Forside

Das Harfenmädchen

Frauenroman von Anny v. Panhuys

Erstes Kapitel

Steffi Woschilda blieb mitten auf der Dorfstraße stehen, und ihre Augen hingen wie gebannt an dem wundersamen Schauspiel, das die untergehende Sonne bot. Noch niemals glaubte sie ein so herrliches Sonnensterben gesehen zu haben wie heute. Der ganze westliche Himmel leuchtete in flammender Glut, es war, als hingen glühende Vorhänge vom Firmament hernieder und breiteten sich über den dunklen Wald hin und über die letzten Häuschen des Ortes. Wie sehnsüchtige Arme reckte es sich glutend aus unerreichbarer Himmelshöhe und liebkoste zärtlich das Dörfchen.

Langsam setzte sie ihren Weg fort, und mit leicht geröteten Wangen und frohklaren Augen betrat sie das niedrige Lehrerhaus, um das sich rotes Weinlaub wie ein purpurnes, dickgesponnenes Netz legte.

Die Mutter saß in der Vorderstube und besserte ein Bettuch aus. Ihr vergrämtes, zerknittertes Gesicht, dem die rundglasige, dicke Brille etwas Eulenhaftes gab, hob sich mit kurzem Ruck, und nörgelnd brummte sie bei Steffis Eintritt, weshalb sie denn wie angenagelt beinahe fünf Minuten mitten auf der Dorfstraße gestanden und den Himmel abgesucht hätte, an dem doch weiß Gott nichts Besonderes zu sehen gewesen wäre. Man müßte ja denken, im Lehrerhause gäbe es gar nichts zu schaffen.

Steffi lächelte leicht, und in ihren großen grauen Augen war ein Glanz, als habe sich ein rotgoldener Funke der scheidenden Sonne darin verfangen. „Ich sah die Sonne untergehen, Mutter, unser Dörfchen lag wie verzaubert in der brennenden Pracht.“

Frau Julie Woschilda zog den Faden mit heftiger, abgehackter Handbewegung durch den Stoff. „Man glaubt fast, deinen Vater reden zu hören, der über seine Phantasterei und sein Harfenspiel vergaß, daß er nur ein Dorfschulmeisterlein war. Statt die paar verdienten Heller, die er erübrigte, auf die Sparkasse zu tun, kaufte er Bücher und Noten und ließ uns in hilfloser Armut zurück. Sei du gescheiter, dummes Mädel, als er und träume nicht am hellen, lichten Tage, das bringt nichts ein.“ Sie ließ die Arbeit wieder in den Schoß sinken, und ihr verärgertes Gesicht hellte sich etwas auf. „Der Matausch-Alois hat die Lehrerstelle hier bekommen, seine Mutter war vorhin bei mir, und dabei deutete sie an, wenn du nur ein bissel freundlich zum Alois wärest, dann könntest du dich bald Frau Lehrer nennen lassen.“

Steffis lichtblonder Kopf saß plötzlich ganz starr und steif auf den schmalen Schultern, und herbe gab sie zur Antwort: „Ich dank’ dem Matausch-Alois für die Ehre, die er mir antun will, aber ich liebe ihn nicht.

„Liebe!“ Die schwarzgekleidete kleine Frau mit dem grausträhnigen Haar stieß das Wort verächtlich und bitterböse hervor. „Was bleibt von der Liebe, wenn die Sorgen kommen? Die Hauptsache ist, du kriechst gut und warm unter, der Alois ist kein Mann wie dein Vater, er hält die Batzen zusammen.“

Steffis Augen sahen müde über die Mutter weg.

