Johanes Sachslehner

1918

DIE STUNDEN
DES UNTERGANGS

logo

ISBN 9783990402566

© 2005 und 2014 by Styria Premium

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

Umschlaggestaltung: Bruno Wegscheider

Buchgestaltung: Alfred Hoffmann

Reproduktion: Pixelstorm, Wien

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

„Das Grauen“. Federzeichnung von Alfred Kubin.
©VBK, Wien, 2005.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Augenzeugen

Niemandsland zwischen den Zeiten

0 UHR

0 UHR 30

1 UHR

1 UHR 30

2 UHR

2 UHR 30

3 UHR

3 UHR 50

4 UHR

4 UHR 22

5 UHR

6 UHR

6 UHR 36

6 UHR 50

7 UHR

7 UHR 15

7 UHR 20

7 UHR 30

7 UHR 50

8 UHR

8 UHR 20

8 UHR 30

9 UHR

9 UHR 05

9 UHR 10

9 UHR 15

9 UHR 30

9 UHR 55

10 UHR

10 UHR 15

10 UHR 30

10 UHR 45

10 UHR 50

11 UHR

11 UHR 15

11 UHR 30

11 UHR 40

11 UHR 45

11 UHR 50

12 UHR

12 UHR 30

12 UHR 45

13 UHR

13 UHR 12

13 UHR 30

14 UHR

14 UHR 15

14 UHR 20

14 UHR 30

14 UHR 35

14 UHR 45

15 UHR

15 UHR 10

15 UHR 30

15 UHR 45

16 UHR

16 UHR 35

16 UHR 45

16 UHR 51

17 UHR

17 UHR 10

17 UHR 15

17 UHR 30

17 UHR 45

18 UHR

18 UHR 09

18 UHR 30

18 UHR 45

19 UHR

19 UHR 15

19 UHR 30

19 UHR 45

20 UHR

20 UHR 15

20 UHR 30

21 UHR

21 UHR 30

21 UHR 50

22 UHR

22 UHR 15

22 UHR 30

22 UHR 40

22 UHR 45

23 UHR

23 UHR 10

23 UHR 30

23 UHR 45

23 UHR 48

23 UHR 50

0 UHR

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Archivalische Quellen

2. Zeitungen

3. Memoiren, Erinnerungen, Augenzeugenberichte, Regiments- und Divisionsgeschichten, literarische Darstellungen

4. Literatur (in Auswahl)

Bildnachweis

Ein Herzliches Danke

Weitere Bücher

Für Kasia, Nina und Laura

Hoffnung auf eine glückliche Heimkehr: k. u. k. Soldaten an der Südwestfront.

AUGENZEUGEN

Es reut uns, daß nächtlich im Bette wir ruhten
Bei diesem Verbluten der Edlen und Guten.

Es reut uns, die wir uns freuten und lachten
In der Zeit, die in Qual und Schmutz sie verbrachten.

Es quält und durchs Leben, beschmutzt uns das Leben,
daß es diesen Krieg, diesen Kaiser gegeben.

Karl Kraus, Heldengräber

… und wenn auch das Grauen manchem von ihnen in langen Kriegsjahren zur gewohnten Umgebung geworden war, und wenn sie auch unter Flüchen und Witzen ihr Lager herrichteten, so gab es doch keinen, der nicht wußte, daß er als einsamer Mensch mit einsamem Leben und einsamem Tode hier herausgestellt worden war in eine übermächtige Sinnlosigkeit, in eine Sinnlosigkeit, die sie nicht begreifen oder höchstens als Scheißkrieg bezeichnen konnten.

Hermann Broch, 1918 Huguenau oder die Sachlichkeit

Das waren Tage, wo man schlafen ging, um für einige Stunden Vergessen zu finden, sich loszulösen von einem harten Geschehen.

Friedrich Funder, Vom Gestern ins Heute

Österreich war damals am Marsch. (Phonetisch zu lesen.)

Anton Kuh, Großösterreich stirbt

Mravni kráso 28. řijna zustan s námi, zustan s námi na veky!

„Moralische Schönheit des 28. Oktobers, bleib mit uns in alle Ewigkeit!“

Rudolf Medek (1890 – 1940),

tschechischer General und Schriftsteller

Die einen trauerten um ein versunkenes Reich, die anderen träumten vom Aufgehen in einem neuen Reich aller Deutschen, und in der Mitte befand sich nichts.

Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten

Ach, nicht im Willen und im Denken lag das Geheimnis der Geschichte, sondern im abgefeimten Zusammenspiel des Lebens selbst, das ähnlich wie das menschliche Bewußtsein nichts als eine gehetzte, fiebrische Bilderflucht war, deren Gesetzmäßigkeit Gott allein enträtseln konnte.

Franz Werfel, Barbara oder Die Frömmigkeit

Auf dieser Erde schritt ich
und spürte meine Glieder nicht,
so leicht war mir.

Egon Schiele

NIEMANDSLAND ZWISCHEN DEN ZEITEN

Man schreibt den 28. Oktober 1918: 24 dramatische Stunden, in denen der Untergang Österreich-Ungarns unumstößliche Gewissheit wird. Ein Tag, an dem der Wahnsinn einer „großen Zeit“ seinen abschließenden Höhepunkt erreicht. Während am Monte Asolone und am Monte Pertica, am Piave und am Monticano sich die letzten getreuen k. u. k. Regimenter verzweifelt der Offensive der Alliierten entgegenstemmen, im mörderischen Granathagel der feindlichen Artillerie verbluten, wird in Wien die neue Regierung eines Staates angelobt, der eigentlich gar nicht mehr existiert. Soldaten aus Böhmen und Mähren, aus Polen und Ungarn kämpfen und sterben für ein Vaterland, das nicht mehr ihres ist, für einen Kaiser, der seltsam kraftlos zusieht, wie die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf nehmen. Während er, verstrickt in Illusionen von Gottesgnadentum und Treue zur Dynastie, noch immer auf den Abschluss eines Friedens hofft, der den Fortbestand der Monarchie ermöglicht, entgleitet ihm Schritt für Schritt die Macht. Ohnmächtig müssen er und seine Minister zusehen, wie in Prag und Krakau, in Budapest und Agram der Doppeladler in den Staub getreten, die Apokalypse des Vielvölkerstaats Wirklichkeit wird. Es ist ein denkwürdiger Feiertag für Jahrhunderte hindurch von Habsburg unterdrückte Nationen, traumatisches Erleben hingegen für jene, die das von schwarz-gelben Grenzbalken umschlossene Land als ihre Heimat ansehen.

