cover
cover

Erster Teil

Seit seinem elften Lebensjahr, ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, weigerte sich Conrad, in die Berge zu fahren. Älter geworden, lehnte er auch jeden Film ab, der im Gebirge spielte. Selbst Hügellandschaften versetzten ihn in Unruhe, und bekam er Ansichtskarten mit einem Bergmotiv, konnte es geschehen, daß er sie schnell, wortlos und ungelesen zerriß. Eine Erklärung für sein Verhalten gab er nicht, er schwieg, wenn er gefragt wurde, oder wechselte das Thema.

Mittlerweile war er Ende Fünfzig, hatte sein Leben, wie er glaubte, im großen und ganzen hinter sich, die Rente vor sich, war Witwer, lebte allein und hatte es tatsächlich geschafft, nie auch nur in der Nähe einer Bergkuppe zu wohnen. Neben dieser seltsamen Verweigerung hatte Conrad von Scherkow noch eine andere ungewöhnliche Eigenschaft: Tagträume. Dafür schlief er nachts wie ein Toter. Zu Tageszeiten aber passierte es, daß er sich für Sekunden, manchmal auch für Minuten und länger, aus der Gegenwart stahl. Als erstes fiel er trotz seines Alters jedesmal in seine Kindheit zurück. Dann stand sein Elternhaus vor ihm, ein mächtiges Schloß, zweistöckig, mit dem Familienwappen über dem barocken Eingang. An dem Seitenflügel, der nach Osten zeigte, stand ein Turm, der nicht so recht zum Ensemble paßte und ein bißchen wie angeklebt wirkte. Irgendein Vorfahr hatte ihn wohl in der Meinung bauen lassen, ein richtiges Schloß müsse auch einen richtigen Turm haben. Conrad liebte diesen Turm, denn er stand ihm und seinem Zwillingsbruder Ludwig von Geburt an zur Verfügung. Im oberen Stock schliefen sie, im unteren befand sich ihr Spielzimmer, genannt der Zwillingsstall. Hier konnten sie lärmen, toben oder sich prügeln, soviel sie wollten, ohne die Erwachsenen zu stören oder von ihnen gestört zu werden.

Einmal, so hatte der Vater gesagt, einmal würde das alles ihm, dem Erstgeborenen gehören. Und zwar nicht nur der Turm, sondern das ganze Schloß, der Park, die Felder und auch die Wälder. Der Satz hatte sich in Conrads Gedächtnis gebrannt und war über fünf Jahrzehnte nicht zu löschen gewesen. Ferner gehörte das Bild des väterlichen Schlosses zu diesem Satz und blieb Conrad deutlich und unversehrt vor Augen. Alles andere verblaßte im Lauf der Jahre, hatte an Umfang verloren, auch an Genauigkeit.

Schon als Kind hatte ihn dieses Versprechen stark gemacht. Es hatte ihm geholfen, wenn er einsam war oder wenn Ludwig, der alles und jedes ein wenig besser konnte als er, ihn das spüren ließ. Auch wenn er Angst hatte oder wenn ihm wegen einer schlechten Note im Zeugnis mitgeteilt wurde, daß er, wenn er so weitermache, es zu nichts bringen würde, gab ihm der Gedanke an sein Erbe Kraft. Ludwig wird später kein Schloß besitzen, sagte sich Conrad dann insgeheim mit zusammengekniffenen Lippen, keine Felder und keine Wälder. Kamen die Brüder, wenn sie allein waren, darauf zu sprechen, dann lachte Ludwig und behauptete, schon zu seinem Recht zu kommen, nahm Conrad in den Schwitzkasten und ließ den Bruder ungebührlich lange zappeln. Sie prügelten sich oft und stritten, wobei stets Ludwig als Sieger hervorging. Wurde Conrad hingegen von anderen Jungen angegriffen, dann war Ludwig zur Stelle und verteidigte den Bruder auf das heftigste. Nie ließ er zu, daß irgend jemand Conrad ein Leid zufügte. Selbst vor Erwachsenen verteidigte er seinen Bruder und sorgte damit für den Eindruck, daß die beiden unzertrennlich waren und liebevoll miteinander umgingen. Wenn man die Zwillinge rief, wurde Conrad als Erstgeborener stets zuerst genannt, auch wenn Ludwig der kräftigere und größere war.

Seine Kindheit sei glücklich gewesen, wie es im Buche steht, behauptete Conrad noch als alternder Mann, allerdings nur bis zum zehnten Lebensjahr. Danach war für ihn die Welt nicht mehr in Ordnung. Er wurde von zu Hause weggeschickt. Weg von Vater und Mutter, weg von Ludwig, weg vom Schloß, von den Feldern und Wäldern, die einmal ihm gehören würden, weg von dem Ort seiner Geburt, dem Dorf Großscherkow in der Prignitz, weg in die Berge, ohne daß er sich wehren konnte.

Es hieß, er sei lungenkrank und wenn er nicht für Monate in einen Lungenkurort in die Berge ginge, müsse er sterben. So sagte es ihm der Vater und machte damit jeglichen Widerspruch zunichte. Er ermahnte Conrad, ein Mann zu sein, so jung er auch sei. Schließlich müsse der Vater auch wieder fort an die Front, denn seit einem Jahr befand sich Deutschland im Krieg. Es habe ihn genug Aufwand und Geld gekostet, für Conrad einen Platz in Davos zu bekommen, und jetzt erwarte er von seinem Sohn nicht Jammern und Wehklagen, sondern Dankbarkeit und guten Willen, wieder gesund zu werden.

Conrad gab zu, ständig zu husten, zu schwitzen und hin und wieder etwas Blut zu spucken. Nur daß er todkrank sein sollte, das sah er nicht ein. Vielmehr bildete er sich ein, die Eltern wollten ihn loswerden, brauchten nicht zwei Söhne, sondern nur einen, und Ludwig war der gesündere, der klügere, der gewieftere, also der für das Erbe von Großscherkow Geeignetere. Und weil das so war, machten sie ihn, Conrad, den Erstgeborenen, zu einem Todkranken, mit dem auf Dauer nicht zu rechnen war, und schickten ihn weit weg ins Ausland, von wo man während des Krieges vielleicht nicht wieder zurückkonnte. Nur teilte er niemandem seine Befürchtung mit und stellte auch keine Fragen. Er schwieg und nahm Abschied. Obwohl er es nicht durfte, fuhr er heimlich mit dem Fahrrad in den Wald und über die Felder. Dann besah er sich sein Elternhaus aus allen Himmelsrichtungen und rechnete damit, es nie mehr zu sehen. Er sagte im Dorf auf Wiedersehen, ohne daran zu glauben, verabschiedete sich in der Schmiede, beim Bäcker, vom Pfarrer und der Lehrerin. Er hörte nicht auf die Genesungswünsche und nicht auf die Worte der Hoffnung, ihn bald wieder in Großscherkow zu begrüßen.

