Über das Buch

Wie Odysseus dem Klang der Sirenen, so haben die Eurostaaten der Verführung durch Neuverschuldung, Reformaufschub und laxe Regulierung zu widerstehen. Es ist das Kernproblem der Währungsunion, dass ihre Mitgliedstaaten regelmäßig an dieser Herausforderung scheitern. Immer wieder erliegen sie der Versuchung, die Stabilitätsregeln zu brechen und sich über gemeinsame Absprachen hinwegzusetzen. Der neue Chef des ifo Instituts, Clemens Fuest, und der Ökonom Johannes Becker fesseln die Eurozone an den Mast. Sie zeigen einen Weg aus der Krise auf, der die Regelbindung in der Währungsunion stärkt, die demokratische Kontrolle verbessert und die Eurozone krisenfest macht.

Ihr Reformprogramm besteht aus 5 Punkten: Bankenregulierung, Schuldenkontrolle mit Haftung privater Investoren, Reform des Europäischen Rettungsmechanismus ESM und der Europäischen Zentralbank und, last but not least, Stärkung der nationalen Wirtschaftspolitik. Ein kluger Plan, der eine Brücke über die ideologischen Lager schlägt. Und ein wichtiges Buch. Denn für die Zukunft Europas ist nichts wichtiger als der Erfolg der gemeinsamen Währung.

Johannes Becker
Clemens Fuest

Der Odysseus-Komplex

Ein pragmatischer Vorschlag
zur Lösung der Eurokrise

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Einleitung – Beginn einer Irrfahrt

In Seenot

Nach dem Sturm

In der Werft

Zurück auf See

1  Am Vorabend der Krise

Der Schlussstein der europäischen Einigung

Deutschland einhegen, Bundesbank entmachten

»Ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel«

Glückliche Kindheit

Vorzeichen der Krise

2  Krisenzeiten

Immobiliencrash und Lehman-Schock

Die Kapitalflucht beginnt

»Griechenland wird nicht alleingelassen«

Tag der Kapitulation – der EU-Gipfel im Mai 2010

Absturz der Südländer und Irlands

»Whatever it takes«

Politische Verwerfungen

Showdown in Athen

3  Die Ursachen der Krise

Mangelnde Bankenregulierung

Wirkungslose Schuldenregeln

Fehlende Rettungsinstitutionen

Die Schuld des exportierenden Nordens?

Unzureichende Stabilisierung

Austerität und ihre Grenzen

Kein optimaler Währungsraum

4  Der Odysseus-Komplex

In varietate concordia – in Vielfalt geeint?

Entscheidungsfindung in Brüssel

Die Aushöhlung demokratischer Kontrolle

Das Auseinanderfallen von Haftung und Kontrolle

Das Odysseus-Problem

Aus der Krise gelernt?

Die Lösung des Odysseus-Problems

5  Reformillusionen

»Zurück zur D-Mark«

»Vorwärts in die politische Union«

Ein pragmatischer Ansatz

6  Krisen verhindern

Bankenregulierung verschärfen

Schuldenkontrolle vereinfachen

Steuerungsfantasien aufgeben

7  Krisen managen

Banken stützen oder abwickeln

Kleine Spareinlagen sichern

Krisenstaaten auffangen

Den ESM reformieren

Das OMT-Programm zurücknehmen

Notfallpläne auf Vorrat beschließen

Koordinierte Feinsteuerung der Fiskalpolitik aufgeben

8  Krisen überwinden

Zombiebanken sterben lassen

Altschulden abbauen

Fünf Routen für den Abstieg vom Schuldenberg

Solide Haushaltspolitik und Wirtschaftswachstum

Inflation und Niedrigzinspolitik

Schuldenschnitt

Einmalige Vermögensabgabe

Das Geld der Anderen

Finanzielle Zugeständnisse gegen Reformen tauschen

Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen

Europäischen Finanzausgleich begrenzen

9  Das Fünf-Punkte-Programm für eine stabile Eurozone

Die deutsche Krise von 2032 – eine zweckpessimistische Utopie

10  Der zögerliche Hegemon – Deutschlands Rolle in Europa

Kritik an Deutschland

Hat Deutschland (stärker als andere Staaten) vom Euro profitiert?

Hat Deutschland vom Boom im Süden profitiert?

Hat Deutschland von der Krise im Süden profitiert?

Ankerstaat – Deutschlands Rolle in Europa

11  Ausblick

Anmerkungen

Register

Einleitung
Beginn einer Irrfahrt

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes

Homer, Odyssee

Odysseus, der König von Ithaka, wird von der Nymphe Kalypso gefangengehalten. Der Göttervater Zeus gebietet Kalypso, Odysseus aus der Gefangenschaft zu entlassen. Sie gehorcht und schlägt Odysseus im Fünften Gesang von Homers Odyssee vor, ein Floß zu bauen, das »über die Wogen des dunkeln Meeres dich trage«.1 Doch Odysseus traut der Göttin nicht:

Wahrlich du denkst ein andres, als mich zu senden, o Göttin,

Die du mich heißeste im Floße des unermeßlichen Meeres

Furchtbare Flut zu durchfahren, die selbst kein künstlichgebautes

Rüstiges Schiff durchfährt, vom Winde Gottes erfreuet!2

Doch Kalypso gelobt, keine Hintergedanken zu haben, und so – nach sieben Jahren Gefangenschaft – beginnt Odysseus’ Irrfahrt.

Sieben Jahre nach den grundlegenden Beschlüssen des Maastricht-Vertrags besteigen elf europäische Staaten am 1. Januar 1999 das Floß der gemeinsamen Währung Euro. Es ist der bisherige Höhepunkt der europäischen Einigung, die zaghaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen hatte, mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Fahrt aufnahm und schließlich im gemeinsamen Binnenmarkt mündete. Mit der gemeinsamen Währung sollte der Grundstein für eine noch weitergehende Integration gelegt werden.

Doch ähnlich wie Odysseus zweifeln die Kundigen, ob das Floß halten wird. Schon im Juni 1992 hatten über sechzig deutsche Ökonomen in einem Aufruf gewarnt:

»Die überhastete Einführung einer Europäischen Währungsunion wird Westeuropa starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden.«3

Fast zehn Jahre lang bleibt die See ruhig. Im Jahr 9 des Euro ziehen dunkle Wolken über dem Atlantik auf. Die Immobilienblasen in den USA, Irland, Großbritannien und Spanien platzen. Dies löst eine Entwicklung aus, die sich zur schwersten Finanzkrise seit 1929 ausweitet.

