COLETTE JANSEN ESTERMANN

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

IGW-Publikationen

Hg. Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW)

Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien)

Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz)

Die Reihe wird gemeinsam vom Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) und dem Institut für Integrative Gestalttherapie Wien (IGWien) sowie dem Institut für Integrative Gestalttherapie Schweiz (IGWSchweiz) herausgegeben. Die Schwesterinstitute wollen damit im deutschen Sprachraum einen Beitrag leisten zum öffentlichen fachlichen Diskurs unter Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten sowie bei gegebenem Thema auch unter Personen, die andere Therapieansätze vertreten. Als Autorinnen und Autoren treten Lehrende und Graduierte der beiden Institute auf, aber auch andere Kolleginnen und Kollegen.

Verantwortlich für die Reihe sind:

Peter Schulthess, Zürich (IGW), und Heide Anger, Wien (IGWien)

Die Autorin

Colette Jansen Estermann, Dr. phil. in Psychologie; in den Niederlanden geboren, drei erwachsene Kinder; von 2004 bis 2012 als Gestalttherapeutin in eigener Praxis, Ausbildnerin und Professorin an verschiedenen Universitäten in La Paz/ Bolivien tätig. Sie ist Mitbegründerin der »Bolivianischen Stiftung für Gestalt-Psychotherapie« (FBPG), Autorin mehrerer Publikationen zu Gestalttherapie, Trauma-Arbeit und Interkulturalität; seit 2013 arbeitet sie als Psychotherapeutin ASP in Luzern / CH.

Colette Jansen Estermann

TRAUMA UND INTERKULTURELLE GESTALTTHERAPIE

Traumatischen Erfahrungen
mit eigenen Ressourcen begegnen

Mit einem Vorwort von Willi Butollo

– EHP 2014 –

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Geleitwort von Willi Butollo

Ein Wort des Dankes

1.       EINFÜHRUNG

1.1     Motivation

1.2     Die Geschichte Boliviens

1.3     Das Umfeld Boliviens

1.4     Interkulturalität

2.       DATEN

2.1     Allgemeine Daten zu den Teilnehmern

2.2     Inventar traumatischer Ereignisse

2.3     Prävalenz des Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndroms

2.4     Das Bild von sich und den anderen

2.5     Prävalenz dissoziativer Momente

2.6     Inventar der Ressourcen

2.7     Vorhandene Copingstrategien

2.8     Inventar der Post-Traumatischen Reifung

2.9     Resultate der Varianzanalyse

3.       LEBENSGESCHICHTEN

3.1     » Wenn man etwas geschenkt bekommt, soll man auch immer etwas zurückgeben.«

3.2     » Warum verschluckt die Erde mich nicht?«

3.3     » Ich habe mich immer gefragt, ob ich verrückt sei.«

3.4     » Soll dieses Gespräch vielleicht das Verborgene an die Oberfläche bringen?«

3.5     » Stabilität bedeutet für mich Sicherheit durch ausreichende Einkünfte.«

3.6     » Eines Tages möchte ich einen Beruf haben, damit niemand mich auslachen wird.«

3.7     » Als ich damals als Kind Hunger hatte, sagte meine Mutter zu mir: ›Bete‹, und nachher gab es Brot«

3.8      »Mein Vater, Großvater und meine Onkel sagten mir: ›Geh und schau vor dich und hinter dich und auf die Seite.««

3.9      »Alles was geschieht, geschieht aus irgendeinem Grund, sowohl das Gute wie das Schlechte.«

3.10   »Hoffentlich verzeiht meine Mutter eines Tages auch sich selbst.«

3.11   »Die schwierigen Momente haben einen besseren Menschen aus mir gemacht.«

3.12   »Nachher hat uns nichts mehr überraschen können.«

3.13   »In meinem Geist versuche ich zu fliehen, das mache ich oft und das hilft mir.«

3.14   »Ich war mir nicht bewusst, dass ich so viele traumatische Erfahrungen erlebt hatte.«

3.15   »Muss ein Trauma immer eine schlechte Erfahrung sein?«

3.16   »Ich musste mein Studium unterbrechen, was mir schwer fiel, aber mein Neffe brauchte mich und meine Liebe.«

