Buchcover

Anny von Panhuys

Der Lebensretter

Roman

Saga

1.

„Vati, die Perlenkette musst du mir schenken, ich brauche sie unbedingt am Sonntag für Gretel von Grunows Kostümfest. Ich habe schon allen erzählt, dass ich sie bekommen werde, doch keine meiner Freundinnen will es glauben.“ Das junge Mädchen lachte übermütig. „Die Mädels werden Augen machen, wenn ich mit der herrlichen Kette antrete.“

Franz Wolfram machte eine fast verlegene Handbewegung.

„Die Kette kostet viel zuviel Geld“, wandte er ein. „Ich kann dir die Perlen nicht kaufen. Du besitzt ja auch schon Schmuck genug.“

Liselotte, die einzige Tochter Wolframs, war als Kind immer zart und kränklich gewesen, deshalb hatte er sie masslos verwöhnt, und sie hielt es längst für selbstverständlich, dass ihre Wünsche erfüllt wurden.

Nun betrachtete sie ihren Vater mit einem kleinen belustigten Lächeln, das ihr zwei Grübchen in die vollen rosigen Wangen zauberte. Sie drückte ihre glänzend polierten Nägel leicht in das helle Leder des Klubsessels, in dem sie sass, und antwortete ruhig:

„Du bist ja doch reich, Vati, und verdienst immer noch neues Geld dazu. Was bedeuten da für dich ein paar tausend Mark, wenn es sich um etwas handelt, was ich gern haben möchte. Bitte, schenk mir die Kette. Ich war schon bei Heller im Geschäft und habe sie probiert und ihm in sichere Aussicht gestellt, du kämest bald, sie für mich zu kaufen.“

Franz Wolfram hatte schon öfter festgestellt, dass Liselottes Wünsche in letzter Zeit immer ungewöhnlicher und kostspieliger geworden waren, und seine Schwester Ria, die in seinen Augen eine der klügsten und vernünftigsten Frauen war, die es gab, hatte erst gestern wieder zu ihm gesagt: „Wenn du bei Liselotte nicht bald bremst, verlangt sie nächstens noch Mond und Sterne von dir. Du solltest ihr einmal einen ihrer grossartigen Wünsche versagen. Sie muss doch endlich begreifen lernen, dass es auch unerfüllte Wünsche gibt, denn sie entwickelt sich sonst zu einer regelrechten Tyrannin.“

Er hatte darauf erwidert: „Ich kann Liselotte keinen Wunsch abschlagen. Sie ist das Ebenbild ihrer zu früh verstorbenen Mutter, und du weisst, wie sehr ich die geliebt habe.“

Ria hatte ihm freundlich zugenickt: „Ich weiss, Franz, doch du verdirbst das Mädchen durch deine Nachgiebigkeit. Du machst Liselotte lebensuntüchtig und egoistisch. Es ist ein sehr guter Kern in ihr, aber sie sollte endlich dahinterkommen, dass sie nicht der Mittelpunkt der sonderlichen Welt ist, um den sich alles dreht. Ihre zu leidenschaftlichen Wünsche musst du ihr versagen. Glaube mir, die kleine scheinbare Härte wird zu ihrem Besten sein.“

An diese Worte seiner Schwester hatte Wolfram gedacht, als Liselotte jetzt von ihm verlangte, er solle ihr bei Juwelier Heller eine teure Perlenkette kaufen, nur weil sie vor ihren Freundinnen geprahlt hatte, sie würde diesen Schmuck von ihrem Vater erhalten. Also erklärte er sehr ernst:

„Du hast Schmuck genügend, Liselotte – ich habe dir bereits den ganzen hinterlassenen Schmuck deiner Mutter geschenkt, und ich sehe keinen Grund, dir in diesen schweren Zeiten, da so viele Menschen Not leiden, noch ein so kostbares Stück zu kaufen, nur weil du dich vor deinen Freundinnen aufspielen willst, um mich deutlich auszudrücken.“

Die hellbraunen Augen Liselottes hatten sich verdunkelt, und das Lächeln war von dem feinen eigenwilligen Gesicht wie fortgeweht.

„Ist das dein voller Ernst, Vati?“ fragte sie, und in ihrer Stimme war ein heiserer Beiklang.

