Titelbild

Gerhard Henke-Bockschatz

Der Erste Weltkrieg

Eine kurze Geschichte

Reclam

2., ergänzte Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2015

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960442-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019317-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

Das Attentat von Sarajewo und die Julikrise

Das Attentat von Sarajewo und sein Hintergrund

Die Julikrise 1914

Die europäische Mächtekonstellation im Sommer 1914

Der Friede vor dem Krieg

Industrialisierung und Imperialismus

Vereinigtes Königreich – von der Werkstatt der Welt zum Empire und zum globalen Geschäftszentrum

Deutsches Reich – eine »verspätete Nation« auf dem Weg zur Weltmacht

Frankreich – republikanischer Patriotismus

Österreich-Ungarn – zerbrechlicher Vielvölkerstaat

Russland – autokratische Modernisierung einer Landmacht

Osmanisches Reich – die »orientalische Frage«

Die Bündnisse gehen in Stellung

Militärischer Verlauf und Kriegsschauplätze

Westfront 1914

Ost- und Südostfront 1914–1916

Italien 1915/16

Westfront 1915/16

Der Krieg zu See

Osmanisches Reich: Armenien, Gallipolli, Mesopotamien

Krieg in den Kolonien und in Übersee

Die USA und ihr Kriegseintritt

Ostfront 1917

Westfront 1917

Ostfront 1918: Brest-Litowsk

Westfront 1918: Die militärische Entscheidung

Kriegsziele und nationale Kalküle

Kriegsführung

Stellungskrieg und Materialschlacht

Technik, Wissenschaft und Krieg

Panzer

Giftgas

Kriegsgreuel und Kriegsverbrechen

Soldaten

Rekrutierung und Ausbildung

Leben und Vegetieren in Schützengräben

Helden

Verletzte, Verwundete, Kranke

Kriegsherrschaft

Staatliche Aufsicht und Kontrolle der Wirtschaft

Finanzierung

Arbeitskräfte

Lebensmittelversorgung

Kriegskultur und Kulturkrieg

Patriotische Pflicht und Begeisterung

Sozialdemokratische Haltung zum Krieg

Staatliche Presse-, Informations- und Medienpolitik

Verbindungen zwischen Front und Heimat

Die Kirchen und Religionsgemeinschaften

Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler

Frauen, Kinder und Jugendliche

Kriegsgegnerschaft und Kriegsmüdigkeit

Pazifisten

Arbeiterbewegung

Simulieren, desertieren, kapitulieren

Friedensbestrebungen und Risse im Burgfrieden und in der Union sacrée

Kriegsende

Waffenstillstand

Novemberrevolution

Friedensverhandlungen und Friedensverträge

Der Krieg in der Rückschau

Friedhöfe und Denkmäler

Literatur und Film

Wissenschaft

Schluss

Daten zur Bevölkerung und Wirtschaft der größten europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg

Militärisches Kräfteverhältnis (1914)

Kosten des Krieges

Karten

Europa 1914

Die Westfront, 1914–18

Die Ostfront, 1914–17

Das Osmanische Reich, 1914–18

Die österreichisch-italienische Front, 1915–18

Europa 1918

Anmerkungen

Literaturhinweise

Quellen

Darstellungen

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Einleitung

Der Erste Weltkrieg ist »die große Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts genannt worden.1 Er war ein Krieg von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß und beispielloser Intensität. Die Menschen sprachen sehr bald einfach vom »Great War«, von der »Grande Guerre«, der »Grande Guerra« usw. Damit unterschieden sie ihn von den vielen ›kleinen‹ Kriegen, die im Zeitalter des Imperialismus an der Tagesordnung waren und an die man sich gewöhnt hatte. ›Groß‹ war der Krieg wegen der Zahl der beteiligten Staaten, unter ihnen alle europäischen Großmächte. In den kriegführenden Staaten wurden insgesamt ca. 70 Millionen Männer eingezogen. ›Groß‹ war der Krieg auch wegen der Zahl der Opfer, unter ihnen ca. 9 Millionen tote Soldaten. Die Zahl der physisch oder psychisch kriegsversehrten Soldaten lag mindestens genauso hoch. Hinzu kamen Zivilisten, die an Seuchen, Hungersnöten, ethnischen Verfolgungen zugrunde gingen. Ein gegenseitiges Vernichten in solchen Dimensionen und mit solcher Konsequenz war welthistorisch gesehen neu, auch wenn in früheren Zeiten schon sogenannte »Weltkriege« geführt worden waren, z. B. der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714), der Siebenjährige Krieg (1756–1763) und die Napoleonischen Kriege (1800–1814/15).