Allerdings erinnerte sich der alternde Conrad daran nicht mehr so recht. Er besann sich nur noch auf seine Traurigkeit und seine Angst, alles zu verlieren, was zu ihm gehörte. Der Abschied von Ludwig war ihm hingegen im Gedächtnis geblieben, es gab weder Streit, noch machte Ludwig Anstalten, den Bruder zu piesacken. Sie waren nur dankbar, noch zusammen zu sein. Wie als Kleinkinder, wenn es gewitterte, hatten sie sich in der letzten Nacht vor Conrads Abreise aneinandergeklammert, hatten geweint und sich einer am anderen in der Vorstellung festgehalten, sich dadurch beschützen zu können. Sie redeten kaum, hörten nur hin und wieder das Schluchzen des anderen.

Ohne dich, hatte Ludwig schließlich gesagt, fürchte ich mich. Und Conrad hatte geantwortet: Aber du bist wenigstens zu Hause. Mehr fiel ihnen nicht ein, bis sie schließlich vom Schlaf übermannt wurden. Am nächsten Morgen nahm Ludwig dem Bruder das Ehrenwort ab, nie jemandem zu verraten, daß er geweint hatte, und als Conrad schließlich in die Pferdekutsche stieg, die ihn mit der Mutter nach Perleberg brachte, wo er in den Zug steigen sollte, versprach ihm Ludwig mit wackliger Stimme, mindestens einmal in der Woche zu schreiben. Auch daran erinnerte sich Conrad genau, denn Ludwig hatte ihm nicht ein einziges Mal in die Schweiz geschrieben, hatte nur immer Grüße ausrichten lassen.

Das Leben im Kinderheim war Conrads Gedächtnis bis auf die Berge mehr oder weniger entfallen. Die aber hatte er von Anfang an gehaßt. Er bewunderte weder ihre Größe noch ihre Schönheit, nicht den Schnee auf ihren Kuppen, nicht die Hänge und Wiesen und Wälder, die bis ins Tal hinabreichten.

Für Conrad bedeuteten die Berge Felswände, die ihn einmauerten, die ihn von allem trennten, was er liebte, die ihm die Sicht zum Horizont nahmen und ihn im ungewissen ließen, was dahinter passierte. Zum Beispiel der Krieg. Er hörte und sah nichts davon. Im Kinderkurheim, wo er untergebracht worden war, gab es für die Patienten kein Radio, also auch keine Siegesmeldungen, keine Frontberichte und schon gar keine Verlustmeldungen. Für Conrad spielte sich der Krieg unüberschaubar und lautlos hinter den Bergen ab. Überall schien er stattzufinden, im Osten, im Süden, im Westen und im Norden. Manchmal schrieb die Mutter ein paar Sätze darüber, wer aus dem Dorf gefallen war, daß der Vater an der Westfront gekämpft habe und daß sie hoffe, der Krieg werde bald vorbei sei. Ludwig ließ lediglich grüßen.

Diese Briefe versetzten Conrad von Mal zu Mal mehr in Panik. Wenn er nach dem Essen mit den anderen Kindern, in Decken gewickelt, auf dem Balkon lag, schlafen sollte und statt dessen in die verhaßten Berge starrte, überfielen ihn in regelmäßigen Abständen zwei unterschiedliche Alpträume. In dem einen gelang es ihm, die Hänge und Felswände zu besteigen, bis er, in tiefem Schnee steckend, über den Rand der Berge auf die andere Seite blicken konnte. Was er dann sah, raubte ihm fast die Sinne. Ein leeres Land, so weit das Auge reichte. Kein Haus, keine Straße, kein Feld und kein Wald. Eine steinige Wüste, von Trümmern übersät, bot sich seinem Blick. Nicht einmal Tiere. Nur Rauch über einer Todeslandschaft, die sich schmutziggrau am Horizont verlief. Der Krieg hatte alles zerstört, alles Leben zunichte gemacht, auch die Eltern, Ludwig und Großscherkow.

In dem anderen Alptraum blieb Conrad, in seine Decken gewickelt, wie gelähmt auf seinem Liegestuhl liegen, ohne auch nur einen Finger rühren zu können. Er wußte, daß er sich gegen den bevorstehenden Anblick nicht wehren konnte, auch wenn er die Augen schloß. Er sah ihn trotzdem, seinen Bruder Ludwig, wie er sich in monströser Größe hinter den Bergen hervorschob, mit Armen, die das ganze Massiv umfaßten, sich daran festklammerten, um nicht abzurutschen. Ludwigs Kopf, der zwischen den Gipfeln hervorragte, hatte den Umfang eines Mondes. Er lachte mit schiefen Lippen im gelbfahlen Gesicht, und sein Atem fuhr wie ein Windstoß über Conrad hinweg. Seine Worte klangen wie Donnerschläge, und Conrad hatte Mühe zu verstehen, was Ludwig ihm zurief. Erst nach mehreren Wiederholungen begriff er den Inhalt. Der Bruder behauptete, daß Großscherkow nun ihm gehöre und Conrad in der Schweiz verrecken solle. Darauf wachte er jedesmal mit einem fürchterlichen Schrei auf, und seine Fieberkurve stieg.

An etwas anderes als an die Träume erinnerte sich Conrad nicht. Die aber hatte er behalten, und er wußte, daß sie ihn überfallen würden, sobald er in die Nähe eines Gebirges kam, egal, in welchem Land.

Nach einem Jahr wurde er halbwegs gesund nach Hause geschickt, mußte sich aber immer noch schonen, mehr Milch trinken als Ludwig und auch mehr Butter essen, obwohl die bereits rationiert war. In allem wurde auf Conrad Rücksicht genommen, was Ludwig die Freude über die Rückkehr des Bruders verdarb. Für Conrad war fast alles wie früher, nur daß der Vater und die meisten Männer aus Großscherkow immer noch im Krieg waren und es Ludwig verboten wurde, sich mit dem Bruder zu prügeln. Nur eine kleine, nicht nennenswerte Veränderung gab es noch. Die Zwillinge wurden nicht mehr Conrad und Ludwig gerufen, sondern Ludwig und Conrad, ganz so, als sei jetzt Ludwig der Erstgeborene. Immer öfter mußte Conrad an den einen seiner Alpträume denken, und der trieb ihn dazu, die Mutter zu fragen, ob etwa Ludwig, als der gesündere von ihnen beiden, später Großscherkow erben würde.

Wie kommst du denn darauf, hatte sie lachend geantwortet und ihm über das Haar gestrichen, warum sollten denn Vater und ich unsere Meinung ändern?

Darauf war Conrad in den Park gelaufen, hatte sich in den Rhododendrenbüschen hinter den Teichen versteckt und vor Glück geweint.