4.       THEORIEBILDUNG

4.1     Ein Klima struktureller Gewalt

4.2     Das psychotraumatische Belastungssyndrom

4.2.1  Die Wichtigkeit einer Selbstdiagnose

4.2.2  Das Einfache PTBS

4.2.3  Das Komplexe PTBS

4.2.4  Das Strukturelle PTBS

4.3     Gut Leben: ›Vivir Bien‹, ›Suma Qamaña‹, ›Allin Kawsay‹

4.3.1  Gesundheit versus Krankheit

4.3.2  Die Chance posttraumatischer Reifung

4.3.3  Fließende Kraftquellen

4.4     Eine therapeutische Antwort auf die bolivianische Situation

4.4.1  Transgenerationelle kollektive Traumatisierung

4.4.2  Die heilsame Wirkung gestalttherapeutischer Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen

ANHANG

Landkarte Boliviens

Die Original-Fragebögen

Anmerkungen

Literatur

Den Vergessenen dieser Erde
gewidmet

Vorwort des Herausgebers

Bereits in einem früheren Band der IGW-Publikationen in der EHP hat Colette Jansen Estermann in eindrücklicher Weise über ihre gestalttherapeutische Arbeit in Bolivien berichtet (Anger/Schulthess 2008). Sie zeigte dort in einer Fallstudie auf, wie Armut die Quelle von Traumatisierung sein kann bzw. dass strukturelle Gewalt in einem Land zu Traumatisierung und traumatisierendem Gewaltverhalten führen kann. Die Bereitschaft, die Verbindung von gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellem wie kollektivem psychischem Leiden zu reflektieren, beeindruckte mich schon damals und ist meines Erachtens genuin gestalttherapeutisch (vgl. Schulthess/Anger 2009). Wenn man Psychotherapie nicht bloß als Verfahren zur Symptomreduktion versteht, sondern als Verfahren, dass den Erkenntnisansatz verfolgt, dass psychisches Leiden nicht einfach anlagebedingt »aus den Genen« entsteht, sondern immer auch als ein Produkt sozialer Interaktion unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen ist, kommt man nicht umhin, die historische und aktuelle gesellschaftliche Situation in einer Kultur (auch der eigenen, nicht nur in fremden Kulturen) mitzureflektieren und zu beachten.

Die Autorin dieses Bandes geht diesen Weg sehr konsequent. Sie reflektiert die geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Fakten Boliviens, um als Therapeutin besser zu verstehen, was sie im Hier-und-Jetzt in diesem Land für psychische Leidenszustände antrifft. Als Gastdozent im Rahmen der im Aufbau begriffenen Gestalttherapieausbildungsprogramme in La Paz hatte ich die letzten drei Jahre zwei Mal Gelegenheit, mir selbst ein Bild über die gesellschaftliche Realität und die subjektiven Leiden, insbesondere auch der indigenen Bevölkerung, zu machen. Die Verbindung von Reisen und Lehren in Form von therapeutischer Arbeit erlaubte einen guten Einblick auch in das Thema dieses Buches. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen durch Gewalt und Entbehrung traumatisiert sind. Als PsychotherapeutIn kommt man nicht umhin, sich mit den Entstehungsbedingungen zu befassen und die stützenden Ressourcen zu entdecken und weiter auszubauen, um in solchen Verhältnissen nicht zu verelenden, sondern die Kraft zum Wachsen und Reifen zu fördern, auch wenn »Heilen« in der Traumatherapie ein schwieriges Ziel ist.

Das Buch gliedert sich in vier Teile: Im ersten Kapitel erfolgt eine Einstimmung in die Geschichte und Kultur Boliviens. Im zweiten Teil wird eine wissenschaftliche Erhebung an Studierenden an vier Universitäten zur Verbreitung und Art der auffindbaren Traumatisierungen in übersichtlicher Form wiedergegeben. Im dritten Teil folgt eine Sammlung von Fallgeschichten, die das empirisch gefundene Datenmaterial anschaulich illustrieren. Im vierten Teil schließlich erfolgt eine theoretische Einbettung und Diskussion der vorangegangenen Teile, welche ihrerseits zu weiterer Theoriebildung anregt.

