

Jedes Wäschestück ist ein Gedicht! hatte einmal eine verwöhnte Dame vor den zwölf leblosen Vorführdamen entzückt ausgerufen. Albin Albus liess den Satz in grossen goldenen Buchstaben auf schwarzem Glashintergrund festhalten. In breitem gekehltem Rahmen von stumpfem dunklem Holz nahmen die Worte fast die halbe Wand des „Ausstellungssaales“ ein: Jedes Wäschestück ist ein Gedicht!

Durch die Tür, die von seinem Büro ins Reich der grossen Modepuppen führte, trat der Chef, und sein heller, immer kühl wirkender Blick überflog zufrieden die zwölf Getreuen. Heute nachmittag waren sie alle neu eingekleidet worden, und morgen würden wieder entzückte Ausrufe begeisterter Kundinnen das Werk loben, das die fleissige und begabte Karola Michael geschaffen hatte.

Er blieb vor einer blonden Puppe stehen, die ein loses, lachsfarbenes Morgenkleid mit der Anmut einer jungen lebenswarmen Frau trug. Es glitt ihm durch den Kopf, Karola selbst müsse in diesem Morgenkleid bezaubernd aussehen.

Er schmunzelte unwillkürlich. Es war ein reizvoller Gedanke, sich das vorzustellen, und weiter, Karola und er würden sich heiraten. Sie wären wirklich ein Paar, wie füreinander geschaffen.

Er dachte gleichzeitig vergleichend daran, dass seine Frau nur klein und ein bisschen dicklich durch ihr kurzes Leben gegangen. „Pummelchen“ war sein Kosenamen für sie gewesen. Er hatte sie sehr gern gehabt und sie aufrichtig als zuverlässigen Arbeitskameraden geschätzt. Sie hatte die Arbeitsstube oder wie sie zu sagen pflegte, das Atelier geleitet; auch sie hatte von Zeit zu Zeit ein neues Modell entworfen, aber ihr Können beruhte auf geschickter Nachahmung, ihr hatte Karola Michaels Begabung gefehlt.

Er dachte, wie schon so manches liebe Mal, es müsste schön sein, wenn Karola Michael ihren leergewordenen Platz einnähme.

Er reckte sich ein wenig gerade, und ihm war, als raune ihm eine Stimme zu: Warte nicht zu lange, sonst kommst Du zu spät mit Deiner Werbung. Eine Karola Michael bleibt nicht unbegehrt!

Er überlegte: Wahrscheinlich hielt sich Karola jetzt noch in der Arbeitsstube auf. Sie pflegte als vorletzte seines Betriebes fortzugehen. Hinter ihr schloss dann als letzter Emil Krettke, das Faktotum der Firma, genannt „der Mann für alles“, die Türen ab, um ihm danach zu melden, dass alles in Ordnung wäre.

Albin Albus lauschte unwillkürlich nach nebenan, ob sich noch jemand in der Arbeitsstube befände, und meinte, ein mattes Geräusch zu vernehmen.

Also wenn nicht Emil Krettke noch nebenan beschäftigt war, der sich im allgemeinen etwas lauter betätigte, dürfte sich Karola Michael in der Arbeitsstube aufhalten. Ein paar Worte im Sinne seines Wunsches, wollte er heute schon vorausschicken, um zu sehen, wie das Mädel diesen aufnehmen würde. Frisch gewagt, ist halb gewonnen!

Er freute sich schon darauf, Karolas vor Staunen sicher noch grösser werdende Augen zu beobachten und ihr ungläubiges, aber wohl glückliches Lächeln. Schliesslich war er nicht der Erstbeste. Er war noch jung, erst vierunddreissig Jahre, stellte etwas vor, war ein tüchtiger, angesehener Geschäftsmann, besass ein nettes Vermögen, eine elegante Wohnung im ersten Stock des eigenen Hauses und ein schickes Auto. Für Karola Michael bedeutete seine Werbung bestimmt so viel, als ob sie das Grosse Los gewänne. Vielleicht bedeutete es für ihn dasselbe, wenn Karola, woran er keine Sekunde zweifelte, seine Werbung annehmen würde.

Er öffnete leise die Tür zur Arbeitsstube, lugte durch die Türspalte und fühlte plötzlich, wie seine Glieder unangenehm starr wurden. In der Arbeitsstube sah er ein in sein Liebesglück völlig versunkenes Paar eng aneinandergeschmiegt, das sich küsste. Der Kuss schien nicht enden zu wollen.