Auch für Ludwig hatte sich die Welt nach Conrads Abreise in die Schweiz geändert. Der Bruder fehlte ihm mehr, als er zugeben wollte. Er kam mit seiner Einsamkeit schlecht zurecht. Er wußte nicht mehr, an wem er seine Kräfte messen, besser gesagt, wen er durch Stärke und Schnelligkeit besiegen sollte, wem er mit Noten und Zeugnissen beweisen konnte, daß er der Klügere war. Auch mußte er jetzt sein Fahrrad selbst aufpumpen oder Hemden, Pullover, Hosen und Strümpfe, die morgens anzuziehen waren, allein aus dem Schrank holen. Ludwig hatte niemanden, den er necken und foppen konnte. Er hatte immer erst dann aufgehört, wenn Conrad seine letzte Karte ausspielte und sagte: Wenn Großscherkow mir gehört, schmeiß ich dich raus. Sofort wurde Ludwig still, denn er wollte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Aber es war noch etwas anderes, was er nach Conrads Abreise vermißte. Er hatte niemanden, mit dem er seine Geheimnisse teilen konnte, seinen Kummer und seine Freude, und was noch schlimmer war, er hatte niemanden mehr, den er als seinen Zwillingsbruder verteidigen und beschützen konnte, egal ob vor den Eltern, anderen Erwachsenen oder irgendwelchen Jungen aus dem Dorf. Ludwig begriff von Tag zu Tag mehr, daß das Leben ohne Conrad ein anderes war und keineswegs schöner. Das machte ihn nicht nur wütend, sondern das war auch der Grund, warum er dem Bruder nicht schrieb. Ludwig wurde still, und die Mutter begann sich Sorgen um ihn zu machen. Es schien, als habe Conrad Ludwigs Selbstbewußtsein mit in die Schweiz genommen. Ludwig, der jetzt erst merkte, daß er keinen richtigen Freund hatte, hing rum, zeigte zu nichts Lust und wurde aggressiv, sobald jemand nur andeutete, daß ihm wohl der Bruder fehle.

Nichts fehlt mir, schrie er dann, Conrad kann mich am Arsch lecken.

Und damit hatte er einen weiteren Grund, dem Bruder nicht zu schreiben. Wochen gingen hin, ohne daß Ludwig sich änderte. Er blieb meist stumm, mißgelaunt und freudlos. Der Großvater mütterlicherseits, der alte Baron Zöschen war es, der Abhilfe schuf. Er lebte mit seiner Frau in Stockhagen, einem Gut, keine zehn Kilometer von Großscherkow entfernt. Carla von Scherkow, die Mutter der Zwillinge, war das einzige Kind. Also verwaltete er sein Gut nach wie vor selbst, nur mit der Hilfe eines Inspektors, der mittlerweile auch eingezogen worden war. Demzufolge mußte der alte Herr sehen, wie er allein über die Runden kam, während sich seine Frau um den Park und das im Schinkelschen Stil erbaute Schloß kümmerte. Es war so groß, daß das Ehepaar nur ein Drittel der Zimmer bewohnte. Die anderen Räume, die vor dem Krieg für Gäste, zu großen Festlichkeiten und Jagden genutzt worden waren, standen jetzt leer. Die meisten Zimmer hatten Namen, die von einer Generation zur anderen übernommen wurden. Da gab es im unteren Stock die verschiedenen Salons, nach Farben benannt, die Bibliothek, das Damen- und Herrenzimmer, das Kabinett, einen Saal, der Sibirien hieß, da er trotz Heizung im Winter eiskalt blieb, das Frühstückszimmer, das Sanktuarium, was nichts anderes als das Familienarchiv umfaßte, während die Speisekammer für Delikatessen neben dem Eßzimmer Leipziger Allerlei hieß. Im oberen Stock lagen das Tantenzimmer, das Ulanenzimmer, das Nest, der Winkel, das Apfelzimmer, das Räuberzimmer, das Dienerzimmer, das Mädchenzimmer, Carlareich, während die Räume unter dem Dach lediglich numeriert waren.

Seit Ludwig denken konnte, hatte er die Sommerferien mit Conrad bei den Großeltern in Stockhagen verbracht.

Wie in Großscherkow, kannte er auch im Schloß von Stockhagen jeden Winkel und die Namen eines jeden Zimmers. Überall durften sie sich herumtreiben, es gab keine Vorschriften und wenig Verbote. Nur zu Tisch hatten sie mit sauberen Händen zu erscheinen, mußten aufessen, was sie sich selbst auf den Teller luden, und durften nur sprechen, wenn sie etwas gefragt wurden. Wer nicht kerzengerade saß, wurde mit Blicken vom Großvater ermahnt, und wer mit dem Essen fertig war, hatte mit gefalteten Händen am Tisch zu sitzen, bis Großmutter die Tafel aufhob. Zu Hause ging es nicht ganz so streng zu, aber die Mutter, die genauso erzogen worden war, achtete auch hier auf die Tischmanieren ihrer Söhne.

Die Ferien hatten noch längst nicht begonnen, als Großvater Zöschen anrief und Ludwig ausrichten ließ, er solle am Sonnabend, gleich nach der Schule, mit dem Fahrrad nach Stockhagen kommen und übers Wochenende bleiben, es gebe etwas zu bereden.

Mit mir? fragte Ludwig die Mutter. Die hob nur die Schultern und behauptete, von nichts etwas zu wissen.

Du schläfst im Ulanenzimmer, sagte Großmutter Zöschen, als er in Stockhausen ankam.

Aber sonst wohnen wir doch immer im Nest.

Stimmt, aber jetzt bist du allein hier, und Großvater will es so. Wasch dir die Hände und komm zum Tee in den roten Salon. Großer Gott, dachte Ludwig, der rote Salon. Das war der Raum, in dem wichtige Familienangelegenheiten besprochen wurden, und ihm wurde ein bißchen flau im Magen. Erst das Ulanenzimmer und jetzt der rote Salon. Und er wusch sich sorgsamer als sonst die Hände, reinigte die Fingernägel und kämmte sich die Haare mit einem nassen Kamm.

Als Ludwig den roten Salon betrat, saßen die Großeltern schon am Tisch, auf dem der Kuchen in gleichmäßig schmalen Streifen, quer und längs ordentlich übereinandergeschichtet, stand, während die Großmutter den Tee eingoß. Ludwig begrüßte Großvater Zöschen mit einem Diener. Eine Umarmung oder ein Kuß waren in Stockhagen nicht üblich.

Setz dich, mein Junge.

Ludwig zog die Schultern hoch und wünschte sich plötzlich Conrad neben sich. Von den Wänden sahen die Ahnen des Großvaters aus dicken Goldrahmen mit fahlen Blicken auf ihn herab, steckten in Uniformen, die es längst nicht mehr gab, auf denen ein Orden neben dem anderen hing. Die Damen saßen in großen Abendroben auf seidenbezogenen Sesseln, hatten Spitzentüchlein oder Blumen in der Hand, um den Hals hochkarätige Kolliers aus Brillanten und Edelsteinen. Selten sah eine glücklich aus. Streng und wächsern blickten sie meist freudlos aus dem Bild, als wären sie Gefangene ihrer selbst. Nur über dem Kamin gab es keine Ahnen, sondern einen venezianischer Spiegel, in dem sich Ludwig jetzt sehen konnte.