Es sind 24 chaotische Stunden, in denen Heldenmut und feiger Verrat, Zaudern und entschlossenes Handeln, Gleichgültigkeit und selbstlose Hilfsbereitschaft aufeinander treffen und miteinander in Wechselwirkung treten, 24 lange Stunden des Hungers und der Verzweiflung, 24 dunkle Stunden, in den Tausende sterben, hingestreckt vom tödlichen Virus der Spanischen Grippe. 24 gespenstische Stunden, in denen das Gestern zu Ende geht und in ersten hellen Umrissen ein Morgen heraufdämmert: von Schrecken, aber auch von Hoffnung erfülltes Niemandsland zwischen den Zeiten, das die Konflikte der Zukunft bereits erahnen lässt. Tummelplatz für die Männer, die den Nachkrieg und die Republik bestimmen werden, die in gewaltigen Visionen schwelgen, weit reichende revolutionäre Konzepte bereithalten, gewagte Experimente angedacht haben. Ideologen und Parteidoktrinäre, Idealisten und Querdenker, Fantasten und selbst ernannte Propheten formulieren ihre Parolen für die neue Zeit. Und in einem Lazarett im pommerschen Pasewalk beschließt ein durch Giftgas zeitweilig erblindeter Gefreiter namens Adolf Hitler Politiker zu werden …

Johannes Sachslehner

Nachschub für die Fronttruppen am Monte Asolone:
kurze Rast auf dem schmalen Saumweg durch die Cesillaschlucht.

0 UHR

Felsenfestung Monte Asolone im Monte-Grappa-Massiv, eine Schlüsselstellung der etwa 140 km langen Südwestfront, die von den Bergriesen Südtirols bis zur Mündung des Piave reicht. Seit vier Tagen tobt hier, in einer trostlosen Stein- und Felswüste 1500 Meter über dem Meer, die Schlacht. Gehalten wird dieser Frontabschnitt, der sich weiter westlich durch das tief eingeschnittene Tal der Brenta bis zum Monte Alessi und zu den Linien des VI. Korps fortsetzt, im Osten die ebenso steile Schlucht des Valle Cesilla quert und unterhalb des Monte Pertica an die Stellungen des I. Korps grenzt, vom XXVI. k. u. k. Armeekorps, kommandiert von General der Infanterie Ernst von Horsetzky. Die grauenvolle Zerrissenheit dieser wasserlosen Landschaft soll, so erzählt man sich, bereits Dante Alighieri vor Augen gehabt haben, als er in seiner Divina Commedia den Eingang zum Inferno beschrieb: eine kahle, lebensfeindliche, schwer zugängliche Bergwelt, erreichbar nur über einen Fußsteig, der vom kleinen Dorf Vannini, gelegen am Zusammenfluss von Brenta und Cismon, hier heraufführt. Dreizehnhundert Höhenmeter müssen die Nachschubkolonnen auf diesem bewältigen, auf Schritt und Tritt sind Pferde und Träger dem schweren Feuer des Feindes ausgesetzt, der von seinen höher gelegenen Positionen im Gipfelbereich des Monte Grappa den gesamten Weg einsehen kann und dies gnadenlos nützt – es gibt kaum eine Möglichkeit vom Weg abzuweichen. Am Osthang der engen Cesillaschlucht, die sich vom Hauptgipfel des Gebirgszugs, dem Monte Grappa (1775 m), herabzieht, hat man in halber Höhe einen Saumweg in den Fels gehauen, der zum östlichen Flügel der Stellung führt; auch hier wütet täglich die italienische Artillerie. Die Transporte aus dem Tal müssen dennoch Tag für Tag weitergehen: Allein der Schießbedarf des Korps für einen einzigen Kampftag beträgt 2.200 Tonnen, dazu kommen Lebensmittel, Heiz-, Bau- und Befestigungsmittel. Unter verzweifelter Anstrengung der Seilbahnabteilungen errichtete Seilbahnverbindungen sind im Geschosshagel immer wieder zerfetzt worden, ein Druckpumpenwerk im Brentatal liefert zwar Wasser, aber nie in ausreichendem Maße.

Geradezu komfortabel und hoch technisiert dagegen die Stellungen der Italiener am Monte Grappa, dem höchsten Gipfel im Süden des Massivs, dessen Flanken nach allen Seiten hin steil abfallen und so gut zu verteidigen sind: unterirdische Unterkünfte, eine beschusssichere Wasserleitung, ein Elektrizitätswerk, ein Lazarett und eine gut ausgebaute Zufahrtsstraße, die auch für Lastkraftwagen befahrbar ist. Luigi Cadorna, Oberbefehlshaber des italienischen Heeres bis zur Niederlage von Karfreit im Oktober 1917, hat die Grappa-Position bereits 1916 zur strategisch perfekt gelegenen Auffangstellung ausbauen lassen – eine Vorsichtsmaßnahme, die sich nun, nach dem Zusammenbruch der Isonzo-Front, mehr als bezahlt macht: Der Grappa-Gipfel, die letzte Barriere vor der venetianischen Tiefebene, wird für die k. u. k. Armee zur unüberwindlichen Hürde. Im November 1917 kommt hier der österreichische Vorstoß zum Stehen, der Abwehrsieg am Monte Grappa rettet die Italiener vor dem Aufrollen der gesamten Front am Piave.

