Sophienlust 224 – Ein neues Zuhause für Tommi

Sophienlust –224–

Ein neues Zuhause für Tommi

Wie er endlich wieder glücklich wurde

Roman von Elisabeth Swoboda

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-508-7

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

»Ich finde, es wird allmählich Zeit, an Weihnachten zu denken!« rief Pünktchen, ein dreizehnjähriges blondes Mädchen mit intelligenten blauen Augen und einer von Sommersprossen übersäten Stupsnase, dem etwa drei Jahre älteren Nick zu. Ihr Zuruf hörte sich ziemlich atemlos an, denn die beiden befanden sich mitten in einem Tennismatch.

Nick verfehlte den Ball und knurrte: »Hör einmal, wenn das eine neue Art von Ablenkungsmanöver sein soll…«

»Nein«, beteuerte Pünktchen. Sie ließ den Schläger, den sie abwehrend schon halb erhoben hatte, sinken und ging auf das Netz zu. »Ich meine es im Ernst. Wir sollten an Weihnachten denken«, wiederholte sie.

»Und das mußt du mir mitten in unserem Match mitteilen?« fragte Nick. »Ganz abgesehen davon, daß wir Anfang Oktober haben, daß eine spätsommerliche Hitze herrscht und daß der Winter noch weit weg ist, hättest du dir für deine Mitteilung einen günstigeren Zeitpunkt aussuchen können.«

»Es ist mir eben gerade durch den Sinn gegangen«, entschuldigte sich Pünktchen. »Außerdem verliere ich ohnedies. Gegen dich habe ich keine Chance.«

»Weil du dich nicht ordentlich konzentrierst«, rügte Nick. »Du jagst deine Bälle weiß Gott wohin, und das ist kein Wunder, da du allem Anschein nach die ganze Zeit über an Weihnachten gedacht hast.«

»Die ganze Zeit über nicht«, widersprach ihm das Mädchen. »Ich weiß selbst nicht, wieso es mir plötzlich eingefallen ist.«

»Vergiß es. Denk erst in einem Monat wieder daran«, riet Nick ihr.

»Nein, in einem Monat ist es zu spät. Du hast ja keine Ahnung, was ich plane…«

»Spielt ihr hier Tennis oder diskutiert ihr? Wenn letzteres der Fall ist, könntet ihr den Platz eigentlich Michael und mir überlassen«, mischte sich Sascha von Schoenecker, Nicks Stiefbruder, in das Gespräch ein. Er hielt sich für gewöhnlich in Heidelberg auf, wo er Jura studierte, und war im Augenblick nur über das Wochenende nach Gut Schoeneich, dem Stammsitz seiner Familie, gekommen.

»Komm, Nick, wir wollen Schluß machen und das Feld räumen«, meinte Pünktchen. »Ich bin sowieso schon müde.«

»Ich aber nicht«, entgegnete Nick und wandte sich an Sascha: »Tragen wir beide ein Match aus?«

»Gern, aber zuvor spiele ich mit Michael«, erwiderte der Student freundlich.

»Na gut, dann werden Pünktchen und ich zusehen. Paß gut auf, Pünktchen. Von Sascha kannst du einiges lernen.«

»Ich will jetzt nichts lernen, sondern mit dir über Weihnachten reden.«

Nick sah seine Freundin erstaunt an. »Ist das eine fixe Idee von dir?« erkundigte er sich. »Was gibt es denn über Weihnachten zu reden? Noch dazu jetzt, im Oktober?«

»Man kann nicht früh genug mit der Planung anfangen«, behauptete Pünktchen weise. »In erster Linie denke ich dabei natürlich an die Geschenke, und da vor allem…«

»Aber da brauchen doch wir nichts zu planen!« unterbrach Nick das Mädchen. »Das erledigen Mutti und die Kinderschwester.«

»Ja, ich weiß. Aber mir ist etwas Besonderes eingefallen. Ein besonders schönes Geschenk für Heidi, das ihr sicher Freude machen wird. Nur fürchte ich, daß ich es allein nicht fertigbringe. Du müßtest mir helfen.«

»Ich müßte dir helfen?« Nick zögerte.

Pünktchen blickte ihn flehend an. »Du bist beim Basteln wesentlich geschickter als ich«, schmeichelte sie. »Wenn du es machst, wird es bestimmt wunderschön. Du kannst gar nichts verpatzen. Versprichst du mir, daß du mir helfen wirst?«

»Zuerst möchte ich aber wissen, worum es sich überhaupt handelt«, sagte Nick.

