Ossowski, Leonie Der Löwe im Zinnparadies

PIPER

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Für Mahand, meine Schwester

 

ISBN 978-3-492-97265-9

Februar 2017

© Piper Edition, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2003

Ersterscheinen von »Das Zinnparadies«: Radius Verlag GmbH, Stuttgart, 1988

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Das Zinnparadies

Das Haus war im Vergleich zu den anderen Häusern im Dorf viel zu groß, denn bei Licht besehen war das Haus ein Schloss.

Ein schäbiges Schloss, ramponiert, mit verschandelter Fassade, an deren Kronen die Zacken fehlten. Ein Schloss ohne Schlossherrn, das versteckt zwischen Eichen, Linden, Buchen und Platanen in einem Park stand.

Als es die Polen nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zum ersten Mal betraten, fanden sie nichts mehr vor. Jeder Raum, vom Keller bis unters Dach, war leer wie eine Scheune vor der Ernte. Die Russen, so hieß es, die hätten alles mitgenommen. Nur die Türen hingen noch in den Angeln und führten von einem ausgeräumten Zimmer ins andere.

Die Leute vom Dorf klopften die Wände ab, sahen unter Treppen und hinter Balken, konnten es nicht fassen; von Möbeln keine Spur. Die, die als Zwangsarbeiter zum Kohleschleppen oder zu sonstigen Arbeiten einmal im Schloss gewesen waren, die wollten besonders gern wissen, was da zurückgeblieben war an Glanz, Pomp und dem, was vielleicht zu gebrauchen sein könnte.

Aber weil nichts mehr da war, nichts zum Ansehen und nichts zum Mitnehmen, ließ man einfach die Türen offen und wartete ab. Monate soll es so dagestanden haben, das Schloss, nur von Ratten und Mäusen bevölkert, dem Verfall ausgeliefert und zu nichts nütze.

Das änderte sich erst, als die Felder und Wälder der ehemaligen deutschen Güter zu einem Kombinat unter der Leitung eines Direktors und seiner Frau zusammengelegt wurden.

Nicht dass die beiden nun ins Schloss gezogen wären. Nein, ein anderes Gutshaus gefiel ihnen besser. Eines, das sie sich selbst auswählen konnten, wie die Babka später Janusz erzählte, während die Dorfbewohner das nicht durften. Die bekamen die Häuser und Höfe zugeteilt, wobei jeder zugeben musste, dass die ehemaligen Zwangsarbeiter, die am Ort geblieben waren, zu besseren Höfen kamen als die Ostpolen, deren Heimatland nach dem Krieg an die Sowjetunion abgegeben werden musste. Es habe schon seine Zeit gedauert, berichtete die Babka, bis Ordnung und Ruhe unter die Dächer kamen und jeder sein Nest gefunden hatte.

Nur das Schloss, das blieb leer und unbewohnt. Da mochte auch keiner rein, wäre sich lächerlich vorgekommen mit den Putten und Engeln aus Gips an den Wänden im zwei Stockwerk hohen Flur und in Zimmern, groß wie der Tanzsaal der Gastwirtschaft. Die Küche im Keller, die Schlafstuben im ersten Stock, da hätte man sich allein auf den Treppen die Holzpantinen abgelaufen. Lieber überließ man das Schloss dem Wind, der durch die Ritzen pfiff, dem Regen, der durchs Dach tropfte, den Mäusen, die Löcher in Dielen und Tapeten fraßen.

Das Kombinat kam schnell in Schwung. Nicht nur wurden alle Felder bestellt, auch die Viehzucht kam in Gang. Der neue Direktor, das war schnell rum im Dorf, der wusste, was er wollte. Und weil er wusste, was er wollte, fand er auch für das Schloss eine Verwendung.