Es ist eine empfindlich kühle Herbstnacht, über dem von Granaten zerwühlten Felsenmeer liegt der süßliche Geruch des Todes: Tausende sind hier in den letzten Tagen gestorben – von Kugeln und Splittern durchsiebt. Am Morgen des 24. Oktobers waren elf Divisionen der 4. italienischen Armee von General Gaetano Giardino an der Grappa-Front zum entscheidenden Angriff angetreten, am 25. stand der Feind dreimal am Monte Asolone, dreimal konnte der Gipfel im Gegenangriff wieder zurückerobert werden. Für die Überlebenden des südmährischen Infanterieregiments Nr. 99 ist es jedoch endlich ruhig geworden, in einer Reservestellung haben die abgekämpften Soldaten Gelegenheit etwas Schlaf zu finden. Leutnant Otto Gallian verbringt dennoch eine äußerst unruhige Nacht. Immer wieder läutet das Telefon: Die Bürokraten beim Regimentskommando möchten wissen, wie viel Schuhe seine Leute brauchen, dann wie viel Decken benötigt werden, es folgen lästige Fragen nach Konserven, Mänteln, Kappen und schließlich auch nach der Zahl der notwendigen Unterhosen. Bis der junge Offizier die Geduld verliert, kurz entschlossen sein Messer aus der Tasche zieht und den Telefondraht kappt – die Freude über die so gewonnene Nachtruhe ist jedoch nur kurz: Ein diensteifriger Telefonist taucht in der Dunkelheit auf, drängt darauf, dass er endlich ans Telefon gehen müsse, dem Leutnant bleibt nichts anderes übrig, als den Teufelsdraht mit einem Isolierband wieder zusammenzuflicken.

Leutnant Otto Gallian, der mitten in der Nacht so rücksichtslos schikaniert wird, hat übergenug vom Krieg, aber will nicht aufgeben, denn er ist Soldat mit Leib und Seele und wenn wir bis jetzt durchgehalten haben, so ist es ein Verbrechen, im letzten Augenblick auszuspannen und sich dem Feind auszuliefern. Da heißt es die Zähne zusammenbeißen und durchkämpfen, ob’s einem nun gefällt oder nicht …

Zusammen mit 15 weiteren Infanterieregimentern bilden die 99-er das k. u. k. XXVI. Korps „Asolone“, kommandiert von General der Infanterie Ernst von Horsetzky. Die Zusammensetzung seiner Truppen ist ein Spiegelbild des habsburgischen Vielvölkerstaats: Neben drei von deutschsprachigen Mannschaften dominierten Regimentern zählen dazu jeweils vier ungarische und kroatische Regimenter, drei tschechische, ein ruthenisches und ein bosnisches. Die Situation des Korps „Asolone“ ist kritisch: Nur durch den Einsatz des Geburtsjahrgangs 1899 und von russischen Heimkehrern kann der Stand halbwegs gehalten werden, die Kampfkraft der Mannschaften schätzt der erfahrene Soldat allerdings nicht allzu hoch ein: Sind doch 137 Mann des Bataillons zum ersten Mal an der Front, davon haben 125 noch nicht das 20. Lebensjahr erreicht.

Die tatsächliche, erdrückende Überlegenheit der Alliierten ist den Männern um Otto Gallian in der Kampflinie am Monte Asolone unbekannt: Sie wissen nicht, dass 608 k. u. k. Bataillone und 403.100 Gewehre einer feindlichen Streitmacht von 912 Bataillonen und 670.000 Gewehren gegenüberstehen, dass von den 58 Divisionen an der Südwestfront bereits 19 nur mehr 25 bis 50 Prozent des Sollstandes aufweisen und neun durch die Malaria geschwächt sind – allein im August 1918 verliert die Isonzoarmee 33.000 Mann durch Krankheit, die Tagesabgänge durch Malaria, Ruhr und Grippe bei der Heeresgruppe Boroević steigen bis auf 6.800 Mann. Auch ohne Feindeinwirkung schwindet die Widerstandskraft, der Geist der Truppe ist nicht mehr überall der alte.

Seit dem 17. Oktober ist Otto Gallian wieder bei seinem Bataillon, die zwei Wochen davor hat er auf Fronturlaub in Wien verbracht und hier ein Wiedersehen mit seinem Bruder Karl gefeiert, der aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt ist und nun auf seine Wiedereinberufung wartet. In der Hauptstadt, so hat er feststellen müssen, sieht es traurig aus: Endlose Streiks, eine Unzahl Deserteure. Die Zeitungen, die sich in der Zeit des Glanzes und der Siege nicht genug des Lobes tun konnten, fordern offen zur Revolution auf … Die Behörden kraftlos und schwächlich, die Verhältnisse sind ihnen längst über den Kopf gewachsen. Armes Vaterland!

Der Leutnant erinnert sich an einen Wiener Straßenbahnschaffner, der mit Verwunderung registriert hatte, dass da jemand noch pflichtbewusst an die Front fahre, obwohl ohnehin schon bald alles aus wäre – der gute Mann ahnte nicht, dass für ihn, den Offizier mit Leib und Seele, an die Front fahren so viel wie „nach Hause“ fahren bedeutet. Nur hier, inmitten der Kameraden, fern der zerwühlten und zerrissenen Heimat, fühlt er sich frei und glücklich, die Existenz als Soldat ist ihm zu Sinn und Inhalt des Lebens geworden.

Und während ringsumher eine Welt einstürzt, das alte Donaureich in Trümmer zerberstet, ersteht hier in den blutgetränkten Felsen der Brenta zum letzten Male altösterreichisches Soldatentum in seiner ganzen Größe, geht zum letzten Male durch die Schluchten des Grappa ein Ahnen von Nibelungentreue und Nibelungenlos …

Während sich Leutnant Otto Gallian so beim Abzählen der erforderlichen Unterhosen seine Gedanken über den Krieg macht, sitzt beim Heeresgruppenkommando in Udine der Generalstabschef der Heeresgruppe Boroević, Generalmajor Anton Ritter von Pitreich, die rechte Hand des Feldmarschalls, wie immer noch über seinem Tagebuch. Pitreich, 1870 in Wien als Sohn eines k. u. k. Feldzeugmeisters geboren, hat eine mustergültige Karriere hinter sich: Theresianische Militärakademie und Kriegsschule jeweils mit sehr gutem Erfolg absolviert, die Prüfung zum Major im Generalstab (1907) mit sehr entsprechendem Gesamterfolg. Sein Chef Boroević ist voll des Lobes über ihn: Streng, gerecht, leidenschaftslos, nobel, notiert er im „Vormerkblatt für die Qualifikationsbeschreibung“, militärisch sehr begabt, wissenschaftlich hoch gebildet, in den schwierigsten Situationen ruhig, besonnen, dabei stets initiativ. Den Krieg hat Pitreich, der hervorragend französisch und gut ungarisch spricht, von Anbeginn mitgemacht: 1914 bei der 3. und 5. Armee in Galizien, wo er in den Oktoberkämpfen um Przemyśl erstmals im Feuer stand, später am Isonzo, dabei immer klaren Überblick und volles Verständnis für die Lage bekundet, im kritischen Moment große Ruhe bewahrt. Doch nun gibt sich der erfahrene und hoch dekorierte Generalstäbler, bei dem im Laufe des Tages alle Informationen von den Fronttruppen zusammenlaufen, keinen Illusionen mehr hin: „Am Abend zeigt sich, dass der feindliche Einbruch namentlich von Papadopoli aus nicht unbedenkliche Fortschritte machen konnte. An ein Hinauswerfen des Feindes aus dem Bereich der Isonzoarmee wie auch der 6. Armee ist, bei aller Tapferkeit der noch verfügbaren treuen Truppen, wohl kaum mehr zu denken; die Zahl jener Truppen, welche nicht mehr ganz verlässlich sind, mehrt sich; wo man hinhört, werden neue Gehorsamsverweigerungen bekannt; bis in die späte Nacht hinein laufen hierüber Meldungen ein.

