Cover

Über das Buch:


Hart, realistisch, spannend - der neue Thriller von Bestsellerautor Martin Krist! 

Sie haben deinen Ehemann brutal ermordet - jetzt bedrohen sie deine Kinder! 
Wie weit wird die junge Witwe Valentina gehen, um ihre Familie zu beschützen?

Problemlöser David Gross soll den Feuertod einer jungen Frau aufklären und gerät dabei selbst in lebensgefährliche Ermittlungen. 
Doch die Sorge um seine eigene Familie lenkt ihn bald mehr ab, als ihm lieb ist ..

"Martin Krist ist der wirklich böse Bube unter den deutschen Krimi-Schreibern." (Berliner Kurier)
"Die Thriller von Martin Krist sind einfach saucool." (Mark Benecke)

Titlepage

Teil 1

EINS

Valentina erwachte. Nicht, weil sie ihn hörte, dafür bewegte er sich in der Dunkelheit zu leise, zu besonnen und aufmerksam. Auch im fünften Jahr ihrer Ehe, nach sieben Jahren Beziehung und ganz egal, wie viel Stress ihn plagte.

Sie wurde wach, weil sie spürte, dass er nicht mehr neben ihr lag.

»Georg?«, murmelte sie schlaftrunken, gerade als er sich aus dem Schlafzimmer stehlen wollte.

Der dünne Lichtstreifen erlosch, als er die Tür wieder schloss. »Entschuldige, Walle, ich wollte dich nicht …«

»Wie spät ist es?«

»Kurz vor 6.«

»Warum«, stöhnend streckte sie ihre müden, knackenden Glieder, »warum bist du schon wieder so früh wach?«

Wortlos schlüpfte er zurück zu ihr unter die Decke und schmiegte sich von hinten an sie.

»Die Höfe?«, fragte sie.

Er schnaufte neben ihrem Ohr.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«

»Das machst du doch. Weil du da bist. Jeden Tag.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Dabei kannst du mir nicht helfen.«

»Hey, ich war mal deine rechte Hand.«

»Seitdem hat sich vieles verändert.«

»Ich könnte dir immerhin noch einen Kaffee kochen.«

Leise lachend drückte er sie an sich.

»Nein, wirklich«, sie löste sich aus seiner Umarmung und drehte sich zu ihm um. In dem Halbdunkel des Schlafzimmers konnte sie die Erheiterung in seinem Gesicht nur erahnen. »Das mache ich gerne.«

»Ich weiß, Walle«, er hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. »Aber bis die Kinder raus müssen, ist noch Zeit.«

»Um halb 8 kommt Nane«, das war die Nanny, »dann kann ich …«

»Bist du nicht mit Amy verabredet?«

»Was wollen wir wetten, dass sie das Frühstück verschiebt?«

»Trotzdem«, er küsste sie erneut. »Gönn dir noch etwas Schlaf.«

Sein Vollbart kitzelte auf ihrer Haut. Sein Geruch aus Schlaf, Schweiß und Kenzo stieg ihr in die Nase. Eine widersprüchliche Mischung, dennoch vertraut und deshalb so angenehm.

»Drück mich noch mal«, gähnte sie und schlang ihre Arme um ihn.

Er hielt sie fest, warm und geborgen. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Sie presste sich noch dichter an ihn, weil sie nicht wollte, dass er wieder ging.

Als sie erneut erwachte, war Georg schon weg. Valentina glaubte, noch immer seinen Duft zu riechen. Vielleicht gaukelte ihr schläfriger Verstand ihr das aber auch nur vor. Die Fläche neben ihr war erkaltet, also hatte er sich schon vor einer ganzen Weile in sein Arbeitszimmer geschlichen. Sie sah ihn dort vor sich: über seinen schweren Schreibtisch gebeugt, seine Schultern bis fast an die Ohren gezogen, der Schlafanzug zerknittert, das volle, braune Haar zerzaust, die Stirn zerklüftet, während er über den Charlottenburger Höfen brütete. Das Projekt – Shopping-Mall, Eigentumswohnungen, ein Hotel und eine Altersresidenz – war zweifellos seine bislang größte Herausforderung. Das sich hinziehende Baugenehmigungsverfahren raubte ihm seit Wochen den Schlaf.

Sie wünschte, ihm tatsächlich dabei helfen zu können, doch er hatte recht: Seit sie ihren Job als seine persönliche Assistentin aufgegeben hatte, ein Vierteljahr vor ihrer Hochzeit, ein halbes Jahr vor Mias Geburt, hatte sie den Überblick verloren.

Außerdem besaß sie inzwischen ihre eigenen Verpflichtungen. Heute zum Beispiel, im Anschluss an das Frühstück mit ihrer Freundin Amy, ein Besuch in der Berthold-Schule, in der sie sich seit einer Weile für das Deutsche Rote Kreuz als Lese-Patin engagierte. Und um 15 Uhr … Oder eine Stunde später? Nein, ganz sicher, um 15 Uhr dann die Besprechung mit Rebecca, Margret und den anderen Freundinnen vom Orga-Team für das Charity-Event zugunsten der Flüchtlingshilfe, das in wenigen Tagen stattfinden sollte. Hinterher blieb noch genügend Zeit für ihre Kinder und ein sommerliches Vergnügen im Pool.

Sie vergrub sich tiefer in den Jasminduft ihrer Bettwäsche, die die Haushälterin gestern Morgen frisch bezogen hatte. Doch in Gedanken bereits bei ihren Terminen konnte sie nicht wieder einschlafen.

Sie tastete nach ihrem Smartphone auf dem Nachttisch und blinzelte in das helle Displaylicht.

6:34 Uhr.

Nicht einmal mehr eine halbe Stunde, bis der Wecker ging und mit Mia und Lennard das Ringen ums Waschen, Anziehen und ihr Lieblingsfrühstück, Waffeln mit Apfelmus, entbrannte.

Zwei WhatsApp waren eingegangen, die erste kurz nach Mitternacht.

Wahnsinn, hatte Rebecca geschrieben, anderthalb Stunden, nachdem sie den Abend bei einem gewohnt auserlesenen Fünf-Gänge-Menü im Reinstoff verbracht hatten, was du auf die Beine gestellt hast. Scorpions, Silly, Ben Becker. Deshalb solltest du die Presse übernehmen, ich bin mir sicher, die werden an deinen Lippen hängen.

Die zweite Nachricht war erst eine halbe Stunde alt.

Wird wohl etwas später, dicker Schmatz, A

Die Wette hätte ich gewonnen, schmunzelte Valentina. Sie wollte eine Antwort an Amy tippen, da vernahm sie aus einem der Kinderzimmer ein Geräusch.

Der Kampf ums Aufstehen begann heute also mal wieder früher.

Sie streifte sich ihren Morgenmantel über, ignorierte ihre wunden Füße, eine Erinnerung an ihre neuen Peeptoes, die sie gestern Abend eingelaufen hatte.

Im Flur fielen die ersten Sonnenstrahlen durch das Oberlicht, brachen sich in den Swarovski-Kristallen des Kronleuchters und sprenkelten die Empore mit regenbogenfarbenen Tupfern.