In Seenot

Als 2008 die Welt in die Große Rezession rutscht, dauert es nicht lange, bis auch das Eurofloß in Seenot gerät:

Da schlug die entsetzliche Woge von oben

Hochherdrohend herab, daß im Wirbel der Floß sich herumriß:

Weithin warf ihn der Schwung des erschütterten Floßes, und raubte

Ihm aus den Händen das Steu’r;4

Im Oktober 2009 muss die griechische Regierung zugeben, die Kontrolle verloren zu haben: Der Fehlbetrag im Staatshaushalt ist mehr als viermal so groß wie zuvor angegeben. Für die internationalen Kapitalgeber ist dies das Signal zur Flucht. Es kommt zu einem massiven Abzug von Kapital aus der Peripherie der Eurozone. Auch Länder mit vormals gesunden Staatsfinanzen, wie Irland oder Spanien, geraten an den Rand einer Staatspleite, weil mit den einbrechenden Hauspreisen Immobilienkredite ausfallen, Banken kollabieren und die Bankenrettung die Staatshaushalte an den Rand der Überforderung bringt.

Erst jetzt wird deutlich, wie labil das Floß der Währungsunion ist. Der Euro hat den Mitgliedstaaten das Rettungsinstrument der nationalen Geldpolitik genommen, doch er hat keinen Ersatz geleistet. Es fehlt eine stabile Rettungsarchitektur, das heißt ein System von Institutionen, das Staaten in Schieflage auffangen kann. Es fehlt eine effektive, transparente Bankenregulierung. Es fehlen effektive Anreize zur Vermeidung staatlicher Überschuldung.

Die Eurogruppe reagiert planlos. Ihre politischen Lenker haben dem Sturm, der den Süden der Eurozone und Irland durchrüttelt, zunächst nichts als Appelle und Durchhalteparolen entgegenzusetzen. Es dauert Monate und Jahre, bis die Mitgliedstaaten eine notdürftige Rettungsarchitektur aus dem Boden gestampft haben. Erst Griechenland, dann Irland, Portugal und Spanien erhalten Hilfsgelder, um ihre laufenden Verpflichtungen decken zu können; private Investoren sind nicht mehr bereit, diesen Ländern zu vertretbaren Konditionen Geld zu leihen. Sogar Italien bewegt sich zeitweise auf eine Staatspleite zu. Doch die zugesagten Mittel sind begrenzt, die Umsetzbarkeit ungeklärt und der politische Rückhalt unsicher. Die Kapitalflucht verschärft sich sogar noch angesichts der Zögerlichkeit und der Uneinigkeit der Eurogruppe. Eine gewisse Beruhigung setzt erst ein, als die Europäische Zentralbank (EZB) Mitte 2012 zusichert, die Staatsanleihen der Krisenstaaten notfalls unbegrenzt aufzukaufen.

Damit ist die Krise jedoch nicht ausgestanden. Es folgen schwere politische Verwerfungen, die 2015 in einem Showdown zwischen der Eurogruppe und der griechischen Regierung gipfeln. Griechenland verweigert die Rückzahlung von Krediten an den IWF, meldet also quasi offiziell Staatsbankrott an. Die EZB zwingt das Land, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, nachdem die Griechen bereits einen Großteil ihrer Einlagen von ihren Bankkonten abgezogen haben. Als Griechenland in ein drittes Hilfsprogramm gedrängt wird, das die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum zuvor abgelehnt hat, steht Europa im Juli 2015 vor einem Scherbenhaufen. Niemand glaubt ernsthaft, dass die Auflagen des Hilfsprogramms eingehalten werden; die neuen Kredite an das überschuldete Land sind in Wahrheit Transfers. Nach der Staatspleite Griechenlands muss die Eurozone sich ihre politische Pleite eingestehen. Der Euro hatte dem Süden Wohlstand und Wachstum versprochen und dem Norden Stabilität. Der Euro sollte so hart werden wie die DM und keinesfalls dem Einstieg in die Transferunion den Boden bereiten. Diese Versprechen wurden gebrochen.

In Griechenland und Spanien demonstrieren die Menschen gegen die politische Führung in Brüssel und Berlin, die sie als Besatzer wahrnehmen. Der griechische Finanzminister Varoufakis vergleicht die europäische Griechenlandpolitik mit Waterboarding. Wut und Frustration bahnen sich auch politisch ihren Weg. In Griechenland ist seit Januar 2015 Syriza an der Macht, in Spanien hat sich das Protestbündnis Podemos formiert, in Italien fordert die Partei von Beppe Grillo den Euroaustritt des Landes, in Frankreich führt der rechtsextreme Front National in den Umfragen, in Deutschland feiert die eurokritische und islamfeindliche AfD einen politischen Erfolg nach dem anderen.

Die Rettungspolitik gilt gemeinhin als gescheitert, selbst die Hunderte Milliarden Euro schweren Programme haben nicht verhindert, dass Griechenlands Wirtschaft um ein Viertel schrumpft, die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien auf fünfzig Prozent steigt und zehn Prozent der Iren, und zwar die jungen und gutausgebildeten, das Land verlassen. Während sich die USA und die Nicht-Eurostaaten in der EU wieder auf moderaten, aber robusten Wachstumspfaden befinden, kämpft die Eurozone immer noch mit den Folgen ihrer Doppelrezession der Jahre 2008 und 2011.

Nach dem Sturm

Es mangelt nicht an Schuldzuweisungen: seien es die Portugiesen und Italiener, die ihre Staatsschulden nicht in den Griff bekommen, die Iren und Spanier, die ihre Banken sträflich vernachlässigten, die Deutschen mit ihren Exportüberschüssen und ihrem Sparzwang, die Griechen, die falsche Zahlen nach Brüssel meldeten, die internationalen Investoren mit ihrem überoptimistischen Engagement in maroden Strukturen – kaum jemand, der nicht schon einmal den schwarzen Peter in der Hand gehalten hat.

Und es stimmt ja, es gab zweifellos Fehler und Versäumnisse, und es gab derer viele und gravierende. Jedoch würde eine Diagnose, die die Ursache der Eurokrise vor allem in menschlichem Versagen sucht, zu kurz greifen. Es ist vielmehr der Mangel an geeigneten Institutionen, der diese Fehler erst möglich gemacht hat. Die Eurozone ist kein »rüstiges Schiff«, das falsch gesteuert wurde, sie ist ein seeuntüchtiges Floß, das in einen Sturm geriet.

