Cornelia und Kunibert Bering (Hgg.)

Konzeptionen der Kunstdidaktik

Dokumente eines komplexen Gefüges

ATHENA

ARTIFICIUM

Schriften zu Kunst und Kunstvermittlung

Herausgegeben von Kunibert Bering

Band 12

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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E-Book-Ausgabe 2014

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Copyright der E-Book-Ausgabe © 2014 by ATHENA-Verlag
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ISBN (Print) 978-3-89896-468-5
ISBN (ePUB) 978-3-89896-849-2

Vorwort zur dritten Auflage

Für zahlreiche Fachseminare im Rahmen der Ausbildung von Kunstlehrern und -lehrerinnen ist die vorliegende Sammlung von Dokumenten zur Kunstdidaktik unentbehrlich geworden. Angesichts der weitreichenden Entwicklungen und Umbrüche der letzten Jahre in der Kunstdidaktik entschlossen sich Verlag und Herausgeber, eine wesentlich erweiterte, wiederum aktualisierte Auflage zu erarbeiten. Zu danken ist Rolf Niehoff für die kompetente Beratung bei der Textauswahl und Julia Gerber für ihre intensive Unterstützung bei den Korrekturen und Ergänzungen.

Hattingen, im Sommer 2011

C. und K. B.

Vorwort zur zweiten Auflage

Eine überwiegend positive Resonanz auf die Sammlung von Dokumenten zur Kunstdidaktik und ihrer engen Verflechtung mit weiteren Bezugsfeldern bewog Verlag und Herausgeber, eine wesentlich erweiterte und auf den gegenwärtigen Stand der Diskussion gebrachte Auflage vorzustellen. Dabei konnte auch konstruktive Kritik berücksichtigt werden. Ein besonderer Dank gilt Sandra Mostler für ihre intensive Unterstützung bei den Korrekturen und Ergänzungen.

Hattingen, im Sommer 2003

C. und K. B.

Vorwort zur ersten Auflage

Seit den siebziger Jahren erschien keine zusammenfassende Darlegung der didaktischen Konzeptionen zur Vermittlung von Kunst. Vor allem für Studierende und Referendare fehlt eine Übersicht über die didaktischen Ansätze sowohl in ihrer historischen Dimension als auch in den neuesten Ausprägungen angesichts der elektronischen Medien, die eine immer stärkere Rolle bei der Sozialisierung der Heranwachsenden spielen.

Grundlage der hier vorgelegten Zusammenstellung von Konzeptionen der Kunstdidaktik in ausgewählten Texten bilden Erfahrungen als Kunsterzieher im gymnasialen Schuldienst sowie zahlreiche Seminare, die seit 1990 an der Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau, und seit 1998 an der Kunstakademie Düsseldorf zu diesem Thema gehalten wurden. Bei der Auswahl der Texte leitete uns der Gedanke, epochaltypische Äußerungen zu präsentieren, die aber zumeist auch in einer mehr oder weniger deutlichen Vernetzung stehen, so dass Referenzen in der Entwicklung der Reflexion über Kunstvermittlung fassbar werden. Dabei war unbedingt zu berücksichtigen, dass Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte sowie in jüngster Zeit Philosophie und Kommunikationswissenschaften stets wichtige Bezugswissenschaften der Kunstdidaktik sind und daher jene aus diesen Bereichen eintreffenden Impulse weitreichende Berücksichtigung finden mussten. Auf die Wiedergabe der Anmerkungen haben wir aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet – es sei auf die jeweils angegebenen Originaltexte zur weiteren vertieften Lektüre verwiesen.

Wir danken den beteiligten Autoren und Verlagen für die freundliche Einräumung der Abdruckrechte. Zu danken ist auch zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, vor allem Werner Scheel an der Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau, der seine Erfahrungen aus jahrzehntelanger Tätigkeit in unsere Konzeption einbrachte. Das Kuratorium Kunst und Wissenschaft Landau unterstützte das Projekt mit großem Nachdruck. Es ist Jörg Ruhloff von der Bergischen Universität Wuppertal für vielfältige Anregungen und konstruktive Kritik zu danken. Ein besonderer Dank gilt Annette Lobbenmeier und Silke Radke, die mit großer Sachkenntnis diese Dokumentensammlung korrigierten.