Nur an der Front „frei und glücklich“:
Leutnant Otto Gallian – Soldat für den Kaiser und den „Führer“.

Nur die Gebirgsfront hatte sich auch heute wieder brav gehalten; dort ist das zersetzende Gift aus dem Tale noch nicht auf die umkämpften Höhen gelangt. So kommt es zur traurigen Erkenntnis, dass auch der militärische Widerstand hiermit erledigt ist und es jetzt nur mehr darauf ankommt, an die weiteren Konsequenzen der gänzlich verunglückten Politik zu denken. Diesbezüglich zeigt sich, dass die revolutionären Umtriebe im Hinterland immer ärger werden; Nationalräte, -ausschüsse, -garden etc. gemahnen lebhaft an die Ereignisse im Jahre 1848; wir stehen bereits mitten in der Revolution!“

Anton von Pitreich ist einer jener führenden k. u. k. Offiziere, die an der Konstruktion einer österreichischen „Dolchstoßlegende“ arbeiten und schreiben, eigene militärische Versäumnisse und Unzulänglichkeiten, fehlende Vorbereitung, auch unter den zweifellos schweren Umständen, werden in diesen Aufzeichnungen verschwiegen; so hatte Generaloberst Freiherr Wenzel von Wurm, der Kommandant der Isonzoarmee, noch bis zum Abend des 26. Oktober gemeint, dass man es beim Angriff der Alliierten auf die Insel Papadopoli bloß mit einem Ablenkungsmanöver zu tun hätte – und war dann überrascht, als plötzlich wenige Stunden später massiert britische Infanterie über die Insel hinweg angriff.

0 UHR 30

Baden bei Wien, Armeeoberkommando. Einen bewegten Tag hat auch Generaloberst Arthur Albert Baron Arz von Straußenburg hinter sich, seit 1. März 1917 Chef des Generalstabes für die gesamte bewaffnete Macht Österreich-Ungarns und Generalstabschef des Armeeoberkommandos. Der gebürtige Siebenbürger hat so wie Pitreich eine glänzende Karriere im Generalstabsdienst und bei verschiedenen Kommanden hinter sich, sein Vorbild und Vorgänger Conrad von Hötzendorf hatte ihm schon 1907 in einer Dienstbeschreibung nur das beste Zeugnis ausgestellt: Hervorragend taktvoll, weltmännisch, sehr gewinnendes Auftreten, würdevolle Repräsentation, eignet sich speziell zu Ehrendiensten bei allerhöchsten und höchsten Herrschaften sowie zu repräsentativen Missionen im Ausland … ist stets im Gleichgewicht … vollendeter Kenner des gesamten Dienstbetriebs … fürsorglich für die Truppe … zum Regimentskommandanten hervorragend geeignet … besitzt in vollem Umfang alle Qualitäten sowohl als Truppenführer wie für leitende Stellen der Zentralbehörde.

Nun jedoch scheint diese erfolgreiche Laufbahn einem düsteren Ende zuzusteuern. Aufgewühlt, schlaflos analysiert der Dirigent der k. u. k. Armeen die Lage, lässt die Ereignisse des 27. vor seinem Auge abrollen. Um 7 Uhr morgens waren die Allerhöchsten Majestäten, Kaiser Karl und Kaiserin Zita, mit dem Hofzug am Südbahnhof eingetroffen und hatten sich anschließend zur Entwirrung der österreichischen Krise sofort nach Schönbrunn fahren lassen. Arz war als Verantwortlicher für die militärische Lage als Erster beim Monarchen zum Vortrag geladen – und bei diesem Gespräch gab es die erste böse Überraschung: Er erfuhr, dass mit dem Hofzug auch Graf Mihály Károlyi nach Wien gekommen sei, der Mann, der als Kandidat der radikalen nationalen Kräfte neuer Ministerpräsident in Ungarn werden möchte. Der Generaloberst ist entsetzt, beschwört den Kaiser, Károlyi nicht zum Chef des ungarischen Kabinetts zu ernennen, er sei das Unglück der Monarchie – noch klingen ihm die Worte des Magnaten vom 16. Oktober im Ohr: Wenn wir nicht stürmisch die Gemeinsamkeit mit Österreich aufheben, so werden wir nicht nur den Krieg, sondern auch den Frieden verloren haben …

Beeindruckt vom Widerstand Arzens, der in Ungarn am liebsten eine Militärdiktatur errichten und Károlyi ins Gefängnis werfen lassen möchte, lässt Karl daraufhin den Grafen nicht nach Schönbrunn kommen und in seinem Zimmer im Hotel Bristol „verhungern“, auch die geplanten Gespräche von Károlyi mit Lammasch und Andrássy finden nicht statt; gegen Mittag kann Karl seinem Generalstabschef mitteilen, dass Károlyi noch am Nachmittag wieder abreisen werde. Als Ersatz für den radikalen Grafen fasst Karl den Honvédminister Baron Szurmay ins Auge und fragt bei diesem telefonisch an, ob er sich zutraue, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen – Szurmay lehnt jedoch sofort entschieden ab; die Krise in Budapest ist damit prolongiert. Erst im Exil werden Karl und Zita erfahren, dass die Mitnahme Károlyis im Hofzug auch ihre gute Seite hatte: Radikale ungarische Eisenbahner beabsichtigten den Zug mit dem Kaiserpaar zu stoppen, verzichteten aber auf diese Aktion, als sie von der Anwesenheit des Grafen im Zug erfuhren …