Es ist der Ökonomenzunft immer wieder vorgehalten worden, dass sie nicht in der Lage war, die Finanzkrise vorherzusagen. Wie immer man sich zu diesem Vorwurf verhalten mag, auf die Eurokrise kann er sich nicht beziehen. Sie kam nicht überraschend. Das weltwirtschaftliche Umfeld war 2009 zugegebenermaßen äußerst ungünstig, aber die Mängel der Währungsunion waren bekannt und benannt.

Die Politik hat die Warnungen in den Wind geschlagen, sie hat sich als unfähig erwiesen, ihren Kritikern und Ratgebern zuzuhören, die – wie die Göttin Kirke im Zwölften Gesang der Odyssee – der Eurozone den Weg gewiesen haben:

Ich will euch den Weg und alle Gefahren des Weges

Selbst verkünden, damit nicht hinfort unselige Torheit,

Weder zu Wasser noch Land’, euch neuen Jammer bereite.5

Kirke warnt Odysseus vor den Sirenen, deren Gesang ihn vom Weg abbringen und Schiffbruch erleiden lassen wird. Die Göttin erkennt, dass er dem Gesang der Sirenen nicht wird widerstehen können, also ersinnt sie eine List. Um der Verführung standzuhalten, solle sich Odysseus von seinen Getreuen an den Mast binden lassen. Diese sollen sich die Ohren mit Wachs verstopfen und an den gefährlichen Klippen der Sirenen vorbeirudern, was immer Odysseus unter dem Einfluss des betörenden Gesangs ihnen auch befehlen mag.

Kirkes Idee wird 3000 Jahre später unter anderem von Adorno und Horkheimer als Sieg der aufklärerischen Vernunft gegen den Mythos gefeiert.6 Aus entscheidungstheoretischer Sicht werden hier vielleicht zum ersten Mal das Problem der Selbstbindung und seine Lösung beschrieben. Odysseus setzt den Vorschlag der Göttin um und lauscht, gebunden und somit temporär machtlos, dem Gesang der Sirenen:

Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen

Fühlt’ ich weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle,

Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese.7

Anders als Odysseus scheitert die Eurozone an genau diesem Problem der Selbstbindung. Einzelne Mitgliedstaaten erliegen der Versuchung, zu hohe Haushaltsdefizite einzugehen, ihre Banken nicht streng genug zu regulieren und Vorkehrungen zur Krisenabwehr in die Zukunft zu verschieben. Die vor Einführung des Euros beschlossenen Regeln der Währungsunion, wie etwa der Stabilitäts- und Wachstumspakt, sind ein Versuch, die Mitgliedstaaten zu binden, doch sie haben sich als unvollständig und zu schwach erwiesen. Diese Erfahrung zieht sich durch die Krise wie ein roter Faden. Es mangelt nicht an der Erkenntnis, es fehlt an den geeigneten Institutionen, die die Regierungen der Mitgliedstaaten im Angesicht der Sirenen an den Mast fesseln.

Diese Unfähigkeit zur Selbstbindung ist die zentrale Schwäche der Eurozone, das genuine Kernproblem der Währungsgemeinschaft. Wäre es möglich, diesen einen Mangel zu beheben, würde die Eurokrise zu einem einfachen Verhandlungsproblem schrumpfen und die Lösung in Form langfristiger Verträge (wie etwa dem Stabilitäts- und Wachstumspakt) auf der Hand liegen. So aber funktionieren genau diese Verträge nicht, weil sich die Mitgliedstaaten nicht auf ihre Einhaltung festlegen können – obschon die politische Führung Europas unverdrossen an ihnen festhält, sie ausbaut und weiterentwickelt.

In der Werft

Der Euro ist jetzt achtzehn Jahre alt, er hat Europa bis hierhin viel Kummer bereitet, und nicht wenige wünschen ihn fort. Doch er wird bleiben. Zu eng haben Europas politische Lenker ihr Schicksal mit dem des Euros verknüpft. Zu groß sind die Risiken eines Neuanfangs. Es mag ein Fehler gewesen sein, den Euro so früh und so unvorbereitet einzuführen, aber die Gründung der Eurozone lässt sich nicht rückgängig machen. Die Mitgliedstaaten haben mit der Euroeinführung den Weg in eine Einbahnstraße eingeschlagen, die sich als Sackgasse erweist. Denn auch wenn die Brüsseler Elite um mehr Integration wirbt, auch wenn französische Regierungsvertreter eine Wirtschaftsregierung für die Eurozone fordern oder einen Eurofinanzminister – Forderungen dieser Art entbehren angesichts eines Rekordhochs der Europaskepsis der politischen Unterstützung. So steckt die Eurozone im Übergang zwischen einer Zollunion und einem Bundesstaat fest. Dieses Zwischenstadium ist unbehaglich und lässt viele Beobachter nach kühnen und weitreichenden Maßnahmen rufen. Doch es geht nicht vor und nicht zurück, und viel spricht dafür, dass dieser Übergangszustand noch eine Weile anhalten wird.

Dies schränkt den politischen Spielraum stark ein, aber ein »Weiter so« kommt ebenfalls nicht in Frage. Trotz der begrenzten Möglichkeiten gibt es jedoch keinen Grund für Fatalismus. Wer die Eurozone reformieren und krisenfest machen will, muss sich zuerst damit abfinden, dass die D-Mark nicht wiederkommen wird, muss den Euro als gegeben akzeptieren und kühne Visionen einer Gründung des Bundesstaats Europa als das begreifen, was sie sind: Wunschträume oder, für die Gegner eines solchen Europas, Alpträume, in jedem Fall aber realitätsferne Vorstellungen.

Eine Reform muss die Entstehungsgeschichte der Währungsunion berücksichtigen, sie muss an den bestehenden Institutionen ansetzen, auch wenn dies Kompromisse erfordert und manche »saubere« Lösung verhindert. Die Eurozone benötigt robuste Institutionen zur Krisenprävention: ein effektives Anreizsystem, das die Fiskalpolitik in normalen Zeiten davon abhält, zu expansiv zu sein, sowie eine strenge, umfassende Bankenregulierung, die verhindert, dass Bankpleiten das Finanzsystem bedrohen oder Staaten mit in den Abgrund reißen. Die Eurozone braucht starke, effektive Rettungsinstrumente, die Mitgliedstaaten in Zahlungsschwierigkeiten auffangen und Spekulationsattacken abwehren. Schließlich muss sie sich um die Altlasten der aktuellen Krise kümmern, vor allem um die hohen Altschulden der Krisenländer.