Sein Bruder und Karola Michael küssten sich weltvergessen.

Im ersten Augenblick war Albin Albus wie vor den Kopf geschlagen, aber schon im nächsten hatte er sich zusammengerissen. So sehr es ihn auch drängte, die beiden mit einem kräftigen Donnerwetter auseinanderzureissen, unterliess er es doch.

Er hielt nichts von übereilten Handlungen.

So leise, wie er die Tür vor ungefähr einer Minute geöffnet, schloss er sie wieder und schlich auf den Zehenspitzen über den dunkelroten Teppich, der das Reich der stummen Damen behaglich machte, die ihn alle mit ihrem gleichmässig liebenswürdigen Lächeln anstarrten.

Albin Albus kehrte so geräuschlos, als hätte er etwas getan, was niemand wissen durfte, in sein Arbeitszimmer zurück.

Jetzt erst entzog sich Karola, die schon Hut und Mantel trug, den Armen Günters. Sie musste es ein wenig gewaltsam tun.

Sie meinte mit verhaltener Stimme: „Mir war, als ob sich eben jemand nebenan bewegt hätte. Du bist wirklich schrecklich leichtsinnig, Günter.

Stelle Dir einmal vor, wenn Dein Bruder uns beim Küssen überraschen würde. Es dürfte ihm kaum recht sein, wenn Du ihm jetzt von einer Verlobung zwischen uns reden würdest. Du steckst mitten im Studium, und es kommt bei Dir jetzt darauf an, Dich nur damit zu befassen Ich habe mir schon oft Vorwürfe gemacht, dass ich Dich von Deiner Arbeit ablenke.“

Er lächelte sie vergnügt an.

„Du lenkst mich gar nicht ab, du regst mich immer nur an, und schliesslich bin ich kein Anfänger, der das A B C des Kontrapunktes ochsen muss.“ Er fasste ihre beiden Hände. „Wahre Liebe kann nicht lähmen und behindern, sie beschwingt und macht alles leicht. In unzähligen Melodien singt und klingt es in mir: ‚Ich hab’ Dich lieb!‘“

Er küsste sie schon wieder.

Karola sah ihn mit strahlenden Augen an, aber sie entzog sich ihm diesmal sofort.

„Bitte, sei endlich vernünftig, Günter, und lass mich gehen. Morgen abend treffen wir uns ja in unserem kleinen Café, dann können wir uns ungestört und ausführlich von unserer Liebe erzählen. Also freuen wir uns auf morgen!“

Von nebenan hörte man jetzt kräftige Männerschritte, und gleich darauf drang eine lustige Stimme zu den beiden in die Arbeitsstube: „Gute Nacht, Ihr feinen Wäscheweiberchen! Hoffentlich seid Ihr alle heute recht brav gewesen? Na, das seid Ihr eigentlich immer, und meine Olle könnte von Euch lernen, was es heisst: Das Maul halten!“

Günter Albus und Karola wechselten belustigte Blicke. Sie wussten sofort Bescheid. Emil Krettke verabschiedete sich für heute von dem Dutzend stummer Schönheiten im „Ausstellungssaal“.

Jeden Abend hielt er ihnen irgendeine kleine Rede, und wünschte ihnen gute Nacht. Anders tat er es nicht. Schon in der nächsten Minute konnte er hier eintreten; deshalb nickte Günter seinem Mädel noch einmal zu und verschwand nun doch in etwas beschleunigtem Tempo.

Emil Krettke brauchte ihn hier nicht allein mit Karola zu finden. Er war immer davongeschlichen, wenn Emil anrückte.

Der aber gehörte zu der Sorte von Menschen, die sich so leicht nichts vormachen lassen, er dachte: Hoffentlich haben mich die zwei Verliebten in der Arbeitsstube gehört und der Musikus verdrückt sich rechtzeitig denn ich will nichts gesehen haben!

Emil sagte für alle Fälle noch einmal ganz laut: „Also eine recht gute Nacht, meine reizenden Damen! Ich wünsche Ihnen dazu noch angenehme Träume!“

Er polterte ein wenig herum, dann erst drückte er die Klinke nieder, auf der vor wenigen Minuten Albin Albus’ Hand gelegen.

