Buchcover

Anny von Panhuys

Die Namenlose

Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.2

Roman

Saga

Zweiter Teil.

34. Kapitel.

Karola Overmans ging langsam durch ihr hübsches Damenzimmer, zupfte hier ein Kissen zurecht, schob dort ein Bild gerader.

Und sie wusste eigentlich gar nicht, was sie tat, denn ihre Gedanken waren nicht bei dem Herumhantieren, das nur der Ausfluss grosser Nervosität war.

Ihr Mann trat ein und blieb, weil sie sein Eintreten gar nicht bemerkt zu haben schien, zunächst nahe der Tür stehen, beobachtete die zierliche Frau, die er noch immer liebte, wie an jenem Tage, da er sie zum Altar geführt.

Plötzlich klang ein wehes Schluchzen an sein Ohr und da stürzte der Mann sofort vor, zog die geliebte Frau sanft in seine Arme.

„Ich musste nach dir sehen, Karolachen, ich hatte heute vormittag keine Ruhe im Bureau, du warst so blass, als ich diesen Morgen fortging. Ich sagte zum Vater, du hättest dich beim Frühstück nicht wohl befunden und da meinte er, ich solle nur schleunigst machen, dass ich nach Hause käme. Vater ist ja immer gleich so besorgt um dich.“

Ihre dunkelblauen Augen füllten sich mit Tränen.

„Er ist immer sehr besorgt um mich seit unserer grossen Lüge!“ stöhnte sie.

Er liess die Rechte zärtlich über ihr hellblondes Haar gleiten und flüsterte beruhigend: „Brauchst dir doch keine Gewissensbisse machen, mein Liebes, du trägst ja keine Schuld an dem, was wir hinnehmen und als unser tiefstes, heiligstes Geheimnis wahren mussten. Es blieb uns doch nichts anderes übrig, wenn wir nicht unsere Existenz zerbrechen lassen wollten. Und unser Kind hätten wir dadurch doch nicht wiederbekommen, es wäre nicht mehr zum Leben erwacht, wenn wir die Wahrheit noch so laut vor aller Welt bekannt hätten. Und bedenke, wenn Vater die Wahrheit gehört hätte, würde die weite Gotteserde nicht gross genug gewesen sein, vor seinem Zorn zu fliehen.“

Sie schmiegte sich eng an ihn, wie haltsuchend.

„Ich bin ja auch im allgemeinen ruhig, Günter, du weisst es. Ich habe mich unter dem Druck des Müssens viel schneller in alles gefügt, als ich es für möglich gehalten, aber heute nacht hatte ich wieder die seltsame Erscheinung, nach langer Zeit wieder zum ersten Male. Ich wollte dir gar nicht davon sprechen, doch es ist so schwer, schweigend damit fertig zu werden. Du bist auch der einzige Mensch, zu dem ich davon reden darf, der einzige Mensch, dem gegenüber ich mein Herz erleichtern kann.“

Er blickte sie mit inniger Liebe an, schlang seine Arme fester um sie, als fürchtete er, man könne sie ihm entreissen.

Wie jugendlich und schlank die geliebte Frau noch war, wie zart und fein noch das Antlitz.

Nur um die Lippen lag ein leiser weher Zug.

Er führte die Lebensgefährtin zu einem bequemen Sessel, drückte sie behutsam, wie etwas Zerbrechliches hinein, und zog für sich selbst dann einen Stuhl herbei.

Ueber das blasse Gesicht der Frau rannen grosse Tränen.

„Günter, lieber Günter, es ist alles so eigen, wenn ich die Erscheinung sehe. Unirdisch und zugleich lebendig, so, als wäre das, was ich sehe, wahr. Einen Traum kann man vergessen. Oft weiss man schon nach dem Erwachen nichts mehr davon. Und wenn man einen Traum im Gedächtnis behält, so geht ihm doch bald die Frische verloren. Es gleiten Schatten darüber hin, machen ihn stumpf. Nein, die Erscheinung gehört nicht zu den Träumen und sie ist auch keine Ausgeburt meiner Phantasie. Sie hat Bedeutung, muss Bedeutung haben.“

Günter Overmans zog die Hände seiner Frau sanft zwischen die seinen.

„Lange hast du nicht mehr von der Erscheinung gesprochen und ich hoffte zuversichtlich, du wärest endgültig von diesem Besuch freigeworden, der dich immer tagelang traurig stimmt und die Wunde wieder aufreisst, die sonst längst vernarbt scheint.“

Sie wollte ein Lächeln um ihre Lippen zwingen, aber es reichte nur zu einem unendlich müden Verziehen des Mundes.

„Ganz vernarben wird die Wunde nie, Günter, aber dass sie immer wieder zu bluten anfängt, dafür sorgt die Erscheinung.“

In Karolas Augen leuchtete es auf, als bräche ein helles Licht aus Herzenstiefen.

Die Tränen versiegten jäh.

Und leise raunte die Frauenstimme: „Es war um Mitternacht, als ich erwachte von einem wunderbaren, blendenden Schein. Aber ich erschrak gar nicht, weil ich sofort wusste, ehe ich die Augen noch völlig geöffnet hatte, nach langer Zeit würde ich wieder die Erscheinung sehen, wie zum ersten Male vor zwölf Jahren, am Wegekreuz bei St. Blasien im Schwarzwald und zum zweiten Male im Münster zu Freiburg, wie dann später in längeren Zeitabständen hier in unserem Hause. Es war bisher immer dieselbe Erscheinung, wenn ich auch meine, sie sei die letzten Male grösser gewesen, aber es fiel mir gar nicht besonders auf, eigentlich war sie immer unserem toten Kinde ähnlich, so wie ich es im Gedächtnis trage. Vier Jahre ungefähr ist’s her, seit sie sich mir nicht mehr zeigte, und seitdem hat sie sich sehr verändert. In dieser Nacht, Günter, stand kein Kind mehr in dem hellen Schein, der um das seltsame Wesen wie zugehörend herum ist, sondern ein Mädchen, gross und schlank wie unser Trautchen, so gross wie unser eigenes Fleisch und Blut jetzt sein müsste, wenn wir es hätten behalten dürfen, wenn es am Leben geblieben wäre.“

Ihr Blick war geradeaus gerichtet, als sähe er, was der Mund schilderte.