Am Nachmittag hatte dann Feldmarschall Erzherzog Joseph von der Front in Italien kommend in Wien kurz Station gemacht. Kaiser Karl hatte dies zu einem Gespräch mit dem ehemaligen Kommandanten der Heeresgruppe Tirol genutzt und Eindrücke gewonnen, die ihn alles andere als optimistisch stimmten: Auf der Hochfläche der Sieben Gemeinden bei Asiago hatten ungarische Truppen, die 27. und 38. Honvéddivision, gemeutert, weitere Meutereien würden nur mehr eine Frage der Zeit sein. Der Abschluss eines Waffenstillstandes, so Erzherzog Joseph, müsse daher sofort ins Auge gefasst werden. Karl und auch Arz stimmen dieser Ansicht zu; der Kaiser will zunächst aber eine Lösung für das ungarische Problem finden und greift nun eine Idee des zurückgetretenen Ministerpräsidenten Dr. Sándor Wekerle auf: Er ernennt den 46-jährigen Erzherzog Joseph, den ältesten Sohn von Erzherzog Joseph Karl Ludwig, zum homo regius, zum „Stellvertreter des Königs“, der als solcher zwischen den rivalisierenden Parteien vermitteln solle. Erzherzog Joseph erklärt sich mit dieser ehrenvollen Aufgabe einverstanden, erbittet sich jedoch zur Unterstützung eine zuverlässige Division, vor allem ein Regiment, das ihm Treue geschworen habe. Der Kaiser sagt zu, man kommt überein, dass diese Einheiten so rasch wie möglich nach Budapest verlegt werden sollen.

Erzherzog Joseph hatte sich daraufhin sofort zum Ostbahnhof bringen lassen; um 14 Uhr 30 rollte der Schnellzug nach Budapest aus der Station. Am Ende des Zugs war der Salonwagen Erzherzog Josephs angehängt worden; unter den Fahrgästen auch – Graf Mihály Károlyi, der am Vormittag vergeblich darauf gewartet hatte, beim Kaiser einen Gesprächstermin zu erhalten. Angeblich, so berichtete später etwa Prinz Ludwig Windisch-Graetz, Sektionschef im Ministerium des Äußeren, hätte Karl ihn mit Andrássy vertrösten wollen, auf ein Treffen mit seinem Landsmann und Schwiegervater im Ministerium soll wiederum der höchst aufgebrachte Károlyi keinen Wert gelegt haben – die Abneigung der beiden gräflichen Herren zueinander beruhte übrigens auf Gegenseitigkeit: Andrássy hatte sich seinerseits geweigert das Außenamt zu übernehmen, sollte sein Schwiegersohn Károlyi Ministerpräsident in Budapest werden. – „Wenn Sie Károlyi ernennen, können Sie mich genauso gut in ein Irrenhaus schicken, dort würde ich mehr am Platze sein!“, war angeblich Andrássys Kommentar auf Karls Vorschlag gewesen. Nun versucht Károlyi sein Glück beim Erzherzog, der ihn im Beisein seiner Frau, Erzherzogin Augusta, im luxuriös ausgestatteten Salonwagen empfängt. Aber auch hier kommt er nicht weiter, der Erzherzog, nicht unbedingt ein Freund des ehrgeizigen Adeligen im Dienste der Revolution, lässt sich zu keinerlei konkreten Erklärungen bewegen. Ich fühlte instinktiv, dass, während der König Hals über Kopf dem Untergang entgegeneilte, der Erzherzog bestrebt war, für sich zu sichern, was nur möglich war.

Erfreulicher für Károlyi, der überzeugt war, dass der Kaiser ihn hatte fallen lassen, sollte seine Ankunft in Budapest verlaufen: Tausende Menschen bereiteten ihm am Bahnhof einen stürmischen Empfang, hatte man doch fest damit gerechnet, dass er als Ministerpräsident zurückkehren würde, nun war man überzeugt, dass er Opfer eines schmutzigen Tricks des Königs geworden wäre. „Wenn du nicht als Ministerpräsident des Königs gekommen bist, so werden wir dich zum Ministerpräsidenten des Volkes ernennen!“, meinte sein Freund Martin Lovaszi bei der Begrüßung zu ihm. Gleichzeitig demonstrierte man gegen den Erzherzog – „Diktator Erzherzog!“, „Wir brauchen keinen Diktator!“ und „Nieder mit dem Diktator!“ lauteten die Parolen. Auch in Budapest hatte also Habsburg bereits schlechte Karten: Die Budapester Arbeiterschaft, aber auch große Teile der Mittelschichten und der Intelligenz wollen den Bruch mit der Dynastie. Sándor Wekerle, der noch immer die Geschäfte des Ministerpräsidenten führt, weigert sich jedoch noch immer das Standrecht zu verhängen, auch Erzherzog Joseph lehnt es ab, Truppen gegen die Bevölkerung einzusetzen. Polizei und zivile Behörden haben sich inzwischen dem „Nationalrat“ unterstellt, der sich am 25. Oktober konstituiert hat.

Kann Arz mit der Ernennung des etwas undurchsichtigen und ungarnfreundlichen Erzherzogs Joseph zum homo regius noch einigermaßen leben, so ist das mit der zweiten wichtigen Personalentscheidung des Kaisers an diesem trüben Sonntag schon weniger der Fall. Als Nachfolger von Max Hussarek ernennt Karl den 65-jährigen Völkerrechtsexperten Dr. Heinrich Lammasch zum neuen Ministerpräsidenten. Der ehemalige Berater von Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, geboren im niederösterreichischen Seitenstetten, ist überzeugter Pazifist, ein international angesehener Gelehrter, der jedoch Arz nicht den Eindruck eines Mannes machte, der den schwersten Stunden des Reichs gewachsen war. Karl aber möchte ein Zeichen setzen, einen Mann des Friedens an die Spitze jener Regierung stellen, die, wenn möglich, sein Reich und seinen Thron noch retten soll – Arz muss das akzeptieren, auch wenn er ahnt, dass von Lammasch und seinen Ministern für die Männer an der Front keine wirkliche Unterstützung mehr kommen wird. Auch vom neuen Außenminister nicht, dem Grafen Julius Andrássy, Sohn jenes ungarischen Diplomaten, der vor knapp vierzig Jahren das Bündnis der Monarchie mit dem Deutschen Reich geschlossen hat.