»Um ein Puppenhaus. Ich möchte Heidi so gern ein Puppenhaus schenken«, platzte Pünktchen heraus. »Nur sind die fertigen Puppenhäuser leider schrecklich teuer. Aber ich

stelle mir vor, daß es einfach ist, selbst ein Puppenhaus zu basteln. Man braucht bloß Holzbretter zusammenzunageln oder -schrauben oder vielleicht zusammenzukleben. An die Wände kommen innen Tapetenreste. Für den Fußboden würde ich Teppiche häkeln und für die Fenster Vorhänge nähen. Oh – und es wäre hübsch, wenn man die Fenster auf- und zumachen könnte. Und richtige kleine Lampen könnten wir kaufen, die man an- und ausschalten kann. Und für die Küche brauchen wir winziges Puppengeschirr. Ich muß Irmela, Vicky und Angelika fragen, ob sie sich mit ihrem Taschengeld an unserem Geschenk beteiligen werden.«

»An unserem Geschenk!« wiederholte Nick. »Und man braucht es bloß zu nageln, schrauben oder kleben!«

»Bist du vielleicht nicht einverstanden, Nick?« fragte Pünktchen zaghaft. »Ich habe gedacht, daß es eine ausgezeichnete Idee ist.«

»Wünscht sich Heidi denn ein Puppenhaus?«

»Bestimmt. Jedes kleine Mädchen wünscht sich so etwas.«

»Hast du sie nicht danach gefragt?«

»Nein. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr für sie«, stellte Pünktchen fest.

»Hoffentlich ist die Überraschung für Heidi dann nicht unangenehm«, brummte Nick. »Vielleicht macht sie sich gar nichts aus einem Puppenhaus. Ich jedenfalls habe nie einen derartigen Wunsch gehabt.«

»Du warst ja auch nie ein kleines Mädchen«, entgegnete Pünktchen. Ihre blauen Augen verdüsterten sich. »Gib zu, du…, du willst mir nicht helfen«, beschuldigte sie den Jungen.

»O doch. Natürlich helfe ich dir«, beeilte Nick sich zu versichern. »Wenn du überzeugt bist, daß wir Heidi damit eine Freude machen, bin ich einverstanden. Aber ich möchte mir einmal ein fertiges Puppenhaus ansehen. Ich habe mich noch nie für ein solches Ding interessiert und weiß daher nicht, wie es aussehen soll.«

»Dann wollen wir morgen nach der Schule in ein Spielzeuggeschäft gehen«, schlug Pünktchen eifrig vor. »In das große in der Hauptstraße. Dort haben sie sicher mehrere Puppenhäuser zur Auswahl.«

»Und was sagen wir, wenn uns eine Verkäuferin nach unseren Wünschen fragt? Wir können doch nicht sagen, daß wir uns Puppenhäuser anschauen wollen, um danach selbst eines zu basteln.«

»Warum nicht? Laß das nur meine Sorge sein«, meinte Pünktchen zuversichtlich.

*

Die fünfjährige Heidi – vorläufig noch ahnungslose zukünftige Besitzerin eines selbstgebastelten Puppenhauses – war im Augenblick das jüngste der Kinder, die in dem Kinderheim Sophienlust eine sichere Zuflucht und ein neues Zuhause gefunden hatten. Pünktchen zählte mit ihren dreizehn Jahren bereits zu den größeren Kindern.

Der eigentliche Besitzer von Sophienlust war Dominik von Wellentin-Schoenecker, von allen kurz Nick genannt. Seine Mutter, Denise von Schoenecker, verwaltete das Heim für ihn. Sie erfüllte diese Aufgabe mit allen Kräften, die ihr zu Gebote standen. Ihr Ziel war es, verlassenen und verwaisten Kindern Schutz und Hilfe zu bieten.

Sophienlust lag in dem kleinen Ort Wildmoos, in unmittelbarer Nachbarschaft von Gut Schoeneich. Die größeren Kinder besuchten das Gymnasium in Maibach, der nächstgelegenen Kreisstadt.

Am Morgen nach dem von Pünktchen so abrupt beendeten Tennisspiel meinte Nick zu seiner Mutter: »Heute wird es später werden. Pünktchen und ich wollen nach der Schule einen Spielzeugladen aufsuchen.«

»Seid ihr nicht schon etwas zu alt für Spielzeug?« fragte Denise lächelnd.