Hattingen, im Frühjahr 1999

C. und K. B.

1 Zur Einleitung: Vom Umgang mit der Komplexität

An der Universität von Chicago gründete sich vor wenigen Jahren ein Institut für Visualistik oder »imaging science« zur Erforschung der Bilderfluten und neuen Bildwelten, die über das Internet hereinströmen. Dieses Institut ist von der Überzeugung getragen, dass in Zukunft der kreative und zugleich kritische Umgang mit visueller Information zur dominierenden Aktivität menschlicher Intelligenz wird, denn Computersimulationen sind in vielen Wissenschaftszweigen neben Theorie und Experiment zur dritten Säule der Forschung geworden.

Die Gründung des Chicagoer Center for Imaging Science sei hier als Symptom einer steigenden Komplexität in der visuellen Erfassung der Welt gewertet. Die Bilderwelten der neuen elektronischen Medien bestimmen zunehmend unsere Alltagserfahrung und damit unser Wirklichkeitsverständnis. Dieser Bilderflut sind besonders die Heranwachsenden ausgesetzt. Mehr noch, der Prozess der vielfach beobachteten Ästhetisierung der Alltagswelt als oberflächliche Dekoration ergreift die Jugendlichen unmittelbar durch styling, body-building oder als Selbstinszenierung. Das Erscheinungsbild des Jugendlichen wird damit zum Bestandteil der Konsum- und Erlebnisgesellschaft und deren Massenproduktion. Siegfried J. Schmidt wies in diesem Zusammenhang auf neue Forschungen hin, welche zeigen, dass die bereits mit den neuen Medien sozialisierten Jugendlichen nicht mehr an »strikten Unterscheidungen des Typus wahr/falsch, wirklich/unwirklich, real/irreal [...] interessiert sind«. Wenn das Umfeld des Menschen, vor allem aber des heranwachsenden, immer stärker von optisch wahrgenommenen Zeichen geprägt wird, kommen auf die Pädagogik veränderte Aufgaben zu.

Der Umgang mit Komplexität erscheint zunehmend als fundamentales Problem einer Pädagogik, die sich als Hilfe bei der Suche nach Orientierung versteht. Dies gilt um so mehr in einer Zeit, in der immer deutlicher Zweifel an übergreifenden Lernzielen aufkommen. Ideale, wie die »Reife« z. B., erscheinen vielfach als Projektion auf einen Idealzustand in einer vermeintlich besseren Zukunft. Wenn sich aber Komplexität nicht mehr auf eine solche ideale Einheit reduzieren lässt, muss eine Forderung an pädagogisches Handeln lauten: »Bewegung im Differenten« (Jörg Ruhloff) zu ermöglichen.

Es stellt sich die Frage, wie diesen Herausforderungen, die sich aus einer veränderten Situation besonders für die Kunstpädagogik ergeben, zu begegnen ist, denn der Wahrnehmung, der aisthesis, kommt dabei offenbar erhöhte Bedeutung zu. Seit Baumgarten (1714-1762) wird im Ästhetischen eine fundamentale Determinante der Erkenntnis gesehen. Die technologische Entwicklung bedingt eine tiefgreifende Veränderung der Wahrnehmungsverhältnisse. Damit steigen die Anforderungen an die visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten. Dies wiederum zieht die Forderung nach einer verschärften Notwendigkeit der ästhetischen Erziehung und damit der Kunstpädagogik unmittelbar nach sich.