Karola sah dem Eintretenden entgegen, rief lustig: „Müssen Sie sich denn immer mit den Puppen unterhalten, Emil?“

Krettke war ein derber, untersetzter Mann von vierzig Jahren. Unter seiner leicht aufgestülpten Nase sass ein breiter Mund, der ständig zu schmunzeln schien oder auch zu grienen. Seine lebhaften kleinen Augen waren rund und wasserblau; sein Haar war fast zu dicht, dazu strähnig und strohfarben. Wenn er es nicht pünktlich schneiden liess, glich es einer Mähne.

„Ach, Fräulein Karola, am liebsten unterhielte ich mich stundenlang mit den netten Weibsbildern, den verführerischen Biesterchen. Denn Biesterchen sind sie alle zwölfe, wenn ich ihnen abends auch immer etwas von ihrer Bravheit erzähle. Man muss den Frauensleuten Honig ums Maul schmieren, das ist ’ne alte Weisheit, dann kommt man am besten mit ihnen aus.“

„Sie scheinen eine hervorragend gute Meinung von uns Frauen zu haben!“

Er hob die für seine Gestalt zu breiten Schultern.

„Anwesende sind doch immer ausgeschlossen, Fräulein Karola.“ Seine kleinen Augen zwinkerten vergnügt. „Im allgemeinen bin ich mit den Frauen ganz zufrieden. Was zum Beispiel meine eigene betrifft, allerhand Achtung! Sie quasselt manchmal ein bisschen zuviel, aber sonst ist sie ein famoser Kerl. Pferde kann man mit ihr stehlen gehen. Arbeiten kann sie wirklich grossartig. Alles in unserer Wohnung hält sie blitzsauber, immer ist aufgeräumt, und dabei hat sie für fünf Würmer zu sorgen. Jedes Jahr gibt’s bei uns frischen Zuzug. Und nie ist sie verdrossen, nie mault sie. Na ja, so ’ne rasche Wetterwolke zieht ja auch mal über ihr Gesicht, aber husch, husch! ist sie vorüber. Und von frühmorgens an hat sie immer ihre Haare gemacht, steckt adrett in Kluft. Auch zu Hause.“

Seine hellen Brauen, die wie kleine Ähren über den Augen sitzen, zogen sich missbilligend zusammen.

„Wissen Sie, Fräulein Karola, ich achte das sehr an ’ner Frau, das mit der Sauberkeit. Meine ist, wie man sich so ausdrückt, immer wie aus dem Ei gepellt. Das kleidet jede Frau am besten, finde ich, da gebe ich was drauf. Bei uns im Haus laufen vormittags so’n paar Vogelscheuchen rum, vor denen ich’s Kotzen kriegen könnte. Dreckige Schürzen, Haare wie wild gewordene Strippen, und dazu sind sie noch ungewaschen, der Hals kommt bloss sonntags dran. Latschen haben sie an die Füsse von morgens bis abends, und wenn einem so’n Muffgesicht in die Quere läuft, tut einem der Trottel von Mann leid, der sowas immer um sich hat!“

Er lachte und zeigte auf die Tür zum Ausstellungssaal. „Solche süsse Geschöpfe, wie die da drin, laufen ja auch lebendig massenweise rum, aber so was ist natürlich nicht für Krettkes Emiln gewachsen, für so was hat man bloss ’ne heimliche Liebe. Alles kann der Mensch eben nicht haben, nicht wahr? Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht! Ist es nicht so, Fräulein Karola?“

Karola nickte ihm zu: „Sie haben vollkommen recht, Emil. Doch ich muss gehen, ich verspüre schon Hunger.“

Sie grüsste und verliess die Arbeitsstube durch den Hausflur, trat hinaus auf die belebte Strasse des Berliner Westens. Sie ging bis zur nächsten Ecke und bog in eine Seitenstrasse ein. In ungefähr einer Viertelstunde hatte sie das Haus erreicht, in dem sie wohnte — vier Treppen hoch, in einem Zimmer mit Balkon, von dem man aus in einen gartenartig angelegten kleinen Hof sah, in dem sich eine wohltuende Stille förmlich aufgestapelt zu haben schien. Karola sass des Abends oder an Sonntagsvormittagen gern auf ihren Balkon. Jetzt im Spätherbst trat sie nur immer für kurze Zeit hinaus, um ein paar tiefe Atemzüge zu tun. Sie hatte von hier aus verschiedene Durchblicke, und wenn sie die Augen schloss und tief atmete, meinte sie, daheim zu sein in der kleinen Heimatstadt am Rhein, die sie schweren Herzens verlassen hatte, weil sie dort kein Zuhause mehr gehabt.