»Wir wollen nichts kaufen«, wehrte Nick ab. »Höchstens…, Pünktchen hat etwas von Lampen und Puppengeschirr gesagt. Aber das werden wir erst besorgen, sobald wir alles andere fertig haben.«

»Alles andere?«

»Pünktchen und ich möchten Heidi zu Weihnachten ein Puppenhaus schenken«, klärte Nick seine Mutter auf. »Da die fertigen sehr teuer sind, wie Pünktchen behauptet, werden wir das Puppenhaus selbst basteln. Das heißt – ich hoffe, es wird uns gelingen.«

»Ein Puppenhaus! Was für ein hübscher Einfall!« rief Denise aus. Ihre dunklen Augen leuchteten auf. »Bestimmt gelingt es euch. Falls ihr für die Einrichtung – die Möbel und die übrigen Kleinigkeiten, die dazugehören – zuwenig Geld habt, wendet euch an mich. Wie wollt ihr die Türen und Fenster machen? Man sollte sie öffnen und schließen und die Vorhänge zuziehen können.«

»Ja, und die Lampen sollen auf Knopfdruck wirklich leuchten«, sagte Nick. »Das alles hat Pünktchen mir bereits erläutert. Anfangs war ich von ihrer Idee nicht besonders begeistert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wozu so ein Puppenhaus gut sein soll.«

»Zum Spielen. Man kann wunderbar damit spielen. Als ich ein kleines Mädchen war, hatte ich auch ein Puppenhaus. Ich kann mich noch genau an die Möbel des Schlafzimmers erinnern. Das Bett hatte eine dunkelblaue seidene Bettdecke, die Vorhänge waren rosa, und neben der Küche gab es eine Art Bauernstube mit einem Tisch und vier kleinen geschnitzten Stühlen und…« Denise hielt inne und lachte ein wenig verlegen. »Ich langweile dich mit meiner Schwärmerei«, meinte sie. »Buben verstehen das nicht. Die spielen lieber mit Autos und Eisenbahnen.«

»Stimmt. Aber da auch du sicher bist, daß Heidi sich über ein Puppenhaus freuen wird, werde ich mir beim Basteln besondere Mühe geben. Zuvor muß ich aber wissen, wie das fertige Puppenhaus aussehen soll. Ich muß die Höhe und die Größe der Zimmer kennen und das Material. Pünktchen hat etwas von Holzbrettern gesagt, aber ich glaube eher, daß man Hartfaserplatten verwenden muß.«

»Ihr habt also die Absicht, in ei­nem Spielzeugladen Puppenhäuser zu begutachten«, meinte Denise.

»Genau. Um einmal einen Anhaltspunkt zu haben«, erwiderte Nick. »Mach dir daher keine Sorgen, wenn Pünktchen und ich erst später nach Hause kommen.«

»Soll der Chauffeur mit dem Schulbus nicht auf euch warten?«

»Nein, Hermann soll lieber die anderen Kinder pünktlich nach Sophienlust bringen. Pünktchen und ich nehmen dann den öffentlichen Bus.«

So kam es, daß Pünktchen und Nick nach Schulschluß der Hauptstraße zustrebten, während die anderen Kinder mit dem Schulbus heim nach Sophienlust fuhren.

»Irmela und die übrigen Mädchen sind Feuer und Flamme für meinen Plan«, vertraute Pünktchen Nick an, während die beiden durch die Gassen eilten. »Sie haben versprochen, mir beim Nähen zu helfen. Wir haben beschlossen, für das Puppenhaus auch zwei kleine Puppen zu kaufen. Irgend jemand soll schließlich darin wohnen. Und für diese Puppen werden wir Kleider nähen, die wir in den Schränken verstauen werden. Und Bettzeug werden wir ebenfalls nähen.«

»Langsam, Pünktchen, langsam. Bis jetzt gibt es noch keinen Kleiderschrank für Kleider und keine Betten für Bettzeug.«

Pünktchen blieb stehen. »Sei einmal ehrlich, Nick«, forderte sie. »Dich freut es nicht, das Puppenhaus.«

»Doch. Allmählich beginne ich mich dafür zu erwärmen«, meinte Nick. »Mutti ist von deiner Idee richtig begeistert. Es scheint etwas dran zu sein, aber ein Puppenhaus liegt außerhalb der Begriffsfähigkeit eines so nutzlosen männlichen Wesens, wie ich es bin.«

»Du bist nicht nutzlos«, widersprach Pünktchen ihm. »Du wirst mir beim Basteln helfen.«

»Ja, ich werde schrauben, nageln oder leimen.«

Mittlerweile waren sie vor dem Spielzeuggeschäft angelangt.