„Viel zarter und schmaler war die Erscheinung wie das Trautchen, das für unser Kind gilt, genau so wie die Erscheinung, meine ich, müsste das Kind unseres Herzens jetzt aussehen, wenn es bei uns geblieben wäre. Und sie spielte wieder auf einer Geige. Aber auch die Geige sah anders aus als die von früher. Sie war grösser und wenn mein Ohr auch keinen Ton vernahm, so war es mir doch, als ob ich ein ganz wunderbares Spiel mit dem Herzen hören konnte. Wilde Sehnsucht ergriff mich nach unserem Liebling, eine so gewaltige Sehnsucht, wie ich sie selbst damals nicht empfunden, als das Schreckliche geschah, damals vor zwölf Jahren. Ganz plötzlich war dann alles verschwunden, der Glanz und die Helle erloschen, ich lag im Dunkeln. Aber ich blieb noch lange wach und die Erinnerung sass bei mir am Lager und ihr: Weisst du noch? tat weh, jammervoll weh.“

Sie hob ein wenig den Kopf, wandte ihm voll das Gesicht zu.

„Ich begreife nur nicht, weshalb ich die Tote so ganz anders sah diesmal? Ich meine, sie hätte auch in ihrer Verklärtheit das Mädchen von einst bleiben müssen, das vierjährige Kind. Ich finde aber, so viel ich darüber schon nachsann, keine Erklärung dafür.“ Ihre Stimme schwankte. „Nur das eine ist mir längst klar und wird mir immer klarer, das arme Geschöpf findet keine Ruhe im Grabe, weil es im fremden Lande liegen muss, es möchte gerne in der Heimat ruhen.“

Günter Overmans dachte, nun war die geliebte Frau seit langem im allgemeinen so ergeben gewesen, sie liebte das Kind, das seit zwölf Jahren den Platz des eigenen einnahm, weshalb musste diese Ruhe wieder gestört werden durch einen Traum.

Denn nur um einen Traum handelte es sich, um einen Traum, der seine arme Frau geschreckt, der jäh ihr altes Mutterleid wieder aufgejagt hatte.

Er widersprach ihr.

„Weshalb soll Klein-Trautchen keine Ruhe in ihrem Grabe finden? Es ist doch nur der entseelte Körper, der in dem Grabe fern in England liegt! Die Seele, die unsterbliche Seele unseres Kindes ist hinaufgeflogen wie ein freier starkbeschwingter Vogel, in die Heimat, die sich hoch und fern über alle Länder hinzieht.“

Karola wollte eben etwas erwidern, doch in diesem Augenblick klopfte es so energisch an, dass sie nervös zusammenfuhr.

In der nächsten Sekunde, ehe noch ein „Herein“ laut geworden, sprang die Tür auf und eine reizende Sechzehnjährige stürzte ins Zimmer, als müsse sie eine Festung erstürmen.

Es war Trautchen Overmans, die einmal Babette Kempen geheissen und ein dralles bäuerisches Schwarzwaldmaidli gewesen.

Aber von der romantischen Geschichte, deren eine kleine Hauptheldin sie gewesen vor zwölf Jahren, davon ahnte das junge Mädchen nichts.

Es wusste nicht anders, als dass die beiden, bei denen sie lebte, ihre richtigen Eltern waren. Keine Erinnerung war in dem hübschen Dinge haften geblieben.

Günter Overmans schalt: „Du sollst doch nicht so wild und rücksichtslos eintreten, Mädel! Immer wieder muss man dir dasselbe sagen.“

Der rote Mund in dem weichen, aber dennoch energischen Gesichtchen lachte, und das Köpfchen, um das sich dunkles Strudelhaar bauschte, als hätte es ein geschickter Friseur zurechtgelegt, wiegte sich bedauernd hin und her.

„Ich bin leider unverbesserlich, Vati, das müsstest du doch eigentlich längst wissen. Und von heute ab wird das noch schlimmer mit mir. Denn von heute ab wird mein Selbstgefühl mit rasender Geschwindigkeit wachsen. Grosspapa hat mir doch versprochen, wenn ich heute ein gutes Zeugnis aus der Handelsschule heimbringe, ernennt er mich zum dritten Chef all seiner Unternehmen. Er selbst ist der erste, du, Vati, bist der zweite und ich werde der dritte sein. Und darauf kann ich mir doch etwas einbilden, nicht wahr? Sechzehn Jahre und schon den Cheftitel!“

Günter Overmans musste lachen und Traute versicherte vergnügt: „Jawohl, jetzt werde ich bald eine Respektsperson, mein Zeugnis ist erstklassig, alle in der Schule beneiden mich darum.“

Sie unterbrach sich und starrte die zierliche Frau, die sich tief in den Sessel hineindrückte, erschrocken an.

„Hast ja geweint, Mutti! Weshalb denn? Wer hat dir denn etwas getan?“ Sie kniete vor der Frau nieder, die sie für ihre Mutter hielt und wie eine Mutter verehrte und liebte. „Bitte sage es mir doch, warum du hast weinen müssen?“

Günter Overmans half seiner Frau.

„Mutter hat vorhin mit mir von ihrer Jugend gesprochen. Du weisst, ihre Eltern starben früh und die Tante, die sie erzog, hatte wenig Verständnis für sie. Die Erinnerung stimmte sie traurig.“

Das junge Mädchen bezweifelte die Erklärung natürlich nicht.

„Armes Mutti,“ kam es zärtlich über die jungen Lippen, „es muss schrecklich wehe tun, wenn einem die lieben Eltern so früh sterben. Ich bin ja auch froh, dass ich euch habe, denn Vater und Mutter sind doch das allerbeste auf der Welt.“

Die beiden wechselten einen schnellen Blick.

Sie verstanden sich und dachten wohl beide genau dasselbe, gelobten sich wohl gleichzeitig: Das Mädelchen sollte niemals erfahren, dass auch seine Eltern schon frühzeitig starben.

Traute lächelte: „Ja, Vater und Mutter sind das beste auf der Welt und ein Grosspapa ist auch etwas Wundervolles. Aber ich habe sicher den liebsten und liebenswertesten Grosspapa erwischt bei der Grosspapaverteilung.“ Sie nahm die Rechte der Frau im Sessel, drückte ihr rosiges Gesicht darauf. „Weine nicht, Mutti, denke an nichts Trauriges. Freue dich, dass wir uns alle so lieb haben und beisammen sein dürfen.“ Sie sprang auf. „Ich kann es gar nicht abwarten, bis Grosspapa heute mittag nach Hause kommt, um ihm mein gutes Zeugnis zu zeigen.“

Günter Overmans neckte: „Dürfen wir vielleicht ergebenst bitten, es auch sehen zu dürfen?“

Traute holte ein sauber zusammengefaltetes Papier aus der Tasche, die sie aus praktischen Gründen entgegen der Mode in fast allen Kleidern anbringen liess, und hielt es ihm entgegen.