Er baute es aus und um, versetzte Wände, ließ die unnötig gewordenen Veranden samt dem Wintergarten abreißen, Eingänge verlegen und Fenster zumauern, wie es ihm passte. Dadurch verlor das Schloss immer mehr an Harmonie, sah kaum noch wie ein Schloss aus, wirkte auch nicht mehr pompös, sondern plump und hässlich. Durch den Park ließ der Direktor für die Dorfbewohner einen Weg aus Betonplatten legen. Denn das Schloss, so sagte er, das Schloss sei jetzt das Klubhaus des Dorfes. Eine Café-Stube wurde eingerichtet, ein Billardzimmer, ein Fernsehraum, ein Kindergarten, Werkstätten und eine Bibliothek, die von der Frau Direktor verwaltet wurde. Im Souterrain aßen die Kombinatsangestellten, und im Obergeschoss, neben Zahnklinik und Arzträumen, gab es zwei Wohnungen. In einer dieser Wohnungen wurde Janusz geboren, der Enkel der Babka, die es zur Zeit der deutschen Besatzung in Polen als Zwangsarbeiterin hierher ins Dorf verschlagen hatte. Nach dem Kriegsende wurde sie in der Kombinatsküche beschäftigt, hatte dort Tag für Tag gekocht, gebraten, gebacken, bis ihr das Alter in die Knochen fuhr und ihre Kräfte nachließen. Aber auch als Rentnerin blieb sie im Schloss wohnen und lebte bei ihrem Sohn, der als Verwalter im Kombinat arbeitete.

Die Babka machte nie viel Aufhebens von sich und wartete insgeheim auf den Tod. Das änderte sich erst wieder mit Janusz’ Geburt; der Junge kam so schnell auf die Welt, dass niemand außer ihr zur Stelle war. Sein Gebrüll war so kräftig gewesen, dass man es sogar unten in der Kombinatsküche gehört hatte.

Die Schwiegertochter berichtete später, die Babka habe wie verrückt gelacht, habe das Kind gebadet, gewickelt, in ein Kissen gesteckt, und sie sei mit dem Neugeborenen treppauf, treppab gerannt, um ihm sein Zuhause zu zeigen. Keinen Raum habe die Alte ausgelassen, sogar im Arztzimmer sei sie mit dem Säugling gewesen und angeblich auch auf dem Turm des Schlosses. Erst der junge Vater habe seine Mutter zur Vernunft bringen und ihr das Kind wieder abnehmen können. Von da an hatte die Babka ihren Enkel nicht mehr aus den Augen gelassen, hatte ihm das Laufen und das Sprechen beigebracht, hatte ihn gehütet und das Kind, ob’s erlaubt war oder nicht, herumgeschleppt, bis es auf ihren Armen einschlief.

Inzwischen war Janusz zehn Jahre alt geworden, machte längst seine Streifzüge allein durchs Schloss, während die Babka Wache hielt, wie sie sich ausdrückte. Plötzlich kam der Großmutter eine Nachricht zu Ohren, die nicht nur sie, sondern auch Janusz beunruhigte.

Einer sagte es dem anderen: Die jüngste Tochter des ehemaligen Gutsbesitzers habe jetzt, vier Jahrzehnte nach dem Abzug der Deutschen, ihren Besuch angekündigt. Sie wolle ihr Elternhaus sehen, hieß es, um Erinnerungen aufzufrischen.

Die meisten Bewohner des Dorfes interessierte das nicht. Niemand kannte die Frau, die damals als Kind ihre Heimat verlassen musste. Niemand hatte etwas dagegen, dass sie den Wunsch äußerte, sich anzusehen, was ihr nicht mehr gehörte. Nur die Babka regte sich auf.

»Herumschnüffeln wird sie wollen«, schimpfte sie. »Nach dem Rechten sehen, wie die Deutschen das nennen, und eines Tages, eines Tages fängt alles wieder von vorne an.«

»Dass du nicht vergessen kannst«, sagte der Sohn, und die Großmutter sagte: »Nein, das kann ich nicht, auch wenn ich es wollte.«

Janusz sagte gar nichts, hörte nur zu und überlegte, ob der Großmutter zu glauben war oder nicht.

Schweigend zog er die Tür hinter sich zu und ließ sie in ihrem Sessel am Fenster sitzen. Von hier aus hatte sie nicht nur den Park im Blick, sondern auch die Einfahrt zum Kombinat.

»Die Babka vom Janusz«, sagten die Leute im Dorf, »die lauert wie ein Hofhund am Fenster im Schloss auf Fremde.«

»Sie ist nicht mehr richtig im Kopf«, behaupteten die einen.

»Sie hat immer noch Angst vor den Deutschen«, meinten die anderen. »Da nützt alles Zureden nichts.«

Aufs Dach kam man nur über die Turmtreppe, eine hölzerne Stiege, die für Janusz nie ein Ende nahm, deren oberste Stufe er fürchtete und die er noch nie bis unter das Gebälk des Turmes erklommen hatte. Da war nichts mehr vertraut, da war nur Finsternis und der Geruch von Eulen.