Ganz klein saß er da, ein wenig geduckt und mit eingezogenem Kopf. Die dunkelrote Seidentapete schien jeden Sonnenstrahl, der sich vereinzelt durch die hohen Fenster an den Portieren vorbei ins Zimmer stahl, zu schlucken. Nicht nur das Licht war hier gedämpft, auch jedes Geräusch. Kaum daß Ludwig das leise Klirren des Porzellans hörte, wenn er seine Teetasse abstellte. Sogar die Stimmen waren merkwürdig belegt. So kam es ihm jedenfalls vor, während er auf seine Schuhe starrte, die in ihrem ungeputzten Zustand auf dem tiefroten persischen Teppich auffällig wirkten. Also zog er sie unter seinen Stuhl, was seine Haltung unnatürlich veränderte.

Was ist los mit dir? fragte der Großvater freundlich, und Ludwig antwortete leise: Nichts.

Der Tee war getrunken, der Kuchen gegessen, und Großmutter klingelte nach dem Dienstmädchen, um das Geschirr abräumen zu lassen. Der Großvater räusperte sich, reckte seinen Hals aus dem steifen Kragen, zündete sich eine Zigarre an und sagte: Hör gut zu, was ich dir zu sagen habe, hör gut zu.

Ludwig traute seinen Ohren nicht. Großvater Zöschen setzte ihn, Ludwig von Scherkow, den Sohn seiner einzigen Tochter Carla, als Erben von Stockhagen ein. So habe er es mit der Großmutter vereinbart. Conrad würde ja später Großscherkow übernehmen, und so wäre es nur recht und billig, wenn Ludwig hier ansässig würde. Selbstredend ging der Großvater davon aus, daß Ludwig später den Beruf des Landwirts erlerne.

Es entstand eine Pause, in der Ludwigs Gesicht ständig die Farbe wechselte, denn er wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich stand er auf, gab dem Großvater die Hand, verbeugte sich und flüsterte: Vielen Dank.

Darauf legte der Großvater die Zigarre in den Aschenbecher, zog seinen Enkel an sich und umarmte ihn mit großer Herzlichkeit. Das war noch nie passiert, schon gar nicht, daß Ludwig spontan seine schmalen Jungenlippen auf den faltigen Hals des alten Mannes gedrückt hätte, wobei er den Duft des Rasierwassers einsog. Dann beugte er sich artig über die Hand der Großmutter, um diese zu küssen.

Komm her Ludwig, sagte sie und legte beide Arme um seine Schultern, wir wollen, daß du wieder fröhlich wirst und nicht so unter Conrads Abwesenheit leidest. Wir dachten, wenn du jetzt weißt, daß hier alles einmal dir gehört, dann bist du abgelenkt und kannst dich ganz anders mit deinem eigenen Leben und mit deiner Zukunft, unabhängig von deinem Bruder, beschäftigen.

Die Großeltern Zöschen hatten recht. Ludwig wurde langsam wieder der alte, verlor seine Lustlosigkeit, war öfter als zuvor in Stockhagen, schlief stets im Ulanenzimmer und freundete sich mit Georg an, dem Sohn des Verwalters. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte er ihm eines Tages von seinem bevorstehenden Erbe.

Das finde ich prima, sagte Georg, dann werde ich später bei dir Verwalter, so wie jetzt mein Vater Verwalter bei deinem Großvater ist. Von da an schmiedeten die beiden Pläne, was sie alles in Stockhagen verändern und besser machen würden als die Erwachsenen.

Als Conrad nun aus der Schweiz nach Hause kam, erfuhr er von den Zukunftsplänen seines Bruders erst einmal nichts. Auch die Erwachsenen redeten nicht darüber. Wenn die Zwillinge wieder gemeinsam in Stockhagen übernachteten, wurden sie wie früher im Nest einquartiert.

Und warum schlafe ich nicht wie sonst im Ulanenzimmer?

Weil dein Bruder wieder da ist, war die Antwort.

Das wurmte Ludwig. Bisher hatte er Conrad verschwiegen, was der Großvater ihm mitgeteilt hatte. Er wollte die richtige Gelegenheit abwarten, um dem Bruder die Drohung heimzuzahlen, daß der ihn später, wenn ihm Großscherkow gehöre, rausschmeißen könne.

Es kam aber anders, und das lag an Georg, der sich, ohne sich etwas dabei zu denken, verplapperte. Zu dritt hatten sie im hinteren Teil des Parks gespielt und an einer Brücke gebaut, die vom Ufer zu der kleinen Insel im Teich führen sollte, die sie bisher nur im Winter bei Frost betreten konnten und wo sie stets Spuren im Schnee fanden, nach denen sie jetzt im Sommer fahndeten. Füchse, hatte Conrad gesagt, wurde aber von Ludwig und Georg ausgelacht. Als wenn Füchse freiwillig schwimmen würden. Karnickel, hatte Ludwig gemeint, die brauchen nicht an Land, die finden auf der Insel genug zu fressen, während Georg sich für Krähen entschied, die sich nur zu gern hüpfend fortbewegten. Aus der Meinungsverschiedenheit war ein handfester Krach geworden. Längst ging es nicht mehr um Füchse, Karnickel oder Krähen, es ging um die künstliche, absolut unsinnige Insel im Teich, die irgendein Besitzer von Stockhagen hatte aufschütten lassen. Conrad war für die Insel, weil er sie geheimnisvoll fand, Ludwig dagegen, und Georg schloß sich der Meinung des Freundes an. Zwei gegen einen, daran war Conrad nicht gewöhnt. Er reagierte überreizt und schrie Georg an, er solle sich nicht in einen Streit zwischen ihm und Ludwig einmischen. Zudem habe er sowieso nichts zu sagen.

Du auch nicht, sagte Georg und grinste unverschämt, schließlich erbt Ludwig hier alles, und ich werde sein Verwalter. Conrad starrte Ludwig an, der schweigend die Schultern hob, was das eine wie das andere bedeuten konnte.

Erst abends, nachdem sie das Licht gelöscht hatten, fragte Conrad in die Dunkelheit hinein, ob es denn der Wahrheit entspräche, was Georg im Park gesagt habe. Um Zeit zu gewinnen, wollte Ludwig wissen, was Conrad meine.

Na, daß du mal Stockhagen bekommst.

Ja, antwortete Ludwig schließlich, die Großeltern wollen das so, weil du ja Großscherkow erbst und ich nicht leer ausgehen soll.

Und warum weiß das Georg eher als ich? Ist der jetzt dein Bruder? Conrads Stimme war ganz dünn geworden. Tränen saßen ihm hinter den Lidern, und er mußte ein paarmal schlucken.

Quatsch, antwortete Ludwig und fuhr ebenso altklug wie herablassend fort: Der wird mal mein Verwalter.

Deswegen schenkst du ihm mehr Vertrauen als mir?

Du warst ja nicht da.

So? schrie Conrad unerwartet, ich war nicht da? Seit Wochen bin ich zu Hause. Wenn du ehrlich wärst, hättest du mir das längst erzählt. Aber das bist du ja nicht. Wahrscheinlich wärst du froh, wenn ich in der Schweiz verreckt wäre, damit dir später auch noch Großscherkow gehört.

Ludwig knipste das Licht an und sah, daß Conrad sich anzog. Wo willst du denn mitten in der Nacht hin? fragte er, und Conrad sagte: Nach Hause.