„Vater ist tot, laß ihn schlafen, — er war ein Künstler, aber der Unverstand des Schicksals stellte ihn auf den Platz eines kleinen deutschböhmischen Dorfschullehrers. Laß ihn schlafen, Mutter, über sein Grab tropft jetzt Sonnengold, reicher kann kein König im letzten Bette liegen.“

Die Frau zerrte unmutig an dem geflickten Bettuch, „Redest so unverständliche Dinge wie dein seliger Vater, auch bei ihm wußte man nie, was er eigentlich meinte und was hinter seinen Worten steckte.“

Steffi lächelte schon wieder. „Laß gut sein, Mutter, der liebe Herrgott schuf die Menschen eben verschieden.“ Sie ging still ins Nebenzimmer, wo das alte Tafelklavier stand und daneben die Harfe lehnte, auf der Lehrer Woschilda so gern und oft in dieser Stunde der Dämmerung sich von dem Sehnen nach der weiten Welt draußen die Brust freigespielt hatte. Von dem Sehnen nach der Welt, die er nicht kannte, die fernab von dem engen Dorfe lag.

Leicht glitten Steffis schmale Finger über die Saiten und lockten ein melodisches, weiches Tönen daraus hervor, das sich zu nachhallendem, süßem, schwingendem Akkorde einte.

Durch ihren Kopf zogen vielerlei Gedanken. Da waren Gedanken wie rote Perlen, leuchtend gleich der Lebensfreude, und da waren trübe, graue, matte, gleich den Tagen, die von der verbitterten Mutter mit Klagen angefüllt wurden. Da waren Gedanken wie schwarze Perlen, düster gleich dem Sarg, in dem man vor einem Jahre den liebsten aller Väter in die Gruft niedergelassen, und nun lugten grüne Zweige darüber hin, dem Frühlingskleide gleich, mit dem sich die neu belebte Natur hoffnungsvoll nach hartem Winter schmückt.

Unwillkürlich, und ganz unter dem Bann der herzuströmenden Gedanken stehend, griff Steffi Woschilda hastiger in die Saiten, wie in sanft bewegtem Wellenspiel glitten die schmalen Finger darüber hin, und die blitzenden Drähte sangen eine schwermütige Weise, durch die es doch zuweilen wie ein frohes Jauchzen klang. Mit feinem melodischem Zittern band sich Ton an Ton. Zuerst war es, als werfe eine zärtliche Hand kleine silberne Kugeln in ein feinschliffenes Glas und freue sich des klaren Widerhalles, dann aber zog es wie Windeshauchen durch das blanke Saitengespinst, schwoll mählich an und ward zum Sturm, der wie ein Vernichter kam und dahinbrauste, alles mit sich reißend, Gutes und Böses, Starkes und Schwaches, der sich Raum schuf wie ein Sieger und wie ein Strom kraftvollster Lebensbejahung war.

„Steffi, Steffi!“ Schon mehrmals hatte die alte Frau nebenan den Namen ihrer Tochter gerufen, doch das Saitenspiel war über die verdrießliche Stimme hinweggespült wie das Rauschen mächtiger alter Bäume, darin der leise Schrei eines winzigen Vögeleins ertrinkt.

„Steffi!“ Nun stand die magere, kleine Frau auf der Schwelle, und ihre harte Hand legte sich auf den einen Arm der Tochter. Das Spiel brach mit kurzem, wimmerndem Nachhall ab, und fast erschreckt blickte das junge Gesicht auf die Mutter, deren Wangen in fleckigem Rot der Erregung brannten.

„Hör auf, Steffi, der Matausch-Alois ist da, er will dir ein ‚Grüß Gott‘ sagen.“

In Steffis Augen erstarb das Leuchten, und ihre Brauen zuckten wie die ausgespannten schmalen Flügel einer dunklen, fremdartigen Libelle. Aber sie erwiderte nichts, sondern stellte die Harfe an ihren Platz zurück, um dann der Mutter in das Nebenzimmer zu folgen. Seitlich in der niedrigen Stube, aus dem verschabten braunen Armstuhl, erhob sich ein kleiner, dürrer Mann mit wichtigem Holzgesicht und starren, ausdruckslosen Augen.

„Grüß Gott, Woschilda-Steffi!“ Er streckte ihr die Rechte entgegen. „Wir haben uns ein Jahr lang nicht gesehen, wie geht es dir?“

Sie versuchte ein Lächeln. „Mir geht es gut, Alois, nur manchmal plagt mich die Einsamkeit.“

Sie sprach das letzte eigentlich mehr, um überhaupt etwas zu sagen, denn keinem Menschen hätte sie wohl unlieber ihr innerstes Denken anvertraut als gerade diesem.