Sommerliche Nachmittagsstille. Der Vater war auf den Feldern. Die Mutter arbeitete im Verwaltungsbüro. Niemand hielt sich in der Café-Stube auf, niemand sah fern. Es wurde kein Billard gespielt, und die Bibliothek, die Arztzimmer und die Zahnklinik waren verschlossen. Nur aus der Küche hörte man das Klappern der Töpfe und Abwaschgeräusche.

»Dass du mir nicht allein im Schloss herumlungerst«, sagte der Vater fast täglich.

»Die Frau Direktor will das nicht«, fügte die Mutter hinzu. Janusz sah das nicht ein, angelte sich trotz Verbot die Schlüssel vom Haken und machte sich auf den Weg.

Nur die Großmutter wusste Bescheid, hielt nichts von den Befehlen der Frau Direktor und der Fügsamkeit ihres Sohnes, wisperte hinter vorgehaltener Hand Janusz zu, er möge, wenn er wolle, ruhig in alle Ecken kriechen.

»Was dem einen recht ist«, sagte sie, »ist dem anderen billig. Das hier ist dein Elternhaus.«

Also nahm Janusz in aller Stille mit Wissen der Babka von jedem Winkel Besitz, füllte ihn mit seiner Welt aus, mit seiner Fantasie und ungeachtet dessen, wie es früher im Schloss ausgesehen hatte. Einen Salon sollte es da gegeben haben, behauptete die Großmutter, ein Damen- und ein Herrenzimmer, ein Esszimmer, und in dem Saal, in dem heute die Dorfjugend Theater spielte, hätten früher bis zu fünfzig Personen an einem Tisch speisen können. Im oberen Stock, wo jetzt seine Eltern, die Babka und er wohnten, seien die Gästezimmer gewesen und auf der anderen Seite des Flures die Kinderzimmer.

Immer wieder kramte die Babka in ihren Erinnerungen und erzählte Janusz von einer Zeit, die er nicht kannte, von einem Schloss, das er sich so nicht vorstellen konnte, von Menschen, die hier nicht mehr lebten und von denen ihm die Großmutter versicherte, man dürfe ihnen nicht trauen.

Auf Zehenspitzen schlich Janusz den Flur entlang, die Schlüssel zum Turm in der Hand. Zwei Möglichkeiten gab es, nach oben zu kommen: Entweder er lief die breite Treppe mit dem ausladenden Geländer hinunter, durch den hohen und großen Flur an den zweiflügeligen Türen vorbei auf die andere Seite, um dort eine schmale, viel dunklere Treppe wieder aufwärts zu steigen, oder er schloss die kleine Tür auf, hinter der die Arzträume lagen und das lange holzgetäfelte Zimmer mit dem schweren Holztisch, in das der Herr Direktor die Besucher des Kombinats zum Essen einlud. Hier hatte Janusz noch nie gegessen. Hier sah er nur hin und wieder, wie die Frauen aus der Küche auf ebenjener schmalen und dunklen Treppe Schüsseln, Terrinen und Platten rauftrugen, hörte das Gelächter der Gäste, das Klirren der Gläser und die alles übertönende Stimme des Herrn Direktor: »Na zdrowie.«

Janusz entschied sich weder für die breite Treppe noch für die Tür, hinter der die Arztzimmer und der Speiseraum des Herrn Direktor lagen. Janusz entschied sich für das Treppengeländer, dessen Handlauf zum Rutschen verführte. Auch das war verboten. Da aber in der Stille des Nachmittags niemand da war, der Janusz zurechtwies, schwang er sich auf das hundertjährige glatte Holz, stieß sich ab und sauste mit ausgebreiteten Armen und angehaltenem Atem abwärts. Unten angelangt, knallten seine Schuhe auf die Dielen, dass ihm die Fußsohlen brannten und er sich einen Augenblick hinhocken musste. Er sog die Luft durch die Nase und schloss die Augen. Hier roch es, wie es nirgendwo anders roch.