Er ließ sich durch nichts überreden, wieder ins Bett zu gehen. Weder Ludwigs Bitten noch seine Entschuldigung nützten etwas. Auch die Frage, was Ludwig denn am nächsten Morgen den Großeltern sagen solle, hatte keinen Erfolg. Conrad erklärte Ludwig für einen Verräter, mit dem er nichts mehr zu tun haben wolle, und der Bruder möge doch gleich und für immer in Stockhagen einziehen.

Jetzt war es Ludwig, der wütend wurde.

Ich wollte mit allem warten, bis du mir mal wieder drohst, mich später rauszuschmeißen, wenn dir Großscherkow gehört. Aber dazu wird es jetzt nicht mehr kommen. Ich habe sowieso das bessere Los gezogen, denn das Gut Stockhagen ist größer und das Schloß viel schöner und …

Die letzten Worte blieben unausgesprochen, Conrad hatte längst das Zimmer verlassen. Er schlich die Treppe hinunter. Um niemanden zu wecken, benutzte er den Hinterausgang, wo auch die Fahrräder standen. Wenn ihn jemand erwischte, würde es Ärger geben, denn seit er aus der Schweiz zurückgekommen war, hatte man ihm streng verboten, eine so lange Strecke mit dem Rad zu fahren, noch dazu nachts. Aber das war ihm egal. Er kämpfte mit einem anderen Schmerz, mit dem Schmerz des Verlustes, den er mit seinen nunmehr fast zwölf Jahren nur zu gut kannte. Ludwig hatte ihn verraten, vertraute Georg mehr als ihm, und er hielt von Stockhagen mehr als von dem gemeinsamen Elternhaus in Großscherkow. Ab jetzt, das wußte Conrad plötzlich genau, ab jetzt war er ganz allein auf sich gestellt.

Achtundvierzig Jahre waren vergangen, als Conrad glaubte, das Schicksal würde sich für ihn noch einmal wenden. Inzwischen lebte er längst, von Paula, seiner Frau, verlassen, allein in Hannover in einer Dreizimmerwohnung. Sein Sohn Carl war nach Vancouver gegangen, wo er in der Transportabteilung eines großen Holzunternehmens seine Karriere zu begründen hoffte.

Conrad, der als junger Mann in dem festen Glauben, eines Tages nach Großscherkow zurückzukehren, Landwirtschaft gelernt und studiert hatte, war zunächst Verwalter und dann Direktor eines großen Betriebs in Niedersachsen geworden. In den achtziger Jahren versuchte er, sich selbständig zu machen, was aber, wie er sagte, durch äußere Umstände mißlang. Seitdem schlug er sich recht und schlecht als landwirtschaftlicher Berater durch, sanierte das eine oder andere Gut, stellte den Betrieb von Tier- auf Pflanzenproduktion um oder umgekehrt, ganz so, wie es Boden und Umfeld oder die Nähe zu einer Stadt verlangten. Das war nicht immer leicht, und je älter er wurde, desto mehr sehnte er sich nach Ruhe und Zurückgezogenheit.

Das änderte sich in jenen Wochen, als bekannt wurde, daß Tausende Bürger der DDR ihr Land über Ungarn und Prag verließen, um nach Westdeutschland zu kommen. Danach folgten die Demonstrationen, die Conrad atemlos am Fernseher verfolgte. Woche um Woche verging, und die Unruhen nahmen nicht ab, sondern zu. Das ganze Volk der DDR schien auf den Beinen zu sein, protestierte gegen die Führungsriege und forderte Reisefreiheit, freie Wahlen und die Zulassung des neuen Forums. Die Demonstranten riefen: Wir sind das Volk, und: Wir bleiben hier. Mit jedem Tag, an dem die Proteste sich steigerten, wuchs in Conrad die Hoffnung, die DDR würde zusammenbrechen und er könnte wieder nach Hause. Der Traum von einer Heimkehr schwappte von der Nacht in den Tag und vom Tag in die Nacht. Stets sah er das Schloß von Großscherkow aus der Sicht seiner Kindheit vor sich. Den Zustand, in dem er es bei einem Besuch in den siebziger Jahren sehen mußte, hatte er verdrängt. Von niemandem bemerkt, war er im Ort seiner Geburt gewesen, hatte mit Entsetzen die Verschandelung der Vorderfront wahrgenommen und von einer alten Frau erfahren, daß sich jetzt ein Schulungszentrum der Zivilverteidigung in seinem Elternhaus befand. Nur von der Rückseite sah es noch aus wie früher. In dem verwilderten Park grasten auf der einen Seite ein paar angepflockte Ziegen, während auf der anderen Seite eine Art Kinderspielplatz zu erkennen war. Conrad hatte sich ein paar Minuten in der Nähe des Schlosses aufgehalten und war so schnell wie möglich, mit Tränen in den Augen, wieder zurück in den Westen gefahren. Seither war er nie wieder in Großscherkow gewesen. Monate brauchte er, um den Anblick seines heruntergekommenen Elternhauses zu vergessen, und wenn er Pech hatte, stülpte sich über diesen elenden Anblick auch noch der Tag, an dem er mit Ludwig von der Mutter zu Verwandten in die Lüneburger Heide geschickt worden war.

Sie hatten sich mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Sie wollten um jeden Preis eingezogen werden, zur Flak gehen oder auch zum Volkssturm. Sie wollten Helden werden und ihr Vaterland verteidigen, aber sich nicht heimlich davonmachen.

Was ist mit den Großeltern, wollte Ludwig wissen und bekam zur Antwort, daß die sich auch schon nach Westen aufgemacht und Stockhagen verlassen hätten. Und weil die Mutter ihren Söhnen mißtraute, selbst aber bis zum letzten Moment in Großscherkow ausharren wollte, bat sie den Kutscher, der an der Front einen Arm verloren hatte, für Geld und gute Worte ihre Söhne sicher in den Westen zu bringen. Vor dem hatten sie Respekt, noch mehr vor seiner Kriegsversehrtheit und der Geschichte, wie sich der Verlust seines Armes zugetragen hatte. Der Kutscher konnte von der Front erzählen, daß es Ludwig und Conrad kalt den Rücken runterlief und ihnen die Lust, Helden zu werden, von Kilometer zu Kilometer, die sie sich von Großscherkow entfernten, verging.

In ihren Rucksäcken befand sich neben Kleidung der eine oder andere Wertgegenstand, den ihnen die Mutter eingepackt hatte. Nur in der allergrößten Not sollten sie etwas davon in Lebensmittel umtauschen, denn Geld war in den letzten Kriegstagen schon lange nichts mehr wert. So hatte jeder ein paar zerlegte Silberleuchter im Gepäck, ein kleines Teeservice, feinziselierte Schalen und Becher, alles aus Silber, dazu einige goldene Münzen. Obwohl sie vor Hunger fast umfielen, tauschten sie nichts davon ein, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Kutscher machte sich wieder auf den Heimweg, während die Jungen bei einer Cousine der Mutter nicht weit von Uelzen auf dem Land blieben, bis die Mutter nach Monaten, ohne den Vater, der an der Ostfront gefallen war, zu ihnen stieß.