In zahlreichen Theorieentwürfen besteht gegenwärtig weitgehend Übereinstimmung darin, dass die Wahrnehmung kein Abbild der Welt liefert, sondern vielmehr »Wirklichkeit« konstruiert, indem ein Beobachter Differenzen in seiner Umwelt erkennt. Differenzierungen zu beschreiben, ist jedoch nur die Analyse eines Segments der Wirklichkeit, denn zugleich vollziehen sich auch integrative Prozesse, weil aus der Wahrnehmung sowohl die Konstruktion von Wirklichkeit als auch deren Beurteilung als Mittel der Orientierung resultiert. Das Wahrnehmungsvermögen des Menschen, vor allem sein optischer Sinn, erweist sich somit als entscheidendes Medium einer Interaktion mit der Umwelt. Da ständige Auflösung, Kombination und Neubildung als Triebkräfte kultureller Transformation erscheinen, müssen Differenzierung und Integration eine Einheit bilden.

In derartig komplexen, ja wechselnden gesellschaftlichen Gefügen vollziehen sich die Produktion von Kunst ebenso wie ihre Wirkungen und auch die Betrachtung von Kunst. Diese Strukturen manifestieren sich als Lebensformen. Von dieser Basis ausgehend, lassen sich Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik als Sektoren einer umfassenden Wissenschaft vom Menschen begreifen.

Lernen bedeutet in diesem Bereich daher auch vornehmlich Handeln, d. h. Gestalten, und es ist gerade die Interaktion zwischen Gestalten, Wahrnehmen und Reflektieren, die die Basis des Vermittlungs- und Lernprozesses bildet. Neben die wissenschaftliche Erfahrung der Welt tritt die ästhetische, die Auseinandersetzung mit künstlerischen Bildwelten sowie die Erprobung und Entwicklung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.

Basis für die Didaktik der Kunst an Schule und Hochschule ist jene Dichotomie von Handeln oder Gestalten und Denken, von Produktion und Reflexion. Der Lehrer ist oft nicht nur Pädagoge, sondern auch Künstler, der der Aufgabe, Kunst zu vermitteln, ebenso wie der eigenen künstlerischen Arbeit verpflichtet ist – Lernen, Lehren und künstlerischer Anspruch erscheinen verbunden als Elemente in einem umfassenden beruflichen Tätigkeitsfeld. Die kunsterzieherische Arbeit ist aber nicht denkbar ohne den unmittelbaren Bezug zu den anthropogenen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler. Die zuvor erwähnte Ästhetisierung der Alltagswelt, sei es durch die elektronischen Medien, sei es durch life-styling, stellt den Kunstunterricht vor allem auch vor die Aufgabe, die Selbstbehauptung des Individuums gegenüber den Vereinnahmungsversuchen der sog. postmodernen Kultur zu stärken. Ohne in wertkonservative Klagen zu verfallen, sollte gerade der Kunstunterricht sich mit Formen des Widerstandes gegen die oft erdrückende Macht der optisch wirksamen Zeichen auseinandersetzen.

Eine Aufgabe der Ausbildung an der Hochschule und im Studienseminar sollte generell in der Vermittlung vielfältiger methodischer Ansätze liegen. Gerade angesichts des Problems wachsender Komplexität erscheinen Methodenpluralität, ja auch Methodenkombination, als unerlässlich für eine Reflexion des eigenen Handelns. Es kommt darauf an, die wissenschaftlichen Analyseverfahren zwischen Ikonologie und Ikonik, zwischen Rezeptionsästhetik und Kunstsoziologie didaktisch aufzuarbeiten. So kann die Vieldeutigkeit des Kunstwerks als Chance erkannt werden.

Zu den Grundlagen des Kunstunterrichts zählen darüber hinaus selbstverständlich die verschiedenen fachdidaktischen Ansätze, die an der Hochschule und im Studienseminar dargelegt und kritisch diskutiert werden sollten, um die Reflexion des eigenen kunstpädagogischen Handelns zu ermöglichen. Dazu gehören die Modelle, die – von Pfennigs Vorstellung der Erziehung durch Kunst ausgehend – in Gunter Ottos »Kunst als Prozeß im Unterricht« münden. Gegenpositionen besetzen Ronges informationstheoretisch begründete Kunstpädagogik und besonders auch die Visuelle Kommunikation mit ihrer gesellschaftskritischen Orientierung. Didaktik an einer Hochschule sollte aber auch dazu befähigen, das kunstpädagogische Handeln als historisch determiniert zu betrachten. Dieses leistet die Darlegung der historischen Entwicklung der Konzeptionen der Kunstvermittlung.