Es ist in der gestalttherapeutischen Literatur selten, dass empirische Forschungsmethoden angewendet werden, persönliche Falldarstellungen vermittelt sowie eine reflektierende Einbettung in die gestalttherapeutische Theorie und Praxis unter Einbezug des aktuellen Wissensstands der Traumatherapie sowie soziologischer und politischer Aspekte publiziert werden. Der Autorin ist diese Verbindung in ganz besonderer Form gelungen.

Im Sinne eines Beitrags zu einer interkulturellen Gestalttherapie zeigt sie auch, wie gestalttherapeutisches Herangehen, Verstehen und Handeln recht gut zur andinen Lebenshaltung und Erkenntnisweise passt. Dies ist eine Einschätzung, die ich aus meiner (noch bescheidenen) Lehrtätigkeit in dieser Kultur teilen kann. Oft haben europäische GestalttherapeutInnen wenig im Bewusstsein, wie sehr sich die Gestalttherapie gerade in Lateinamerika verbreitet hat und ein anerkanntes Therapieverfahren darstellt im Unterschied zu manchen europäischen Ländern. Das weist auf eine hohe Kompatibilität hin.

Dass Gestalttherapie sich so weit verbreiten konnte, nicht nur in den westlich geprägten Kontinenten wie Europa, Amerika und Australien, sondern auch und ganz besonders in Lateinamerika, Osteuropa und Asien, darf nicht einfach als neuer westlich-angelsächsisch geprägter Kolonialismus taxiert werden. Die Verbreitung hat wohl genuin mit der gestalttherapeutischen Haltung und ihrem wertschätzenden, phänomenologischen und beziehungsorientierten menschlichen Zugang zu anderen Kulturen zu tun. Die Autorin zeigt in diesem Band Parallelen zwischen gestalttherapeutischer Haltung und Erkenntnistheorie mit denjenigen der andinen Kultur auf. Als Reihenherausgeber, der zudem selbst in verschiedenen Kulturen lehrt, fühle ich mich, auch aufgrund der Erfahrungen so vieler in unterschiedlichen Kulturen lehrenden GestalttherapeutInnen (gerade an den drei Schwesterinstituten, die diese Reihe gemeinsam herausgeben), dazu angeregt, dieses Thema weiterzuführen – zum Beispiel in einem weiteren Band mit transkulturellen Überlegungen.

Peter Schulthess, Zürich im Winter 2013

Geleitwort

Ist die Gestaltpsychotherapie, die bekanntlich in abendländischen Kulturräumen (Europa, Südafrika, USA) entstanden ist, in der Lage, auch in anderen kulturellen Kontexten Fuß zu fassen und sich auf den Grundlagen der einheimischen Wissenstraditionen und Weisheiten weiterzuentwickeln? Dieser Frage, die in letzter Zeit auch hinsichtlich der ostasiatischen und osteuropäischen kulturellen Kontexte vertieft wird, geht die vorliegende Arbeit am Beispiel Boliviens nach. Die Autorin Colette Jansen Estermann, die selbst über sechzehn Jahre in den Anden gelebt hat und die andinen Weisheitstraditionen und Kulturformen aus nächster Nähe kennt, ist der festen Überzeugung, dass der Gestaltansatz gerade für die andine Kultur und deren philosophischen Hintergrund eine ausgezeichnete Form der Psychotherapie ist, da sie holistisch ausgerichtet und nicht logozentrisch verfasst ist.

In Trauma und interkulturelle Gestalttherapie versucht die Autorin auf der Grundlage eines breit angelegten Forschungsprojekts zu zeigen, dass nicht nur die Erfahrung und Art von Traumata, sondern auch deren Verarbeitung kulturell bedingt sind. Die vor allem im abendländischen Kulturraum der sogenannten »Ersten Welt« erarbeiteten Diagnostikverfahren und Symptomatiken vermögen einem völlig anderen kulturellen und sozialen Kontext, wie es der bolivianische eben ist, nicht gerecht zu werden. Deshalb braucht es der Autorin zufolge eine kreative interkulturelle Theoriebildung, wofür sie im vorliegenden Buch die ersten Grundlagen und Perspektiven aufzeigt.