Die Wände in Lennards Zimmer waren mit einem Dutzend selbstgemalter Bilder behangen. Sie zeigten knallbunte Strichfiguren, vornehmlich seine Schwester, seine Mutter, seinen Vater – und Monk, seinen Lieblingsteddy. Auch jetzt, während er tief und fest schlummerte, hielt er das quietschgelbe Zotteltier im Arm. Trotz seiner erst zweieinhalb Jahre war Lennard ein ausgemachter Langschläfer.

Ganz anders seine fünfjährige Schwester. Mia war von Geburt an ein aufgewecktes Kind gewesen. Wenig überraschend hockte sie bereits im Schneidersitz auf ihrem Bett. Neben sich auf ihrer Decke, die mit einem großflächigen Foto ihres Ponys Erwin bedruckt war, hatte sie Bücher gestapelt. Einige waren zu Boden gepoltert.

»Mama, guck mal«, Mia schaute von einem Bilderbuch auf, »die Ponys.«

»Ja, Liebes, die sind schön, aber …«

»Wir gehen doch heute mit Nane in den Zoo.«

»Und deswegen bist du schon wach?«

»Da gibt es auch Ponys. Im Streichelzoo.« Seit Nane den Kindern einen Besuch im Tierpark versprochen hatte, gab es für Mia kein anderes Thema mehr.

Valentina setzte sich zu ihr aufs Bett. »Da gibt es noch viel mehr Tiere als nur Ponys.«

»Auch Pferde?«

»Flusspferde zum Beispiel.«

»Oh ja!« Mias Nase kräuselte sich vor Freude. Dann wurde sie wieder ernst. »Darf ich noch ein bisschen in dem Buch gucken?«

»Ein paar Minuten vielleicht, aber dann stehst du bitte auf und …« Valentina verstummte, weil ihre Tochter bereits wieder in ihr Pferdebuch versunken war.

Lächelnd strich sie ihr eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Nicht zum ersten Mal stellte sie fest, wie sehr Mia ihrem Vater glich. Nicht nur was das frühe Aufstehen betraf, auch in ihrer konzentrierten Haltung, ihrem Grübchen am Kinn, ihren blauen Augen, mit ihren zerwühlten, braunen Haaren, selbst in der Art, wie sie ihre Stirn beim Lesen runzelte.

Der Anblick ihrer Tochter erfüllte Valentina mit Glück, und zweifellos war dieses Gefühl ein Grund, einer von vielen, warum sie Georg immer noch liebte. Weshalb sie ihn vermisste, sobald er nicht in ihrer Nähe war, sogar wenn sie schlief.

Einmal hatte sie Amy davon erzählt. Ihre Freundin, tagsüber viel beschäftigte Inhaberin einer Antique Jewellery an der Friedrichstraße, hatte sie ungläubig angeguckt. »Also ich«, hatte sie dann verkündet, »wäre ja verdammt froh, wenn Josh mal nicht neben mir schnarchen würde. Dann könnte ich endlich einmal durchschlafen.«

Zwei Monate später hatte sie sich von ihm getrennt, nicht nur des Schnarchens wegen, so viel war sicher, auch wenn sie ansonsten nicht viele Worte darüber verlieren mochte. Seither jedoch ließen ihre wechselnden Männerbekanntschaften keinen Zweifel daran, dass eine ungestörte Nachtruhe nicht mehr allzu weit oben auf ihrer Prioritätenliste stand. Was freilich – dessen war sich Valentina bewusst, besser noch als ihre Freundin vermutlich – auch an deren Bedürfnis nach Nähe und der Angst vor dem Alleinsein lag. Der frühe, tragische Tod ihres Vaters hatte deutliche Spuren hinterlassen.

Valentina suchte das Badezimmer auf.

Während sie auf der Toilette saß, schrieb sie eine Antwort an ihre Freundin. Süße, kein Problem. Um 10? Noch dickeren Schmatz, V

Sie band ihre wilden, blonden Strähnen zu einem Pferdeschwanz zusammen, wusch sich das Gesicht und trug ihre Morgencreme auf.

Auf dem Badregal hatte Georg sein Tablettenröhrchen vergessen. Ein blutdrucksenkendes Medikament, das ihm ein befreundeter Apotheker nach eigener Rezeptur herstellte.

Sie räumte das Döschen in den Spiegelschrank, dann nahm sie die linke der beidseitig von der Empore hinablaufenden Holztreppen ins Erdgeschoss.

Im Foyer standen die Doppelschiebetüren zum Wohnzimmer offen. Durch die Glasfront, die über die gesamte Hausbreite reichte, fiel ein breiter Streifen Sonnenlicht und ließ die braune Ledercouchgarnitur strahlen. In der benachbarten offenen Küche funkelte das Chrom. Aus dem Garten hatte der Gärtner ein atemberaubendes Paradies aus chinesischem Blauregen, brasilianischer Guave und Indigosträuchern aus dem Himalaya erschaffen. Sogar einschlägige Fachmagazine hatten darüber berichtet. Ein Blumentraum im Grunewald, hatte eine der Schlagzeilen gelautet.

Ganz zu Beginn, in den ersten Tagen, nachdem Georg das Haus erworben hatte, hatte sich Valentina jeden Morgen nach dem Aufstehen in den Arm kneifen müssen. Auf diese Weise hatte sie sich davon überzeugt, dass das unbeschwerte Leben, das sie führte, und die sorgenfreie Zukunft ihrer Kinder das nicht waren – ein Traum.

Mit einem Lächeln spielte sie an ihrem Ehering, der mit einem schönen, altmodischen, herzförmigen Diamanten verziert war.

6.59 Uhr.

»Georg?« Sie öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

Ein strenger Geruch schlug ihr entgegen. Der Gestank von Möbelpolitur, flüssigem Metall und Exkrementen.

Das Handy entglitt ihrer Hand.

Auf den Fliesen geronn eine Pfütze aus Blut. Es tropfte vom Schreibtischstuhl, auf dem Georg saß.

Valentina wollte schreien und nie wieder aufhören.

»Mama?«, hörte sie Mia auf der Treppe.

ZWEI

Luka bemerkte das kleine Mädchen und erschrak.

Was zur Hölle …?!

Verwirrt blinzelte er den Schleier weg, der seinen Blick seit Stunden trübte. Das Mädchen, das dort im Durchgang zu den Toiletten stand, glich seiner Frau bis aufs Haar; das Grübchen am Kinn, der Leberfleck knapp über der Oberlippe, die schmale, geschwungene Nase, die dunkelbraunen Augen, sogar der vorwurfsvolle Blick. Nur dass es eben noch ein kleines Mädchen war, knapp sechs oder sieben Jahre alt, also nicht Natalie, seine Frau. Also Franzi, seine Tochter? Nein, das war absurd, völlig absurd.

Er blinzelte noch einmal, und das Mädchen verschwamm wieder im trüben Nebel. Gleichzeitig begann sich die Welt zu drehen, immer schneller, wie ein Karussell, dessen Bremsen versagten. Luka verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten.

Hände packten ihn und hielten ihn fest. »Hoppala.«

Es dauerte, bis Lukas Welt sich entschleunigte und wieder zum Stillstand kam. Vor ihm ragte der Barkeeper auf, ein fülliger Kerl mit lockigem Haar und ebenso gelocktem Vollbart.

»Feierabend«, sagte er und schnappte die leeren Gläser vom Tisch.

Aber meine Tochter.