Er warf einen langen Blick darauf, dann schmunzelte er: „Alle Wetter, du hast ja lauter gute Noten! Ja, sage mal, Mädel, von wem hast du nur das Kaufmannsblut?“

Traute machte ein sehr ernstes Gesicht.

„Nun vom Grosspapa, das ist doch klar.“ Gönnerhaft setzte sie hinzu: „Ganz unbegabt bist du ja schliesslich auch nicht.“

Er verneigte sich ein wenig im Sitzen.

„Meinen besten Dank für die gute Meinung, ich bin tiefgerührt!“

Und während er dabei lächelte, war ihm doch bitterernst zumute, als er sann, wie eigen es doch war, dass dieses Mädelchen aus fremdem Bauernstamm tatsächlich das Kaufmannsblut seines Vaters in den Adern zu haben schien.

Traute rannte ungeduldig durch das Zimmer.

„Biel zu lange dauert es noch, bis Grosspapa heimkommt, ich halte es nicht mehr aus, ich muss ihm wenigstens telephonieren.“

Sie stürmte genau so wild und plötzlich aus dem Zimmer, wie sie es betreten.

Günter Overmans blickte ihr nach, sagte, nachdem die Tür etwas zu laut ins Schloss geflogen: „Sei nicht mehr traurig, mein Lieb, freue dich über das ein wenig derbe, wohltuend gesunde Geschöpf, das dir meines Vaters Liebe und Achtung verschaffte und uns bisher nur Freude bereitete.“

Sie nickte ihm stumm zu und dachte dabei doch an ein kleines Grab fern von der Heimat.

35. Kapitel.

Ein paar Tage danach sass die junge Traute neben Lamprecht Overmans im Auto und sie fuhren zusammen ins Bureau der Overmansschen Brauerei, wo das junge Mädchen seine erste praktische Lehrzeit durchmachen sollte.

Traute ging sofort mit so grossem Feuereifer und so grosser Begeisterung an die Aufgabe heran, dass der noch immer kraftvolle alte Herr zu seinem Sohne meinte: „Es ist doch zuweilen etwas Prachtvolles um die Vererbung. In dem Mädel rumort all das, was in mir in jungen Jahren herumrumorte. Ich habe aber schon öfter gehört, dass einem die Enkel in Veranlagung und Begabung oft ähnlicher sind wie die Söhne. Ich meine damit nicht, dass du ein schlechter Kaufmann bist, Günter, bitte, fasse es nicht so auf, aber soviel weiss ich heute schon, deine Tochter wird dich geschäftlich überflügeln. Ich tauschte das Mädel für keinen Jungen ein, denn Traute ersetzt später einmal vollkommen einen männlichen Overmans.“

Günter wiederholte die Worte seiner Frau und setzte nachdenklich hinzu: „Mir ist es tatsächlich, als wäre Trautchen unser eigenes Kind. Sie ist ein so blutwarmes liebes Geschöpf, so ohne alle bösen Fehler, dass man ihr einfach gut sein muss. So, wie wir uns unser Mädel nur wünschen konnten, ist es geworden und darüber müssen wir uns freuen. Das gewagte Experiment, das eine Nelly Brown machte, hätte auch schlimm ausfallen und sich an der Heranwachsenden irgendwelche schlechten Eigenschaften zeigen können, die uns Sorge bereitet hätten.“

Karola blickte nachdenklich.

„Du hast recht, Günter, und meine Natur, die wohl überhaupt keiner ganz grossen Leidenschaft fähig ist, die sich ducken und kneten lässt und sich fügt, ist ja auch mucksstill gewesen, plätscherte im gemütlichen Wohlleben hin, bis ich kürzlich nachts unser Trautchen sah, unser wirkliches Trautchen so sah, wie es wahrscheinlich jetzt aussehen würde, wenn es am Leben und bei uns geblieben wäre. Das hat mich wieder so sehr verstört, nur das.“

Ihre Augenlider zuckten.

„Es ist ja nun alles schon so lange her, und zuweilen meine ich, das, was wir damals in Freiburg erlebt, wäre gar nicht wahr gewesen, ich hätte es nur einmal gelesen und tief mitempfunden. Und es sei in mir hängen geblieben, so wie der Inhalt guter Bücher in uns hängen bleibt, die uns grossen Eindruck hinterlassen.“

Und nach und nach ward auch die Erinnerung an die Erscheinung wieder matter, Karola Overmans lebte ruhig und glücklich in dem schönen Haus am Herdweg in Stuttgart, dessen nächster Nachbar ihr Schwiegervater war, der es an Aufmerksamkeiten gegen sie niemals fehlen liess, seit aus seiner Enkelin, dem matten Menschenpflänzchen, ein kräftiges, gesundes Geschöpf geworden.

Und es ward winterlich.

Der Kranz von Bergen, der Stuttgart umgibt wie ein erhabener Rahmen, überzog sich weiss. Seit Tagen fiel Schnee und blieb liegen, schuf ein verzaubertes Märchenreich.

Trautchen arbeitete sich jetzt, nachdem sie ein Vierteljahr in der grossväterlichen Brauerei Bureauarbeiten getan, in der Pianofabrik ein, deren klangvolle Fabrikate während der Kriegsjahre automatischen Drehbänken hatten Platz machen müssen.

Aber die Zeit der Granaten war lange vorbei, man durfte diese Weihnachten die himmlische Botschaft: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden! schon mit ruhigerem Atem anhören wie in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren.

Lamprecht Overmans sass an seinem Schreibtisch und ihm gegenüber Traute, den dunklen Lockenkopf tief über einen Brief geneigt, den sie aufsetzen sollte.

Der alte Herr warf ab und zu einen heimlichen Blick über den Tisch, und jedesmal nach so einem Blick glitt über sein kühles, ausdrucksvolles Gesicht ein weicher Zug.

Nach einem Weilchen reichte ihm Traute den fertigen Brief.

„Guck einmal, Grosspapa, bitte, ob ich die Geschichte richtig gemacht habe?“

Es handelte sich um einen ziemlich schwierigen Geschäftsbrief und Lamprecht Overmans nickte nach aufmerksamem Durchlesen zufrieden vor sich hin. Ganz famos war der Stil, kein Mensch, dem der Inhalt des Schreibens vor die Augen kam, würde es für möglich halten, dass ihn ein so blutjunges Mädchen abgefasst.

Er schmunzelte: „Der Brief kann so bleiben, schreibe ihn nur gleich mit der Maschine ab, und dann, Trautchen, zur Belohnung für den Brief, hören wir heute nachmittag früher auf, schwänzen die Arbeit und gehen Weihnachtseinkäufe für die Eltern machen. Das liegt dir ja doch besonders am Herzen.“

Trautchen strahlte ihn an.