Neben allem menschlichen Leid hatte der Erste Weltkrieg auch grundlegende politische Umwälzungen zur Folge. An seinem Ende standen in einer Reihe von Ländern die Ablösung monarchischer durch republikanische Staatsformen, die Etablierung einer kommunistischen Herrschaft in Russland, die Entstehung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie die rigide Behandlung der unterlegenen Mittelmächte durch die alliierten Sieger. Zusammen mit dem ebenfalls kriegsbedingten Aufstieg der USA zur Weltmacht bargen diese Veränderungen die Keime zu den weiteren großen Konflikten des 20. Jahrhunderts in sich: zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, der in den nächsten, den Zweiten Weltkrieg und in den Holocaust mündete; und zu der Teilung der Welt in eine kommunistische und in eine marktwirtschaftlich-demokratische Sphäre, die nach 1945 zu jenem Kalten Krieg führte, der einige Male in einen Dritten Weltkrieg umzuschlagen drohte.

Das Ausmaß, die Intensität und die Folgen des Krieges, die ihm einen besonderen historischen Stellenwert verleihen, konnten die Menschen im August 1914 natürlich nicht erahnen. Die meisten Politiker, Militärs und Bürger rechneten mit einer raschen, für ihren Staat günstigen Entscheidung, nur wenige sahen jenen katastrophalen Krieg voraus, zu dem es dann kam. Im Gegenteil: Es gab nicht wenige, die den Krieg regelrecht begrüßten, weil sie davon ausgingen, er werde außen- und innenpolitisch wie ein reinigendes Gewitter wirken und ihre Nation außen- und innenpolitisch von störenden Fesseln befreien. Solche Überlegungen erscheinen im Rückblick auf zwei Weltkriege, nach den Erfahrungen von Verdun, Auschwitz und Hiroshima, kaum begreiflich, geradezu verantwortungslos. Doch sah das Kalkül mit den Erfolgsaussichten und Kosten eines Krieges unter Großmächten bis 1914 wesentlich attraktiver und leichter aus. Aber vielleicht sollte man sich hinsichtlich der modernen Einsicht, dass ein ›großer Krieg‹ heutzutage mit kalkulierbaren Risiken kaum zu gewinnen ist, weil jeder militärische Vorteil von der anderen Seite durch den Einsatz noch zerstörerischer Waffen relativiert werden kann, auch nicht täuschen: Möglicherweise bestehen ja auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen Großmächten kriegsträchtige Gegensätze, die aber aus verschiedenen Gründen nicht ausgetragen werden. Jedenfalls ist es nicht besonders beruhigend zu wissen, dass große Kriege heute nicht mehr geführt werden, weil es schwerfällt, sie zu gewinnen.