Der Barkeeper runzelte die Stirn. »Was?«

»Ich …«, Luka stieß auf und bekam einen bitteren Geschmack in den Mund, »… ich hab nichts gesagt.«

»Klar, irgendwas über deine Tochter.«

»Echt?«

»Was ist mit ihr?«

»Da«, noch ehe Luka begriff, was er tat, zeigte er mit dem Finger, »hinter dir!«

»Was ist da?« Der Barkeeper drehte sich um.

Luka neigte sich zur Seite, um an ihm vorbeizuschauen. Wieder fiel er fast zu Boden.

Wieder war der Barkeeper zur Stelle. »Definitiv Feierabend.«

Luka schielte an ihm vorbei.

Am Tresen hing ein Typ mit wilder, schlohweißer Mähne, einem zerknitterten Hemd und abgelatschten Slippern, vielleicht ein Künstler, wahrscheinlich aber einfach nur ein wilder, zerknitterter, abgelatschter Typ.

Drei Tische weiter gähnten sich zwei blasse Gestalten über ihre Drinks hinweg an. Ansonsten war das Sideways leer. Selbst die Rockmusik, die die ganze Nacht in seinen Ohren gedröhnt hatte, war verklungen.

Wie lange eigentlich schon?

Aber das spielte nun eigentlich wirklich keine Rolle. Seine Tochter war verschwunden?

Stattdessen tauchte Alf, Lukas’ Kumpel, im Durchgang zu den Toiletten auf. Er rülpste laut.

»Mahlzeit!«, murmelte der Typ am Tresen und kippte den letzten Schwapp Bier mit einem kühnen Schwung in sich hinein, der ihn beinahe rücklings vom Hocker beförderte.

Kichernd sank Alf auf einen Stuhl. »Was’n los?«

»Nix.«

»Siehst’ aber nich’ so aus.«

»Wirklich nix.«

»Scheiße, Mann, machste etwa schlapp?«

»Nee, ich hab’ nur …« Lukas Blick irrte durch die stille Kneipe, als wollte er sich noch einmal vergewissern.

Ich hab’ nur meine Tochter gesehen.

Nein, das hatte er nicht. Das war völliger Blödsinn. Plötzlich musste er lachen.

»Ey!«, empörte sich Alf. »Lachste über mich?«

»Quatsch!«

»Worüber’n dann?«

»Nee«, gluckste Luka. Er schüttelte den Kopf, als könnte er seine eigene Dummheit nicht fassen. Seine Tochter Franzi war noch ein Baby, geboren vor einem Dreivierteljahr, und trank Milch statt Alkohol. In Kneipen wie dem Sideways pflegte sie noch nicht zu verkehren und erst recht nicht morgens um –

Sein Lachen erstarb. Er schaute raus zum Fenster, und prompt hatte er ein schlechtes Gewissen. Die Sonne war aufgegangen, das Kreuzberger Leben auf der Wiener Straße längst erwacht. »Wie spät ist es?«

Alf schnaubte. »Wen juckt’s!«

»Kurz nach 7«, rief der Barkeeper. »Feierabend.«

»Ey, Mann«, schimpfte Alf. »Is’ jetz’ nich’ dein Ernst?«

»Doch.«

»Ach komm, noch ’ne letzte Runde!«

»Nope.«

»Das is’ doch … Scheiße, Luka, sag du auch was!«

»Ich muss los«, sagte Luka und stand auf. Augenblicklich begann sich seine Welt wieder zu drehen. Er schwankte, fast wäre er diesmal tatsächlich gestürzt.

Gerade noch rechtzeitig bekam er die Tischkante zu fassen und hielt sich mühsam aufrecht. Als das Karussell endlich stoppte, starrte er in das entrüstete Gesicht seines Kumpels.

»Willste mich verarschen?«, fragte Alf.

»Nee.«

»Und warum willste dann abhauen?«

»Ich muss los.«

»Yo, hab’s verstanden, aber, Mann, ich dacht’, wir woll’n feiern.«

»Haben wir doch.«

»Die Nacht is’ noch gar nich’ vorüber.«

»Es ist 7.«

»Früher hat dich das auch nich’ gestört.«

Früher. Luka stieß erneut auf.

Früher hatte er noch keine Kinder gehabt und auch keine Halluzinationen. Andererseits, nach drei Joints, vier Gläsern einer Wodka-Eistee-Mischung, die der Barkeeper seinen ganz persönlichen Sideway nannte, außerdem sechs oder sieben Mixery, durfte man sich über Hallus auch nicht wundern. Wobei Trugbilder einer Tochter, die ihn wütend wie ihre Mutter anschaute, noch zu den harmloseren gehörten.

»Schluss jetzt!«, rief der Barkeeper.

Die beiden blassen Nachteulen vom Nachbartisch hatten die Kneipe bereits verlassen. Auch der Typ vom Tresen schlurfte zur Straße hinaus.

Luka kramte in seiner Hosentasche. »Wie viel kriegst du?«

»68«, ließ der Barkeeper wissen.

»Für uns beide?«

»Nope, das wären … 144.«

»Äh«, machte Alf. »Luka? Ich bin grad was knapp und …«

»Ist schon okay.« Luka zählte sein Geld. Insgesamt 150. Er legte alles auf den Tisch. »Stimmt so.«

»Yo, Mann«, Alf schlug ihm auf die Schulter. »Bist ’n echter Kumpel, weißte?«

»Klar.«

Gemeinsam taumelten sie in den Kreuzberger Morgen. Sie kniffen die Augen gegen das helle Sonnenlicht zusammen, das einen weiteren heißen Sommertag versprach. Noch fehlte von den Touristen jede Spur. Trotzdem drückten sich die ersten Dealer am Görlitzer Park herum.

»Un’ jetz?«, wollte Alf wissen. »Wohin geh’n wir jetz’?«

»Nach Hause, sagte ich doch.«

»Das meinste echt ernst.«

»Bin eh schon zu spät.«

»Yo, dann is’ jetz’ auch egal.«

»Nee, ich sollt’s nicht übertreiben. Nati ist sowieso sauer.«

»Hä? Immer noch?« Alf rülpste erneut. »Nur weil’se dich erwischt hab’n? Is’ doch nix passiert, du hast Bewährung gekriegt, andere hab’n nich’ so’n Glück. Haste ihr das mal gesagt?«

»Das soll ich ihr sagen?«

»Yo, Mann.«

Kopfschüttelnd wandte sich Luka zur U-Bahn-Station.

Dass er so glimpflich davongekommen war, hatte rein gar nichts mit Glück zu tun, sondern mit seinem Onkel aus Köln, dem er einen verdammt guten Anwalt verdankte. Und das wusste, soviel war sicher, natürlich auch Nati.

»Weißte was?« Alf schloss zu ihm auf. »Ich glaub’, du stehst unter ihr’m Pantoffel.«

»Tu ich nicht.«

»Tuste wohl!«

»Quatsch!«

»Is’ es nich’!«

Luka ließ seinen Kumpel zetern. Ihm wurde bewusst, dass er gerade buchstäblich sein gesamtes Geld auf den Kneipentisch gelegt hatte. Nicht einmal einen Fünfer für die Bahn hatte er zurückbehalten. Und Schwarzfahren kam aus guten Gründen fürs Erste nicht infrage.

Er drehte sich um und stolperte über einen Pflasterstein, den irgendein Idiot aus dem Bürgersteig gerissen hatte. Schwankend navigierte er sich in die nächste Seitenstraße nach Neukölln.