Seit 2010 sind viele Reformen auf den Weg gebracht worden, und wesentliche Bausteine einer reformierten Eurozone sind bereits verabschiedet. Doch der Kern des Problems, die Unfähigkeit zur Selbstbindung, wird bislang sträflich vernachlässigt. So überrascht es nicht, dass der frisch verabschiedete Fiskalpakt bereits unterminiert ist, dass sich die Schuldensünder um Strafen herumdrücken können, wie Portugal und Spanien im Sommer 2016; dass die erst Anfang 2016 in Kraft getretenen Regeln der Bankenunion – Staatshilfen gibt es erst, nachdem private Kapitalgeber Verluste absorbiert haben – bei der Abwicklung italienischer Banken im gleichen Jahr bereits gedehnt und umgangen werden.

Wir schlagen eine Reihe moderater Anpassungen in den Entscheidungsverfahren der Eurozone vor, die sich im Dreiklang »Renationalisieren – Technokratisieren – Präzisieren« zusammenfassen lassen. Sie sollen das Selbstbindungsproblem in der Währungsunion abmildern und teilweise lösen. Dort, wo es möglich ist, sollten die Nationalstaaten ihre Verantwortung zurückerlangen. Dort, wo Koordination unabdingbar ist, sollten demokratisch legitimierte technokratische Institutionen einen eng definierten Verantwortungsbereich haben – nach dem Vorbild der Geldpolitik. Für alle Szenarien, auch für den Katastrophenfall einer Staatspleite, braucht die Eurozone präzise definierte Verfahren, die im Ernstfall angewendet werden können.

Die Reform der Euroinstitutionen wird nicht alle Probleme des Euros lösen, und sie wird die Eurozone nicht zum wettbewerbsfähigsten Währungsraum der Welt machen, wie mancher Eurokrat sich erträumt. Doch sie macht die Währungsunion krisenfester, sie stärkt ihre Widerstandskräfte und trägt hoffentlich zu einem friedvollen Miteinander der Mitgliedstaaten bei. Ein solches Programm ist realistisch, nicht visionär – es ist pragmatisch.

Die gute Nachricht dabei ist, dass eine Reform möglich ist und im Vergleich zum Status quo substanzielle Verbesserungen erreichen kann. Eine solche Reform benötigt jedoch starken und stetigen politischen Rückhalt und genau daran mangelt es zurzeit. Seit das Flüchtlingsthema im August 2015 die Eurokrise aus den Medien verdrängt hat, ist der Reformeifer erlahmt. Gleichzeitig wachsen die Widerstände in der Finanzbranche, aber auch in der französischen und italienischen Politik. Obschon noch kaum kostenmäßig zu quantifizieren, wird im Herbst 2015 der Flüchtlingsstrom auch in Italien zum Anlass genommen, alle Defizitziele zu widerrufen. Die Anschläge von Paris im November 2015 werden kehrtwendend mit der Abkehr Frankreichs von der Sparpolitik beantwortet. Doch Flüchtlingskrise, Terror und Brexit überlagern die Eurokrise nur medial. Sie ist nicht gelöst und wird irgendwann in den nächsten Monaten wieder auf die Agenda drängen.

Zurück auf See

Im Reformprozess kommt Deutschland eine zentrale Rolle zu, nicht nur, weil es das größte Mitgliedsland ist und relativ unbeschadet durch die Krise gekommen ist. Im Unterschied zu den anderen großen Mitgliedstaaten entsprechen die vertraglichen Grundlagen der Eurozone in weiten Teilen deutschen Interessen. Es braucht keine revolutionären Änderungen, um den Euro zu einer Währung zu machen, die die Deutschen mehrheitlich unterstützen können. Deutschland könnte so der Protagonist der Eurozone werden, der ihre institutionelle Ausrichtung vertreten und verteidigen kann. Es geht dabei nicht um etwas spezifisch Deutsches, das der Eurozone guttäte. Währungsunionen können auf unterschiedliche Arten erfolgreich sein. Doch die Eurozone hat momentan keine konsistente Ausrichtung, keinen Plan davon, was und wohin sie will. Sie braucht aber genau dies, wenn sie ihren Mitgliedstaaten das liefern will, was sie ihnen versprochen hat, nämlich Wohlstand und Stabilität.

Für eine solche Reform lohnt sich jede Anstrengung, denn die aktuellen Probleme schlagen nicht nur auf die ökonomischen Indikatoren durch. Zu den hässlichen Begleiterscheinungen der Krise gehört das Wiederaufleben von nationalistischen Ressentiments. Deutsche schreiben sich Tugenden wie Ehrlichkeit und Disziplin zu und schauen mit Verachtung auf wahlweise als faul diffamierte Griechen oder als unzuverlässig verunglimpfte Franzosen. Letztere verstehen sich im Gegenzug als die wahren Makler der europäischen Idee und unterstellen den Deutschen Alleinherrschaftsanspruch, Borniertheit oder Verantwortungslosigkeit. Die Lösung aller Probleme wird in der Rückkehr ins Nationale gesucht, in der Besinnung auf das Volkstümliche, das »wahre« Deutsche, Französische etc.; Marine Le Pen will die EU verlassen (»Les Français d’abord!«), und die Pegida-Anhänger in Dresden singen deutsche Volkslieder.