Vor fünf Jahren hatte ihr Vater wieder geheiratet und ihr eine Stiefmutter gegeben, die ältlich und von unerträglicher Herrschsucht, ihr das Leben sehr vergällte. Dann starb ihr Vater, und die Stiefmutter suchte schnell einen zweiten Gatten, den sie leicht fand, da sie ein paar Tausender geerbt. Sie hatte genau so viel geerbt, wie Bernhard Michael auch seiner Tochter Karola hinterlassen.

Kurz bevor die Stiefmutter wieder heiratete, verliess Karola ihre Heimatstadt und fuhr nach Berlin. In der Millionenstadt hoffte sie dem Glück zu begegnen. Sie sah dort beruflich die grösste Möglichkeit des Vorwärtskommens.

Sie hatte in Wiesbaden die Wäscheschneiderei erlernt und war ein Jahr auf der Kunstgewerbeschule gewesen. Sie entwarf spielend leicht Modelle, die schon in Wiesbaden während ihrer Lehrzeit Anklang gefunden und hätte als Gehilfin bleiben können, aber sie fürchtete, dort der Stiefmutter einmal in den Weg zu geraten. Wiesbaden lag nur eine halbe Stunde Bahnfahrt von dem rheinischen Städtchen entfernt, in dem sie geboren und gelebt, bis sie die Nähe der Stiefmutter und ihres Auserwählten nicht mehr hatte ertragen können.

Seit zwei Jahren lag das alles hinter ihr. Sie hatte in Berlin sofort Beschäftigung gefunden, wurde gut bezahlt und war mit ihrem Leben zufrieden. Seit sie Günter Albus liebte, schien ihr jeder neue Tag ein herrliches Gottesgnadengeschenk.

2.

Frau Sabine Bauer hörte, wie ihr „möbliertes Fräulein“ den Schlüssel ins Schloss der Korridortür steckte, und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Die Diele war nur klein, aber behaglich und freundlich mit hellen Korbmöbeln ausgestattet, bunt geblümte Kissen und ein netter buntgewirkter Teppich gaben dem Vorraum eine frohe Note.

Frau Bauer war das Urbild einer angenehmen und gemütlichen Vermieterin. Sie war nur klein, ziemlich mollig, doch blitzsauber und meist gut gelaunt. Einen Fehler besass sie. Dieser Fehler war ihre Neigung zum Übersinnlichen. Für alles, was sich ihr nicht gleich ganz klar und scharf umrissen zeigte, half sie sich mit Erklärungen, die nichts mehr mit greifbarer Wirklichkeit zu tun hatten.

Frau Bauers gutmütig rundes Gesicht mit den drolligen Grübchen in den gutgepolsterten Wangen blickte der Eintretenden mit einer gewissen Ungeduld entgegen, wie jemand, der etwas auf dem Herzen hat und es nicht schnell genug los werden kann.

Karola Michael drückte die Korridortür hinter sich ins Schloss und sah sich ihrer Wirtin gegenüber. Sie grüsste die Frau sehr freundlich, die aber erwiderte den Gruss nur hastig, begann sofort mit merklicher Erregung: „Heute hat jemand nach Ihnen gefragt, Fräulein Michael. Eine Dame, eine alte Dame! Aber nein“, berichtete sie, „alt, was man wirklich alt nennen kann, war sie gar nicht. Möglich, dass sie es doch war, ich weiss es nicht recht. Sie hatte etwas Zeitloses, durch ihre Kleidung. Sie trug Trauer. Nein, es sollte wahrscheinlich keine Trauerkleidung sein, bloss alles, was sie anhatte, war tiefschwarz. Und deshalb wirkte es, als ob sie in Trauer wäre. Ihre Stimme war sehr merkwürdig, gar keinen Klang hatte sie, wie Stimmen ihn haben müssen —“

Karola Michael konnte ein Lachen nicht mehr zurückhalten.