Du stehst voll unter’m Pantoffel.

Okay, möglicherweise hatte Alf nicht ganz unrecht. Weswegen das vorhin vielleicht auch keine Halluzination gewesen war, sondern nur so etwas wie … wie … wie Lukas schlechtes Gewissen. Dafür hatte seine Frau ja hinlänglich gesorgt.

Was sollte der Mist?Hast du nicht an die Kinder gedacht?

Allerdings lag sie damit auch nicht ganz falsch. Er hatte nun mal Mist gebaut, und Alf, dieser … Wie hatte Nati ihn noch gleich genannt? Wie auch immer, sie gab ihm die Schuld daran.

Ein leichter Job, hatte Alf gesagt. Schnell verdientes Geld.

Nur deshalb hatte sich Luka darauf eingelassen. Schnell verdientes Geld. Immerhin in diesem Punkt lag seine Frau falsch, weil er dabei sehr wohl an –

»Haste gehört?«, fragte Alf.

Luka schreckte aus seinen Gedanken auf. »Was?«

»Da drüben in dem Wagen, is’ das nich …? Yo, das is’ Werner.«

Der Wagen bremste am Straßenrand.

»Scheiße!« Schlagartig war Luka nüchtern. »Was soll ich … Alf?«

Alf war verschwunden.

Das Beifahrerfenster surrte herab. »Hey«, rief Werner, »steig ein.«

»Ich … ich …«, stammelte Luka. »Ich muss nach Hause.«

»Ich fahr dich heim.«

»Es ist nicht weit, ich …«

»Halt den Mund und steig ein!«

DREI

Valentina wirbelte herum.

»Mama«, jetzt kam die Stimme ihrer Tochter aus dem Foyer, »sieh mal …«

»Mia, nein!« Valentina stürzte zur Tür. Ihre nackten Füße glitten in der Pfütze auf den Fliesen aus. Sie strauchelte und der Knoten ihres Morgenmantels löste sich.

Mia näherte sich dem Arbeitszimmer. »Die Pferde sind …«

»Mia, nein!« Während Valentina ihrer Tochter entgegenstolperte, schlug sie die Tür hinter sich zu. Der Knall schallte durch das Haus.

Mia stand starr vor Schreck. Ihre Finger umkrampften ihr Lieblingsbuch. Pedro Pony.

Aus dem Stockwerk über ihnen erklang ein Knarren.

Oh Gott, Valentinas Atem stockte, Lennard!

In derselben Sekunde schnappte sie ihre Tochter, hob sie auf den Arm und stürmte die Treppe hoch. Der Schmerz in ihren Füßen war vergessen. Die Schöße ihres Morgenmantels flatterten um ihre Beine.

»Mama, mein Buch!« Pedro Pony polterte die Stufen hinunter.

Valentina erreichte Lennards Zimmer. Erleichtert stieß sie die Luft aus ihren Lungen. Der Kleine war nur vom Lärm erwacht, wippte in seinem Bettchen und schwenkte seinen Teddybären. Bei jeder Bewegung gab Monk ein Knurren von sich.

In das verspielte Brummen mischte sich ein anderer Laut.

Raus, schrie es in Valentina, schaff die Kinder aus dem Haus!

Sie ließ ihre Tochter zu Boden, dabei glitt ihr der Morgenmantel von den Schultern. Sie scherte sich keinen Deut darum, nahm Lennard auf den Arm. Freudig juchzend schüttelte der Kleine seinen Teddybären. Valentina ergriff Mias Hand und zog sie hinaus auf die Empore.

Ihre Tochter konnte kaum Schritt halten. »Mama, nicht so schnell …«

»Monk«, japste Lennard, als der Teddybär zu Boden plumpste. »Monk! Monk!«

Hals über Kopf rannte Valentina in ihr Schlafzimmer. Sie riss den Vorhang beiseite und entriegelte die Balkontür.

»Mama?« Angst lag in Mias Stimme.

Lennards Lachen verstummte. Verstört klammerte er sich an den Hals seiner Mutter.

Valentina nahm ihre Tochter an die andere Hand und trat ins Freie. Die Morgensonne traf sie grell und heiß. Ihr dünnes Seidennachthemd war schweißgetränkt, noch ehe sie den Balkon überquert hatte.

Über das Klatschen ihrer nackten Füße auf den Fliesen vernahm sie ein weiteres Geräusch aus dem Haus.

Los doch, beeil dich!

Schnaufend hob Valentina ihre Tochter auf den Arm. Beide Kinder an sich gedrückt hetzte sie die gusseiserne Wendeltreppe hinab.

»Aua, Mama!« Mia schrie auf, als der Diamantring ihrer Mutter ihr in die Haut schnitt.

Lennard stieß ein Wimmern aus.

Valentina stolperte auf die Terrasse, setzte Mia ab und schleifte sie über den Rasen. Sie keuchte und atmete die von Blumen parfümierte Luft ein. Die Zweige der Bäume griffen nach ihr. Spitze Kieselsteinchen bohrten sich in ihre nackten, wunden Fußsohlen. Valentina nahm den Schmerz kaum wahr. Ihr Puls jagte.

»Aua, Mama«, aua«, heulte Mia. »Das tut weh.«

Lennard brach ebenfalls in Tränen aus.

Unterdessen erreichten sie das Tor zum Nachbargrundstück. Hinter ihnen ertönte wieder das Geräusch. Aber vielleicht bildete Valentina es sich in ihrer Panik auch nur ein, denn als sie herumfuhr, war niemand zu sehen. Nur blühende Guave und Purpurblätter aus dem Himalaya. Ihr Herz raste.

Mia weinte. Ihr Bruder schluchzte.

Valentina stieß das Tor auf und hastete mit ihren Kindern quer über das Nachbargrundstück. Auf der Veranda schlug sie mit der Faust gegen die Fensterfront.

»Helmar!« Immer wieder hämmerte sie auf das Glas ein. »Helmar! Gerti!«

Im Wohnzimmer erschien eine gebeugte, grauhaarige Gestalt. Sie band ihren Bademantel zu, bevor sie die Schiebetür beiseiteschob. Noch ehe sie etwas sagen konnte, taumelte Valentina an der Frau vorbei ins Haus.

»Meine Güte, Walle.« Gerti beäugte die jammernden Kinder. Ihr verwirrter Blick streifte das Negligé, das klamm an Valentinas Haut klebte. »Was um alles in der Welt ist los?«

Valentinas Atem rasselte. Sie suchte nach Worten – vergeblich. Sie leckte sich die Lippen und schmeckte ihren Schweiß.

»Nun sag doch, ist etwas passiert?«

Valentina nickte. Dann schüttelte sie den Kopf, während sie zu verstehen versuchte, was geschehen war. Sie zitterte.

»Walle?« Helmar stand im Türrahmen, trotz seiner 71 Jahre stämmig und energisch. Er begriff auf Anhieb. »Was ist mit Georg?«

Valentina schnappte nach Luft. Georg … Doch ihr Verstand weigerte sich zu begreifen. Das Beben ihres Körpers wurde stärker.

»Walle!« Bestürzt trat Helmar auf sie zu.

Valentinas Zähne schlugen klappernd aufeinander. Sie hyperventilierte.

»Ist das da dein Blut?«

Sie folgte Helmars Blick hinab zu ihren verschmierten Füßen. Schlagartig setzte das Begreifen ein.