Was das Amt des Finanzministers betrifft, so hat sich der Kaiser für den aus Göding (Hodonín) in Mähren stammenden Verwaltungs- und Verfassungsrechtler Josef Redlich entschieden, der als deutschnationaler Abgeordneter am 21. Oktober auch Mitglied der Provisorischen Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich geworden und nunmehr in einer äußerst seltsamen Doppelrolle tätig ist: Als k. u. k. Finanzminister schwört er den Eid auf Karl und verpflichtet sich, für Wohl und Wehe des versinkenden Vielvölkerstaats zu wirken, als Verfassungsexperte im Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung ist er angehalten an den Rahmenbedingungen für den entstehenden deutschsprachigen „Nationalstaat“ zu arbeiten – Redlich wird dafür zwar von seinen eigenen Parteifreunden heftig kritisiert werden, er selbst aber sieht in diesem kunstvollen Spagat zwischen Monarchie und Republik keinen besonderen Grund zur Aufregung.

Tatsächlich tief getroffen wird Generalstabschef Arz von einer Nachricht, die aus Berlin eintrifft: Der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff, Kopf der Obersten Heeresleitung des mit Österreich-Ungarn verbündeten Deutschen Reiches, der Mann, der zusammen mit Hindenburg gleichsam eine uneingeschränkte Militärdiktatur errichtet hatte und den „totalen“ Krieg führen wollte, ist entlassen worden – für Arz, der die militärischen Leistungen Ludendorffs immer sehr bewundert hat, eine Katastrophe: Es war kein Zweifel mehr, wir waren am Ende angelangt.

„Würdevolle Repräsentation“: Generalstabschef Arz von Straußenburg wird von der kaiserlichen Diplomatie nicht immer am Laufenden gehalten …

Die Schwierigkeiten mit den Ungarn in Budapest und bei den ungarländischen Truppen, die überraschende Nachricht von der Entlassung Ludendorffs, die neue Regierung unter Lammasch und die insgesamt ungünstige Entwicklung an der Piavefront – all das aber sollte noch nicht den Gipfel des Ärgers an diesem Sonntag bedeuten: Um etwa 20 Uhr abends hatte sich plötzlich Kaiser Karl am Telefon gemeldet: „Hat Graf Andrássy mit Ihnen gesprochen?“ Erstaunt über diese seltsame Frage, verneinte der Generaloberst. „Hat er Ihnen nicht die Note gesendet?“ Wieder musste Arz verneinen, bewahrte aber Fassung und versicherte Karl, dass er sich sofort an den Minister des Äußeren wenden werde. Um 21 Uhr hat er schließlich die fragliche Note in Händen, liest sie einmal, dann noch einmal, gibt sie an Generalmajor Alfred von Waldstätten, den Chef der Operationsabteilung im Generalstab, weiter, dann auch an den eben beim Armeeoberkommando anwesenden Grafen Trautmannsdorf aus dem Ministerium des Äußeren. Arz, der überzeugte Anhänger des Bündnisses und der Gemeinsamkeit mit Deutschland, ist konsterniert, kann zunächst nicht glauben, was er da schwarz auf weiß vor sich sieht: Gespräche über den Frieden werden angeboten, „ohne das Ergebnis anderer Verhandlungen abzuwarten“. Ein Affront für das mit Österreich-Ungarn verbündete Deutsche Reich! Waldstätten und Trautmannsdorf sehen die Dinge nicht so tragisch, versuchen die Bedenken des Generalstabschefs zu zerstreuen, wobei zur Sprache kommt, dass die Note der Regierung an US-Präsident Woodrow Wilson bereits abgegangen ist – ein nächster Schlag für Arz, der so erfahren muss, dass man ihn bei der Beratung und Abfassung des Textes einfach übergangen hat! Er beklagt sich bei Andrássy, der ihm jedoch kühl mitteilt, dass er es nicht für notwendig gehalten habe, die diplomatischen Details der Durchführung mit dem Generalstabschef zu besprechen, da er, Arz, sich bereits für Waffenstillstand und Frieden ausgesprochen habe. Außerdem habe man auch den deutschen Botschafter über den Inhalt der Note vor ihrer Absendung informiert, der Kaiser selbst habe bereits am 26. von Gödöllö aus ein Telegramm an den deutschen Kaiser Wilhelm II. geschickt, in dem er seinen Waffenbruder über diesen Schritt informiert habe. Arz muss die Erklärungen des Ministers akzeptieren, ahnt zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht, dass ihm der wendige Diplomat in einem Punkt nicht die ganze Wahrheit gesagt hat … Auch vom Telegramm Karls an den Hohenzoller in Berlin hat Arz nicht gewusst, auch das ein Punkt, der schmerzt: Er, der verantwortlich ist für Erfolg und Misserfolg der Armeen, wird von seinem Obersten Kriegsherrn nicht über jeden Schritt informiert! Erst jetzt erfährt er den Wortlaut der Depesche, mit der Karl seinen Entschluss zu einem Separatfrieden angekündigt hat: „Teuerer Freund!

Es ist meine Pflicht, Dir, so schwer es mir auch fällt, zur Kenntnis zu bringen, dass mein Volk weder imstande noch willens ist, den Krieg weiter fortzusetzen.

Ich habe nicht das Recht, mich diesem Willen zu widersetzen, da ich nicht mehr die Hoffnung auf einen guten Ausgang hege, für welchen die moralischen und technischen Vorbedingungen fehlen, und da unnützes Blutvergießen ein Verbrechen wäre, das zu begehen mir mein Gewissen verbietet.

Die Ordnung im Innern und das monarchische Prinzip sind in der ernstesten Gefahr, wenn wir dem Kampf nicht sofort ein Ende bereiten.

Selbst die innigsten bundesbrüderlichen und freundlichsten Gefühle müssen vor der Erwägung zurückstehen, dass ich den Bestand jener Staaten rette, deren Geschick mir die göttliche Vorsehung anvertraut hat.

Deshalb kündige ich Dir an, dass ich den unabänderlichen Beschluss gefasst habe, innerhalb vierundzwanzig Stunden um einen Separatfrieden und um einen sofortigen Waffenstillstand anzusuchen.