„Grosspapa, ich muss mich immer wieder wundern, wie klug du bist!“

Er lachte vergnügt.

„Beinahe so klug wie du, mein Liebling, nicht wahr?“

Nachdem der Brief dann abgeschrieben war, fuhren die beiden zusammen in der Stadt herum, kauften hier etwas ein und dort etwas, und schliesslich hielt das Auto vor einer Kunsthandlung, die sich dadurch hervortat, dass sie nur ganz ungewöhnlich gute Arbeiten moderner Maler ausstellte und verkaufte.

Lamprecht Overmans fand, ein künstlerisches Bild war immer ein willkommenes Geschenk, namentlich für jemand, der es, wie seine Schwiegertochter, liebte, die Wände überreich mit Bilderschmuck zu dekorieren.

Der Inhaber der Kunsthandlung, der noch eben im eifrigen Gespräch mit einem Herrn gestanden, stelzte auf hageren Beinen heran, klappte zu tiefer Verbeugung wie ein Taschenmesser zusammen.

Der stadtbekannte reiche Lamprecht Overmans war ein Kunde, der nur das Beste und Teuerste kaufte.

Auch die junge Dame, die ihn begleitete, ward mit tiefer Verbeugung begrüsst.

Lamprecht Overmans sagte: „Wir wollen uns einmal bei Ihnen umschauen, verehrter Herr Meifinger, ich suche nämlich ein hübsches Bild für meine Schwiegertochter.“

Alois Meifinger nickte eifrig.

„Es sind allerdings schon ein paar sehr schöne Stücke als Weihnachtsgeschenke verkauft worden, aber es ist auch noch viel Schönes vorhanden! Vielleicht darf ich die Herrschaften in den Nebensaal bitten, da gibt es ein paar ganz besondere Prachtstücke.“

Er hob eine schwere Tuchportiere und liess die beiden Besucher vorangehen, folgte ihnen und meinte dann: „Ich möchte auf keinen Fall durch meine Gegenwart auch nur im geringsten stören. Allein, in aller Ruhe, sagen Ihnen die Bilder vielleicht mehr, als wenn ich nebenher gehe und schwatze.“

Mehr offen und ehrlich als höflich, liess Traute ein lautes: „Ja, Sie haben vollkommen recht!“ hören.

Alois Meifinger blickte ein bisschen verblüfft, aber dann zog er sich mit einem kleinen Lächeln zurück.

Die junge Dame musste die Enkelin Lamprecht Overmans sein, er hatte gelegentlich einmal gehört, sie wäre ziemlich geradezu und schlüge darin dem Grossvater nach, der aus seinem Herzen auch keine Mördergrube zu machen pflegte.

Langsam schritten Lamprecht Overmans und das junge Mädchen durch den schmalen Saal, dessen an den Wänden hängende und auf Staffeleien stehende Bilder vermittels geschickter Beleuchtung zu bester Wirkung gebracht wurden.

Es war hier wohl für jeden Geschmack etwas zu finden.

Landschaften gab es, die Frieden und Ruhe aushauchten, kleine Häuschen in dörflicher Stille, in die man sich hineinsehnte, und tanzende Paare, betende Madonnen, kämpfende Soldaten, sowie spielende Kinder. Tiere aller Arten und bunte Blumen und noch vieles andere.

Tolle, übermoderne Bilder drängten sich manchmal vor, aber sie gefielen Lamprecht Overmans nicht, er wollte solide, klare, reine Malerei, brummte er Traute zu, bunte Kleckserei wünsche er nicht zu kaufen.

Plötzlich blieb Traute, die jetzt ein paar Schritte vorangegangen war, mit einem lauten Entzückungsrufe stehen.

„Grosspapa, hier ist etwas ganz Köstliches! Ich kann mir gar nichts Lieberes und Süsseres denken.“

Trautes von der frischen Winterluft draussen noch rosig gefärbtes Gesicht drückte helle Begeisterung aus und der alte Herr war fast neugierig, das Bild zu sehen, das seinen Liebling auf den ersten Blick gefesselt hatte, wie ihr Enthusiasmus verriet.

Und dann stand auch er davor. Aber er war unfähig, sofort eine Meinung darüber zu äussern, so sehr schlug ihn das Bild in Bande.

Ihm war es, als dürfe er gar nicht laut atmen, denn auf dem Bilde sah er Trautchen als kleines Mädchen in einem grossen sauberen Bett hocken, rund und mollig, mit den wundervollen Grauaugen den Betrachter anschauend.

Genau so hatte Trautchen ausgesehen nach ihrer Genesung, als er sie und ihre Mutter aus Davos abgeholt.

Er verharrte ganz benommen vor dem Bilde und sann, wie seltsam es doch war, welche Aehnlichkeit das Kind auf dem Gemälde mit Traute hatte, als sie ein ungefähr fünfjähriges Mädelchen gewesen.

Die neben ihm Stehende zupfte ihn am Aermel.

„Ist das kleine Ding nicht wirklich entzückend, Grosspapa? Wenn es nicht zu teuer ist, solltest du es Mutti schenken! Ich glaube, sie würde sich sehr darüber freuen.“

„Das glaube ich auch, das glaube ich sogar bestimmt,“ gab er zurück, „denn denke nur, Trautchen, genau wie das Kind auf diesem Bild, hast du einmal ausgesehen. Man könnte meinen, du hättest dem Maler damals als Modell gedient.“

Er ging an die Portiere, rief den Kunsthändler und führte ihn dorthin, wo Trautchen inzwischen wieder in neues Schauen versunken war.

Lamprecht Overmans fragte den Kunsthändler: „Wer hat das Bild mit dem Titel: Erwachendes Kind! gemalt? Es trägt keinen Namen, ist nur mit drei Buchstaben signiert und die Jahreszahl ist undeutlich.“

Die Jahreszahl interessierte ihn besonders.

Alois Meifingers Pergamentgesicht verzog sich zu beifälligem Lächeln.

„Die Herrschaften haben das hübscheste Bild von allen sehr schnell herausgefunden! Es ist von einem jungen Berliner Maler, der zurzeit nicht weit von hier wohnt, nämlich in Ludwigsburg. Seine Bilder tragen die drei Buchstaben A. v. B., das heisst Alfred von Bassing, und ist das Bild „Erwachendes Kind“ erst in diesem Jahre gemalt worden.“

Lamprecht Overmans sann, das Bild konnte also in gar keinem Zusammenhange mit Traute stehen, wenn es erst in diesem Jahre gemalt worden war.