Diese Entwicklung ist gefährlich, ihre Begleiterscheinungen sind armselig, und die ihr zugrunde liegenden Annahmen sind falsch und in höchstem Maße hinderlich für die Reform der EU und der Eurozone. Denn es gibt nicht die typisch nationalen Charaktere, die Staaten für immer auf bestimmte Politikinhalte und -stile festlegen. Ja, es existieren unterschiedliche Interessen und Politikstile, doch sie sind von Institutionen geformt und nicht von menschlichen Charaktereigenschaften. Wer dies für politisch korrekte Schönfärberei hält, frage sich einmal, warum es in allen europäischen Ländern hocheffiziente Unternehmen gibt, die sich am Weltmarkt behaupten können, und daneben dysfunktionale, ineffiziente Strukturen, die anfällig für Korruption und Misswirtschaft sind. Der erinnere sich einmal an die vergangene Europameisterschaft, bei der die taktisch versiertesten und diszipliniertesten Mannschaften aus Portugal und Italien kamen, zwei Ländern, die in der Eurozone nicht nur beim Wirtschaftswachstum die rote Laterne halten. Der führe sich einmal das Desaster um den Berliner Flughafen vor Augen und frage sich, warum dies in dem gleichen Land passieren kann, in dem so viele mittelständische Weltmarktführer existieren. Ob im Fußball, im Unternehmen oder in der Politik: Es sind die Institutionen und nicht der menschliche, schon gar nicht der nationale Charakter, die das Resultat kollektiven Handelns bestimmen. In diesem Sinne kann man die aktuelle Politik Griechenlands oder Italiens in klaren Worten kritisieren, weil diese Kritik kein Kommentar zum Wesen der Griechen oder zum Charakter der Italiener ist, sondern nur zum Resultat kollektiver Entscheidungsfindung in einem suboptimalen politischen System. Genauso wenig ist die zögerliche Reaktion der Eurogruppe auf die Krise als Charakterschwäche zu interpretieren, sondern als Abwesenheit geeigneter Institutionen.

Die Qualität der Institutionen wird auch über die Zukunft der Eurozone entscheiden. Die Institutionen der europäischen Währungsunion sollen krisenrobust sein, sie sollen ein konfliktfreies Miteinander der Mitgliedstaaten sicherstellen und ihnen Stabilität und Wohlstand bringen. Wenn dies durch eine teilweise Renationalisierung in der Finanz- und Wirtschaftspolitik erreicht werden kann, sollte die Eurozone in diese Richtung reformiert werden, auch wenn Renationalisierung in einem semantischen Widerspruch zur europäischen Einigung steht. Die europäische Integration ist gut, weil sie den Menschen ein besseres und freieres Leben ermöglicht; dort, wo sie durch eine Vermengung von Haftung und Kontrolle, durch fehlende demokratische Legitimation und Intransparenz für Frustration und Konflikte sorgt, muss sie durch bessere Institutionen ergänzt werden, und das heißt unter Umständen eben: durch nationale Institutionen.

Die Frage »Welche Institutionen führen zu den besten Ergebnissen?« ist auch deswegen zulässig, weil es bei der gemeinsamen Währung nicht um Krieg und Frieden geht, sondern lediglich um gute Finanz- und Geldpolitik. Der Verweis auf die kriegerische Vergangenheit Europas trägt sicherlich zur Erklärung einiger Entwicklungen bei, insbesondere was die übereilte Einführung des Euros angeht. Doch ansonsten ist er deplatziert. Angela Merkels Maxime »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa«8 vernebelt die Sicht und emotionalisiert eine Frage, die sich ein Land in wohlüberlegter Abwägung stellen sollte: Ist die Mitgliedschaft im Euro für uns vorteilhaft oder nicht? Sollte Griechenland diese Frage verneinen – und wir können uns viele Gründe dafür vorstellen –, sollte es frei von europapolitischen Nebenbedingungen die Drachme wiedereinführen können. Dies geht freilich nur, wenn die Institutionen der Währungsunion dies in geordneter Bahn zulassen.

Odysseus bezahlt die Fahrt mit dem Floß fast mit seinem Leben, doch er kämpft sich zurück:

Lange blieb er untergetaucht, und strebte vergebens,

Unter der ungestüm rollenden Flut sich empor zu schwingen;

Denn ihn beschwerten die Kleider, die ihm Kalypso geschenket.

Endlich strebt’ er empor, und spie aus dem Munde das bittre

Wasser des Meers, das strömend von seiner Scheitel herabtroff.

Dennoch vergaß er des Floßes auch selbst in der schrecklichen Angst nicht,

Sondern schwung sich ihm nach durch reißende Fluten, ergriff ihn,

Setzte sich wieder hinein, und entfloh dem Todesverhängnis.9

Es ist eine Frage des politischen Willens, das Steuer des Floßes wieder in die Hand zu nehmen, die Währungsunion institutionell zu reformieren und sie fit zu machen für künftige Krisen, die mit Sicherheit kommen werden. Die aktuelle Krise hat Europa nicht nur erschüttert, sondern auch tiefgreifend verändert. Bei aller Not in den Krisenländern, bei all den Sorgen im Norden der Eurozone, bei all den bürokratischen Reformdetails und deprimierenden Verteilungskonflikten zwischen den Staaten – man darf bei all dem nicht vergessen, dass die Entwicklung, die momentan stattfindet, von historischer Bedeutung ist. Die Veränderungen, die der Kontinent durchmacht, sind fundamental, wir leben in aufregenden, turbulenten Zeiten. Die Zukunft der Eurozone ist formbar, und sie wird geformt. In jedem Jahr wird ihre Geschichte fortgeschrieben, sei es durch weitreichende politische Entscheidungen, sei es durch das Ausbleiben ebensolcher.

Als Odysseus sich zurück auf das Floß gekämpft hat, beruhigt sich das Meer.

Hiehin und dorthin trieben den Floß die Ströme des Meeres.10

In diesem Buch geht es darum, dem Floß Eurozone eine Richtung zu geben.

Kapitel 1
Am Vorabend der Krise

Das politische Leben läuft so: Demokratie hin, Demokratie her,
Wahlen hin und her, repräsentative Demokratie kann nur erfolgreich sein,
wenn irgendeiner sich hinstellt und sagt: So ist das. Ich verbinde –
wie ich – meine Existenz mit diesem politischen Projekt.

Ich wollte, daß der Euro kommt, weil für mich
die Einführung des Euro eine Frage der Beständigkeit,
der Irreversibilität der europäischen Entwicklung ist.

Helmut Kohl1

Einigermaßen perplex sind ausländische Beobachter, insbesondere Ökonomen aus den USA, als in den 1990er-Jahren die entscheidenden Weichen für die Einführung des Euros gestellt werden. Der Euro widerspricht als währungspolitische Maßnahme allem, was aus theoretischer und praktischer Sicht sinnvoll erscheint. Wenn die vergangenen fünfundzwanzig Jahre europäischer Währungsgeschichte etwas gezeigt haben, dann, dass regelmäßige substanzielle Anpassungen – also Ab- oder Aufwertung der Währungen – notwendig sind, um die Ungleichgewichte zwischen den Staaten zu beseitigen. Wenige Jahre zuvor war Großbritannien noch mit großem Knall aus dem Europäischen Währungssystem geflogen.