Unter den wichtigsten Befunden zeigt die Autorin auf, dass in einem sogenannten »Entwicklungsland« nicht nur von individuellen und einmaligen traumatischen Erfahrungen die Rede ist, sondern von kollektiven und transgenerationalen Tiefenschichten, die sich aus der gewaltsamen Unterdrückungsgeschichte des Landes erklären lassen. Deshalb führt sie neben dem in der Standardliteratur anerkannten »Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndrom (PTBS)« das inzwischen auch schon viel diskutierte »Komplexe PTBS«, vor allem aber neu auch das »Strukturelle PTBS« ein, das sich beim Umgang mit traumatischen Erfahrungen in Kontexten von extremer Armut, Ungerechtigkeit und Unsicherheit als sehr hilfreich erwiesen hat.

Es ist zu beachten, dass die Autorin konsequent vom »Psychotraumatischem Belastungssyndrom« und nicht etwa von »Posttraumatischer Belastungsstörung« spricht, weil letzteres ein Werturteil beinhaltet, das in einem bestimmten Kulturraum beheimatet ist, und man zudem davon ausgeht, dass die traumatische Erfahrung selbst zu einem Abschluss gekommen ist. Dies ist aber in einem Kontext wie dem bolivianischen nicht der Fall. Außerdem betont sie – aufgrund der kollektiven Traumatisierung des bolivianischen Volkes – den Wert der Eigendiagnostik.

Als weitere kreative Neuerung gilt der Rückgriff auf den vor allem in den Sozialwissenschaften beheimateten Begriff der »strukturellen Gewalt«, der für den Umgang mit traumatisierten Menschen in Bolivien, wie auch in anderen Ländern der sogenannten »Dritten Welt«, von großem theoretischem und praktischem Nutzen ist. Daraus ergeben sich nicht nur interkulturelle, sondern auch sozio-politische Konsequenzen, da die Armut als Form der »strukturellen Gewalt« für kollektive und Generationen übergreifende Traumatisierung von Menschen verantwortlich ist. Zudem zeigt die Autorin auf, dass es einen Umgang mit den Ressourcen und Coping-Strategien gibt, der kulturspezifisch ist und deshalb in einem nicht-abendländischen Kontext einen anderen Stellenwert hat.

Die vorliegende Publikation, die auf der von Colette Jansen Estermann im Jahre 2009 eingereichten Dissertation basiert, ist ein Anstoß zur interkulturellen Sensibilisierung der Psychotherapie insgesamt, vor allem aber der Gestalttherapie und des Umgangs mit traumatischen Erfahrungen. Zudem gehört sie unbedingt zum Hintergrundwissen von EntwicklungshelferInnen und Einsatzleistenden, um die Menschen und deren Verhalten in einem Kontext von Armut und Mängeln besser verstehen zu können. Schließlich ist zu hoffen, dass mit diesem Buch auch im deutschsprachigen Raum eine Diskussion zur interkulturellen Transformation der Gestalttherapie in Gang kommt.

Prof. Dr. Willi Butollo, Ludwig-Maximilian-Universität München

Ein Wort des Dankes

An dieser Stelle denke ich mit Liebe und Dankbarkeit an meinen Mann Josef und meine Kinder Sarah, Rafael und Christian, die mir eine Kraftquelle sind.

Zudem gilt mein Dank meinen ehemaligen Studenten und Studentinnen, die zur ersten Generation von Gestalttherapeuten in Bolivien gehören, da ich nicht nur sehr viel von mir gegeben, sondern auch reichlich viel von ihnen bekommen habe: Ingrid, Jorge, Luis, Danny, Karen, Elías, Roberto, Shirley, Miguel Ángel, Lino, Gloria, Vicky, Jenny, Fabiola, Claudia, Daisy, Germán und Karina.

Schließlich möchte ich mich beim Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg, namentlich bei Werner Gill, für die akademische Unterstützung und bei allen Gestalt-Dozenten und Dozentinnen für ihre Intensivkurse in La Paz bedanken. Ganz besonders möchte ich Peter Schulthess erwähnen, der mein Manuskript gegengelesen hat.

Dieses Buch ist aus tiefer Verbundenheit mit dem bolivianischen Volk entstanden.