Aber um eine wundersame Aehnlichkeit handelte es sich, um die denkbar wundersamste. Lamprecht Overmans begriff nicht, dass es solche Aehnlichkeiten geben konnte.

Aber das Bild bewies es.

Am nächsten Tage hing es schon in seinem Schlafzimmer. Hier sollte es bleiben bis zum Weihnachtsabend, wo es hinübergeschafft werden würde in das Nachbarhaus, um sich den anderen Geschenken für die Schwiegertochter beizugesellen.

Trautchen durfte den Eltern nichts von dem Bild verraten, damit die Ueberraschung vollkommen würde.

Er aber erfreute sich morgens und abends an dem Anblick des grossen Gemäldes, erfreute sich an dem im weissbezogenen Bettzeug hockenden molligen Mädelchen mit dem verwirrten dunklen Haar und dem halb offenen Mäulchen. Das Hemdchen war über die runden Schultern gerutscht und die niedlichen, grübchenbestickten Hände lagen gleich rosigen Blüten auf der schneeigen Decke.

Der alte Lamprecht Overmans hielt wahre Andachtsstunden vor dem Bilde ab und noch oft sann er darüber nach. Wie war es nur möglich, dass dieses Kind, das der Maler so lebenswarm auf die Leinwand gebannt, dem Trautchen von einst so fabelhaft glich?

Er schmunzelte auch oft in sich hinein in der Vorfreude, wie Karola die Augen aufreissen würde vor Staunen, was er für sie gefunden.

Er schenkte ihr gern, war stets dazu bereit, sie war ihm lieb und wert geworden, seit er sich nicht mehr darüber aufregen und grämen brauchte, dass seine einzige Enkelin ein so jämmerliches Angstpflänzchen war.

Und das von so vielen, vielen Menschen heissersehnte Christfest kam heran.

Weiches, winterliches Dämmern setzte früh ein, breitete dunkle Teppiche aus, über die der Abend heranschritt.

Der schönste Abend des Jahres!

Der Abend, an dem die Ruhelosesten im Heim bleiben, wo die Bösen gütig werden und die Harten milde.

Und die Sterne zogen herauf, standen wie herrlich geformte Silberlichter droben am Abendhimmel und Glockengrüsse flogen über die in tiefem Schnee gebettete Stadt.

Von hier und dort klang Gesang.

Alte Weihnachtslieder wurden wach, in den Häuschen der Armen und in den bequemen Wohnstätten der Reichen.

Der Geburtstag des überragendsten Sohnes, den je eine Mutter geboren, ward gefeiert von Alt und Jung, von Gross und Klein, und die ihn nicht mitfeierten, das waren die Aermsten der Armen.

Die Sterne schimmerten und gleissten geheimnisvoll, wie sie dereinst schimmerten und gleissten vor mehr als zweitausend Jahren über der Hütte, in der mit dem Jesuskind die wundervollste, selbstloseste Menschenliebe geboren wurde.

Die Liebe, die alles duldet, leidet und trägt, die niemals unwillig und müde wird.

Eine Liebe unirdischer Art.

Wie Sphärenmusik schien es durch das All hinzuströmen, in himmlischen Chören schien es zusammenzufliessen, beseligend und herzerschütternd:

Stille Nacht, heilige Nacht!

Ohne die Worte zu hören, fühlte und empfand man es inbrünstig, die stillste und heiligste Nacht lag über dem dunklen sternendurchflimmerten Land und die Liebe lächelte ihr heiliges, versöhnendes Lächeln, die grosse schöne Menschenliebe, die so oft, so traurig oft, achtlos überrannt wird von Selbstsucht und Kaltherzigkeit.

36. Kapitel.

„Ich freue mich

ganz fürchterlich!“

sang Traute Overmans nach einer selbstkomponierten Weise und zog sich dabei in ihrem reizenden Mädchenstübchen um.

Grosspapa hatte es gern, wenn sie recht hübsch aussah, und so wählte sie aus ihrer reichhaltigen Garderobe ein weisses Tuchkleid, das ihr besonders gut stand, und lächelte sich vergnügt im Spiegel an, während sie sich immer wieder von neuem ihre Komposition mit dem selbstverfassten Text vortrug, der kurz und bündig über ihre Stimmung Aufschluss gab.

Wenn man sechzehn Jahre und gesund ist, und ausserdem von seiner Umgebung geliebt und verwöhnt wird, so ist das wohl allein schon Grund genug, immer wieder zu verkünden:

Ich freue mich

ganz fürchterlich!

Wenn aber noch die Heiligabendfreude dazukommt und die Vorfreude auf einen reich besetzten Gabentisch, dann ist man sogar berechtigt, sich „fürchterlich“ zu freuen.

Ein Stündchen später, nachdem die Dienerschaft der beiden Häuser beschenkt worden war und man gegessen hatte, baute man sich gegenseitig auf und Lamprecht Overmans bedeckte alles, was die Jüngeren von ihm erhielten, mit Tüchern.

Nachdem der grosse Baum angezündet war in Günters Wohnzimmer, setzte sich Karola an das Piano und begann das uralte Marienlied zu spielen:

Es ist ein Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart — —

Ihre helle Stimme sang das Lied mit und Lamprecht Overmans sann, wie heimatlich warm war doch dieses Haus, darin seine Kinder lebten.

Alle drei waren sie seine Kinder: Günter, Karola und Trautchen.

Früher hatte er die weichen Gefühle, wie er sie jetzt oft empfand, gar nicht gekannt, Aber er, dem früher nur das Geschäft und das Geldverdienen Befriedigung gaben, stellte jetzt das Familienleben über alles.

Konnte es denn zum Beispiel etwas Schöneres und Wünschenswerteres auf der Welt geben, als im sorglosen Heim mit geliebten Menschen das Christfest zu feiern?

Wer ihm früher gesagt, er würde einmal so denken, den hätte er ausgelacht.

Sein Blick suchte das junge Mädchen, das neben dem Piano stand und seine Zärtlichkeit legte sich wie ein weicher, schützender Mantel um die schlanke, aber nicht schmale Gestalt.

Sein Blick suchte die grauen Augensterne in dem rosigen Gesicht.

Und da hoben sich die Lider mit den unwahrscheinlich langen schwarzen Wimpern und Trautchen erwiderte den Blick mit Wärme.

Sie tat dem jungen Herzen immer von neuem wohl, die Güte des alten Mannes, die stets bereit war.

Langsam, wie magnetisch von seinem Blick angezogen, ging Trautchen auf ihn zu, flüsterte verhalten dicht an seinem Ohr: „Ich habe dich über alles lieb, Grosspapa!“

Günter Overmans sah, wie sein Vater Trautchen küsste und Karola sah es, flüchtig aufblickend, auch.