Den Abschied hat Conrad noch heute vor Augen. Das Licht, das Schloß, den Park, den Kuß der Mutter. Die Morgensonne brach sich in den Fenstern des Zwillingsstalls auf der östlichen Seite des Turms. Im Park leuchteten blau, weiß und gelb die ersten Frühlingsblumen und bildeten ein wildes Muster im saftigen Grün des Rasens. Alles schien friedlich wie immer. Nur ein dumpfes, weit entferntes Grollen der eigenen oder feindlichen Artillerie erinnerte daran, daß der Krieg täglich näher kam. Am Parkende, wo die Stallungen begannen, klapperten die Störche im frisch restaurierten Nest und kümmerten sich weder um Krieg noch um Frieden.

Sie werden krepieren, hatte Conrad gesagt, und Ludwig hatte mit einer merkwürdig fremden Stimme geantwortet: Nicht nur die.

Dann waren sie losgezogen, und keiner von beiden hatte zurückgeschaut.

Am 9. November 1989 war er da, der Tag der Maueröffnung. Kein Mensch hatte daran geglaubt. Bei einer Pressekonferenz teilte das Politbüromitglied Günter Schabowski mit, daß ab sofort eine neue Ausreiseregelung für DDR-Bürger gelte. Alle, die das hörten, begriffen nur das eine: Die Grenze ist offen.

Conrad konnte es nicht fassen. Wie versteinert saß er vor dem Fernseher, sah die Menschenmassen, die zu Tausenden in Berlin über die Grenze liefen, über die Mauer stiegen, Sekt tranken, jubelten, weinten, tanzten, sich und Fremde umarmten, sich zwischen die Trabbis und Wartburgs drängten, die unter ohrenbetäubendem Gehupe, Stoßstange an Stoßstange, in den Westen der Stadt fuhren. Am Brandenburger Tor und auf dem Kurfürstendamm war kein Durchkommen mehr, dem Kommentator blieb die Stimme weg, und um ganz sicherzugehen, nicht ein Fernsehspiel vor Augen zu haben, schaltete Conrad auf einen anderen Kanal. Aber auch da erschienen die Bilder der geöffneten Grenze. Plötzlich merkte Conrad, daß auch ihm Tränen über das Gesicht liefen.

Der Jubel im Fernsehen nahm kein Ende und war auf die Dauer schwer auszuhalten. Er setzte sich in Conrads Ohren fest und ließ kein anderes Geräusch mehr zu, bis er den Ton abdrehte und die Stille ihn beruhigte. Was blieb, waren die Bilder. Auch wenn er die Augen schloß, waren sie da, nur daß jetzt die Autos eine andere Richtung einschlugen. Sie fuhren nicht mehr nach Westberlin, sie fuhren nach Großscherkow und nahmen ihn mit. Und eh er es sich versah, war er über Nauen, Bückwitz, Kyritz, Richtung Perleberg auf dem Weg nach Hause. Er sah die Orte und Landschaften, wie sie an ihm vorbeiflogen. Es gab kein Halten und schon gar nicht die Frage, was denn hier mit ihm passierte. Das Blut pulste in seinen Adern, sein Herz schlug nicht, sondern es flatterte in seinem Brustkorb. In keinem Fall war er bereit, die Augen zu öffnen. Schon bog er in die breite Dorfstraße von Großscherkow ein. Jedes der roten Backsteinhäuser war ihm vertraut, davor teppichgroße Rasenstücke, wie zum Lüften ausgelegt, in denen die gestutzten Weiden, die schon in seiner Kindheit zur Herbstzeit beschnitten wurden, wie amputierte Gliedmaßen standen. Warum das so war, hatte er vergessen.

Gleich würde er das Schloß erreichen, dessen Fassade so abscheulich verstümmelt war. Würde der Wagen halten? Würde er aussteigen? Wo überhaupt waren die Menschen, die sich eben noch jubelnd in den Armen gelegen hatten? Hier waren sie jedenfalls nicht. Nicht eine Menschenseele war zu sehen, keine Katze, kein Huhn und kein Hund. Die Fenster der Häuser waren blind und ließen keinen Durchblick zu. Die Dorfstraße endete am Friedhof, führte direkt drauf zu und teilte sich dann nach rechts und links in unbefestigte Sandwege, die in die Felder führten. Was sollte er auf dem Friedhof? Der Wagen kippte ihn wie einen Sack Kartoffeln aus, und er rutschte zwischen die Grabsteine, die zum Teil vermoost und schief über eingefallenen, Gräbern standen. Conrad glaubte rücklings auf einem der Grabhügel zu liegen. Die Blätter des Efeus kitzelten seinen Nacken, Sand drückte sich unter seine Fingernägel, und über ihm schien eine Sonne so hell, wie es im November nicht sein kann. Uberhaupt drang normalerweise keine Sonne hier hinein. Zu viele Bäume, auch wenn sie keine Blätter trugen. Hier stimmte hinten und vorne nichts. Conrad war einem Traum aufgesessen und verlor langsam sein eben gewonnenes Heimatgefühl.

Das merkte er allerdings erst, als ihn das Klingeln des Telefons in die Realität zurückholte. Er nahm den Hörer ab, und bevor er seinen Namen sagen konnte, hörte er die Stimme seines Bruders tief und sonor an seinem Ohr: Setz dich in den nächsten Zug und komm nach Berlin.

Warum nach Berlin?

Weil wir von da im Augenblick ohne Umstände über die Grenze kommen. Ich fahre mit dem Auto und wohne wie immer im Savoy. Dort erwarte ich dich.

Wann fährst du los?

Jetzt, sagte Ludwig und legte auf, bevor Conrad auch nur mit einem Wort antworten konnte.

Ludwig hatte die Nachricht von der Öffnung der Grenze auf dem Heimweg von der Firma nach Hause im Autoradio gehört. Im Gegensatz zu Conrad kamen ihm nicht die Tränen. Er hielt auch nicht an, um konzentrierter zuzuhören, was da gesagt wurde. Auch fuhr er nicht langsamer. Gerade mal, daß er die Augen zusammenkniff und leise durch die Zähne pfiff. Dabei nickte er mehrmals, und danach zogen sich seine Mundwinkel tief hinunter, als habe er etwas erfahren, mit dem wahrhaftig nicht mehr zu rechnen gewesen war.

Ludwig hatte nicht Landwirtschaft gelernt, wie einst dem Großvater versprochen, sondern war kaufmännischer Betriebswirt geworden. Mit Landwirtschaft, hatte er nach Kriegsende ein wenig verächtlich zu Conrad gesagt, mit Landwirtschaft kann unsereins keinen Blumentopf mehr gewinnen. Die Zeiten sind, weiß Gott, vorbei.

Du glaubst nicht, daß wir eines Tages wieder nach Hause können? hatte Conrad verwundert gefragt.

Nein, war Ludwigs Antwort gewesen, im Gegensatz zu dir bin ich Realist.