Eine weitere Vorbemerkung scheint angebracht zu sein. Wenn der Erste Weltkrieg als »Katastrophe« bezeichnet wird, so ist damit nicht gemeint, dass er wie ein schicksalhaftes, unbeeinflussbares Naturereignis über die Menschen hereinbrach, mag dies auch manchen zeitgenössischen Politikern so vorgekommen sein und mögen auch nicht wenige Historiker ähnlich argumentiert haben. Auch heute muss leider immer noch die altbekannte elementare politische Einsicht betont werden, dass Kriege nicht »ausbrechen«, sondern gemacht werden. Der Große Krieg war das Werk von Politikern und Militärs, denen es um die gewaltsame Behauptung und Durchsetzung ihrer jeweiligen staatlichen Interessen gegen konkurrierende Staaten ging. Sie hatten sich seit langer Zeit auf einen – wenn auch natürlich nicht auf diesen – großen Krieg vorbereitet, ihn umfassend geplant, und sie führten ihn schließlich sehr konsequent durch. Dies taten sie im Rahmen von Gesellschaften, in denen verschiedene Gruppen und Kräfte ihrerseits auf vielfältige Art Kriege für notwendig und legitim hielten und entsprechende Haltungen propagierten. Wenn der Krieg dann nicht so schnell und nicht in dem Sinne entschieden werden konnte, wie es von den Regierungen erwartet worden war, so ändert dies nichts daran, dass er von ihnen gewollt war und zu der machtpolitischen Logik gehörte, der sie schon vor dem Krieg folgten. Kein Staatsmann wird jemals sagen, dass er einen Krieg und die damit einhergehenden Leiden und Zerstörungen »gewollt« habe oder will. Dass es aber »leider« Situationen geben kann, in denen sie »schweren Herzens« und im »Bewusstsein der Verantwortung« Waffen gegeneinander einsetzen »müssen«, ist Staatsmännern damals wie heute geläufig. Auf diese defensive Art wollen sie eben Krieg und bereiten ihn vor – auch dann, wenn sie nicht mehr »Kriegs-«, sondern »Verteidigungsminister« heißen.

Es sei noch auf eine Eigenart der Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg hingewiesen, die die folgende Darstellung zu vermeiden bestrebt ist. Mehr als bei anderen Kriegen wurde und wird beim Ersten Weltkrieg darüber debattiert, wer »Schuld« an ihm hatte. Der Grund hierfür liegt in §231 des Versailler Vertrages, in dem die Alliierten dem besiegten Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung zusprachen und damit die Beschränkungen, Reparationen und die territorialen Abtretungen begründeten, die sie den Verlierern auferlegten. Die Verankerung einer solchen Schuldzuweisung in einem Friedensvertrag ist allerdings bemerkenswert. Frühere internationale Friedensschlüsse wie der Wiener Kongress oder der Westfälische Frieden kamen ohne Schuldzuweisungen aus. Die Kriegsparteien verhandelten auf der Basis des erreichten Standes der jeweiligen militärischen Auseinandersetzung darüber, unter welchen Bedingungen sie die Feindseligkeiten aufzugeben bereit waren. Dies geschah unter der Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung als prinzipiell gleichberechtigte Souveräne. Wird aber am Ende eines kriegerischen Konfliktes zwischen Staaten die Friedensfrage mit der Schuldfrage verbunden, so nimmt die siegreiche Kriegspartei einen moralisch-rechtlichen Standpunkt gegenüber der unterlegenen Kriegspartei ein und bringt diese ideell vor ein Gericht, bei dem der Sieger Ankläger und Richter zugleich ist. Sie nimmt damit eine Position an, die unter souveränen Staaten bis heute – trotz internationaler Strafgerichtshöfe – keineswegs selbstverständlich ist. Was der Sieger dem Besiegten auferlegt, wird nicht allein mit dem erwiesenen Recht des Stärkeren, sondern zusätzlich als adäquate Strafe für ein politisches Fehlverhalten begründet. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs sollte aber nicht mit der Intention erzählt werden, Schuldige oder Verantwortliche für die Katastrophe zu identifizieren. Schon ein erster unbefangener Blick auf die Epoche des Imperialismus macht klar, dass alle maßgeblichen Staaten damals direkt oder indirekt expansiv-aggressiv agierten und dafür hochgerüstet waren. Auch die Kalkulation mit einem ›großen‹, zumindest einem ›größeren‹ Krieg, war permanent präsent. Die Vorstellung, die siegreichen Staaten hätten eine derartige (Auf-)Rüstung eigentlich nur betrieben, um gegen die Aggression der späteren Verlierer gewappnet zu sein, ist ebensowenig einsichtig wie die entschuldigende Gegenauffassung, die Staaten seien alle gemeinsam in den Krieg »hineingeschlittert«.