„Liebe Frau Bauer, das scheint tatsächlich ein etwas spukhafter Besuch gewesen zu sein, der mich heute während meiner Abwesenheit beehrte. Ich habe schon von Ihrer Erzählung eine Gänsehaut bekommen.“

Frau Bauer lachte auch, aber es war kein leichtes, freies Lachen, das aus dem Herzen kam.

„Eine Gänsehaut habe ich nun gerade nicht gekriegt, Fräulein Michael, doch wenn ich offen sein soll, ein bisschen sonderbar, ich meine gruselig, ist mir zumute gewesen in der Nähe der Frau. Ich kann es nicht so erklären, ich finde nicht die richtigen Worte. Und wenn ich sie fände, könnten sie Ihnen übertrieben vorkommen.“

Karola Michaels Zähne waren etwas zu gross, aber herrlich gleichmässig und weiss. Sie konnte so wundervoll lachen wie die gemalten Mädchen auf den Reklamebildern für Mundwasser und Zahncreme lachen, und wenn sie es tat, wie jetzt, war sie unwiderstehlich.

„Frau Bauer, was wollte denn nun eigentlich die Dame von mir? Die Dame, die alt war und doch nicht alt, die mit Ihnen gesprochen hat und doch keine richtige Stimme hatte, die Trauer trug, die aber keine Trauer war, wenn’s auch so aussah.“

Das gutmütige Frauengesicht zeigte jetzt einen beleidigten Ausdruck.

„Ach, Fräulein Michael, Sie machen sich über mich lustig!“ Sie hob die gut gepolsterten Schultern. „Meinetwegen, tun Sie’s nur, aber um die Frau, glauben Sie mir, war etwas herum, das ist mir bei keinem Menschen aufgefallen, das —“

Karolas Lachen schwand, sie unterbrach ungeduldig: „Bitte, erklären Sie mir doch wenigstens zunächst, was die Dame überhaupt von mir gewollt hat!“

Frau Sabine Bauer hob wieder die Schultern.

„Das weiss ich leider nicht. Sie fragte nach Ihnen, und es schien ihr ordentlich nahe zu gehen, dass Sie nicht daheim waren. Mindestens hat es sie sehr verdrossen. Sie will wiederkommen. Ich erklärte ihr deshalb genau, wann Sie wahrscheinlich zu Hause sein würden. Ich riet ihr, am Sonntagvormittag zu kommen, da wären Sie voraussichtlich bestimmt anzutreffen. Ich fragte auch, ob ich Ihnen etwas von ihr bestellen solle oder ob sie mir für Sie nicht wenigstens ihren Namen nennen möchte. Sie zeigte aber weder für das eine noch für das andere die geringste Lust.“

„Na, dann dürfte sie wohl am Sonntagvormittag wiederkommen“, beendete Karola die Unterhaltung und ging, ihrer Wirtin freundlich zunickend, in ihr Zimmer, das sie seit zwei Jahren bewohnte, seit sie vom Rhein nach Berlin gekommen war.

Es war gross und gut eingerichtet. Karola blieb abends gern daheim, weil sie sich behaglich fühlte in ihren vier Wänden. Sie legte Mantel und Hut ab, reckte sich ein wenig, dachte an Günter Albus und wie lieb sie ihn hatte, den schlanken Mann mit dem weichgeschwungenen Mund und den Träumeraugen.

Dann aber fiel ihr Frau Bauers etwas befremdender Bericht ein, über die Besucherin, die nach ihr gefragt. Die Art, mit der Sabine Bauer irgendeiner harmlosen ältlichen Person den Mantel des Unheimlichen umgehängt hatte, belustigte sie. Im übrigen zerbrach sie sich nicht einen Augenblick lang den Kopf darüber, wer die Frau gewesen sein und was für eine Angelegenheit sie zu ihr geführt haben mochte.

Nachdem sie sich ein paar belegte Brote zurechtgemacht, ging sie in die Küche, um sich ein Kännchen Tee zu bereiten.

Frau Bauer sass dort und las eine Abendzeitung. Von nebenan klang Radiomusik. Bei Frau Bauer wohnte ausser Karola noch ein Techniker. Der blieb abends auch daheim, und sein Funkapparat schwieg zwischen acht Uhr abends bis Mitternacht keinen Augenblick.