Das Leben der Brüder war so unterschiedlich verlaufen, wie ihre Charaktere unterschiedlich waren. Ludwig war nach dem Studium ins Ausland gegangen, hatte anfangs einige Zeit in einem Schweizer Pharmazieunternehmen gearbeitet, war dann nach England gezogen und von dort in die Staaten. Nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm er eine leitende Position in einer deutschen Firma, wurde dann Direktor und später Vorstandsvorsitzender eines großen Pharmazieunternehmens in der Nähe von Hamburg. Eine Karriere also, wie sie besser nicht sein konnte.

Während dieser Laufbahn hatte er Katrin kennengelernt, die aus einer alten Hamburger Bankiersfamilie stammte. Sie hatte zwar ein Diplom als Übersetzerin, sprach fließend Englisch, Französisch und Italienisch, aber sie übte ihren Beruf nicht im herkömmlichen Sinn aus. Es war ihr nicht recht gelungen, mit dieser Ausbildung einer geregelten Arbeit nachzugehen. Sie dolmetschte auf Grund der Beziehungen ihres Vaters zwar auf Kongressen, bei Kulturveranstaltungen, manchmal auch bei politischen Empfängen oder Wirtschaftstreffen, aber zu einer dauerhaften Beschäftigung hatte sie sich nie entschließen können. Ludwig verliebte sich in ihre unbeschwerte Lebenslust und Sorglosigkeit. Ihre Unbekümmertheit war umwerfend. Hinzu kam, daß sie nicht nur hübsch und elegant war, sondern auch selbstbewußt. Sie war gern unter Menschen, unterhaltsam und, wie Ludwig von ihren Freunden hörte, zuverlässig und hilfsbereit.

Rundum eine Frau, die seiner Meinung nach nicht nur zu ihm paßte, sondern auch zu dem gesellschaftlichen Image, das er anstrebte. Sie heirateten, nachdem er eine Villa an der Alster mit einem kleinen Park gefunden hatte, und sie wurde bald eine vorbildliche und von allen geschätzte Gastgeberin. Das änderte sich auch nicht, als sie einen Sohn bekamen, den Ludwig nach seinem Großvater Moritz nannte. Wer auf die Idee kam, ihn zu fragen, ob er glücklich sei, bekam zur Antwort, ob man das denn nicht sähe, und Katrin gab eine ähnliche Auskunft. Ludwig selbst fragte sich das nie.

Seit er als fünfzehnjähriger Junge sein Zuhause verlassen mußte, hatte er sich angewöhnt, nur nach vorn zu sehen. Er schwieg meistens, wenn die Mutter oder Conrad Geschichten von Großscherkow oder Stockhagen erzählten, und behauptete, kein Heimweh zu kennen. Er hielt seinen Bruder für sentimental, als der sich entschloß, ohne einen Hektar Land zu besitzen, Landwirtschaft zu lernen. Niemand konnte sich sein seltsames Verhalten erklären, und Ludwig hätte sich eher die Zunge abgebissen, als den Grund dafür anzugeben. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er es sogar geschafft, selbst nicht mehr an die letzte Nacht vor der Abreise zu denken.

Die Mutter hatte sie damals früh in die Betten geschickt, und Conrad hatte schon geschlafen, jedenfalls rührte er sich nicht unter seiner Decke, als Ludwig leise aufstand und sich anzog. Diesmal war er es, der sich nachts, von allen unbemerkt, auf den Weg machte und von Großscherkow mit dem Fahrrad nach Stockhagen fuhr. Mondlicht ließ ihn den Weg erkennen. Er fuhr ohne Licht, dem Grollen des Artilleriefeuers entgegen, gönnte sich keine Pause und drückte aufs Tempo. In seinem Kopf hatte nur ein Gedanke Platz: Den Russen durfte Stockhagen nicht in die Hände fallen. Nicht das Schloß, nicht die Salons, das Silber, die Bilder der Ahnen, nicht Sibirien, die Bibliothek, das Herren- und Damenzimmer und schon gar nicht das Sanktuarium mit dem Archiv der Familie. Er, Ludwig, würde dafür Sorgen, daß nie ein Russe im Ulanenzimmer schlafen könnte oder überhaupt das Schloß, das einmal ihm gehören sollte, betrat. Feuer wollte er legen, alles verbrennen, um nichts, einfach gar nichts zurückzulassen. Denn wenn der Großvater Stockhagen den Rücken gekehrt hatte, war alles aus und nichts mehr zu machen.

Im Leipziger Allerlei, also in der Vorratskammer für Delikatessen, stand ganz hinten unterm Regal eine Flasche Spiritus. Wozu die gebraucht wurde, wußte Ludwig nicht. Aber er wußte, daß Spiritus lichterloh brannte. Er würde alle Putzlappen damit tränken und sie in den verschiedenen Salons verteilen und anzünden. Abwarten würde er, bis die Vorhänge, Teppiche und Möbel Feuer gefangen hätten, und sich dann davonmachen, um im gleichen Tempo zurück nach Hause zu fahren und sich dort wieder in sein Bett zu legen.

Sonst dachte Ludwig nichts, denn er kannte kein anderes Ziel und auch keine Skrupel. Er war nur darauf aus, zu erledigen, was jetzt seiner Meinung nach erledigt werden mußte. Obwohl er die Abkürzung über die Felder und durch den Wald gefahren war, um keinem Flüchtlingstreck aus dem Osten des Landes zu begegnen, brauchte es seine Zeit, bis er Stockhagen erreichte. Mitternacht war längst vorbei. In die sonst gewohnte Stille krachte in regelmäßigen Abständen das Feuer der näher rückenden Front.

Ins Schloß zu kommen war keine Schwierigkeit. Jemand hatte vergessen, ein Kellerfenster zu schließen. Er tappte sich mit seiner Taschenlampe nach oben bis ins Leipziger Allerlei. Die Spiritusflasche stand da, wo sie hingehörte, die Putzlappen lagen ordentlich zusammengelegt in einem Schrank. Er breitete sie aus und goß in einzelnen Schüben die Flüssigkeit darüber. Dann legte er sie aus. Der Geruch des Brennspiritus zog bereits in dünnen Schwaden von einem Raum in den anderen, als sich Ludwig dem roten Salon zuwandte. Nirgendwo hatte er Licht gemacht, sondern sich im Kegel seiner Taschenlampe vorangetastet. Feuer wollte er erst legen, wenn er die Lappen überall ausgebreitet hatte, um dann so schnell wie möglich weglaufen zu können.

Als er den roten Salon betrat, nahm er ein Geräusch wahr, etwas Fremdes, was Ludwig nicht einordnen konnte und was ihm angst machte. Einerseits war es ein Atmen, andrerseits ein Rascheln oder, besser gesagt, ein Kratzen. Hier war jemand. Die Russen konnten es noch nicht sein. Vielleicht Einbrecher, Diebe, die die Gunst der Stunde nutzten. Ludwig ließ den Kegel der Taschenlampe durch den Raum gleiten, tastete Ecke für Ecke ab und leuchtete hinter Möbel und unter den Tisch. Da sah er die Füße des Großvaters. Es waren seine Schuhe, die im Licht der Taschenlampe glänzten, als wären sie gerade geputzt worden. Und gegenüber die Schuhe der Großmutter, klein, schwarz, mit Absatz. Der Lichtkegel fuhr hoch und erfaßte das starre Gesicht, die blinzelnden Augen, die die Hand jetzt schützte.