Nicht nur in älteren, sondern auch in neueren und neuesten Darstellungen des Ersten Weltkriegs wurde und wird gerne die Vorstellung ausgemalt, zum Krieg sei es gekommen, weil die damalige Zeit oder Epoche irgendwie aus dem Ruder gelaufen sei oder weil sich die Welt in einer Art Strudel oder Strom unaufhaltsam in Richtung Krieg bewegt habe. So formuliert der deutsche Schriftsteller und Historiker Philipp Blom, der sein Werk über die Jahre vor dem Krieg »Der taumelnde Kontinent« genannt hat, am Ende unter Anknüpfung an berühmte Zeitgenossen ein sozialpsychologisches Urteil über »die« damaligen Menschen, das sie allesamt als Opfer einer schicksalhaften allgemeinen Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen lässt, der sie angeblich nicht gewachsen waren: »Die Veränderungen passierten zu schnell, die Vernunft hatte die Erfahrung überholt, die Menschen fühlten sich, als wären sie in einem rasenden Fahrzeug eingeschlossen, wie Henry Adams es formuliert hatte, oder befänden sich, mit Max Weber, in einem Zug, dessen Weichen nicht gestellt waren. Die richtungslose Beschleunigung machte sie schwindelig.«2 Fahrer, Zugführer, Stellwerke oder Notbremsen, die die Fahrt hätten stoppen können, sind in solchen fatalistischen Bildern, die die hilflose Ohnmacht gegenüber selbst erzeugten Zwängen illustrieren sollen, nicht vorgesehen.

In ähnlichem Tenor lässt auch der australische Historiker Christopher Clark seine 2012 publizierte, vielbeachtete und von vielen Rezensenten gelobte Studie »The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914« enden. Er resümiert bildhaft, es sei nicht sinnvoll, im Fall des Ersten Weltkriegs wie nach einem gewöhnlichen Mord nach einem Schuldigen zu suchen, idealer- und praktischerweise noch mit dem rauchenden Gewehr in der Hand: »There is no smoking gun in this story; or, rather, there is one in the hands of every major character. Viewed in this light, the outbreak of war was a tragedy, not a crime.«3 Gewiss ist der Erste Weltkrieg – wie jeder Krieg – nicht einfach auf einen einzigen Schurken zurückzuführen, der die Gesetze, Normen und Werte zivilisierten Zusammenlebens missachtet hätte. Die Charakterisierung der damaligen europäischen Staatsmänner als »Schlafwandler«, d.h. als Subjekte, die allesamt zumindest eine Ahnung von den großen Gefahren hatten, auf die sie zusteuerten, sie aber beim aktiven Verfolgen ihrer Ziele nicht weiter beachteten, weil sie davon überzeugt waren, die objektiv hochkomplexe Situation doch noch einer für sie vorteilhaften oder zumindest akzeptablen Lösung zuführen zu können, hat aber auch nur eine begrenzte Überzeugungskraft. Dass Europas Politiker im Sommer 1914 sowohl von Hoffnungen auf einen schnellen und begrenzten Krieg als auch von Ängsten vor einer für ihre Länder ungünstigeren Kriegskonstellation zu späteren Zeitpunkten davon abgehalten worden seien, die mit einem Krieg verbundenen Risiken realistisch wahrzunehmen4, ist nicht nur eine Überlegung, die sich erst auf der Grundlage des Wissens um den weiteren Verlauf des Krieges mit allen Opfern und allem Leid ergibt. Sie zehrt auch von der optimistisch-vertrauensvollen Vorstellung, die Politiker hätten wohl wesentlich zurückhaltender und vorsichtiger agiert, wenn sie denn »wach« gewesen wären und die Risiken wahrgenommen hätten. Solch ein Vertrauen in nüchtern-realistische Politik blendet jedoch die Überlegung aus, ob und wie die Gründe für die kriegsträchtigen Gegensätze zwischen den Staaten konsequent aus jener weltumspannenden wirtschaftlichen und politischen Konkurrenz erwuchsen, in der sie unbedingt bestehen wollten und mussten. War doch die »Zwangslage«, in der sich viele Politiker 1914 sahen, von ihnen und ihresgleichen schrittweise hergestellt worden. Sie hielten eine kriegerische Entscheidung ihrer außen- und wirtschaftspolitischen Rivalitäten und Gegensätze für zunehmend unausweichlich und bereiteten sich dementsprechend immer intensiver auf den Einsatz der »letzten« Mittel vor. Und für den Sieg im Krieg waren sie selbstverständlich zum Einsatz beträchtlicher personeller und materieller Ressourcen bereit und konnten sich dabei auf die staatsbürgerliche Erziehung ihrer Untertanen im Sinn einer entsprechenden Opferbereitschaft für Nation und Vaterland verlassen. Intensität und Länge des Krieges trieben diesen Preis dann zwar steil nach oben, aber warum sollte das für Staaten ein Grund zum Aufgeben sein, solange noch Aussicht auf das Entscheidende bestand, nämlich auf einen Sieg und auf die damit verbundenen größeren weltpolitischen Freiheiten?