Er aber schien einen tiefen Sinn hinter dem kurzen Satz zu wittern, um seine schmalen, wie nach innen gebogenen Lippen kroch ein Zug von Vertraulichkeit.

„Kann mir denken, daß du hier einsam bist, dein Vater hielt sich ja allen Umgang fern. Ich bin darin anders, ich bin kein Einsiedler, meine Frau müßte etwas vom Leben haben.“ Er wiederholte: „Meine Frau“, und seine starren Augen saugten sich förmlich an dem perlweißen Oval des Mädchengesichtes fest.

Frau Julie Woschilda nickte befriedigt vor sich hin und tat, als wäre ihre ganze Aufmerksamkeit bei der Flickarbeit. Der Matausch-Alois verstand’s, der ging gleich tapfer auf sein Ziel los, der würde mit Steffi schon fertig werden, um so mehr, da er wußte, sie hatte manche Eigenart ihres Vaters geerbt. Schon als Junge war er Steffi nachgesprungen, wo ihm, dem um fünf Jahre älteren, nur Gelegenheit geworden, und Steffi wäre eine Närrin, die gute Versorgung auszuschlagen. Dann konnte man, wenn der junge Lehrer hier in die Amtswohnung einzog, im Hause bleiben und brauchte nicht in irgendeinem kleinen Stübchen ärmliche Unterkunft suchen. Die kleine Lehrerpension reichte kaum, zwei Menschen notdürftig zu ernähren. Wenn man ihr nicht immer etwas zum Nähen und Ausbessern brächte, stünde es böse um das bißchen Durchkommen.

Steffi suchte indes nach den Worten „Meine Frau“ krampfhaft nach einem anderen Gesprächsstoff. „Ach, so schlimm war es schließlich nicht mit der Einsamkeit gemeint“, erklärte sie hastig, „du hast mich falsch verstanden. Ich habe ja meine Harfe und Vaters Bücher, und dann helfe ich der Mutter viel beim Nähen. Und der Lehrer-Vertreter, der das Jahr nach Vaters Tod bis jetzt hier die Schule hielt, machte keinen Anspruch auf die Amtswohnung und mietete sich, weil er unverheiratet ist, beim Lindenwirt ein, da hatten wir’s sehr bequem und durften vorläufig wohnen bleiben.“

Der junge Lehrer Alois Matausch reckte seine kleine Gestalt.

„Ich verzichte nicht auf die Amtswohnung, ich nicht, aber wenn es dir gefällt und du bleiben willst“, er machte eine kleine, feierliche Pause, „dann steht dem nichts im Wege.“ Wieder eine feierliche Pause, diesmal aber von längerer Dauer als das erstemal, ein sonderbarer Seitenblick, der wie Mahnung und Bitte war, flog zu der eifrig die Nadel handhabenden Frau am Fenster hin.

Und diese verstand den Blick, erhob sich hastig und brummelte, sie wolle schnell für den lieben Gast ein Täßchen Kaffee bereiten. Nun waren die beiden allein, und Steffi wußte, jetzt galt es offen zu sein, diesem harten Holzgesicht gegenüber waren keine Ausflüchte am Platze, diese starren Augen heischten eine gerade Antwort.

Ein tiefes Schweigen lag über dem kleinen Raum. Und plötzlich sagte die kalte, glatte Stimme des kleinen Mannes in das tiefe Schweigen hinein:

„Steffi, ich mag keine langen Reden halten, mag nicht um die Dinge herumreden, die ich meine, und deshalb, kurz heraus, wir kennen uns von Kind an, und ich habe dich gern. Sollst meine Frau Lehrerin sein, und ich denke, das paßt dir.“

Seine Augen ruhten unbeweglich auf dem unregelmäßigen, liebreizenden Antlitz, das ihm so nahe war, daß er die Arme nur ein wenig ausstrecken brauchte, um es an sich zu ziehen.