Wer ist da?

Ich bin es, Ludwig.

Mach das Licht an, sagte der Großvater, und seine Stimme klang so herrisch wie immer. Im Licht des Kronleuchters saßen die beiden Alten wie sonst auch im roten Salon auf ihren angestammten Plätzen, wenn es darum ging, Familienangelegenheiten zu regeln. Ludwig wußte nicht recht, wohin mit seinen von Brennspiritus triefenden Lappen, deren Gestank dem Großvater unangenehm in die Nase stieg.

Was soll das, fauchte er den Enkel an, willst du vielleicht das Haus anzünden?

Ludwig ließ die Lappen fallen und sagte: Ja.

Die Großmutter legte beide Hände auf den Mund, als müsse sie den Schrei festhalten, der ihr aus der Kehle stieg.

Mama glaubt, ihr seid schon weg, sagte Ludwig mit dem Mut der Verzweiflung, da bin ich hergefahren, weil ich nicht will, daß die Russen das alles hier kriegen.

Wie du siehst, sind wir noch hier, und wir haben auch nicht vor wegzugehen.

Aber Mama …

Ich weiß, sie glaubt, wir sind fort, und das soll sie auch glauben. Also kein Wort davon, daß du uns hier angetroffen hast, verstanden?

Da war kein Zittern in der Stimme, keine Angst und schon gar keine Ratlosigkeit. Der Großvater schien sehr genau zu wissen, was er wollte. Eigentlich war alles wie immer, wenn nur nicht die von Ludwig so sorgsam verteilten Lappen derart penetrant nach Brennspiritus gestunken hätten. Ludwig erfüllte grenzenlose Scham über das, was er vorgehabt hatte. Und plötzlich warf er den Spirituslappen hinter sich in den Flur und setzte sich ohne Aufforderung auf einen Stuhl zwischen die Großeltern.

Kann ich nicht einfach bei euch in Stockhagen bleiben? fragte er und streckte die Hände nach den beiden Alten aus. Die sahen sich schweigend an. In den Augen der Großmutter bildeten sich Tränen, die langsam, klein und trüb über ihr Gesicht rannen. Irgendwie schien sie älter, faltiger, und ihre Nase wirkte größer als sonst. Sie trug keinen Schmuck, nur ihren Ehering. Das alles war so ungewohnt wie die Tatsache, daß beide hier nächtens im roten Salon im Dunkeln gesessen hatten. Aber daran wollte Ludwig nicht denken. Seiner Meinung nach wußte der Großvater, was er tat, was richtig war und was falsch. Bei ihm war man sicher, egal ob die Russen kamen oder nicht. Schon glaubte Ludwig, es würde klappen und die beiden würden ihm zustimmen, als der Großvater unvermittelt aufstand, den Enkel vom Stuhl zog und an sich drückte. Ludwig spürte den Bauch des Großvaters, roch den Duft der Zigarren in den Kleidern und fühlte die kühle, etwas schlaffe Haut der Wangen.

Dann schob der Großvater ihn wieder auf Armlänge von sich weg und sagte mit der gewohnt strengen Stimme: Nein, mein Junge, das geht nicht. Du setzt dich jetzt auf dein Fahrrad und radelst so schnell wieder nach Hause, wie du gekommen bist. Morgen wirst du, wie es deine Mutter wünscht, mit deinem Bruder in die Lüneburger Heide fahren. Und kein Wort darüber, daß du uns hier angetroffen hast, verstanden?

Und warum kommt ihr nicht mit?

Einer muß doch dafür sorgen, daß nicht alles drüber und drunter geht. Und jetzt los, nimm die verfluchten Lappen mit, und mach das Licht wieder aus.

Den Ton kannte Ludwig, der duldete keinen Widerspruch. Da nützten weder die Tränen der Großmutter etwas noch die eigenen. Ludwig schlich zur Tür und löschte wie befohlen das Licht. Großvater und Großmutter wurden von der Dunkelheit verschluckt, als seien sie in ein schwarzes Loch gefallen. Ohne die Tür zu schließen, sammelte er jetzt mit Hilfe der Taschenlampe die zum Brand vorbereiteten Putzlumpen auf und warf sie hinterm Schloß in die Sträucher.

Als er in Großscherkow ankam und leise ins Bett kroch, wurde es bereits hell, und die ersten Stare begannen in den Bäumen des Parks ihr Morgenkonzert.

Die Erinnerung war blitzartig aufgetaucht, so daß Ludwig noch eine Weile im Wagen sitzen blieb und an die Großeltern denken mußte. Er hatte beide nicht wiedergesehen. Als die Russen kamen und das Schloß besetzten, hatte man den Baron mit seiner Frau erst aus dem Schloß gejagt, ihnen aber dann erlaubt, im Keller zu wohnen. Das hatte die Großmutter nicht lange ausgehalten, und sie war schon Ende des folgenden Jahres an einer Lungenentzündung gestorben. Ein weiteres Jahr später wurde der Großvater entsprechend einem Gesetz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland des Landes verwiesen. Den Erzählungen nach hatte der Großvater daraufhin sein ihm verbliebenes Hab und Gut auf einen Handkarren gepackt und damit Stockhagen zu Fuß verlassen. Weit soll er nicht gekommen sein. Es hieß, er habe es nicht einmal bis zur Elbe geschafft. Man habe ihn überfallen, ihm weggenommen, was er auf seinem Karren hatte und ihm über den Kopf geschlagen, bis er ohnmächtig liegenblieb. Als er gefunden wurde, soll er zwar noch am Leben gewesen sein, aber zur Besinnung sei er bis zu seinem Tode nicht mehr gekommen. Das alles hatte die Mutter Monate später durch den Suchdienst des Roten Kreuzes erfahren.

Auch das war ein Grund, warum Ludwig in all den Jahren im Gegensatz zu Conrad weder Großscherkow noch Stockhagen auch nur einen Besuch abstattete. Er wollte nie etwas mit der DDR, dem Bruderstaat der Sowjetunion, zu tun haben, dem Staat, der ihm seine Heimat, seine Großeltern und sein Erbe genommen hatte.

Als Katrin Ludwigs Wagen an diesem Abend erst spät in die Garage fahren hörte, stand sie auf und ging in die Küche, um ein Abendbrot vorzubereiten. Das hatte sich zwischen ihnen so eingespielt, weil Ludwig zu keiner geregelten Zeit nach Hause kam. Katrin kannte jedes Geräusch. Das Klappen der Wagentür, das Schließen des Garagentors, das Öffnen der Haustür, das Klirren des Schlüsselbunds auf dem Garderobentisch und Ludwigs Schritte bis zu ihr in die Küche. Der Abschluß all dessen, was sie hörte, war stets der Kuß, den sie im Nacken spürte, und Ludwigs sonore Stimme mit den Worten: Da bin ich.