Drei Jahre vor der Euroeinführung urteilt der deutschstämmige US-Ökonom Rüdiger Dornbusch über die European Monetary Union (EMU): »If there was ever a bad idea, EMU is it.« Insbesondere kritisiert er die Motivation des Südens, dem Euro beizutreten:

»Die zukünftigen Partner in der EMU, die finanziell von der Hand in den Mund leben – Frankreich, Italien, Spanien –, beklatschen die Währungsunion. Sie glauben immer noch, dass diese eine Wunderheilung für ihre maroden Finanzen und seit jeher schwachen Währungen mit sich bringt (…).«2

Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman bezeichnet die Einführung des Euros 1998 als »invitation to disaster« und vermutet, dass die Eurozone schon wenige Jahre nach ihrer Gründung in eine schwere Krise geraten könnte. Dies habe dann unweigerlich einen Konflikt zur Folge zwischen »Ländern mit schwachen Ökonomien und populistischen Regierungen – lies Italien oder Spanien (…) – und solchen mit starken Ökonomien und stahlharter Disziplin in der Wirtschaftspolitik – lies Deutschland.«3 In jedem Fall werde sich die Eurozone nicht auf eine adäquate Reaktion auf die Krise einigen können – mit katastrophalen Folgen:

»Die akute Gefahr ist (…), dass Europa japanisch wird: dass es unaufhaltsam in die Deflation rutschen wird (…).«4

Warnende Stimmen gibt es auch aus der deutschen Politik, die allerdings die Gefahren in zu hoher Inflation statt in der Deflation sehen. Der Ministerpräsident Bayerns, Edmund Stoiber, fordert,

»(…) die Kriterien strikt und eng auszulegen. Das hat Vorrang vor dem Zeitplan. (…) Es geht nicht um das Jahr 1999, sondern darum, daß die Währungsunion mit Blick auf das Jahr 2010 oder 2015 funktioniert.«5

Und der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf warnt vor einem Scheitern des Euros, »verursacht durch das Fehlen des politischen Unterbaus«6.

Doch die politischen Entscheider in den europäischen Hauptstädten sind für solche Argumente nicht zugänglich. Denn dort geht es nicht um die Wahl zwischen zwei währungspolitischen Modellen – nein, hier wird Geschichte geschrieben.

Die elf Länder, die am 1. Januar 1999 den Euro einführen, tun dies nicht blauäugig. Sie wissen, dass die Eurozone nicht dem Idealbild eines optimalen Währungsraums entspricht. Als 1997 die letzten politischen Weichen gestellt werden, verletzen nicht wenige zukünftige Euroländer die Konvergenzkriterien, die im Maastricht-Vertrag als Voraussetzung für eine Teilnahme an der Währungsunion niedergelegt sind. Das institutionelle Regelwerk, das den Euro stützen soll, lässt wichtige Fragen offen, nicht zuletzt zur Rettung von Banken und überschuldeten Staaten. Schlimmer noch, es gibt zu diesen Fragen gar keinen Konsens, geschweige denn hinreichende politische Unterstützung, um die Mängel abzustellen. Und doch kommt der Euro.

Vor allem Bonn und Paris fürchten, dass sich Ende der 1990er-Jahre ein historisches Fenster schließt. Die Ära Kohl nähert sich dem Ende, und in der deutschen Opposition wird der Euro mit gemischten Gefühlen gesehen (Gerhard Schröder bezeichnet ihn einmal als »kränkelnde Frühgeburt«). Die Franzosen hingegen pochen auf die Zusage der Deutschen, die D-Mark zugunsten einer europäischen Währung aufzugeben. Ein Nachfolger Kohls könnte, so die Befürchtung, der deutsch-französischen Partnerschaft nicht mehr den gleichen exklusiven Status beimessen. Tatsächlich besucht Gerhard Schröder nach seinem Amtsantritt 1998 zunächst Tony Blair in London, bevor es nach Paris geht.7 Kohl und Chirac sehen 1997 vielleicht zu Recht das Europrojekt in Gefahr.

Der Schlussstein der europäischen Einigung

Warum ist die gemeinsame Währung so wichtig? Insbesondere für Kohl ist der Euro der Schlussstein einer selbsttragenden Brücke, ohne den die europäische Einigung in sich zusammenbrechen würde. Der Euro führt nach seiner Ansicht einen Prozess fort, der 1945 begonnen hat. Damals blickt Europa auf eine Vergangenheit zurück, die von aggressivem Gegeneinander mit zuletzt zwei verheerenden Weltkriegen geprägt war. Nach der vollständigen Niederlage Deutschlands im Mai 1945 gelingt nur wenige Jahre später der Neuanfang, auch weil die historischen Umstände glücklich sind. Mit der Sowjetunion hat Westeuropa einen gemeinsamen Feind, der die ehemaligen Kriegsgegner Frankreich und Deutschland in eine Partnerschaft zwingt. Auch die USA drängen aus strategischen Gründen auf die europäische Einigung. Die erste Generation führender Politiker, darunter Jean Monnet, Robert Schuman, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, erschafft Institutionen zur Handels- und Wirtschaftsförderung wie die Kohle- und Stahlunion (1952) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1958), mit dem Ziel, durch ökonomische Integration zukünftige Konflikte unwahrscheinlich zu machen. Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing entwickeln die Kooperation zur Partnerschaft, die sich in den politischen und wirtschaftlichen Krisen der 1970er-Jahre als robust erweist. Unter Helmut Kohl und François Mitterrand wandelt sich die Partnerschaft zur deutsch-französischen Freundschaft und die Zusammenarbeit zur Aussöhnung.