Wieder stand sie im Arbeitszimmer, roch den Gestank von Blut und … Exkrementen.

Vor ihr saß Georg in seinem Bürostuhl. Sein Körper war erschlafft. Sein Kopf, abgetrennt vom Hals, lag auf der Schreibtischplatte.

Enthauptet!

Sein Mund war weit aufgerissen, seine Augen grotesk aus den Höhlen gequollen. Sie starrten auf die Zunge, die vor ihm lag, auf einem Stapel Papier, der mit noch mehr Blut getränkt war.

Zuviel für Valentinas Verstand. Sie brach zusammen.

VIER

David Gross überquerte den Innenhof, ein gepflastertes Idyll aus vierhundert Metern im Quadrat, mit acht Steinbänken im gleichmäßigen Abstand zueinander, zehn Abfalleimern, die täglich entleert wurden, und sechs mächtigen Platanen. Eine von ihnen war mit einem Vogelhäuschen beschlagen, in dem seit Kurzem eine Rotkehlchenfamilie nistete.

Die Baumwipfel spendeten Schatten, trotzdem schwitzte David.

Es war jedes Mal das Gleiche: Sobald er sich dem Hintereingang näherte, nahm seine Nervosität zu.

Vor der verschlossenen Glastür blieb er stehen. Er klaubte ein Zippo-Feuerzeug und eine zerknüllte Schachtel Gauloises aus seiner Hosentasche. Auch das Rauchen linderte kaum seinen inneren Aufruhr.

Sei ehrlich: Hast du je etwas verhindern können?

Noch immer lastete die Schuld, die er auf sich geladen hatte, schwer auf ihm. Nachts ließ sie ihn nur selten schlafen, und sie trieb ihn immer wieder an diesen Ort, wo ihm trotz der Schatten der Schweiß aus den Poren quoll.

Die Zigarette war fast herabgebrannt, als er hinter der Glasscheibe eine Bewegung wahrnahm.

Ein Mann näherte sich der Tür und entriegelte ihr Schloss. Mit einem vertrauten, rostigen Knarzen öffnete sie sich. Ein dichter Haarkranz umgab ein gebräuntes Gesicht. Wie immer schlackerte ein grüner Kittel um den athletischen Körper. Farblich passend zum Kittel trug er seine grünen Crocs. »Guten Morgen.«

»Morgen, Dr. Wittpfuhl.«

»Tut mir leid, dass Sie warten mussten, ich wurde aufgehalten.«

»Kein Problem.«

»Sind Sie sich sicher, dass Sie sich das antun wollen?«

»Mhm.«

»Wie ich am Telefon schon sagte, es ist kein schöner Anblick.«

David schwieg.

»Sie könnten auch das Ergebnis des DNA-Abgleichs abwarten.«

Schweigen.

»Meinetwegen«, resignierte Dr. Wittpfuhl. »Aber wir müssen uns beeilen, für meine Kollegen beginnt in wenigen Minuten der Dienst.«

David zertrat seine Kippe auf dem Pflaster. Obwohl ein Vielfaches an Zigarettenresten ringsum verstreut lag, tadelte ihn Dr. Wittpfuhl mit einem strengen Blick.

Wortlos folgte er ihm in die Berliner Gerichtsmedizin an der Charité.

Sie eilten durch einen lang gestreckten Flur, gedämpftes Neonlicht an der Decke, dezent blaue Kacheln an den Wänden, ebensolche Fliesen am Boden. Die Plastiksohlen von Dr. Wittpfuhls Crocs quietschten.

Die Kühlhalle bot das gleiche sterile Bild. Über ihre gesamte Breite erstreckte sich ein vierstöckiges Stahlregal mit 52 quadratischen Stahltüren, einige zerkratzt oder mit Dellen, bei dreien funktionierte der Schließmechanismus nicht.

Im Durchgang zum Obduktionsraum war der Feuermelder defekt.

David wusste nicht mehr zu sagen, wie oft er inzwischen hier gewesen war. Nach dem zwölften oder dreizehnten Mal hatte er aufgehört zu zählen. Längst hätte er den Weg auch blind gefunden. Dennoch wurden seine Schritte langsamer. Trotz eisiger Temperaturen klebte ihm der Schweiß die Klamotten an den Körper.

Dr. Wittpfuhl klappte eine der Stahltüren auf. Auf schmalen Schienen wuchtete er die Bahre hervor.

Die Leiche war in einen weißen Plastiksack eingepackt. Der Reißverschluss stand unten offen, sodass die nackten Füße herausragten. Um den großen Zeh hing ein kleiner Bindfaden mit einer braunen Pappkarte.

Auch dieser Anblick war David wohlvertraut. Doch als ihm die Fäulnis in die Nase stieg, die dem Sack entwich, blieb er mit einigem Abstand stehen.

Dr. Wittpfuhl drehte sich zu ihm um, als spürte er seine Zweifel.

Sind Sie sich sicher, dass Sie sich das antun wollen?

David gab sich einen Ruck und überwand die Distanz zur Bahre. Von wollen konnte auch diesmal keine Rede sein.

Mit einem Ratsch löste Dr. Wittpfuhl den Reißverschluss.

Für einen Augenblick hielt David den Atem an.

Dr. Wittpfuhl sagte: »Ich habe Sie gewarnt.«

Es ist kein schöner Anblick.

David hielt seinen Blick auf die Tote gerichtet.

Die Wahrheit war: Er musste das tun. Weil es das Einzige war, was ihm Gewissheit gab, auch wenn diese am Ende noch mehr Schmerz und noch mehr Schuld bedeutete.

Weil du ihren Tod nicht hast verhindern können!

Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Haut runzlig und aufgequollen, teilweise hing sie in Fetzen herab, an manchen Stellen war sie mit Algen überwachsen.

Dr. Wittpfuhl sagte: »Gefunden wurde sie gestern Abend von Spaziergängern am Spreeufer in Köpenick. Dort hat sie schon eine Weile im Wasser gelegen.«

Trotz der bereits deutlichen sichtbaren Verwesung war ihr Äußeres noch nicht komplett entstellt. An Kopf, Hand, Brust und Knien waren Verletzungen zu erkennen, einige zweifellos durch Wasserbewegung und Tierfraß. Bei anderen war sich David nicht so sicher über die Ursache.

Dr. Wittpfuhl fragte: »Ihr Alter schätze ich zwischen 30 und 40, das würde passen, oder?«

Auch wenn das Alter passte: Die Tote war zu groß, nicht zierlich genug und sie hatte langes, braunes Haar. Außerdem waren die Überreste zweier Tätowierungen zu erkennen, eine knapp unter der Brust, die andere am linken Unterschenkel.

David stieß die Luft aus seinen Lungen. »Sie ist es nicht.«

»Sind Sie sicher?«

»Mhm.«

»Gut«, Dr. Wittpfuhl zog den Reißverschluss zu und hievte die Bahre zurück ins Fach. »Wenn es also sonst …«

Davids iPhone stimmte summend eine Melodie von Silly an. Flieg, flieg. Sein Klingelton. Flieg, fahr aus der Haut. Das Display zeigte ein Bild des Anrufers.

David drückte ihn weg. »Doch.«

»Wie bitte?«, fragte Dr. Wittpfuhl, der vor einem Waschbecken stand und seine Hände unter das laufende Wasser hielt.