Steffi atmete bedrängt, aber dann faßte sie allen Mut zusammen, und wie bittend sprachen ihre Lippen: „Sei mir nicht böse, Alois, aber ich kann deine Frau nicht werden, denn ich liebe dich nicht.“

Der kleine Mann zuckte zusammen, als zweifle er, recht gehört zu haben. „Du liebst mich nicht? Aber vergißt du denn ganz, was ich dir zu bieten vermag, vergißt du, daß —“ Er brach ab, die Stimme gehorchte ihm nicht weiter.

„Lieber Alois, es tut mir sehr leid, dir wehe tun zu müssen, aber ich darf doch nicht ohne Liebe deine Frau werden“, sagte sie leise, doch fest.

In seine Augen trat ein Glitzern, und krampfig klang seine Frage: „So liebst du einen anderen?“

Steffi lächelte weich.

„Nein, nein, außer dem Vater habe ich keinen Mann lieb gehabt.“

„Dann ist ja alles gut“, atmete Alois Matausch auf, „dann ist ja alles gut. Wirst mich lieben lernen, Steffi, Liebe erweckt doch Gegenliebe.“ Seine knöchernen Finger tasteten nach ihren Händen, und ein Zug von Selbstbewußtsein hob seine Mundwinkel.

Steffi fuhr zurück, als krieche ihr eine Spinne über die Hände, und wie von Ekel hervorgepreßt, rief sie laut: „Nein, ich werde niemals deine Frau, niemals, hörst du, denn der Mann, den ich lieben werde, muß anders sein als du, ganz anders!“

Kaum waren ihr die Worte entflohen, bereute sie sie schon, denn ein kurzer Blick zeigte ihr, sie hatte sich in dieser Minute einen unerbittlichen Feind geschaffen. Mit zusammengebissenen Zähnen trat er zurück und griff nach seinem Hut. In der Tür erschien eben die Mutter.

„Aber ich bitt’, Herr Lehrer Matausch, wollen Sie schon fort? Ich habe doch eben einen guten starken Kaffee gekocht.“

Alois Matausch verneigte sich städtisch, weltmännisch. „Verehrte Frau Woschilda“, entgegnete er mit Würde, „meines Bleibens kann leider nicht länger sein, Steffi hat mir soeben unverhüllt gezeigt, ich sei ihr widerwärtig, und ich möchte um nichts in der Welt für aufdringlich gelten.“

Jetzt kam Leben in Frau Julie Woschilda. „Steffi ist ein törichtes, albernes Geschöpf, in ihrem Kopfe treiben allerlei Romane ihr Wesen, sie weiß nichts von der Wirklichkeit. Bleiben Sie, Herr Lehrer, bleiben Sie, und ich verspreche Ihnen, daß sie Ihre Frau wird, daß sie dankbar Ihre Frau wird.“

„Über mein Leben muß ich selbst bestimmen, Mutter“, sprach Steffi erregt, und ihr weißes Gesicht stand jäh in rosiger Glut.

„Alois Matausch dankt für erzwungene Gaben“, sagte der junge Lehrer zurückweisend. „Grüß Gott, Frau Woschilda.“ An der Tür blieb er flüchtig stehen, und mit triumphierendem Unterton in der Stimme rief er: „Am nächsten Ersten will ich ins Lehrerhaus einziehen, deshalb muß ich Sie bitten, bis dahin zu räumen, Frau Woschilda.“

Keine Antwort abwartend war er verschwunden.