Die vorliegende Darstellung betont hingegen die engen Beziehungen zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Expansion der europäischen Staaten in der Epoche des Imperialismus. Alle Darstellungen des Krieges nehmen hierzu einen Standpunkt ein, aber längst nicht alle machen ihren Standpunkt explizit. Allen ist klar, dass es sich um einen Krieg zwischen Nationen handelt, deren Volkswirtschaften in den vorangegangenen Jahrzehnten mehr oder weniger weit industrialisiert worden waren. Die Frage stellt sich, inwiefern diese Entwicklung kriegstreibend war. Es ist beispielsweise nicht zu bestreiten, dass im Deutschen Reich viele wichtige Industrielle und Banker sowie einflussreiche agrarische Interessenverbände aggressive Formen imperialer Expansion unterstützten, insbesondere den massiven Ausbau der Flotte. Es ist aber auch bekannt, dass der aggressive außenpolitische Kurs des Alldeutschen Verbandes von anderen Unternehmern skeptisch bis ablehnend beurteilt wurde, weil sie von ihm eine Beeinträchtigung der einträglichen internationalen Geschäfte befürchteten. Nicht wenige große deutsche Unternehmen wollten einen großen Krieg, zumal mit dem Weltmarktführer England, eher vermeiden. Aber auch wenn Unternehmen bzw. Unternehmer nicht selbst direkt kriegstreibend handelten, so war ihnen doch durchaus bewusst, dass ein starkes und mächtiges Deutschland eine unumgängliche Voraussetzung des Erfolgs ihrer internationalen Geschäftsbeziehungen war.5

Blickt man auf den Verlauf des Krieges, so wird der enge Zusammenhang zwischen militärischer, politischer und wirtschaftlicher Macht erneut augenfällig. Die Geschichte des Ersten Weltkriegs war auch ein Prozess der Totalisierung der Kriegsführung, eine Entwicklung hin zu einer quantitativen und qualitativen Ausweitung der Kriegshandlungen und hin zu einer immer umfassenderen Unterwerfung aller personellen und materiellen Ressourcen der Gesellschaften unter die Kriegsnotwendigkeiten. Zwar lassen sich fast alle größeren Kriege in der Form dieses Plots erzählen, wurden doch in ihnen seit jeher in qualitativer und quantitativer Hinsicht jeweils die neuesten Waffen und Strategien eingesetzt.6 Dies geschah aber über Jahrhunderte hinweg relativ langsam. In der »Fortschritts«-Epoche um 1900, die von einer Flut wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse und Innovationen und von bis dahin unbekannten Produktivitätssteigerungen gekennzeichnet war, änderten sich auch Kriegsführung und Kriegstechnik schnell und umfassend.