»Da wäre noch etwas.«

»Nämlich?«

»Vor acht Tagen hatten Sie eine Frau zur Obduktion, Natalie Gursky, 28 Jahre, Opfer eines Wohnungsbrands in Neukölln.«

»Sie wissen, dass ich darüber nicht reden darf.«

»Nur eine Frage.«

»Hören Sie«, Dr. Wittpfuhl trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab. »Sie haben etwas gut bei mir, und deshalb gebe ich Ihnen Bescheid, sobald ich eine unbekannte Frauenleiche hereinbekomme. Schon dafür könnte ich in Teufels Küche geraten. Aber wenn ich jetzt auch noch damit anfange, Ihnen Informationen zu laufenden Ermittlungsverfahren …«

Flieg, flieg, fahr aus der Haut, klingelte Davids Handy erneut.

Er fixierte Dr. Wittpfuhl. »Hat das Feuer zu Frau Gurskys Tod geführt?«

»Haben Sie mir nicht zugehört?«

»Nur ein Ja oder Nein.«

»Das macht keinen Unterschied.«

David schwieg.

Flieg, flieg

Dr. Wittpfuhl seufzte. Fast unmerklich hob und senkte er seinen Kopf.

David fragte: »Sie konnten also ein Fremdeinwirken zweifelsfrei ausschließen? Kein Hinweis darauf, dass Frau Gursky zuvor betäubt, vergiftet, erwürgt oder erschlagen wurde?«

»Das sind schon drei Fragen.«

»Ja oder nein?«

»Nein, verflucht, nichts davon.« Dr. Wittpfuhl blickte auf die Uhr. »Und jetzt gehen Sie bitte.«

Flieg, fahr aus der Haut.

Als David auf den Innenhof hinaustrat, hatte er noch immer den Fäulnisgestank in der Nase. Aus dem Vogelhäuschen erscholl das Gezwitscher der Rotkehlchenfamilie.

Er zündete sich eine Zigarette an. Erst dann nahm er den Anruf entgegen. »Richard?«

»David, ich habe Herrn Gursky in der Leitung.«

»Nein.«

»Er möchte kurz mit dir reden.«

»Richard!«

Ein Klicken, dann ein entferntes Stimmenwirrwarr.

David fragte: »Herr Gursky?«

FÜNF

Kurz dachte Luka ans Weglaufen.

Und was dann?

»Hey«, rief Werner aus dem Wagen. »Denk nicht mal dran!«

Werner hatte ihn nach einer Nacht im Sideways gefunden, er würde ihn auch wieder aufspüren. Eigentlich war das nicht einmal nötig, er brauchte einfach nur vor Lukas Haus auf ihn warten. Mit einem mulmigen Gefühl sank Luka auf den Beifahrersitz.

»Na endlich«, knurrte Werner und gab Gas.

Ich fahr dich heim.

An der Kreuzung zur Skalitzer Straße bog er allerdings nicht nach Neukölln ab, wo Luka wohnte, sondern nach rechts.

Lukas Unbehagen wuchs.

Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er mit Werner hätte rechnen müssen. Was hatte er erwartet, jetzt, da das Verfahren gegen ihn abgeschlossen war? Etwa, dass Werner ihn vergessen hatte?

Soviel Wodka-Eistee und Mixery konnte man gar nicht saufen, um derart naiv zu sein.

Für eine Weile glitten sie schweigend durch den zähen Kreuzberger Verkehr. Wann immer die U-Bahn auf der Hochtrasse über sie hinwegrumpelte, erfüllte ein Dröhnen den Wagen.

In das hinein Werner unvermittelt sagte: »Du hast Glück gehabt.«

Da war sich Luka nicht so sicher, und das nicht nur, weil er seine Freiheit nur dem teuren Anwalt seines Onkels verdankte.

Trotzdem nickte er.

An der Köpenicker Landstraße fuhren sie runter ans Spreeufer, wo weniger Betrieb herrschte, nur ein paar Hundehalter und Jogger. Ein rostiger Kutter dümpelte stadtauswärts.

»Also?«, fragte Werner.

»Ich konnte nichts dafür«, platzte es aus Luka heraus. »Plötzlich war da die Polizei und … Na ja, die waren einfach da.«

»Was hast du gedacht? Dass die sich vorher anmelden?«

»Nee, ich … ich …«

»Du hättest halt die Augen offen halten müssen.«

»Tut mir leid.«

»Glaubst du«, abrupt trat Werner die Bremse, »das macht die Sache besser?«

Luka wurde in den Gurt gepresst.

»Du hast Ware im Wert von 5.000 Euro verloren.«

Plötzlich war Luka schlecht.

»5.000 – die schuldest du uns, das ist dir klar, oder?«

»Aber …« Den Rest seiner Worte verschluckte Luka mit einem Schrei. »Aaaaaaah … das tut weh.«

Werner hatte einen seiner Finger gepackt und verdrehte ihn nach hinten. »Das soll es auch, denn ich möchte, dass du begreifst, was ich dir sage.«

»Ja, ja«, Luka vergaß die Übelkeit, denn der Schmerz war schlimmer. »Tue ich, ich verstehe …«

»Nein, tust du nicht!« Werner überstreckte den Finger noch ein Stück weiter.

Luka heulte auf. »Bitte, ich …«

»Halt den Mund!«

»Aber …«

»Was habe ich gesagt?« Werner erhöhte noch einmal den Druck.

Lukas Stimme erstickte in einem schmerzerfüllten Gurgeln.

»Die erste Rate beträgt 1.000 Euro«, hörte er Werner sagen. »Fällig in drei Tagen, andernfalls …« Er drückte Lukas Finger ein weiteres Mal. Irgendetwas knackte.

Luka brüllte.

Endlich ließ Werner von ihm ab.

Wimmernd befühlte Luka seinen Finger. Gott sei Dank, er ließ sich bewegen, wenn auch nur unter Schmerzen. Aber das war okay, Hauptsache nicht gebrochen.

»Worauf wartest du?«, fragte Werner.

Verwirrt schaute Luka zu ihm auf.

»Raus aus dem Wagen!«

Aber

Er verschluckte seine Erwiderung, als er Werners Blick registrierte, und stemmte sich ins Freie. Mit Tränen in den Augen sah er dem Wagen hinterher.

Fällig in drei Tagen, andernfalls

Sofort stieg wieder Übelkeit in ihm auf. Er erbrach eine Mischung aus Magensäure, Wodka-Eistee und Mixery, so widerlich, dass er sich gleich noch einmal übergeben musste.

Erst dann machte er sich auf den Rückweg.

SECHS

David vernahm noch immer nur ein Gemurmel. »Herr Gursky?«

»Äh, ja«, ein Hüsteln, »ist da …«

»Ja.«

»Also, ich … ich rufe an wegen meines Neffen.«

»Wie ist sein Zustand?«

»Er liegt nach wie vor im Koma, aber die Ärzte sind optimistisch, vorsichtig optimistisch zumindest. Sie wollen …« Gurskys weitere Worte wurden von einer Flughafendurchsage übertönt.

Unterdessen bog ein schwarzer Leichenwagen in die Zufahrt zur Gerichtsmedizin. In überraschend hohem Tempo hielt er auf den Innenhof zu.

David zog an der Gauloises, während er die Schatten der Platanen hinter sich ließ.