Mit gerungenen Händen stürzte die grauhaarige Frau auf Steffi zu, und eine Flut von Vorwürfen ergoß sich über das lichtblonde Mädchenhaupt. Steffi aber stand stolz und aufrecht, es war, als glitten alle die Vorwürfe ungehört an ihr vorbei, erst als die Frau erstickt und heiser schwieg, sprach sie leise: „Ich habe den kleinen, aufgeblasenen Matausch-Alois nie leiden mögen, seine Lehrerwürde kann meine Meinung nicht beinflussen.“

„Was um des Himmels willen soll denn aus dir werden, hier im Dorf ist doch niemand, der zu dir paßt, die Handwerker wagen sich ja nicht an dich heran.“

Steffi lächelte: „Vielleicht springt für mich einmal die kleine Pforte auf, die von hier aus in die Welt führt, und draußen steht wartend ein Prinz am Wege und geleitet mich auf sein Märchenschloß.“

„Es ist zum Verzweifeln mit dir, mir steht der Sinn jetzt wirklich nicht nach schlechten Witzen“, nörgelte die Frau. Und dann sank sie in den alten braunen Lehnstuhl nieder, in dem vorhin der kleine Lehrer gesessen, und beide Hände vor das Gesicht schlagend, begann sie leise zu weinen.

Mit zwei Schritten stand Steffi neben ihr. „Mutter, liebs, liebs Mutterl, bitt’ schön, nicht weinen. Es ist doch gar kein Grund dazu. Wir werden ja nicht verhungern, auch wenn ich den Matausch-Alois nicht heirat’ und wir hier aus unserem lieben alten Hause müssen. Wir wollen in die Stadt ziehen, Mutterl, nach Tetschen, Bodenbach, vielleicht auch weiter nach Prag oder Wien. Nur von hier fort wollen wir. Ich bat dich ja schon so oft darum. In den Städten gibt es mehr Gelegenheit für mich, Geld zu verdienen, hier kann ich mich doch nicht betätigen.“ Sie strich sanft über das straff zurückgekämmte Haar der immer noch Weinenden. „Sieh, Mutterl, in der Stadt vermag ich mein Können zu verwerten, ich kann doch Klavierund Harfenunterricht geben. Schade nur, daß der Vater dicht vor seinem Tode, weil du es durchaus wolltest, seine schöne Konzertharfe nach Wien verkaufte. Ich habe so gerne drauf gespielt“, setzte sie mit einem halb unterdrückten Seufzer hinzu.

„Was braucht ein Dorfschullehrer, der bloß zu seinem eigenen Vergnügen ein bißchen Musik treibt, eine teure Konzertharfe, ich war froh, als er sie auf mein Drängen endlich hergab“, antwortete Frau Woschilda barsch.

„Ach, es klang doch alles so ganz anders darauf als auf der einfacheren kleineren Harfe, die Vater behalten“, wagte Steffi zu sagen, um dann fortzufahren: „Denk darüber nach, Mutter, ob es nicht gut für uns wäre, hier fortzugehen. Ich werde schon Schüler bekommen.“

Die noch immer erregte Frau sprang auf und fuhr sich mit dem Schürzenzipfel hastig über die Augen. „Das ist Unsinn!“ Sie stieß einen verächtlichen Ton aus. „Und auf diesen Unsinn hin sollen wir zwei in die weite Welt rennen wie zwei Abenteuerinnen? Nein, und hundertmal nein, schlag dir den Gedanken aus dem Kopf. Beim Fabrikanten Oswaldic droben wird ein Mädchen zur Beaufsichtigung und für den ersten Unterricht der Kinder gesucht. Da melde dich, dann bist du vorläufig geborgen, ich muß zusehen, wo ich unterkrieche.“ Sie schluchzte wieder. „Wenn ich denke, daß wir, wenn du nur gewollt hättest, hier ruhig und sorglos wohnen bleiben konnten, dann tut mir das Herz weh.“

Es war allmählich dämmeriger in dem niedrigen Zimmer geworden, während draußen noch die Helle überwog. Steffi stand am Fenster und achtete, in lauter trübes Denken eingesponnen, kaum darauf, daß die Mutter längst hinübergegangen war in die Küche.

Zu den Kindern des Fabrikanten Oswaldic sollte sie, sich mit den verwöhnten Geschöpfen reicher Leute herumärgern. Ihre Harfe durfte sie dort womöglich gar nicht mitbringen. Und dann würde sie das süße Spiel verlernen, und all die warmen, lieben Melodien vergessen, die immer schon in ihr sangen und klangen, wenn ihre Finger nur das blanke Gefüge der Saiten unter sich fühlten.