Wolfram hatte sich jedoch vorgenommen, diesmal stark zu bleiben, wenn es ihm auch schwer wurde, seinem über alles geliebten Töchterchen etwas abzuschlagen.

„Jawohl, es ist mein voller Ernst!“ Es wirkte sogar sehr energisch, als er hinzusetzte: „Es fällt mir nicht ein, diese überflüssige Laune von dir zu befriedigen. Du bist noch nicht einmal neunzehn Jahre und brauchst keine Perlen, die ein kleines Vermögen kosten.“

„Unter Mutters Schmuck besinden sich keine Perlen“, erklärte Liselotte, „ich aber liebe Perlen so sehr.“

Wolfram blieb ungerührt.

„Wenn du älter sein wirst, können wir uns vielleicht noch einmal über dieses Thema unterhalten.“ Er erhob sich von seinem Platze am Schreibtisch. „Mein liebes Kind, die Perlen kannst du jetzt nicht kriegen, also finde dich damit für die nächsten Jahre ab. Und nun habe ich keine Zeit mehr, ich werde im Kontor erwartet.“

Liselottes Gesicht wurde sehr bleich.

„Dann, Vati, tue ich irgend etwas ganz Verzweifeltes. Ich laufe fort von hier, weit fort und du siehst mich niemals wieder. Ich will und darf mich nicht verspotten lassen von meinen Freundinnen, und Juwelier Heller soll mich für keine Aufschneiderin halten. Ich habe doch zu ihm gesagt, dass du mir die Kette bestimmt kaufen wirst.“

Franz Wolfram war wirklich ärgerlich.

„Wegen Eitelkeitströdel begeht man keine solchen Torheiten, und du denkst auch gar nicht daran, aber du sollst dich schämen, mir damit zu drohen!“

Er ging aus dem Zimmer und liess die Türe energisch hinter sich ins Schloss fallen.

Da stand nun Liselotte Wolfram, und ihr war zumute, als hätte der Vater, der bisher immer mehr als gut zu ihr gewesen, sie ganz unsäglich schwer beleidigt. Wie hatte er gesagt? „Wegen Eitelkeitströdel begeht man keine solche Torheiten, und du denkst auch gar nicht daran, aber du solltest dich schämen, mir damit zu drohen.“

Ein Würgen sass ihr in der Kehle, und sie hatte nur den einen Gedanken, dem Vater zu beweisen, dass sie es ernst gemeint und dass es sich um keine leere Drohung gehandelt hatte. Sie war ein Mensch, der, von einer fixen Idee beherrscht, sich taub und blind dieser Wahnvorstellung unterordnet.

Tränen verdunkelten ihren Blick, sie fühlte sich grenzenlos missverstanden und erniedrigt.

Niemals war ihr Vater so zu ihr gewesen wie heute. Niemals!

Sie trat an das Fenster, und ein paar Tränen drängten sich aus ihren Augen. Sie kam sich so unglücklich vor und stand der Tatsache, dass ihr der Vater eine Bitte abschlagen konnte, völlig fassungslos gegenüber.

Sie wurde aus ihrem Nachsinnen gerissen, weil sich die Tür öffnete. Franz Wolframs Schwester Ria trat ein. Sie war seit langem Witwe und führte ihrem ebenfalls verwitweten Bruder den Haushalt. Sie war wie ihr Bruder gross und breit, hatte gerade, etwas grobe Züge, und ihr Haar war, wie das des Bruders, leicht ergraut.

Liselotte hatte sich umgewandt und blickte der Eintretenden ein wenig feindselig entgegen. Sie ahnte, von welcher Seite der Vater zu seiner Weigerung bestimmt worden war.

Ria Mönkeberg lachte vergnügt: „Na, Mädelchen, was tust du denn hier so allein im Arbeitszimmer deines Vaters? Und du siehst ja aus, als wären dir alle Felle weggeschwommen.“

Sie wusste genau, was los war. Der Bruder hatte sie, bevor er in seine Fabrik gefahren war, noch schnell von Liselottes Wunsch unterrichtet und hinzugefügt, dass er ihre Bitte glatt abgeschlagen hätte.

Liselotte erzählte der Tante das Vorgefallene.