Gursky sagte: »Entschuldigen Sie, ich stehe in Schönefeld und erwarte die Ankunft meiner Mutter. Sie wird uns für eine Weile mit den Kindern meines Neffen helfen. Das ist alles ziemlich beschwerlich für uns zurzeit, wie Sie sich sicherlich denken, deshalb können wir …« Abermals erscholl eine Durchsage.

David blinzelte die Straße rauf und runter.

Die über den Häuserdächern hängende Sonne erhitzte den Asphalt und die Nerven der Berufspendler. Es stank nach Abgasen und Sprit, aber das war allemal besser als die Fäulnis in der Leichenhalle.

»Also«, Gursky hustete, »wir hatten miteinander gesprochen.«

David schnippte die Kippe weg und eilte durch die stickige Luft auf seinen Wagen zu. Als er auf den Fahrersitz seines Renault Clio fiel, war er wieder schweißgetränkt.

»Sie hatten gesagt, Sie würden sich so bald wie möglich kümmern, aber das ist schon einige Tage her.«

David startete den Motor. Die Klimaanlage blies ihm frischen Wind ins Gesicht. Er aktivierte die Freisprecheinrichtung.

»Inzwischen hat die Polizei sich mit ihren Ermittlungen auf meinen Neffen eingeschossen, und gestern habe ich erfahren, dass die Staatsanwaltschaft wohl Anklage gegen ihn erheben wird.«

David warf einen aufmerksamen Blick in den Seitenspiegel, dann fädelte er sich zwischen einem Taxi und einem Transporter in den zähen Verkehr. Der Fahrer des Transporters hupte erbost.

»Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft hüllen sich in Schweigen darüber, was sie gegen meinen Neffen in der Hand haben. Aber was immer sie ihm vorwerfen, ich bin überzeugt, dass er es nicht getan hat. Oder was meinen Sie?«

Im Schritttempo kroch David auf die Kreuzung am Hauptbahnhof zu. Die Sonne funkelte in dem gläsernen Koloss. »Das kann ich erst beurteilen …«

»Aber ich bitte Sie«, unterbrach Gursky. »Ich habe das doch erklärt. Ich meine, mein Neffe war kein Musterknabe, das gebe ich zu, und manches Mal hat er sich zu törichten Dingen verleiten lassen, aber er … er wollte damit aufhören, also, sich eine ordentliche Arbeit suchen, ich habe ihm dabei sogar geholfen. Und überhaupt, er ist nicht dumm. Wieso hätte er das Feuer legen sollen, warum hätte er seine Frau, also … Er hat Natalie nicht umgebracht. Was hätte er davon gehabt?«

David bog nach links in den Tiergartentunnel. Endlich kam er zügiger voran.

»Die Lebensversicherung läuft doch auf seine Kinder, und das Geld wird ihnen erst mit Erreichen der Volljährigkeit ausgezahlt. Bis dahin bin ich ihr Vormund. Mein Neffe als, äh … Als vermeintlicher Täter wird er davon ausgeschlossen sein.«

David schaltete die Klimaanlage runter. An der Ausfahrt zum Tiergarten geriet der Verkehr erneut ins Stocken.

»Verstehen Sie? Sie müssen sich beeilen, Sie müssen herausfinden, was passiert ist, also, was wirklich passiert ist. Ansonsten droht ihm ein Prozess, sobald er aus dem Koma erwacht. Im schlimmsten Fall muss er als Mörder ins Gefängnis!« Gursky stieß ein verzweifeltes Husten aus. »Sein Leben wäre ruiniert.«

Das ist es sowieso.

David wechselte die Spur in Richtung Potsdamer Platz. »Ich habe gleich einen Termin mit der Staatsanwaltschaft.«

»Also, Sie meinen …«

»Ich melde mich, sobald ich etwas Konkretes weiß.« David trennte die Verbindung.

Gleich darauf klingelte sein Handy erneut. Wieder war es Richard. »David?«

David folgte der Auffahrt hoch zum Schöneberger Ufer. Die Sonne schien ihm nun direkt ins Gesicht. Er drehte die Klimaanlage hoch. »Was ist?«

»Warum bist du nicht rangegangen, als ich dich angerufen habe?«

»Bin ich doch.«

»Das erste Mal hast du mich weggedrückt.«

»Ich war beschäftigt«

»So früh?«

»Mhm.«

»Wegen Gursky?«

Schweigend ließ David den Wagen in der Lützowstraße ausrollen.

»Hast du Herrn Gursky etwas beruhigen können?«

»Ich bin nicht die Telefonseelsorge.«

»Ich etwa?«, fragte Richard.

Richard Grabner war Anwalt. Seine Kanzlei vertrat vornehmlich gut situierte Kreise, Unternehmer, Politiker, Künstler und Sportler. Wenn diese sich mit Problemen konfrontiert sahen, die Richard mit Paragrafen alleine nicht zu lösen vermochte und von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren sollte, kam David ins Spiel.

Recherchen, Observierungen, Verhandlungen, ab und zu ein paar klare Ansagen. Diskret und nach Möglichkeit schnell brachte er die Dinge in Ordnung.

»Für gewöhnlich bringe ich meinen Job zu Ende, bevor ich Einzelheiten weitergebe.« Er lehnte sich im Sitz zurück. »Egal wie oft dein Klient meint, bei mir nachfragen zu müssen.«

»Gursky macht sich nun mal große Sorgen wegen der Ermittlungen gegen seinen Neffen.«

»Sorgt er sich um seinen Neffen oder um seinen eigenen guten Ruf als Geschäftsmann?«

»Seit wann kümmern dich die Beweggründe meiner Klienten?«

Davids Blick glitt über sanierte Altbauten und moderne Wohnblöcke. In den Erdgeschossen befanden sich ein schwäbisches Restaurant, ein Bio-Café und ein Blumenhandel. Die Insignien einer halbwegs abgesicherten Mittelschicht, dementsprechend viele Werktätige trotteten zur U-Bahn-Station, Mütter mit ihren Kindern zur Kita, Hundehalter, vereinzelte Jogger.

Richard fragte: »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, log David.

»Du klingst nicht danach.«

David konzentrierte sich auf den Altbau gegenüber. Das Goldschmiedeatelier im Parterre hatte noch geschlossen. Er steckte sich eine neue Gauloises an und öffnete das Fenster einen Spalt. Sofort drückte die Hitze herein. Er spürte den klebrigen Schweiß, der an ihm haftete. Plötzlich hatte er auch die Fäulnis wieder in der Nase.

»David?«

»Mhm.«

»Du würdest mir sagen, wenn etwas ist, oder?«

»Ich muss auflegen.« David kappte das Gespräch.

Aus der Haustür drüben stöckelte eine Frau, in ihrem Businesskostüm sportlich und elegant zugleich. In ihrer Armbeuge baumelte eine Aktentasche von Tuscany Leather.

Von Hand gefärbt und pflanzlich gegerbt, wie David seit einer Google-Suche wusste.

Er inhalierte den Zigarettenrauch. Zischend stieß er ihn aus, als könnte er auf diese Weise nicht nur den Gestank der Wasserleiche loswerden, sondern auch die Ungewissheit, die Verzweiflung und das Schuldgefühl, die ihn weiterhin zerfressen würden.

Sie ist es nicht.

Er stieg aus dem Wagen und warf die Kippe in den Rinnstein. »Frau Wertek?«

Sie musterte ihn irritiert.