Die Verschränkung von Produktion und Reflexion ermöglicht Perzeptbildung und Kommunikation. Die kunstpädagogische Zielvorstellung umfasst die Vermittlung von Zusammenhängen sowie der Angebote von Deutungen und Deutungsmöglichkeiten von Wirklichkeit. Wenn sich die Gegenwart als offene Situation präsentiert, werden Pluralität und Komplexität zu Herausforderungen. Dann muss pädagogisches Handeln für Brüche und Differenzen, auch für Grenzen und gerade für das Andersartige, sensibilisieren. Eine solche Didaktik soll zum bewussten Gestalten und Um-Gestalten der Welt, nicht nur zur Partizipation an der Welt, befähigen. Lernen heißt Erlernen von Kontexten, »Lebenskontexten«, mit Gregory Bateson gesprochen, und besonders das Erlernen der Gestaltung von Kontexten. Die hier vorgelegte Dokumentation will dazu beitragen, die immer wieder neu zu treffenden didaktiktischen und pädagogischen Entscheidungen in einem weit gesteckten, historisch determinierten Rahmen zu reflektieren.

2 Weichenstellungen in wilhelminischer Zeit

Im Rückgriff auf Kant, Goethe und Schopenhauer gelingt Conrad Fiedler (1841-1895) ein kunsttheoretischer Entwurf, der wesentlich auf die beginnende Moderne einwirken sollte. Besonders seine Begründung der Autonomie der Kunst – etwa gleichzeitig mit Cézanne – markiert den Beginn eines neuen Denkens über die künstlerische Tätigkeit, das den Gedanken der mimesis verwirft und Kunst als Medium der Wirklichkeitserkenntnis und darüber hinaus des Erschaffens von Wirklichkeit begreift. Bisher wurden Fiedlers zeichentheoretische und sprachphilosophische Äußerungen im Zusammenhang mit seinen kunsttheoretischen Überlegungen zu wenig beachtet.

Conrad Fiedler

Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit (1887)

Diejenigen, welche es unternehmen, Wesen und Bedeutung der künstlerischen Tätigkeit darzulegen, pflegen von den Wirkungen auszugehen, welche durch die Kunstwerke auf den geistigen Zustand oder das Empfindungsleben der Menschen hervorgebracht werden. Dieser Ausgangspunkt ist offenbar falsch. Um unter den erfahrungsmäßig sehr verschiedenartigen Wirkungen der Kunst diejenige bestimmen zu können, die dem Wesen der künstlerischen Tätigkeit gemäß ist, müßte man dieses Wesen zuvörderst erkannt haben. Dies aber wird nur dann möglich sein, wenn man, abgesehen von allen Wirkungen, die von den Resultaten der künstlerischen Tätigkeit ausgehen, die Entstehung dieser Tätigkeit selbst aus der menschlichen Natur zu durchschauen vermag. Gelingt es, den Punkt zu erkennen, wo aus dem Reichtum geistig-körperlicher Manifestationen, zu denen der menschliche Organismus werdelustig emporstrebt, diejenige Tätigkeit sich abzusondern beginnt, die wir in ihrer weiteren Entwicklung als die künstlerische bezeichnen, so ist in der Tat der einzige Zugang gewonnen, der in die innere Welt jener Tätigkeit einführt. [...]