Diese nickte. „Sehr vernünftig von deinem Vater, dass er so gehandelt hat. Du bist noch viel zu jung für so etwas wie echte Perlen. Und vor deinen Freundinnen, dem jungen Gemüse, brauchst du dich nicht zu genieren; Juwelier Heller fasst es bestimmt nicht ernst und bindend auf, wenn ein minderjähriges Mädchen ein paar Worte hinredet, als wenn es über die väterliche Börse und den väterlichen Willen frei verfügen dürfte. Darum brauchst du dich nicht so anzustellen, Liselotte! Soviel ich weiss, musst du jetzt in deine Gymnastikstunde. Also beeile dich und mach ein vergnügtes Gesicht.“

Das Mädchen aber stiess hervor: „Du hast Vati aufgestachelt, so böse zu mir zu sein, er wäre sonst gar nicht darauf verfallen, mir einen Wunsch abzuschlagen!“

„Möglich, mein Mäuschen, dass mein Einfluss ein bisschen dazu beigetragen hat, aus ihm einen etwas vernünftigeren Vater zu machen, als er bisher gewesen ist. Gut wäre es jedenfalls für ihn und für dich.“

Liselotte hasste in diesem Augenblick die grosse breite Frau mit dem stets zum Lachen bereiten Mund.

Sie schritt zur Tür und sagt schluchzend: „Vielleicht denkst du bald anders darüber und bereust es, wenn es zu spät ist!“

Ria Mönkeberg lachte laut auf: „Dummes Mädel, rede nicht solchen Unsinn!“

Liselotte aber rief von der Tür her mit der Stimme einer grossen Tragödin: „Lebe wohl, Tante Ria, grüsse den Vater von mir und tröste ihn!“

Die Tür war längst hinter ihr zugefallen, da stand Tante Ria noch immer und starrte auf die weisse, mit goldenen Ornamenten geschmückte Tür, hinter der die Nichte verschwunden war. Mit einem leichten Seufzer liess sie sich in den helledernen Klubsessel fallen, in dem Liselotte noch kurz vorher gesessen hatte, und überlegte, was sie mit den beiden letzten Sätzen anfangen sollte.

Lange sass sie so, schwankte zwischen einer seltsamen Angst, die sie bisher noch nie empfunden und einem Lachen über das „überspannte Mädel“ hin und her. Warum sollte sie Liselottes Vater grüssen und ihn trösten? Liselotte würde ihren Vater ja in vier Stunden bei Tisch wiedersehen, man pflegte pünktlich um ein Uhr dreissig zu Mittag zu speisen ... Dummes Zeug war solche Rederei also!

Aber sie lief schliesslich dann doch zur Tür, rief auf den Flur hinaus, dass es laut durch das Haus schallte: „Liselotte!“ und noch ein paarmal, so laut sie konnte: „Liselotte!“

Das Hausmädchen kam und meldete:

„Das gnädige Fräulein ist eben fortgegangen.“

Ria Mönkeberg befahl: „Laufen Sie ihr nach, Else, und bestellen Sie ihr, sie möchte zurückkommen, ich hätte ihr noch etwas Wichtiges zu sagen.“

Das Hausmädchen eilte bereits davon, doch kehrte es nach einer Viertelstunde unverrichteterdinge wieder zurück. „Vom gnädigen Fräulein ist weit und breit keine Spur zu sehen“, meldete es.

Ria erwiderte scheinbar ruhig: „Es ist gut, Else“, aber ihr war unheimlich zumute, ihr Herz schlug laut. Liselotte war überspannt, ihr war in dem erregten Zustand, in dem sie sich befand, alles zuzutrauen.

Liselottes Tante wollte sich selbst auslachen, aber sie brachte kein Lachen auf, sann nur immer wieder den beiden seltsamen Sätzen nach, die ihre Nichte gesagt hatte, ehe sie gegangen war. Sie rief Fräulein Strecker an, bei der Liselotte Gymnastikunterricht nahm, und bat sie, sofort Nachricht zu geben, sobald Liselotte dort ankäme. Nach mehr als einer Stunde telephonierte Fräulein Strecker endlich: „Fräulein Liselotte ist heute nicht zum Unterricht erschienen.“

Da erschrak Ria Mönkeberg bis ins Innerste. Ihre Angst wuchs. Sie rief ihren Bruder an und machte keinen Hehl aus ihren Bedenken.