Ich kann nicht anders, mein Gewissen als Herrscher befiehlt mir also zu handeln.

In treuer Freundschaft

Karl“

Wilhelm II. hatte auf diesen „Verrat“ sofort reagiert, Karl telegrafisch beschworen, nur im Einvernehmen mit der deutschen Regierung die Verhandlungen mit den USA fortzuführen – vergeblich. Karl, der sich so oft den Wünschen Berlins gebeugt hatte, der nach der Sixtus-Affäre im April 1918 in völlige Abhängigkeit von der deutschen Führung geraten war, sah nun, in der Stunde der Verzweiflung, nur mehr die Rettung der Monarchie und seines Throns als Ziel. Gemeinsam mit Andrássy tüftelt man an den Formulierungen, der Entwurf geht auch an die designierten Regierungsmitglieder Lammasch, Ignaz Seipel und Josef Redlich, die zu Mittag im Büro von Julius Meinl darüber beraten. Sonntagabend entscheidet man sich am Ballhausplatz endgültig für die Absendung der Note, die über Stockholm nach Washington befördert wird; ihr endgültiger Text, der noch während der Nacht die führenden Männer der Mittelmächte in helle Aufregung versetzen wird, lautet schließlich:

„In Beantwortung der an die österreichisch-ungarische Regierung gerichteten Note des Herrn Präsidenten Wilson vom 18. des Monats und im Sinne des Entschlusses des Herrn Präsidenten mit Österreich-Ungarn abgesondert über die Frage des Waffenstillstands und des Friedens zu sprechen, beehrt sich die österreichisch-ungarische Regierung zu erklären, dass sie, ebenso wie den früheren Kundgebungen des Herrn Präsidenten, auch seiner in der letzten Note enthaltenen Auffassung über die Rechte der Völker Österreich-Ungarns, speziell jene der Tschechoslovaken und Jugoslaven, zustimmt.

Da sonach Österreich-Ungarn sämtliche Bedingungen angenommen hat, von welchen der Herr Präsident den Eintritt in Verhandlungen über den Waffenstillstand und den Frieden abhängig gemacht hat, steht nach Ansicht der österreichischungarischen Regierung dem Beginne dieser Verhandlungen nichts mehr im Wege.

Die österreichisch-ungarische Regierung erklärt sich daher bereit, auch ohne das Ergebnis anderer Verhandlungen abzuwarten, in Verhandlungen über einen Frieden zwischen Österreich-Ungarn und den gegnerischen Staaten und über einen sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten Österreich-Ungarns einzutreten und bittet den Herrn Präsidenten Wilson, die diesfälligen Einleitungen zu treffen.“

So gut gemeint die Note an Wilson auch ist – sie wird beim Präsidenten und seinen Beratern, vor allem bei Robert Lansing, US Secretary of State, und bei „Colonel“ Edward House, seinem Europa-Spezialisten, keinerlei Eindruck mehr machen. Die Amerikaner sind auf dieses Angebot der Österreicher längst nicht mehr angewiesen, der Vielvölkerstaat an der Donau ist für sie so oder so „erledigt“, die Verbündeten, allen voran Italien, wollen den Lohn für ihre Opfer kassieren. Eine geradezu explosive Wirkung entfaltet diese Note dagegen auf die politische Lage im Inneren der Monarchie. Wieder einmal hat Kaiser Karl genau das Falsche veranlasst: Anstatt zur Entspannung beizutragen, wird die Note Andrássys den Zerfall seines Reiches schon in wenigen Stunden in verhängnisvoller Weise extrem beschleunigen …

Während Arz von Straußenburg und die Stabsoffiziere in den Kommandozentralen noch über die fatalen Folgen der Wiener Politik für ihre Militärmaschinerie sinnieren, lassen die Alliierten nicht locker. Sie sind fest entschlossen, ihre drei am 27. erkämpften Piave-Brückenköpfe bei der Grave di Papadopoli, bei Sernaglia und bei Pederobba, wo der Fluss aus den Bergen in die Tiefebene tritt, weiter auszudehnen. Der Befehl für die 10. Armee von Lord Cavan, dem 10. Earl of Cavan, lautet unmissverständlich: Der Angriff wird am 28. fortgesetzt …

Südlich des Dörfchens Fontigo hat die reißende Strömung des aufgrund der Regenfälle in den vorangegangenen Tagen noch immer Hochwasser führenden Piave die drei Brücken über den Fluss teilweise zerstört; italienische Pioniere arbeiten in tiefer Dunkelheit fieberhaft an ihrer Wiederherstellung. Für die Truppen der italienischen 8. Armee unter Generalleutnant Enrico Caviglia, die im Morgengrauen des Vortags über den Fluss gegangen sind und im überraschenden Angriff bis Sernaglia bzw. zum Soligobach vordringen konnten, ist die Verbindung lebenswichtig, da die Munition im Brückenkopf am linken Piaveufer bereits knapp wird und die Versorgung aus der Luft nicht effizient genug ist.

Knapp nach Mitternacht ist es so weit: Die Brücken sind wieder passierbar; österreichisch-ungarische Stellungsartillerie, die die Übergänge unter Beschuss nehmen könnte, ist nicht mehr vorhanden, da die Geschütze der 11. Honvédkavalleriedivision und der 12. Reitenden Schützendivision, die diesen Abschnitt verteidigten, in den Gefechten des Vortags bereits verloren gegangen sind. Dramatisch die Verluste bei den Mannschaften: Die Zahl der Toten, Vermissten und Verwundeten am 27. Oktober erreicht bei der 12. Reitenden Schützendivision 40 % des Standes, in die weiteren Kämpfe wird man nicht mehr entscheidend eingreifen können. Um die Italiener an einem weiteren Vordringen aus dem Brückenkopf Sernaglia zu hindern, hat man sich buchstäblich aufgeopfert, gewonnen hat man allerdings nur etwas Zeit – Zeit, die letztlich doch wieder vom Feind besser genützt werden kann. Nachschub und Verstärkungen rollen nun über den Piave: die italienische 60. Infanteriedivision und Teile der 66.; doch die Belastung für die notdürftig instand gesetzten Brücken ist zu groß; noch bevor es Tag wird, sind sie wieder unpassierbar, die Truppen Caviglias neuerlich abgeschnitten.