Sie waren es beide gewöhnt, dass der alte Mann und das junge Mädchen manchmal wie Verliebte taten, aber heute fiel es ihnen doch wieder besonders auf.

Beide empfanden es überzeugend stark von neuem, was sie ja eigentlich längst wussten: Das Glück, den Frieden ihres Heims, ja ihre ganze Existenz hielt das junge Geschöpf in seinen kleinen kraftvollen Händen, das fremde Reis auf ihrem Stamm, das fremde Schwarzwaldmaidle, das eine echte Overmans schien.

Das Weihnachtslied, das einst vor vielen Jahrhunderten zu Ehren der Mutter des Heilands entstanden, war verklungen, Tücher wurden von den bis jetzt dahinter versteckten Geschenken gezogen und jeder ging an seinen Gabentisch.

Behaglich beschaute sich Günter Overmans, was ihm seine Lieben beschert, behaglich betrachtete auch sein Vater, was man für ihn zusammengekauft, und Freudenschreie, die ein paarmal die Grenze zum Indianergeheul überschreiten wollten, ertönten aus der Richtung, wo sich Trautes Tisch befand. Karola aber stand sehr blass vor ihrem Tische.

Sie war keines Wortes fähig.

Sie starrte regungslos dorthin, wo gewissermassen als Hintergrund vieler anderer Geschenke ein grosses Bild aufgebaut war.

Sie starrte das dralle Mädelchen auf dem Bilde an und ihr Denken verwirrte sich.

So hatte doch die kleine Babette Kempen ausgesehen, als man sie ihr an Stelle ihres eigenen Kindes in das Freiburger Hotelbett gelegt! Genau so hatte die derbe Niedlichkeit damals ausgesehen, als sie erwachte, an jenem unglückseligen Tage, da sie selbst leichtsinnig genug war, ihr eigenes Kind für kurze Zeit unter der Obhut der alten Tänzerin Nelly Brown zurückzulassen. Um mit Günter das alte Freiburg zu durchwandern.

Sie versuchte zu überlegen, wie es nur möglich war, dass es jetzt, viele Jahre später, ein Menschenkindchen gab, das ganz genau so aussah wie Babette damals. Und war es nicht ein sonderbarer Zufall, dass es einem Maler einfiel, dieses kleine Mädel in ein so grosses Bett hineinzumalen, und ging es nicht über jeden Zufall hinaus, dass auf der Bettdecke, achtlos hingeworfen oder von müden Kinderhändchen beiseite geschoben, eine kleine Puppe lag und ein Wollbär?

Diese beiden Spielsachen, eine Puppe und ein Wollbär, die beide ihrem Kinde gehörten, lagen damals, als Nelly Browns rücksichtslose Energie sich schicksalswendend in ihr Leben einmischte, auf der Decke des Hotelbetts, darin man an Stelle Trautchens das fremde Kind fand.

Ihr Blick hob sich wie mühsam von dem Bild, das ihr ein gefährliches, unlösbares Rätsel schien, das grausam alte Erinnerungen mit unheimlicher Deutlichkeit heraufbeschwor.

Sie dachte, das eine der beiden Kinder, die man vertauschte wie Gegenstände oder wie arme hilflose Tiere, war lange, lange tot, das andere aber war inzwischen ein grosses Mädchen geworden und ihr ans Herz gewachsen.

So sehr, dass sie es liebte wie ein eigenes Kind.

Nein, vielleicht doch nicht ganz so!

Es war da immer noch ein Etwas in ihr, das sich nicht ausgab, das aber in einer unnennbar starken, in einer unbeschreiblich beseligenden Liebe hingeströmt wäre über das Kind, das sie einst unter dem Herzen getragen.

Wie einen geheimen Schatz trug sie das Gefühl ständig mit sich herum, wenn sie auch wusste, sie würde den geheimen Schatz ihrer Mutterliebe niemals verschwenden können.

Drüben in England lag irgendwo ein kleines Grab, das sie nie gesehen und nie sehen würde, von dem man wahrscheinlich überhaupt nichts mehr sah, und darin ruhte das Kind ihrer Schmerzen und wehen Erinnerungen.

Das Kind, das den Platz der Toten einnahm, war gesund und lebenskräftig wie ein derber Junge.

Ihr Auge suchte das junge Mädchen, das eben Kusshände zu Lamprecht Overmans hinüberwarf und ihm zurief: „Grosspapa, wie reich hast du mich beschenkt! Du bist der liebste und beste Mann auf der ganzen Welt, glaube es mir. Dumm eingerichtet ist es nur, dass wir so nahe miteinander verwandt sind!“

Lamprecht Overmans schüttelte verständnislos den Kopf.

„Ich meine, das wäre doch gerade das Gescheiteste.“

Der rote Mund lachte sein berückendes Lachen, zeigte ein wenig die wundervollen Zähne.

„Grosspapa, überlege nur, wenn wir nicht so nahe miteinander verwandt wären, könnten wir uns doch heiraten!“

So komisch es klang und obwohl alle lachten, taten die drolligen Worte Karola weh. Ihr fiel eine kleine Szene ein von damals, ehe sie vor zwölf Jahren mit ihrem kränkelnden Kinde nach St. Blasien abgereist. Da hatte es auf dem Schosse Lamprecht Overmans’ gesessen und gepiepst: „Opapa, ich habe dich lieb, und wenn ich wiederkomme, huste ich gar nicht mehr, und wenn du willst, heirate ich dich!“

Die Nurse, Hedwig Ritter, musste das damals dem Kind einstudiert haben.

Die Szene war ihr ganz entfallen, nun, durch die Worte des jungen Mädchens, erinnerte sie sich plötzlich daran.

Karola unterdrückte einen Seufzer, es kam in der letzten Zeit auch alles zusammen, um die Vergangenheit wieder grausam lebendig zu machen.

Ihr Mann trat jetzt zu ihr.

„Ich wollte vorhin deine Andacht vor dem Bild nicht stören, jetzt muss ich mich aber doch überzeugen, was dich bisher so fesselte, dass du deine ganze Umgebung darüber vergassest.“

Er erblickte das Bild zum ersten Male, da es bis vor wenigen Minuten noch völlig verhängt dagestanden, und auch er schrak zusammen, denn auch er sah sofort, das war Trautchen an jenem Tage, da sie zum letztenmal Babette Kempen hiess.

Sie musste es sein, eine solche Aehnlichkeit schien ihm unglaublich, unmöglich.

In seinem Kopf entstand ein wirres Durcheinander und Furcht drängte sich an ihn heran, unheimliche, seltsame Furcht.