»Es hat offen«, bemerkte Pünktchen. »Gehen wir hinein?«

»Und was verlangen wir?« wollte Nick wissen.

Pünktchen zuckte nur mit den Schultern und betrat den Laden. Nick folgte ihr. Seine Bedenken erwiesen sich sogleich als unnötig, denn die Verkäuferin war von anderen Kunden völlig ausgelastet und schenkte Pünktchen und Nick einstweilen nicht die geringste Aufmerksamkeit.

»Schau, dort! So etwas meinst du, nicht wahr?« flüsterte Nick Pünktchen zu und deutete auf ein prächtiges Puppenhaus.

Pünktchen nickte, und die beiden gingen zu dem Regal, auf dem das Puppenhaus stand, um es genau in Augenschein zu nehmen.

»Es sieht niedlich aus«, stellte Nick fest. »Ja, langsam komme ich auch zu der Ansicht, daß Heidi damit eine Riesenfreude haben wird.«

»Falls wir ein so schönes zusammenbringen«, schränkte Pünktchen ein.

»Wir bringen es zusammen, keine Angst. Es wird nicht besonders schwierig sein. Übrigens hat Mutti versprochen, die Möbel zu zahlen.«

»Fein. Wann beginnen wir mit dem Basteln?«

»Meinetwegen schon heute. Wir müssen nur aufpassen, daß Heidi uns dabei nicht erwischt. Sie ist so anhänglich. Es wird schwer sein, sie aus dem Bastelraum auszusperren«, sagte Nick.

»Wir werden abends an dem Puppenhaus arbeiten müssen. Dann, wenn Heidi schlafen gegangen ist«, erwiderte Pünktchen.

Die beiden Kinder schickten sich an, den Laden zu verlassen, als Pünktchens Blick auf einen kleinen, ungefähr drei- bis dreieinhalbjährigen Buben fiel. Er stand auf den Zehenspitzen, hielt sich mit beiden Händen an dem Ladentisch fest und fixierte mit sehnsüchtigen blauen Augen ein gelbrotes Plastiklastauto mit halb aufgekippter Ladefläche.

Pünktchen, die kleine Kinder liebte, konnte nicht an ihm vorübergehen, ohne sich zu ihm hinabzubeugen, ihm über die kurzen hellbraunen Haare zu streichen und zu sagen: »Ein schönes Auto. So eines wünschst du dir wohl zum Christkind?«

Der Kleine ließ den Ladentisch los, drehte sich zu Pünktchen um und sah das Mädchen erstaunt an. Dann schüttelte er den Kopf. Es war eine Bewegung, die Pünktchen seltsam hoffnungslos vorkam. Dann sagte der Junge leise: »Nein, ich bekomme nichts vom Christkind. Ich bin schlimm gewesen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Du siehst gar nicht schlimm aus«, meinte Pünktchen aufmunternd. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch eine scharfe Frauenstimme unterbrach sie: »Tommi, komm sofort her! Du weißt, daß du mit fremden Leuten nicht sprechen sollst.«

Tommi verzog weinerlich das Gesicht, aber er gehorchte und lief zu der Frau hinüber.

»Komm, wir wollen gehen«, forderte Nick seine Freundin auf, aber Pünktchen achtete nicht auf ihn, sondern blickte angestrengt zu der kleinen Gruppe hinüber, der sich Tommi soeben zugesellt hatte. Sie bestand aus einer zirka fünfunddreißigjährigen, gutangezogenen und sorgfältig frisierten Frau, zwei zehn- bis zwölf­jährigen Jungen, dem kleinen Tommi und der Verkäuferin, die gerade eine Trapperausrüstung vor den beiden größeren Jungen ausbreitete.

»Prima, die nehme ich«, sagte einer der beiden Jungen.

»Laß dir erst noch Indianersachen zeigen. Mit bunten Federn und so«, meinte die Frau.

»Pah, das haben wir doch schon so oft gehabt«, widersprach der Junge ihr. »Ich bleibe bei der Trapperausrüstung. Und du, Paul?«

»Ich nehme die gleiche«, erwiderte Paul.

»Dann also zwei Trapperausrüstungen«, sagte die Frau zu der Verkäuferin. »Wollt ihr sonst noch etwas?« fragte sie gleich darauf die Jungen. »Eine neue Lokomotive für eure Modelleisenbahn?¡«

»Ja, die wäre nicht schlecht«, erwiderte der größere der beiden Jungen gleichmütig.