Eine wilde, verzweifelte Angst vor der Zukunft packte Steffi, und ein Zittern lief durch die schlanke Gestalt. Wie ein Stöhnen brach es von ihren Lippen: „Vater, weshalb bist du so früh von mir gegangen?“

Sie hob lauschend den Kopf. Was war das gewesen? Nebenan war eben eine rasche Hand über die Saiten der Harfe gefahren. Ganz leise hatten die Saiten aufgeklungen. Steffi trat erschrocken vom Fenster zurück. „Mutter?“ rief sie wie fragend, und noch einmal: „Mutter?“

Alles blieb still. Fast scheu ging Steffi in das hintere Zimmer, darin die Harfe stand. Nichts regte sich in dem Raume.

Da fachte das junge Mädchen mit zitternder Hand ein Streichholz an und sah bei dem unsicheren kleinen Schein, daß die Harfe gegen das Klavier gefallen war. Sie selbst hatte sie wohl vorhin ungeschickt fortgestellt. Mit wehem Lächeln rückte sie das geliebte Instrument fest und sicher an seinen Platz. Hatte sie doch beinahe gemeint, der Vater hätte ihr vorhin Antwort gegeben auf ihre verzweifelte Frage, warum er sie so früh verlassen. Sie schob ihre Wange gegen die Umrahmung der Harfe, und durch ihren schmerzenden Kopf flog der Gedanke, was nun werden, wie sie der Mutter und sich helfen sollte. Und sie dachte dabei, welchen Rat ihr wohl der Vater in ihrer Not gegeben haben würde.

Sie stand mit geschlossenen Augen, und dennoch war es ihr, als sähe sie plötzlich die schlanke Gestalt des Vaters dicht vor sich hintreten. Deutlich glaubte sie sein schmales, durchfurchtes Gesicht zu erblicken, und die kindlich guten Augen unter dem fast noch dunklen Scheitelhaar, dessen Spitzen silbern schimmerten und an den Schläfen in schneeweißen Fäden verliefen. Ernst und doch voll unendlicher Milde schauten sie die lieben blauen Augen an, und ihr war es, als ob die schmalen, blassen Lippen sprachen: Über alles die Pflicht!

Da hob Steffi die Arme und ließ sie gleich wieder ergebungsvoll sinken. Das alte Merkwort des Vaters, das ihm zur Richtschnur gedient sein Leben lang, es wies auch ihr den Weg, den sie gehen mußte. Um wie viel Freude und Glück hatte sich der Tote durch dieses strenge Wort gebracht, aber es hatte dennoch als Leitstern über seinem weichen Träumerleben gestanden, und seine schwingende musikalische Seele, in der tausend wundersame Melodien jubelten und nach Befreiung riefen, eingepreßt in den engen, strengen Pflichtenkreis eines armseligen Dorfschullehrers. Ein Großer, ein Künstler hätte er sein können und war doch tapfer und ruhig an der Seite einer kleindenkenden Frau dahingeschritten durch die einförmigen Tage, die hier hinter den hohen Seitenwänden jeden Augenblick in die Welt, die bunte, lockende, lebenswerte Welt versperrten.

Steffi fuhr sich über die heißen Augenlider, morgen wollte sie zum Fabrikanten Oswaldic gehen, vielleicht gab man ihr dort die Stellung bei den Kindern.

Grelles Lampenlicht warf seinen Schein in das Zimmerchen. Auf der Schwelle stand die Mutter mit mißmutigem Gesicht. „Komm zum Essen, Steffi!“

Das Mädchen nahm der Mutter sanft die Lampe aus der Hand und setzte sich nebenan auf den Tisch.

„Morgen gehe ich zum Fabrikanten Oswaldic, Mutter“, sagte sie begütigend.

Die Frau nickte kurz. „Das ist auch deine Pflicht und Schuldigkeit.“

Steffi fühlte ein Frösteln in den Gliedern. Wie anders klang hier die kleine und doch so inhaltsschwere Silbe „Pflicht“ als einst aus dem Munde des Vaters.