Welche Absicht barg sich hinter diesem Geschenk? Was bezweckte sein Vater damit?

Es war doch keine harmlose Weihnachtsgabe, es musste sich irgendein grausamer Sinn dahinter verstecken! Ein Sinn, der allerdings unverständlich ward, wenn man beobachtete, wie innig der alte Mann eben wieder das Mädelchen ans Herz drückte, das vor Weihnachtsfreude ganz aus dem Häuschen war.

Die Augen des Ehepaares fanden sich in banger Frage und sie kamen sich vor, wie zwei Menschen, die ein geheimes Verbrechen einte, die sich seit langem in Sicherheit gewiegt und nun plötzlich merkten, die Sicherheit war trügerisch.

Arm in Arm tauchten der Aelteste und die Jüngste der Familie hinter ihnen auf und Lamprecht Overmans lachte: „Nun, Karolachen, ist die Ueberraschung gelungen? Aber was braucht man dich erst noch zu fragen, ich habe ja beobachtet, du hast dich förmlich in das Bild hineingekniet. Komisch und verblüffend ist die Aehnlichkeit mit unserm Herzenskind von einst, nicht wahr? Ich habe es unserem Trautchen, die das Bild übrigens zuerst bei Meifinger entdeckte, gleich erklärt, so hätte sie einmal ausgesehen, genau so. Und es ist schnurrig zu denken, irgendwo existiert jetzt ein wildfremder, molliger Balg und sieht so aus, wie unser dickes Strampelchen damals aussah, als ich es mit dir aus Davos abholte. Weisst du noch, Karolachen, wie ich mich damals freute über unseren gesund gewordenen Liebling? Und hauptsächlich wegen der Aehnlichkeit kaufte ich das Bild und dachte mir gleich, es müsste dir gefallen und dir Eindruck machen.“

Karola war es, als gleite eine grosse Bürde, die man ihr aufgepackt, von ihren Schultern, eine Bürde, viel zu schwer für sie.

Wie harmlos und einfach die Erklärung war, an deren Stelle sie ein schweres, unlösbares Rätsel gewittert.

Sie bemerkte, auch ihr Lebensgefährte atmete erleichtert auf, aber als sie sich später beide allein befanden, begannen sie darüber nachzugrübeln, welch ein Zufall es doch war, dass der Maler nicht allein ein Modell gefunden, das der einstigen kleinen Babette Kempen auf ein Haar glich, sondern dass auch das gesamte Drumherum dem Milieu ähnelte, in dem der Umtausch der Kinder geschah.

„Die Puppe und den Wollbären von damals habe ich sogar aufgehoben,“ sagte Karola leise, ganz leise zu ihrem Manne, als fürchte sie, jemand könne sie hören, obwohl schon alle im Hause schliefen.

Ihr Mann zuckte die Achseln.

„Es ist alles sehr eigentümlich und sonderbar, mein Lieb, aber wir müssen uns schliesslich wohl doch an die Erklärung vom Zufall halten. Man hört gelegentlich immer wieder von Zufällen, die unglaubhaft klingen, die in Romanen und Theaterstücken gesucht erscheinen würden. Ich meine, wenn man es genau überlegt, so ist das Merkwürdigste bei allem nur die Aehnlichkeit des Kindes auf dem Bilde mit —“ Er zögerte flüchtig und vollendete dann: „Mit dem unseren! Weshalb soll ein Maler zum Beispiel so ein Püppchen, statt in ein kleines, nicht einmal in ein grosses Bett stopfen, in dem es malerisch vielleicht viel mehr zur Geltung kommt? Und die Spielsachen? Puppe und Wollbär sind ein paar so landläufige, beliebte Spielsachen, dass sie das am wenigsten Auffallende sind. Zum kleinen Mädel gehört die Puppe und sowohl Mädel wie Jungen schwärmen für Wollbären.“

Karola liess sich beruhigen. Sie sah alles ein, was ihr Mann erklärte.

Als dann das Bild in ihrem sogenannten Damenzimmer hing, wo sie sich gern aufhielt, stand sie oft davor und ihre Gedanken flogen, wie gescheucht von gebietender Hand, in die Vergangenheit zurück.

Lamprecht Overmans meinte, das Kind auf dem Bilde sähe dem gesundeten Trautchen ähnlich, das er in Davos wiedergefunden. Aber er hatte ja vorher nur ein kränkliches Blassgesicht gekannt. Sie wusste dagegen genau, das Kind auf dem Bilde sah der kleinen Babette Kempen ähnlich, zum Verwechseln ähnlich, aber ein volles Jahr früher.

Heisse Tränen tropften oft aus ihren Augen vor dem Bilde nieder, und durch das Bild ward so vieles in ihr wieder aufgewühlt, was am besten in dem Grabe bei ihrem Kinde mitaufgehoben wäre.

Bei ihrem Kind, das erst hatte sterben müssen, damit sie von Lamprecht Overmans als Frau und Mutter geachtet wurde.

37. Kapitel.

Lamprecht Overmans hatte eine Tapetenfabrik übernommen oder richtiger übernehmen müssen, um nicht zuviel zu verlieren, denn der bisherige Inhaber der Fabrik war sein Schuldner gewesen.

Anfangs beabsichtigte Lamprecht Overmans die Fabrik zu verkaufen oder nach und nach aufzulösen, um möglichst viel von seinem Gelde herauszuziehen, aber Trautchen mischte sich energisch ein und veränderte seine Entschliessungen.