Diese Entwicklung wird jäh unterbrochen durch den Fall des Eisernen Vorhangs im Sommer und Herbst 1989. Die Bestrebungen der Regierung Kohl in Richtung Wiedervereinigung stellt das deutsch-französische Bündnis vor eine Belastungsprobe. Die französische Regierung unter Staatspräsident Mitterrand ist strikt gegen die Wiedervereinigung, weil sie die Machtbalance in Europa deutlich zugunsten Deutschlands verschieben würde. Nicht nur, dass Deutschland um knapp ein Viertel an Größe zulegen würde, es liegt nach Ende des Ost-West-Konflikts nun auch in der Mitte Europas, während Frankreich von der Mitte an den westlichen Rand rutscht.8 Mitterrand fordert von den Deutschen ein klares Bekenntnis zum europäischen Einigungsprozess: den Euro.9

Um zu verstehen, warum der Euro für Frankreich so wichtig ist, muss man ein wenig ausholen. Die Idee einer europäischen Währungsunion lässt sich auf den Bericht der Hallstein-Kommission von 1962 zurückführen. 1970 veröffentlicht eine Kommission unter der Leitung des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner einen Plan für eine Wirtschafts- und Währungsunion, die in einem dreistufigen Prozess erreicht werden soll. Unter dem Eindruck des zusammenbrechenden Bretton-Woods-Systems, das in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die Wechselkurse zum Dollar fixiert hat, beschließen die Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den Werner-Plan bis 1980 durchzuführen. Doch der Misserfolg des Europäischen Wechselkursverbundes, der nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods ins Leben gerufen wurde, wirft diese Planungen zurück. Ständig wiederkehrende Wechselkursanpassungen (insbesondere Abwertungen des Franc gegenüber der D-Mark), auch aufgrund der Ölpreiskrisen in den 1970-Jahren, lassen die Vorstellung eines gemeinsamen Währungsraums unattraktiv erscheinen. In dieser Zeit rückt ein Akteur in den Fokus der Debatte, der die weitere Entwicklung entscheidend prägen wird: die Deutsche Bundesbank. Teilweise gegen den Willen der Bundesregierung verfolgt sie eine Politik niedriger Inflation – mit weitreichenden Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die europäischen Nachbarn. Die Bundesbank setzt den steigenden Ölpreisen und Lohnabschlüssen der 1970er-Jahre hohe Leitzinsen entgegen. Dies nimmt den Unternehmen die Möglichkeit, die höheren Ausgaben für Öl und Arbeit durch höhere Verkaufspreise zu kompensieren. Die Investitionen sinken, die Arbeitslosigkeit steigt.

Doch nun geschieht Erstaunliches. Weil die Bundesbank als glaubwürdig gilt und ihr Ziel der Preisstabilität als verlässlich, stellen sich alle – Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften, aber auch ausländische Investoren – auf niedrige Inflationsraten ein. Für die Tarifrunden bedeutet dies, dass schon moderate Lohnsteigerungen ausreichen, um die Kaufkraft anzuheben – für ausländische Investoren, dass selbst geringe zukünftige Renditen lohnenswert sind, weil das Geld seinen Wert behält. Die D-Mark ist eine Hartwährung.

Frankreich und das übrige europäische Ausland stehen angesichts der niedrigen Inflation in Deutschland vor einer unangenehmen Entscheidung. Entweder schließen sie sich der Geldpolitik der Bundesbank an, heben die Zinsen und akzeptieren den vorübergehenden Kollateralschaden für Investitionen und Arbeitsplätze –, oder sie werten gegen die D-Mark ab. Letztlich aber haben sie nicht wirklich eine Wahl. Denn auch bei einer Abwertung steigen die Zinsen, nehmen die Inflationserwartungen in den Abwertungsländern zu und veranlassen Investoren, höhere Renditen für ihr Engagement zu fordern. Dazu kommt die Unsicherheit über zukünftige Abwertungen. Aus der Sicht Frankreichs hat die Bundesbank die Geldpolitik gekapert und treibt mit ihrem Fokus auf die Inflationsrate die Zinsen hoch.

1978 beschließt der Europäische Rat auf Betreiben von Valéry Giscard und Helmut Schmidt die Einführung des Europäischen Währungssystems (EWS). Doch auch die Vereinbarung fester Wechselkurse löst das Problem der unterschiedlichen geldpolitischen Kulturen nicht. Die D-Mark bleibt die Ankerwährung des EWS – sehr zum Verdruss Frankreichs, das sich geldpolitisch entmündigt fühlt. Zu Beginn der 1980er-Jahre muss der Franc mehrfach gegen die D-Mark abwerten – für Frankreich eine Demütigung. Schließlich geben François Mitterrand und sein Premier Laurent Fabius klein bei und verfolgen fortan eine Politik, die den Wechselkurs zur D-Mark stabilisiert.10 Es beginnt eine Phase relativer Währungsstabilität.

Am 1. Juli 1987 wird in der Einheitlichen Europäischen Akte das Ziel einer Währungsunion festgeschrieben. Zwei Jahre später veröffentlicht eine Kommission unter dem Vorsitz von Jacques Delors einen Plan zur Vollendung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Doch Deutschland zögert. Die Kohl-Regierung folgt der Bundesbank, die vor der Einführung einer gemeinsamen Währung eine weitreichende politische Integration fordert; die Währungsunion soll die Krönung der Integration darstellen (Krönungstheorie). Dem setzen die Anhänger der Grundsteinlegungstheorie entgegen, dass eine gemeinsame Währung der Auftakt zur Entstehung einer politischen Union werden könne.11

Deutschland einhegen, Bundesbank entmachten

Als 1989 die Mauer fällt, ergeben sich sowohl für Deutschland als auch für Frankreich historische Chancen. Deutschlands Wiedervereinigung wird möglich, und Frankreich wittert seine Chance, aus der von ihm so wahrgenommenen monetären Fremdherrschaft auszutreten. Zwar waren die Hartwährungsjahre unter der Ägide der Bundesbank gute Jahre für Frankreich – das französische Pro-Kopf-Einkommen ist zu dieser Zeit höher als das deutsche –, aber der Wunsch nach Souveränität in allen Bereichen ist überwältigend. Die deutsche Einheit, so Mitterrand zu Kohl, geht nur über die Opferung der Bundesbank.

Die deutsche Regierung, das muss man klarstellen, ist zu diesem Zeitpunkt nicht grundsätzlich gegen den Euro, auch wenn sie sich damit gegen die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Der Euro soll eingeführt werden, nur eben als Abschluss einer längeren Phase der politischen Integration. Dies ist, anders als von den Franzosen beargwöhnt wird, keine Hinhaltetaktik. Zumindest Helmut Kohl ist davon überzeugt, dass der Euro kommen wird – nur eben nicht sofort. Doch aus Sorge, die historische Chance auf Wiedervereinigung aufgrund des französischen Widerstands zu verpassen, werden im Verlauf der Verhandlungen die deutschen Forderungen nach weiterer politischer Integration zurückgeschraubt. Die Zustimmung zu einer schnellen Einführung des Euros wird von Frankreich und den anderen europäischen Staaten als glaubwürdiges Signal interpretiert, dass auch das vergrößerte Deutschland den Weg der europäischen Einigung weitergehen will.