Die Chance, die sich den k. u. k. Truppen damit unverhofft bietet, kann jedoch nicht genützt werden. Generalmajor Hegedüs von der 21. Honvédkavalleriebrigade und Oberst Alois Czulik von Thurya, der mit den Reserven der 25. Infanteriedivision und hier vor allem mit dem 84. Infanterieregiment und zwei Bataillonen des 44. Infanterieregiments den Gegenangriff Richtung Sernaglia führen soll, können zwar am frühen Abend des 27. Oktober Geländegewinne erzielen, kommen in der Dunkelheit aber nicht mehr entscheidend weiter, ja, das Infanterieregiment 128 verirrt sich sogar und taucht plötzlich im Rücken der eigenen Truppen auf, die vor Sernaglia kämpfen. Nach Mitternacht befiehlt Hegedüs deshalb den Rückzug nach Pieve del Trevisan. Die abgekämpfte 12. Reitende Schützendivision geht in fester Ordnung hinter den Soligobach zurück, ihre Nachhuten halten die Linie Kote 151 südlich Soligo bis Kote 136 südlich Pieve di Soligo.

Die drei Bataillone der 84er haben sich, nachdem ihr Angriff zum Stehen gekommen ist, auf der Linie Nordrand Mosnigo – Südende Giusin – Gravette–Kote 134 südlich von Antonio eingegraben – in notdürftig ausgehobenen Schützenlöchern inmitten von dichten Obstkulturen, durchnässt vom Regen, versucht man den Scheinwerfern der Italiener zu entgehen, deren Lichtkegel immer wieder suchend über das Schlachtfeld tasten. Ohne Pause toben die Geschütze der Italiener, die schweres Sperrfeuer über die Nachschubwege der Österreicher legen, vor allem auch auf die Straße von Canale nach Posmone, die von Granaten zerpflügt, kaum noch passierbar ist. Zerstörte Geschütze, umgestürzte Wagen, Leichen und Pferdekadaver säumen den Weg, auf dem Verwundete zurückgebracht werden und der Nachschub versuchen muss irgendwie durchzukommen. 70 Italiener, die als Gefangene eingebracht worden sind, werden dazu angehalten die Verwundeten der 84er zurück in die Kirche von Fontane zu tragen, die als Lazarett dient – das Gotteshaus füllt sich rasch mit Blessierten, beim Schein von Taschenlampen leisten die Ärzte unermüdlich die notwendigste Erstversorgung.

Um Mitternacht, nach langen Bemühungen, steht endlich auch die Küche in der Nähe der ersten Schwarmlinie: In kleinen Gruppen kommen die Soldaten aus ihren Stellungen, um Essen zu fassen, da es unmöglich ist, den Kochkessel zu ihnen nach vorne zu schleppen. Zu essen gibt es etwas Brot und Suppe und wie überall an der Südwestfront den unvermeidlichen „Drahtverhau“, staubtrockenes Dörrgemüse, das sich nur mit dem Heißhunger der Kämpfer hinunterschlingen lässt.

Bereits vor Mitternacht ist vom Kommando der 25. Infanteriedivision die Gefechtsdisposition für den 28. eingetroffen. Man ist entschlossen, dem Feind hartnäckigen Widerstand entgegenzusetzen, nüchtern und umsichtig plant man die Attacke auf die Armee Caviglias, von Selbstaufgabe oder Katastrophenstimmung keine Spur: „Morgen allgemeiner Gegenangriff. Feldmarschallleutnant Luxardo mit der 11. und 12. Kavalleriedivision, dem Infanterieregiment 128 und die 34. Infanteriedivision greifen mit dem rechten Flügel vom Westende Farra di Soligo in der Richtung auf das Westende Mosnigo an. Oberst von Czulik und die 50. Infanteriebrigade, letztere mit allen aus der Piavefront entbehrlichen Kräften, schließen sich nach Maßgabe der vorrückenden Truppe Feldmarschallleutnant Luxardo im Angriffe an. Das Bataillon Hauptmann Foschum (84. Infanterieregiment) nimmt noch nachts über Farra di Soligo Verbindung mit der Gruppe des Oberstleutnants Glaser auf. Oberst von Czulik hat eine intensive Aufklärung nach Moriago und Sernaglia durchzuführen. Die eingeschobenen Honvédhusaren Nr. 3 (ca. 200 Mann) im Raume Casa Balbi stellen die Verbindung zwischen der Gruppe Oberst von Czulik und den entbehrlichen Angriffskräften des Oberstbrigadiers Haas her, werden diesem unterstellt. Die Artillerie ist mündlich angewiesen, den Gegenangriff zu unterstützen und wird in den Raum Posmone – Canale vorgeschoben. Die Fernkampfgruppe unterhält ein ständiges Feuer auf die feindlichen Flussübergangsstellen südlich von Fontigo.“ Der Disposition sind Grüße und Glückwünsche Seiner Exzellenz des Korpskommandanten zur braven Haltung in den kritischen Stunden des 27. angeschlossen.

Unverzüglich werden alle Maßnahmen zur Umsetzung dieser Disposition getroffen – in über vier Jahren Krieg sind die Mechanismen der Todesmaschine zur Perfektion gereift, jeder Offizier weiß, was er zu tun hat.

Es ist schon nach Mitternacht, als beim Regimentskommando der 84er ein Befehl der 25. Infanteriedivision eintrifft, der doch etwas Besorgnis auslöst: „Nachdem mit dem Eingreifen einer neuen eigenen Division aus dem Raume Refrontolo erst am Nachmittag gerechnet werden kann, muss sich die 25. Division bis dahin aus eigenen Kräften halten. Geht der Feind zurück, so folgt die Gruppe Oberst Czulik unmittelbar nach. Trifft dies nicht zu, so ist in geeigneter Gruppierung bis zum Eingreifen dieser eigenen Division auszuharren, ein Bataillon des Infanterieregiments 44 aus der Front zu ziehen und bei Fontane bereitzustellen“ – eine Anweisung, die durchklingen lässt, dass man auch den Rückschlag bei der Division bereits einkalkuliert. Oberst Czulik lässt auf diesen Befehl hin ein halbes Bataillon der 44er, die sich bei Mosnigo bereits in einer schwierigen Lage