„Wir wollen die Fabrik behalten, Grosspapa,“ schlug sie vor und machte dabei ihre ernsthaftesten und nachdenklichsten Augen, „denn ich bin der Meinung, dass die Fabrik nicht mehr ging, war nur Schuld ihres Besitzers. Wir wollen Leben in die tote Sache bringen, ich bin überzeugt, es gelingt uns. Der bisherige Inhaber war rückständig, war ein Mann aus dem vorigen Jahrhundert. Er konnte sich nicht auf die neue Zeit umstellen, er trug dem modernen Geschmack keine Rechnung, sondern arbeitete mit lauter altfränkischen Mustern, wie sie heutzutage nicht einmal mehr die Leute in den abgelegenen Provinznestern in ihren Wohnungen sehen möchten. Glaube mir, lieber Grosspapa, wenn wir die alten Vorräte billig abstossen und mit einem Teil davon, der ganz unmöglich ist, Feuer anmachen, dann ist der Weg zum Erfolg schon frei. Sind wir soweit, dann suchen wir uns schleunigst einen oder mehrere Musterzeichner, die Schwung und Schmiss haben. Moderne Menschen mit dem richtigen Blick für das, was die Leute von heute wollen. Sie dürfen uns keine Rosenkränzchen vorlegen und keine steifen Schablonenmuster, keine Dreiecke und Bälle in Blätterranken und keine Schmetterlinge auf Riesenblumen. Es gibt so viele Tapetenfabriken und es dürfte schon ziemlich schwierig sein, mit ihnen Schritt zu halten. Wir aber müssen sie noch überflügeln, sonst lohnt es für uns gar nicht erst anzufangen. Ich bin kein Zeichner und kein Maler, aber mir schweben allerlei Motive vor, die apart sind und die gefallen würden, bilde ich mir ein. Ich habe das Gefühl, einem Zeichner Winke geben zu können und Ratschläge, wie er es machen müsste. Kitschdurchschnittszeichner können wir nicht brauchen, sondern nur hochintelligente Menschen. Künstler, besondere, die wir gut bezahlen müssen, damit sie merken, sie werden für ihre Kunst bezahlt. Dafür wagen sie es dann auch gar nicht, uns Handwerksmässiges zu bringen. Am besten wäre es, junge Maler heranzuziehen, die über Phantasie verfügen.“

Lamprecht Overmans hatte aufmerksam zugehört, hatte danach verschiedene Fragen gestellt und schliesslich gesagt: „Topp, Mädel, dein Vorschlag ist angenommen, weil er mir durchaus einleuchtet. Ich überlasse dir einen Teil der Vorarbeiten, der Organisation, denn du bist ein grundgescheites Dingelchen. Du hast eben die natürliche Veranlagung für das Kaufmännische, den richtigen kaufmännischen Blick.“

Da hatte Traute in jäh aufwallender Freude die Hand des alten Herrn fest, ganz fest gedrückt und ihn strahlend angelächelt: „Ich freue mich sehr, bei der Gründung deines neuen Unternehmens mitschaffen zu dürfen. Ich denke mir ausserdem die Tapetenfabrik noch interessanter als die Brauerei und die Pianofortefabrik.“

Ende Januar erschien in verschiedenen Stuttgarter Zeitungen eine Annonce, durch die eine junge künstlerische Persönlichkeit gesucht wurde für das Entwerfen von modernen Tapetenmustern bei sehr guter Honorierung.

Es liefen verschiedene Offertbriefe ein und Lamprecht Overmans übergab sie uneröffnet dem jungen Mädchen, mochte Traute sie prüfen. Er wollte sie ziemlich selbständig handeln lassen, solange er das Gefühl hatte, sie handelte richtig.

Und dachte sie über manches anders wie er, so bedeutete das noch nicht, sie handelte falsch.

Er war ja reich genug, um sich schliesslich auch einmal ein Experiment leisten zu können.

Er wollte einmal sehen, was das junge Geschöpf fertig brachte, das doch noch über keine wertvollen praktischen Erfahrungen verfügte, das nur eine Art Instinkt und ein heller Kopf leitete.

Wenn er irgendeinem Geschäftsfreunde erzählt hätte, er überlasse jetzt seiner sechzehnjährigen Enkelin die Reformierung und Oberleitung einer Tapetenfabrik, würde man ihm sicher erklärt haben, er sei reif für eine Kaltwasserheilanstalt. Und deshalb verriet er lieber niemand etwas davon, das hatte Zeit bis nach dem Erfolg. Dass sein Sohn und Karola die Köpfe schüttelten, störte ihn weiter nicht.

Traute begann damit, den bisherigen Angestellten der Fabrik ihre Pläne zu erzählen, und sie fand sofort bei allen ein begeistertes Echo. Erstens freute man sich, in Lohn und Brot zu bleiben und zweitens freute man sich darauf, einmal etwas anderes aus den Maschinen hervorgehen zu sehen wie die alten Muster.

Es waren übrigens schon seit langen Jahren keine neuen Muster mehr entworfen worden und kein Zeichner ward brotlos dadurch, dass der Betrieb nicht im alten Stile weitertrottete, gleich einem verbrauchten, müden Karrengaul.

Drittens war man begeistert von dem reizenden, blutjungen weiblichen Chef.

Durchs Feuer wären Arbeiter und Bureauangestellte für die dunkellockige Traute Overmans gegangen.

Am Abend lief Traute zu Lamprecht Overmans hinüber in das Nachbarhaus. Sie benützte die kleine Verbindungstür in der Mauer, die beide Gärten trennte.

Sie fand den alten Herrn in seinem, mit geschnitzten dunklen Möbeln eingerichteten Wohnzimmer im bequemen Lehnstuhl, die Stummelpfeife rauchend und die Zeitung lesend.

Sie zog sich einen Stuhl dicht neben den seinen, nahm ihm sacht die Zeitung fort.

„So, Grosspapa, nun habe ich die Offertbriefe genau geprüft. Eigentlich kommt nur einer davon besonders in Frage. Und denke dir, Grosspapa, welch ein Zufall, der Absender dieses Briefes ist der Maler, der das entzückende Bild gemalt hat, das du Mutti zum Weihnachtsfest schenktest. Ich nehme wenigstens nicht an, es gibt zwei Maler ganz gleichen Namens. Alfred von Bassing heisst er und wohnt zurzeit in Ludwigsburg.“

„Natürlich muss er es sein,“ bestätigte der alte Herr, „denn der Kunsthändler Meifinger erzählte ja, als wir das Bild kauften, der Maler wohne zurzeit in Ludwigsburg.“

Traute reichte dem alten Herrn einen Brief, der eine klare, charakteristische Handschrift zeigte.

Er las:

„Auf Ihre Annonce erlaube ich mir, Ihnen meine Dienste anzubieten.

Ich bin Maler, fünfundzwanzig Jahre alt, verheiratet, und habe als Maler schon einige Erfolge zu verzeichnen. Im vorigen Jahre entwarf ich für eine grosse norddeutsche Tapetenfabrik einige Zeit Muster zur vollsten Zufriedenheit, und glaube ich, die an mich gestellten Erwartungen erfüllen zu können. Ich bin stets zur persönlichen Vorstellung bereit.“

Es folgten die üblichen Höflichkeitsfloskeln, und dann der Name Alfred von Bassing.

Lamprecht Overmans gab den Brief zurück.

„Man kann sich den Malersmann ja einmal angucken, das verpflichtet ja noch nicht. Uebrigens empfinde ich grosses Interesse für ihn, schon des Bildes wegen.“

Noch am gleichen Abend schrieb Traute ein paar Zeilen an Alfred von Bassing, er möge sich in der Tapetenfabrik von Lamprecht Overmans vorstellen.