In ihrem Zimmer hörte Karola die Musik nur gedämpft und angenehm. Sie bereitete sich ihren Tee, wechselte ein paar gleichgültige Worte mit der Wirtin und kehrte bald in ihr kleines Tuskulum zurück, dem sie durch verschiedene Kleinigkeiten den Stempel ihres Geschmacks aufgedrückt.

Als sie hier eingezogen war, hatte ein halbes Dutzend billiger Öldrucke in dick vergoldeten Rahmen die Stimmung des sonst netten Raumes stark in ungünstigem Sinn beeindruckt. Aber Karola hatte die Geschmacklosigkeiten längst von den Nägeln genommen und dafür über dem Sofa eine Kopie des Bildes von Rembrandt: „Der Mann im Goldhelm“ angebracht, die sie zufällig in einer Kunsthandlung preiswert erstanden.

Das ernste und ein wenig verschlossene Gesicht, über dem der Goldhelm gleisste und das Dunkel des Bildes wundersam erhellte, gab dem ganzen Zimmer etwas feierlich Vornehmes.

Nachdem sie ihr einfaches Abendessen beendet hatte, nahm sie eine Stickerei zur Hand. Ein Sofakissen für Günter war es, das sie ihm als Weihnachtsgabe zugedacht hatte! Aber die Handarbeit machte ihr heute keine Freude, sie kam gar nicht vorwärts und legte sie bald wieder in die alte geschweifte Kommode zurück. In dem Schubkasten lag ein zusammengebundenes Paket, bestehend aus alten und neuen Fotografien.

Karola verspürte Lust, die Bilder wieder einmal zu betrachten. Sie rückte die Tischlampe zurecht. Dabei fiel ein Bild auf den Teppich. Sie merkte es nicht.

Frau Bauer kam, um wie allabendlich das Geschirr zu holen. Sie sah das Foto auf dem Teppich liegen und bückte sich danach. Beim Aufheben des Bildes warf sie unwillkürlich einen Blick darauf, und von ihren Lippen löste sich ein lauter Ruf des Staunens.

Karola sah die mollige Frau betroffen an, die ihr die schon etwas vergilbte Fotografie dicht vor die Augen hielt und erklärte: „Das ist die Frau, die heute hier war und nach Ihnen gefragt hat. Sie ist auf dem Bild sehr leicht zu erkennen.“

Karola schüttelte den Kopf.

„Sie irren sich, Frau Bauer, es ist einfach unmöglich, dass die auf dem Bild Dargestellte hiergewesen sein kann.“

Sabine Bauer rief mit mühsam unterdrückter Heftigkeit: „Und wenn Sie sicher sind, dass sich die Frau augenblicklich irgendwo am Nordpol aufhält, muss ich Ihnen widersprechen. Diese Frau war heute hier. Beschwören könnte ich das! Und wenn sie noch so weit weg von Berlin wohnen sollte, sie ist doch heute hier gewesen.“

Karola Michael schüttelte wieder den Kopf.

„Liebe, gute Frau Bauer, die Frau, deren Foto Sie in Händen halten, wohnt so weit von hier, dass sie bestimmt nicht hierherkommen könnte.“

Frau Bauer widersprach: „Und wenn sie am Ende der Welt wohnt, sie war hier.“

„Betrachten Sie, bitte, die Rückseite des Bildes, dort steht etwas geschrieben.“

Die Frau drehte das Foto um und las mit immer grösser werdenden Augen laut vor: „Konstanze von Hüldecken, geboren 1828, gestorben 1898 auf Schloss Hüldeck am Rhein.“

Sie stammelte vor sich hin: „Das kann einfach nicht stimmen! Das ist unmöglich! Ich habe die Frau doch mit meinen eigenen Augen gesehen und weiss, wie sie aussieht.“ Ihre Hände bebten stark. „Das verstehe ich nicht, das regt mich auf, weil es unheimlich und rätselhaft ist. Ich, ich —“

Sie schaute Karola an als könne ihr die eine Erklärung geben.

Die einzige Erklärung, die Karola ihr zu geben vermochte, gab sie ihr auch.