Franz Wolfram lachte:

„Aber Ria, du bist so ängstlich? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut! Liselotte bockt sich einfach aus und kommt dann ganz vergnügt nach Hause.“

„Gott gebe, dass du recht hast!“ erwiderte seine Schwester.

Franz Wolfram fühlte plötzlich ebenfalls eine unheimliche Beengung; es war, als lange irgend etwas Unheimliches nach ihm mit knochigen Eishänden. Er rief in die Muschel des Apparates: „Ich werde sofort nach Hause kommen, erkundige dich inzwischen bei Liselottes Freundinnen.“

2.

In einer unbeschreiblichen Stimmung hatte Liselotte Wolfram die Villa im Tiergartenviertel verlassen. Sie eilte vorwärts wie gejagt, und als ihr ein leeres Auto entgegenkam, hielt sie es an, stieg ein, nannte eine beliebige Strasse und eine beliebige Hausnummer. Als sie bereits im Wagen sass, fiel es ihr ein, in dem Haus und der Strasse hatte einmal ein Dienstmädchen von ihnen gewohnt, nachdem es sich verheiratet hatte. Nun sass Liselotte in der geschlossenen Taxe, und die Gedanken stürmten quälerisch auf sie ein. Masslos verwöhnt bisher, schien es ihr, weil ihr ein Wunsch versagt worden war, als müsse deshalb die Erde stillstehen, als wäre deshalb alle Zukunft undurchdringlich düster. Blossgestellt fühlte sie sich auch. An Juwelier Hellers Geschäft würde sie sich gar nicht mehr vorbeiwagen. Sie erinnerte sich deutlich, dass sie, als sie die Kette probierte, zu ihm gesagt hatte: „Sie dürfen, auch wenn Sie Gelegenheit dazu haben sollten, diese Perlen auf keinen Fall verkaufen, mein Vater holt sie bestimmt.“

Der alte würdige Herr Heller wusste ganz genau, wer Franz Wolfram war. Die Farbenfabrik Wolfram im Norden Berlins gehörte zu den ersten Unternehmen dieser Art. Wenn Franz Wolframs Tochter sich bei einem Juwelier zur Abnahme eines Schmuckgegenstandes verpflichtete, glaubte man ihr unbedingt.

Sie hatte dem Vater erklärt, sie würde irgend etwas Verzweifeltes tun und hatte Tante Ria schon Andeutungen gemacht. Nun musste sie einfach etwas Verzweifeltes tun! Die Freundinnen sollten sie nicht auslachen und der Juwelier sie nicht bei einer möglichen Begegnung zur Rede stellen.

Liselotte war es, als umwoge sie dichter Nebel, hinter dem etwas Schreckliches stand, das auf sie wartete. Aber sie empfand keine Angst, eher Stolz, als hätte sie eine Heldentat vor, wenn sie sich auch noch nicht klar darüber war, welcher Art sie sein würde. Sie fühlte nicht einmal im Unterbewusstsein, dass sie nur ein ganz törichtes, verantwortungsloses Geschöpf war, das einen gütigen Vater in Verzweiflung stürzen wollte. Das Auto hielt, Liselotte aber war so benommen von ihren Gedanken, dass sie ruhig sitzenblieb.

Der Chauffeur öffnete die Tür: „Wir sind da, Fräulein!“

Sie blickte ihn sekundenlang fragend an, dann aber stieg sie schnell aus, gab ihm Geld, ein Vielfaches des Betrages, den der Taxameter anzeigte, und lief davon wie eine Verfolgte.

Der Chauffeur schüttelte den Kopf, als er umkehrte.

Liselotte war aufs Geratewohl losgegangen und begann erst jetzt, während sie durch unbekannte Strassen irrte, zu überlegen, was sie überhaupt tun sollte. Es schwebte ihr vor, sie müsse ins Ausland fliehen, dort untertauchen in fremder Umgebung, unter fremden Menschen.