Die Einsicht, daß die Dinge nicht durch ihr bloßes Dasein Gegenstand der Wahrnehmung und infolgedessen irgendeiner Art geistigen Besitzes sein können, sondern daß der der Empfindung und Wahrnehmung fähige menschliche Organismus nur Wirkungen empfängt, die er zu Besitztümern des Bewußtseins gestaltet – diese Einsicht scheint dem Menschen keineswegs immer in allen ihren Konsequenzen gegenwärtig zu sein. [...] Darin, daß der Zweifel an einem absoluten Sein der Dinge kein unmittelbar gegebener ist, sondern erst als das Ergebnis eines sehr entwickelten abstrakten Denkens auftritt, liegt der Grund dafür, daß die aus diesem Zweifel entspringende Erkenntnis einer gewissen Beschränkung selbst bei denjenigen Denkern unterworfen bleibt, welche sie bis zu ihren äußersten Folgerungen zu entwickeln scheinen. Alles Sein ist ihnen ein zu Bezeichnendes; die Worte oder Zeichen, in denen sich ihre geistigen Operationen vollziehen, repräsentieren ihnen das Seiende, und indem sie das Sein, welches sie denken und denkend erkennen, auf Grund jener Einsicht sozusagen auf seinen Wirklichkeitswert zu prüfen suchen, sind sie der Überzeugung, daß es eben das Sein selbst ist, welches sich ihnen auf Grund der Konsequenzen, die sich mit unumgänglicher Notwendigkeit aus jener Einsicht ergeben, immer mehr in seiner wahren Gestalt und in seinem wahren Wert enthüllt.

Da das Denken an die Sprache gebunden ist und auch da nicht gleichsam körperlos auftritt, wo es sich auf den letzten Höhen seiner Entwicklung des sprachlichen Ausdrucks begibt, sondern auch da immer noch der Zeichen bedarf, um vor sich gehen zu können, so steht und fällt die Frage, ob man berechtigt sei, das denkende Erkennen als eine auf das Sein, die Wirklichkeit als ihr Objekt gerichtete Tätigkeit aufzufassen, mit der anderen Frage, ob die Sprache fähig sei, ein Seiendes zu bezeichnen. Besitzt der Mensch in der Sprache das Mittel, die Wirklichkeit in all ihrem Reichtum, all ihrer Mannigfaltigkeit bezeichnen, zum Ausdruck bringen zu können, so kann darüber kein Zweifel sein, daß er durch das Denken zu einer Erkenntnis des Seienden gelangt oder wenigstens zu gelangen strebt. [...]

Nach alledem ist der Sinn, den das Wunder der Sprache hat, nicht der, daß sie ein Sein bedeutet, sondern der, daß sie ein Sein ist.

So hat die Welt des sinnlichen Erscheinens einen unbestrittenen Vorzug vor der Welt, die sich aus geistigen Operationen aufbaut und in ihrem Sein an die Formen des Denkens gebunden ist; sie hat eine gewisse Würde, weil ihre Herkunft jenseits der Sphäre alles menschlichen Tuns und Denkens vorausgesetzt werden zu müssen scheint. Und dennoch ist der Rang, den sie in dem gesamten geistigen Sein des Menschen einnimmt, nur ein untergeordneter. Ihr ganzes Verdienst ist ihr Vorhandensein; sie wahrnehmen ist alles, was der Mensch zu tun hat, um sich ihrer zu vergewissern. [...]

In dem ganzen weiten Reiche des Geistigen vermögen wir schlechterdings nichts zu finden, was nicht körperlich-sinnlicher Natur wäre; nichts, was wir Teile unseres geistigen Besitzes nennen, kann anders geboren werden als in leiblicher Gestalt. [...] Es ist durchaus falsch zu sagen, daß wir uns mit der physischen Leistung, an die unser psychisches Leben gebunden ist, ein geistiges Reich erschlössen, daß alle sinnlichen Vorkommnisse unseres sogenannten geistigen Lebens, wie Wort, Zeichen, Bild, Ton, Gebärde, nur Symbole eines Geistigen seien; es sind das Reminiszenzen veralteter Anschauungen. Jedes Vorkommnis bedeutet nur sich selbst, und der Schein, daß es eine Bedeutung besitze, die von ihm verschieden sei und es überrage, beruht darauf, daß sich auf dem Wege der Assoziation andere Vorkommnisse mit ihm verbinden, die ebensowenig wie es selbst einem vorgeblichen, in Wahrheit ganz undenkbaren geistigen Reiche angehören und die auch nur wiederum sich selbst bedeuten können.