Sie zog ihr vor allem das Bildchen fort, das sie krampfig zwischen den Fingern hielt, meinte dann mit dem Anflug eines Lächelns: „Sie sind nervös, Frau Bauer, und es ist eine fixe Idee von Ihnen, dass Sie sich einreden, meine längst verstorbene Urgrossmutter wäre heute hier gewesen. Eine fremde Frau war hier, wegen irgendeiner belanglosen Angelegenheit. Urgrossmutter Konstanze starb schon viele, viele Jahre, bevor ich überhaupt auf die Welt kam. Mutter hat sie noch gekannt und mir von ihr erzählt. Und jetzt schlagen Sie sich die Idee mit dem Bild aus dem Kopf. Eine Ähnlichkeit mag ja vorhanden sein, die beirrt Sie.“

Die Frau versuchte das Lächeln Karolas zu erwidern, aber sie zog nur den Mund schief. Unheimliche, unklare Gedanken strudelten hinter ihrer Stirn durcheinander.

Karola sagte beruhigend: „Wenn die Frau wiederkommt, was ja anzunehmen ist, werden wir Bescheid wissen, und ich darf Sie dann ein bisschen auslachen, falls die Frau in Wirklichkeit ganz anders aussieht als meine Urgrossmutter vom Rhein. Urgrossmutter! Das klingt schon so verschollen.“

Frau Bauer seufzte tief.

„Nein, nein, ganz so einfach löst sich das Rätsel nun doch nicht. Ich kann mir nicht helfen, wenn ich das Bild ansehe, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.“

Karola wurde ungeduldig. Mit der sonst so netten Sabine Bauer konnte man jetzt kein vernünftiges Wort reden. Die Besucherin musste wirklich etwas Ähnlichkeit mit der toten Urgrossmutter haben. Sie äusserte es noch einmal. Frau Bauer erwiderte bockig: „Sie war es selbst.“

Karola zuckte die Achseln und neckte:

„Also, Frau Bauer, wenn Sie bei Ihrer Ansicht bleiben, schlage ich vor, wir nennen die geheimnisvolle Besucherin einfach: Die Frau, die aus dem Jenseits kam! Das dürfte, bis sie sich vorgestellt hat, die passendste Bezeichnung für sie sein.“

Sabine Bauer schüttelte sich, als ob man sie mit eiskaltem Wasser übergossen hätte. Sie wiederholte mit einer Stimme, die sich vor Entsetzen überschlug: „Die Frau, die aus dem Jenseits kam!“ und danach stiess sie hervor: „Jetzt fürch — te ich mich erst rich — tig vor der Frau. Hof — fent — lich kommt sie nicht wie — der. Ich könn — te ü — ber — haupt nicht mehr mit ihr re — den.“

Karola erwiderte verstimmt: „Wenn sie zu einer Zeit kommt, in der ich zu Hause bin, dürfte das auch wohl nicht nötig sein. Sie haben ihr ja erklärt, wann ich hier bin.“

Frau Bauer nahm sich nun doch etwas zusammen.

„Sie hätten das nicht sagen sollen, Fräulein Michael, ich meine das von der Frau, die aus dem Jenseits kam. Für mich klingt das schaurig, es passt nämlich. Es passt zu dem Aussehen der Frau.“

Frau Bauer musste gehen, denn ihr anderer Mieter rief auf dem Korridor nach ihr.

Karola atmete erleichtert auf. Sie schloss ihre Tür ab. Mochte Frau Bauer, falls sie Lust verspürte, das Gespräch nachher fortzusetzen, ruhig denken, sie wäre schon schlafen gegangen.

Sie knipste das Licht aus und trat hinaus auf den Balkon. Erfrischend umspülte sie die herbstlich kühle Abendluft, die über dem Häusergewirr der Riesenstadt hinzog, und die ihr wohl tat wie ein Bad in der See in sommerlichen Ferientagen.

„So ein Blödsinn!“ murmelte sie und dachte an das Gerede Sabine Bauers.

Aber auf den nächsten Besuch der Fremden war sie jetzt wirklich gespannt. Dann glitten ihre Gedanken wie über eine freischwebende goldene Brücke zu Günter Albus, und sie grüsste ihn im Geiste herzlich. Sie hatte ihn lieb, und er gehörte wie selbstverständlich in das Bild ihrer Zukunft, das sie sich manchmal ausmalte. Seine hohe Gestalt stand mitten darin und zeigte ihr den Weg, den sie gemeinsam gehen würden, verbunden in Liebe und guter Ehekameradschaft.

Wie habe ich Dich lieb! dachte sie so inbrünstig, als ob sie aus tiefstem Herzen betete.