Sie hatte ihr ganzes erspartes Taschengeld eingesteckt, es waren etwas mehr als dreihundert Mark. Sie erinnerte sich an einen mehrwöchentlichen Sommer- und Badeaufenthalt in Aachen, und wie verhältnismässig leicht es gewesen sei, von dort aus die Grenze nach Belgien zu überschreiten. Einfach als Spaziergänger. Und war sie erst einmal jenseits der deutschen Grenze und drüben im Ausland, wollte sie nach Lüttich. Das war eine grosse und lebhafte Stadt, in der sie sicher so gut verschwinden konnte, als wäre sie nie gewesen ...

Sie musste zunächst nach Köln reisen, wenn sie ihren Plan ausführen wollte, überlegte sie. Im erstbesten Café wollte sie das Kursbuch zu Rate ziehen und feststellen, wann ein Zug nach Köln ging. Morgen vormittag spazierte sie dann schon über die Grenze. Alles andere fand sich, brauchte jetzt nicht überlegt zu werden.

Liselotte malte sich aus, dass ihr Vater und Tante Ria, die ihn aufgestachelt hatte, in dieser Nacht, in der sie nicht mehr im Hause war, kein Auge schliessen würden.

Wie würden sie ihre Hartherzigkeit bereuen!

Beinahe taten sie ihr leid.

Aber sie konnte sich nicht auslachen lassen von den Freundinnen, nicht zur Rede stellen von Juwelier Heller.

Sie verginge ja vor Scham.

Also blieb ihr kein Rückweg.

Was aus ihr würde, war ja gleich, ganz gleich ...

Liselotte befand sich jetzt, ohne recht zu wissen, wie sie hierhergekommen, mitten auf einer Brücke der Spree. Sie ging mit gesenktem Blick ihres Weges, doch plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Schreie und wildes Gejohl waren jäh hinter ihr laut geworden. Sie wandte sich erschreckt um und sah einen Trupp Menschen hinter einem Mann herjagen, und der Mann kam gerade auf sie zugerast.

„Aufhalten! Ein Wahnsinniger!“ schrie ein Chor von Stimmen, die zum Brausen anschwollen.

Liselotte war es, als riefe man es ihr zu, sie dachte nicht daran, dass auch Passanten aus der entgegengesetzten Richtung über die Brücke kamen.

Sie stand in verzweifelter Starrheit, sie konnte den Wahnsinnigen nicht aufhalten, dazu gehörten andere Kräfte als die ihren.

Und nun befand sich der Unheimliche, dem das Haar in wirren Strähnen in die Stirn hing, schon dicht vor ihr, keuchte heiser: „Aus dem Weg, Weibsbild!“

Er stiess nach ihr, und Liselotte, ohne es zu wissen, was sie tat, blind und taub vor Angst und Schreck, kletterte hastig über das Brückengeländer. Sie wollte sich von aussen festhalten, bis man den Tollgewordenen eingefangen hatte.

Da stürzte er vor, schlug ihr auf die Hände, bis sie sich von ihrem Halt lösten.

Und ehe noch jemand helfen konnte, wirbelte ein Seidenschal hoch auf wie eine Fahne, stürzte ein schlankes Mädchen hinunter in das graue Wasser.

Schreie des Entsetzens gellten auf, übertönten das Freudengeheul des Wahnsinnigen, der schon von seinen Verfolgern erreicht und festgehalten wurde. Er schien jetzt ziemlich ruhig geworden und lachte nur:

„Alle Weiber müssten so ersäuft werden!“

Ohne den geringsten Widerstand liess er sich wegführen.

Es handelte sich um einen plötzlich Erkrankten, der unweit der Brücke wohnte, und den man in eine Irrenanstalt hatte überführen wollen. In letzter Minute war er seinen Wärtern entwischt, und Liselotte war sein Opfer geworden.

Es achtete niemand mehr darauf, auf welche Weise man ihn wegbrachte, alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den schmalen Mädchenkörper, der wie ein grosses Paket auf das Wasser aufgeschlagen war.

Immer mehr Leute eilten herbei, beugten sich über das Geländer und schauten erregt den erfolglosen Schwimmbewegungen zu.

Liselottes armer Kopf brachte keinen klaren Gedanken auf, Todesangst, grässlichste Todesangst schnürte ihr die Kehle zu, mühsam würgte sie ein paar Hilfeschreie hervor. Verzweifelt bemühte sie sich, ans Ufer zu kommen, und obwohl sie schwimmen konnte, gelang ihr keine einzige richtige Bewegung.