Mit seinen enormen Verlust- und Opferzahlen und mit seiner Tendenz zur Totalisierung wirft der Erste Weltkrieg unweigerlich die Frage auf, warum und bis zu welchem Punkt sich die Bürger all dies gefallen ließen. Jeder Staat verlangt seinen Bürgern den Glauben ab, seine Vorbereitungen für den Kriegsfall seien im Grunde rein defensiver Natur. Begründet wird dies in der Regel damit, selbst der Friedlichste müsse nun mal realistischerweise damit rechnen, dass ihm vielleicht jemand übelwolle, weshalb es nur selbstverständlich sei, dass man sich schütze. Ja, es wäre geradezu grob fahrlässig, dies nicht zu tun. Zu jedem konkreten Krieg wird den Bürgern dann versichert, er sei leider notwendig, weil die Sicherheit, die Grundlagen oder die Existenz des eigenen Staates durch den anderen Staat bedroht seien. Von der Bevölkerung verlangen die Staaten mit dieser Begründung, sich bis zum Letzten für die Fortexistenz des eigenen Staats zur Verfügung zu stellen. An der Argumentation wird auch dann festgehalten, wenn man den eigenen Angriff als »Vorwärtsverteidigung« oder »Präventivschlag« rechtfertigt. Von den Bürgern wird im Kriegsfall praktisch der Beweis verlangt, dass ihnen ›ihr‹ Staat wirklich als unbedingte Voraussetzung ihres Lebens gilt, sie ihn auf jeden Fall erhalten wollen und dafür auch ihr Leben hinzugeben bereit sind. Dergleichen Forderung wird meistens nicht zurückgewiesen, weil sie jenseits aller Unzufriedenheit mit dem konkreten Staat, in dem die Bürger leben, an die grundsätzliche ›Einsicht‹ in die Notwendigkeit des nationalen Zusammenhaltens appelliert. Die Forderung liefe ins Leere, würde ein beträchtlicher Teil der Bürger sagen, es sei ihnen egal, ob sie von deutschen, französischen, englischen oder sonstigen Politikern beherrscht werden, schließlich sei das Alltagsleben in einer modernen Industriegesellschaft so existenziell unterschiedlich denn doch nicht, als dass man sich dafür in Massen gegenseitig abschlachten müsse. Solche Überlegungen waren den allermeisten Bürgern vor, während und nach dem Krieg fremd, weil ihnen jene Parole einleuchtete, die auf so manchem Kriegerdenkmal stand: »Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.«

Der Band geht aus von dem konkreten Kriegsanlass, dem Attentat in Sarajewo, und stellt ihn in den Kontext der damaligen Balkanpolitik und der Entwicklung der Beziehungen zwischen den europäischen Großmächten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Es folgt eine weitgehend chronologisch angelegte Schilderung des Kriegsverlaufs bis zur militärischen Entscheidung im Sommer 1918. Daran schließen sich systematische Ausführungen an, einerseits zur Charakterisierung der Kriegsführung an den Fronten, andererseits zur Einbeziehung der wirtschaftlichen Potenzen an den Heimatfronten. In dem Kapitel »Kriegskultur und Kulturkrieg« stehen Formen der Zustimmung zum und der Mitwirkung am Krieg in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten im Mittelpunkt. Hiernach kehrt die Darstellung zu den Ereignissen am Ende des Krieges zurück, schildert, wie sich zum einen Unzufriedenheit mit und Opposition gegen die Kriegspolitik verbreiteten und wie es zum anderen zum Waffenstillstand und zu Friedensverhandlungen kam. Am Ende wird dargelegt, wie unterschiedlich und gegensätzlich nach dem Friedensschluss die Kriegserfahrungen in den Gesellschaften verarbeitet wurden.

Der Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass die Konkurrenz der imperialistischen Staaten um den Status als Weltmacht die wesentliche strukturelle Ursache für den Krieg war. Demgemäß ging es in diesem Krieg darum, der anderen Seite den Verzicht auf Weltmachtpolitik aufzuzwingen. Weil hierüber eine Entscheidung herbeigeführt werden sollte, war eine Beendigung des Krieges durch eine Rückkehr zum Status quo ante von vornherein ausgeschlossen. Deshalb wurde der Krieg letztlich so lange und so intensiv geführt. Ziel war ein Frieden, der für längere Zeit die weitgehende Ausschaltung der anderen Seite als Weltmacht garantieren sollte. Der Kriegsverlauf war allerdings gekennzeichnet durch den Widerspruch, dass von beiden Seiten ein Sieg mit den gängigen Mitteln der Kriegsführung nicht zu erringen war. Das Ausbluten, die Vernichtung von Leben und Material mit der Kalkulation, dabei länger durchzuhalten als der andere, wurde deshalb zu einem eigenen strategischen Ziel. Am Ende waren es die Mittelmächte, die eingestehen mussten, weiteren Kriegsanforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Konsequenterweise verloren sie – und Russland – damit faktisch ihren Status als Großmächte mit anerkannten weltpolitischen Ambitionen. In den letzten Wochen des Krieges setzten aber schon die Überlegungen und Weichenstellungen dazu ein, wie dieses Kriegsergebnis revidiert werden könnte.