Die Verhandlungen über eine gemeinsame Währung werden kurz nach der Wiedervereinigung aufgenommen und finden im Februar 1992 ihren Abschluss im Vertrag von Maastricht. Dieser Vertrag sieht einen mehrstufigen Plan zur Einführung des Euros vor, der spätestens 1999 mit der endgültigen Fixierung der Wechselkurse abgeschlossen sein soll.

Der Vertrag legt die Kriterien fest, die eingehalten werden müssen, um in die Währungsunion aufgenommen werden zu können. Dies betrifft den Außenwert der Währung, die Zinssätze und, vor allem, Haushaltsdefizite und Schuldenstände. In Artikel 104c des Vertrags heißt es in Satz 1: »Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite.« Das Zusatzprotokoll legt die Referenzwerte dafür fest, was »übermäßig« bedeutet: Haushaltsdefizite über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sowie Schuldenstände von über sechzig Prozent. Doch die Vertragspartner lassen sich in Artikel 104c, Satz 2, eine Hintertür offen. Die Kommission muss nämlich bei Überschreitung der Referenzwerte nicht tätig werden, wenn »entweder das Verhältnis [von Defizit zu BIP] erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwerts erreicht hat oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwerts bleibt«. In Artikel 104b findet sich das Nichtbeistandsgebot (No-Bail-out-Klausel): »Die Gemeinschaft haftet nicht für die Verbindlichkeiten der (…) Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; (…) Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten (…) eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; (…).« Die Klausel ist ein Verhandlungserfolg der deutschen Delegation, die sich schon in diesem Stadium gegen Forderungen aus dem Süden wehren muss, mit der neuen Währung auch die interregionale Umverteilung deutlich auszubauen.

Auch bei der Geldpolitik erzielen die Deutschen einen Erfolg. Die EZB soll die Tradition der Bundesbank fortführen, der Euro ein Nachfolger der D-Mark sein. In Artikel 105 des Maastricht-Vertrags heißt es: »Das vorrangige Ziel des ESZB [Europäischen Systems der Zentralbanken] ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten.« Und weiter: »Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen.« Dazu gehört auch ein »hohes Beschäftigungsniveau«.

Aus heutiger Sicht fällt auf, dass der Vertrag kaum eine Maßnahme zur politischen Integration vorsieht. Vorstöße in diese Richtung werden konsequent von den Franzosen blockiert – was auf bemerkenswerte Weise mit den aktuellen Vorschlägen Frankreichs für eine Eurozonen-Regierung kontrastiert. Die französische Souveränität ist Anfang der 1990er-Jahre nicht verhandelbar, auch wenn Kohl wiederholt auf die Notwendigkeit einer politischen Union hinweist:

»Man kann dies nicht oft genug sagen. Die politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.«12

Ein gutes Jahr nach dem Vertrag von Maastricht gerät das Europäische Währungssystem in die Krise. Was ist passiert? Die deutsche Wiedervereinigung hat Deutschland aus dem konjunkturellen Rhythmus gebracht. Während fast alle anderen Länder Ende der 1980er-Jahre in einen Abschwung geraten sind, fängt in Deutschland der Einigungsboom an, der fast zwei Jahre lang andauert. 1993 bricht die Konjunktur in Deutschland dann plötzlich ein, doch da ist es für das EWS schon zu spät. Die mit dem Boom einhergehenden steigenden Preise werden von der Bundesbank mit höheren Zinsen beantwortet. Lag der Leitzins Anfang 1989 noch bei vier Prozent, setzt ihn die Bundesbank im Sommer 1992 auf 8,75 Prozent. Um Kapitalflucht zu verhindern, müssen die anderen EWS-Länder nachziehen und die Zinsen erhöhen, obwohl die gesamtwirtschaftliche Nachfrage am Boden liegt. Großbritannien verlässt nach schweren Spekulationen gegen das Pfund schließlich das EWS, Italien wertet stark ab.

Die EWS-Krise stellt die Einführung des Euros grundlegend infrage, denn sie offenbart schonungslos die Schwächen eines Währungssystems mit festen Wechselkursen. Europa hat aber auch gesehen, welchen Schaden die Nachbarländer Deutschlands erleiden, wenn sie sich dem Diktat der Deutschen Bundesbank unterwerfen. Die Konsequenzen werden in unterschiedlicher Weise gezogen. Großbritannien verschreibt sich fortan einem flexiblen, wenngleich gemanagten Wechselkurs – eine Haltung, die auch viele deutsche Ökonomen für Deutschland vorziehen würden. Frankreich hingegen sieht sich in seinem Vorhaben bestärkt, die Bundesbank zu entmachten. Eine einheitliche Geldpolitik – und damit ist auch gemeint: eine weniger deutsche Geldpolitik – soll ein gemeinsames Währungssystem stabilisieren. Aus französischer Sicht ist der Euro ein Instrument zur Einhegung des ökonomischen Hegemons Deutschland.

»Ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel«

Die politische Führung in Europa hält am Ziel der Währungsunion fest. Doch die Kritik wird lauter. Ralf Dahrendorf sagt 1995:

»Die Währungsunion ist ein großer Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet.«13

Auch in der deutschen Bevölkerung wächst die Sorge, dass die D-Mark zugunsten einer europäischen Weichwährung aufgegeben wird. Man fürchtet den Einfluss der Südländer auf die Geldpolitik. Die deutsche Regierung reagiert darauf und zwingt die europäischen Partner in Nachverhandlungen. »Wenn schon den Euro, dann zu unseren Bedingungen«, wird den deutschen Wählern signalisiert. Auf Druck von Finanzminister Theo Waigel, der sich fortan als Garant der Währungsstabilität stilisiert, einigen sich die Finanzminister 1996 in Dublin darauf, dass die Konvergenzkriterien von Maastricht auch nach Einführung des Euros Bestand haben sollen. Im Vertrag von Amsterdam werden diese Regeln 1997 im Stabilitäts- und Wachstumspakt niedergeschrieben. Dass die Europäische Zentralbank in Frankfurt angesiedelt und mit Wim Duisenberg der erste EZB-Präsident ein Niederländer sein wird, soll bei den Deutschen für zusätzliches Vertrauen sorgen.

1.1_94mm

Abb. 1.1  Eurostaaten mit Haushaltsdefizit über 3 Prozent
Euro 12: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien; Neu-Euro 7: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Slowakei, Slowenien, Zypern. Das Maastricht-Kriterium bezieht sich auf das Finanzierungsdefizit des gesamten Staatssektors als Anteil des BIP. Quelle: Eurostat.

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