»Ich möchte mit Ihnen über den Fall Gursky reden.«

»Ich werde mich hüten.« Verärgert stapfte sie weiter.

David ließ sie an sich vorbei. »Das mit Ihrem Mann tut mir leid.«

»Wie bitte?«

»Hodenkrebs. Im fortgeschrittenen Stadium.«

Wertek blieb wie angewurzelt stehen.

David sagte: »Weiß er, wo Sie sich einmal die Woche Ihre Überstunden erarbeiten? Obwohl, wenn ich es richtig beobachtet habe, waren es vergangene Woche sogar zwei Abende, die sie mit Ihrem Chef, dem Staatsanwalt, auf der Junior Suite des Adlon verbracht haben.«

Werteks erschrockener Blick zuckte zu den Fenstern ihrer Wohnung.

David trat auf sie zu. »Reden wir.«

SIEBEN

Valentina kam auf der Couch ihrer Nachbarn zu sich.

Für einen Moment lag sie benommen da, versuchte zu verstehen, wie es sie in deren Wohnzimmer verschlagen hatte.

»Walle?«, hörte sie Gertis besorgte Stimme. »Wie geht es dir?«

Sie fühlte sich verschwitzt und gerädert. Verwirrt und desorientiert wie nach einem Traum. Einem schlechten Traum.

Sie wandte sich ihrer Nachbarin zu. Auf Gertis Schoß hockte Lennard. Seine Augen waren gerötet, sein Gesicht von Tränen verquollen. Seine Schwester, die neben ihm kauerte, bot den gleichen verheulten Anblick.

Alles in Valentina verkrampfte sich.

Am Gartentor zu ihrem Grundstück tauchte Helmar auf. Mit hastigen Schritten durchquerte er seinen Garten bis zur Veranda, wo er durch die offene Schiebetür ins Wohnzimmer trat. Unvermittelt blieb er stehen, nur ein großer, kräftiger Schemen vor dem hellen Sonnenlicht.

Bitte, mit zusammengekniffenen Augen schaute Valentina zu ihm auf. Bitte sag mir, dass es nur ein Albtraum war!

Helmar wischte sich die Stirn. »Walle, es …« Seine Stimme erstarb.

»Nein!«, presste Valentina hervor. »Nein!«

»Es …« Helmar tat einen Schritt auf sie zu. Sonnenstrahlen streiften sein Gesicht. Es war schreckensbleich. »Es tut mir so leid.« Mit diesen Worten stolperte er zum Telefon.

»Nein!« Ein Schluchzen durchzuckte Valentinas Körper wie ein elektrischer Schlag.

»Walle!« Gerti wollte zu ihr. In der gleichen Sekunde begann Lennard auf ihrem Arm, wieder zu weinen.

Heulend stürzte Mia auf ihre Mutter zu.

»Nein! Nein!« Valentina schluchzte und schrie.

Sie bekam kaum mit, wie ihre Kinder sich an sie klammerten. Wie ihre Nachbarn sie verzweifelt zu beruhigen versuchten. Sie hörte weder die Sirenen, die sich näherten, noch den Türgong, der wiederholt ertönte. Sie sah die Menschen nicht, die das Haus betraten, konnte ihre Stimmen kaum wahrnehmen, ihren Worten nicht folgen, ihren Fragen.

Sie sank auf der Couch zusammen – ihre Glieder schwer wie Blei, ihre Gedanken von tiefer Müdigkeit vernebelt.

»Walle?« Eine Stimme durchdrang den Dunst.

Sie öffnete die Augen. Ihre Zunge klebte am Gaumen. »He… Helmar?«

»Wie fühlst du dich?«

»Wo … wo …«

»Keine Sorge, die Kinder sind mit Gerti in der Küche. Nane ist bei ihnen, eure Nanny um halb 8 gekommen wie jeden Tag und …« Er holte schnaufend Luft, als fiele ihm das Weiterreden schwer. »Wie geht es dir?«

»Es ist so …«, ihre schläfrige Stimme leierte, »so …«

»Der Notarzt hat dir eine Beruhigungsspritze gegeben.«

Sie versuchte sich an den Arzt zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Sie wollte etwas sagen, aber aus ihrer trockenen Kehle löste sich nur ein Röcheln, und sie hatte den Gedanken auch bereits wieder vergessen.

»Du musst was trinken«, sagte Helmar. »Ich hole dir ein Glas Wasser aus der Küche.«

Valentina blieb allein zurück und versank wieder in ihrem Nebel.

Die Verzweiflung fühlte sich unwirklich an, selbst ihr Körper, den sie unter einer Decke auf dem Sofa nicht spürte. Als gehörten Arme und Beine nicht mehr zu ihr.

Sie nahm eine Bewegung wahr.

Schwerfällig neigte sie ihren Kopf zur Seite und entdeckte zwei Streifenbeamte, die im Durchgang zum Foyer standen. Sie traute ihren Augen nicht, blinzelte, doch die Polizisten blieben, wo sie waren. Der eine war schlaksig mit Halbglatze, der andere stämmig mit einem pelzigen Schnauzbart.

Ein Mann in zerknitterter Bundfaltenhose, zerbeultem Jackett und mit ungekämmten grauen Haaren gesellte sich zu den beiden. Sie wechselten einige Worte.

»Frau Starke?«

Valentina brauchte einen Augenblick, bis sie begriff, dass der Neuankömmling jetzt mit ihr sprach.

»Frau Starke?«

Sogar ihr eigener Name klang fremd in ihren Ohren.

Der Mann kam auf sie zu. Im Gegensatz zu seiner nachlässigen Kleiderwahl stand sein mächtiger Schnurrbart, der zu zwei preußisch-akkuraten Speerspitzen gezwirbelt war. »Ich bin Kriminalhauptkommissar Berger und das«, er zeigte auf einen jungen, schlaksigen Mann in Lederjacke, der aus seinem Schatten trat, »ist mein Kollege, Kriminalkommissar Gesing. Können Sie uns ein paar Fragen beantworten?«

»Nein, das kann sie nicht!« Helmar stapfte mit einem Glas Wasser herein.

Der Kommissar schaute Valentina an. »Frau Starke?«

»Ich …«, mühsam stammelte sie gegen ihre Apathie an, »ich …«

»Walle!« Helmar baute sich vor ihr auf. »Du stehst unter Schock.«

»Es ist wichtig«, sagte der Kommissar. »Frau Starke?«

Valentina mühte sich zu einem Kopfnicken. Grummelnd ließ Helmar sich neben ihr nieder.

»Wir würden gern allein mit ihr sprechen«, sagte der Kommissar.

Mit einem verärgerten Schnauben drückte Helmar ihr das Wasserglas in die Hand und verließ den Raum.

»Frau Starke«, der Kommissar setzte sich auf das gegenüberliegende Sofa, sein Kollege blieb stehen. »Können Sie uns sagen, was in Ihrem Haus geschehen ist?«

Valentinas Blick glitt hinaus in den Garten und hinüber zu ihrem Grundstück. Ihr Haus lag im gleißenden Sonnenlicht, die Bäume und die Sträucher standen in voller Pracht. Ein Blumentraum

»Frau Starke?«

… im Grunewald. Sie blinzelte verwirrt.

»Frau Starke«, sagte er, »was ist in Ihrem Haus geschehen?«