Immer ein wenig nach Suppe, Kohl und gebratenen Zwiebeln, nach Putzmitteln und nach etwas, das Janusz sich nicht erklären konnte. Vielleicht etwas, das von den Deutschen übrig geblieben, ganz oben zwischen den Putten an den Wänden hing und muffig geworden war.

Bis heute hatte Janusz selten einen Gedanken an die Deutschen verloren. Höchstens hier in dem großen Flur, weil es seiner Meinung nach nur hier noch etwas von ihnen zu riechen gab. Weiß der Himmel, möglicherweise war die Deutsche schon da, saß in der Café-Stube und ließ sich bedienen, oder sie hockte im Fernsehraum. Vielleicht spielte sie Billard, vielleicht schnüffelte sie auch in der Bibliothek herum, rannte mal hierhin, mal dorthin, wo sie ebenso wenig etwas zu suchen hatte wie Janusz in dem Speisezimmer des Herrn Direktor.

Janusz schob seinen Entschluss, auf den Turm zu steigen, hinaus und öffnete statt dessen eine der Flügeltüren, die zum Fernsehraum führten. Die Vorhänge vor den drei hohen Fenstern waren zugezogen und verbreiteten ein braunes, derart dämmriges Licht, dass Janusz über einen Stuhl stolperte. Der stand seitlich in umgekehrter Richtung, als habe ihn jemand absichtlich umgedreht.

Wer war hier gewesen? Wer hatte hier Unordnung in die Ordnung gebracht, war vielleicht da und ließ sich in dem Halbdunkel nur nicht sehen?

Janusz tastete mit den Augen ab, was er glaubte, erkennen zu können: Höhe und Breite der Fenster, der nie mehr benutzte, große grüne Kachelofen, dessen Ornamente er im Schlaf hätte nachzeichnen können, die Holztäfelung an der Wand, hell gebeizt, die sich durch alle Zimmer zog und Janusz in diesen hohen Räumen ein Gefühl der Geborgenheit gab, die vier runden Lampen, die von der Decke hingen und jedes Eckchen hell machen konnten.

Nur zwei Schritte bis zum Schalter. Warum ging er nicht hin und schob das kleine Hebelchen hoch? Warum lief er nicht zu den Fenstern und zog die Vorhänge zur Seite?

Es war ihm unmöglich, sich zu bewegen. Die Arme hingen ihm schwer herunter, als seien die Hände aus Stein, seine Füße hefteten sich an die Dielen, und alles, was er dachte, vermischte sich auf unnatürliche Weise mit den Erinnerungen der Babka.

Das Holz an den Wänden begann zu knistern, wurde rissig, fiel von der Wand und machte anderem Holz Platz, Eichenholz, das plötzlich in viel feinerer Täfelung zu sehen war, während sich über die Ölfarbe der Wand eine tiefrote, seidige Tapete legte.

Er war verhext, das Schloss war verhext, vielleicht auch die Babka.

Ihm gegenüber tauchte aus dem seidigen Rot ein Bild auf. Es zeigte einen hohen Offizier, der, auf einem Pferd sitzend, ein Regiment anführte. Seine dunkle Uniform war mit silbernen Schnüren besetzt, und auf dem Kopf trug er eine riesengroße, mit Pelz besetzte Mütze. Den gezogenen Säbel über seinem Kopf schwingend, schien er auf Janusz zuzureiten, vielleicht um ihn aufzuspießen.

Aber Janusz gelang es, beiseitezuspringen. Und mit dem Satz, den er da zwischen den Stühlen im Fernsehraum machte, begriff er, dass er auf die Beschreibungen der Babka hereingefallen war.

Im gleichen Augenblick wich die tiefrote, seidige Tapete der früheren Ölfarbe.

Der hohe Offizier verblasste mitsamt seinem Pferd. Das Holz, hell gebeizt, kehrte zurück und verdeckte mit einem Schlag die feine, aus Eiche gearbeitete Täfelung. Janusz fühlte sich wieder geborgen. Vorsichtig stellte er endlich den Stuhl dahin, wo er hingehörte, und schlich sich, so schnell er konnte, aus den Erinnerungen der Großmutter.

 

Einmal aufs Thema gebracht, ließ es Marie an Ausführlichkeit nicht fehlen. »Blind«, sagte sie, »blind finde ich die Stelle, wo ich das Paradies am Tag der Flucht versteckt habe, auch wenn es über vierzig Jahre her ist.«