Von der Brücke aus beobachtete man voll atemloser Spannung die ergebnislosen Bemühungen des Mädchens, das dem sicheren Tod des Ertrinkens geweiht schien. Man redete lebhaft aufeinander ein, man schalt sich gegenseitig feige, aber keiner wagte den Sprung hinunter, und es gab doch bestimmt ein paar gute Schwimmer unter den vielen Neugierigen.

Bis jetzt war auch kein Polizist erschienen.

Plötzlich drängte sich ein Mann von ungefähr dreissig Jahren durch die Menge.

„Was gibt es hier zu sehen?“ fragte er, und weil er sich inzwischen sehr energisch weit genug vorgeschoben hatte, konnte er sich gleich selbst überzeugen, was unten im Wasser vorging.

Blitzgeschwind warf er seinen Mantel ab, und im nächsten Augenblick schwang er sich über das Geländer und schoss mit kühnem Sprung in die Tiefe. Mit einigen weitausholenden Armbewegungen teilte er das Wasser, und gleich darauf hatte er die Ertrinkende erfasst und schwamm mit ihr dem Ufer zu.

Liselotte Wolfram war nahe darangewesen, die Besinnung zu verlieren, gerade im letzten Augenblick hatte sie der starke Arm des Fremden an sich gezogen. Mit seiner Last kam er eben ans Ufer, als ein Schutzmann auftauchte, der ihm nun entgegentrat.

Ein Herr hielt Liselottes Handtäschchen hoch und erklärte: „Die Handtasche hat die Ärmste verloren, es sind Visitenkarten auf ihren Namen darin.“ Obwohl er den Namen gelesen, nannte er ihn nicht laut. Er hatte das Gefühl, dem jungen Mädchen wäre vielleicht damit gedient. Er reichte dem Schutzmann ein Kärtchen und die Tasche.

Liselotte triefte vor Nässe, ihr war zum Sterben elend von dem herbstkalten Wasser und der Angst und dem Grauen, die sie eben durchgemacht hatte. Ein Auto war plötzlich zur Stelle, und der Retter half Liselotte in den Wagen. Der Schutzmann schrieb den Namen von der Visitenkarte in sein Notizbuch, und in diesen wenigen Sekunden drängte sich der Retter durch die Menge, fand seinen Mantel, von einem Jungen behütet, und eilte davon.

Niemand achtete auf ihn, alle Aufmerksamkeit galt dem Mädchen im Auto. Als der Polizeibeamte Namen und Adresse des Retters anfordern wollte, war der Unbekannte fort und nirgends mehr zu sehen. Die Rettungsmedaille schien ihn nicht zu locken.

Eine ältere Krankenschwester, die zufällig über die Brücke gekommen und den Vorgang miterlebt hatte, erbot sich, Liselotte, die zunächst keiner ärztlichen Hilfe bedurfte, nach Hause zu bringen. Ihr übergab der Schutzmann das Handtäschchen. Im Arm der Krankenschwester lehnte Liselotte Wolfram, und die gute Helferin wurde ebenso nass wie die Gerettete. Liselotte schämte sich dieser Rückkehr vor Vater und Tante.

Aber die Todesangst, die sie ausgestanden, hatte alle eingeschlummerte Vernunft wieder gründlich wachgerüttelt.

Sie dachte nicht mehr daran, in die fremde Welt hineinzufahren, um irgendwo draussen zu verderben. Das schien schon weit, weit hinter ihr zu liegen.

Und sie hätte jetzt auch nicht mehr weggekonnt, weil sie ja nun nichts weiter war als ein armes, durchnässtes Menschenkind, dem zunächst nichts wichtiger auf der Welt schien als das eine, wieder trocken zu werden und sich von dieser Aufregung zu erholen.

Liselotte schüttelte sich entsetzt bei der Erinnerung an das, was sie erlebt hatte.

Ihr war es, als sähen sie wieder die tückischen Augen des Wahnsinnigen an, als flüchte sie davor wieder über das Geländer der Brücke und fühle abermals die harten Schläge auf ihre Hände, die sie zwangen, den Halt loszulassen und in das schreckliche graue Wasser zu stürzen.