Wir sind also in betreff der gesamten sinnlichen Wirklichkeit auf das angewiesen, was wir als sogenannten psychischen Besitz in unserem wahrnehmenden, beziehentlich vorstellenden Bewußtsein finden. Wir können nun nicht annehmen, daß dieser psychische Besitz nur so in der Luft schwebe und als etwas Immaterielles uns zuteil werde. Sowenig irgendeine Wahrnehmung oder Vorstellung auf anderen als sinnlichen Wegen in unser Bewußtsein gelangen kann, ebensowenig kann sie in anderer Form in unserem Bewußtsein existieren als in der Form eines sinnlichen Vorganges. Bedenken wir, daß das gesamte Wahrnehmungs- und Vorstellungsleben in keiner anderen Weise vorhanden sein kann als in Vorgängen, denen unser sinnlicher Organismus unterworfen ist, so werden wir leicht begreifen, daß unsere Vorstellungen nicht als etwas fertig Vorhandenes, in unser Bewußtsein Eintretendes und aus ihm wieder Verschwindendes angesehen werden können, sondern als etwas Werdendes, Entstehendes und Vergehendes. [...] War durch die Einsicht in den relativen Charakter alles Seins die Wirklichkeit, die uns so unabhängig gegenüberzustehen schien, aufgelöst worden in eine Wirklichkeit, deren Sein nur durch unsere Vorstellung möglich wurde, so erscheint nun durch die Einsicht in die Unmöglichkeit der Existenz von Vorstellungen als vorhandener geistiger Bestandteile unseres Bewußtseins auch die Wirklichkeit als Vorstellung aufgelöst in ein unendlich mannigfaches und ewig wechselndes Geschehen, dessen Schauplatz unser sinnlicher Organismus ist. [...] Die wissenschaftliche Tätigkeit läuft nicht auf ein Sehen, sondern auf ein Wissen hinaus; der Gewinn, der dadurch erzielt wird, daß dem Auge eine wesentliche Mitarbeit zugeteilt wird, kommt nicht dem Sehen, sondern dem Wissen zugute; das, was man auf Grund der Gesichtswahrnehmung in seinen Besitz bringt, ist kein Gesehenes und zu Sehendes, sondern ein Gewußtes und zu Wissendes. [...]

Lernen wir so die bildnerische Tätigkeit des Künstlers auffassen als eine Fortsetzung des Sehprozesses, als eine Entwicklung dessen, was in der Wahrnehmung des Auges seinen Anfang nimmt, zu bestimmten Gestaltungen, haben wir eingesehen, daß das Auge aus eigener Kraft das von ihm begonnene Werk nicht vollenden kann, sondern den ganzen Menschen in eine bestimmte Art der Tätigkeit versetzen muß, damit das von ihm gelieferte Sinnenmaterial sich zu geistigen Werten formen könne. [...]

Wir haben erwähnt, daß dem Menschen kein Mittel zu Gebote steht, durch das er den gesamten Wirklichkeitsgehalt eines Dinges in einen gemeinsamen Ausdruck zu fassen vermöchte, daß er vielmehr darauf angewiesen ist, auf verschiedenen Wegen zur tätigen Entwicklung eines Wirklichkeitsbesitzes vorzudringen, und daß er auf jedem dieser Wege wiederum zu unendlich verschiedenen Entwicklungsgraden gelangt. [...]

Quelle

Fiedler, Conrad, Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, in: Hans Eckstein (Hrsg.), Conrad Fiedler, Schriften über Kunst, Köln (DuMont) 1977, S. 132-237

Conrad Fiedler (1841-1895); nach einem Jurastudium Begegnung mit dem Maler Hans von Mareés; überwindet in seinen kunstphilosophischen Schriften den Historismus in der Kunstbetrachtung und leitet einen fundamentalen Wandel in der Kunstanschauung ein.

Der Auseinandersetzung um Positionen der Kunstbetrachtung und der Kunstvermittlung um 1900 kommt für das zwanzigste Jahrhundert weitreichende Bedeutung zu: einerseits findet der grundlegende Konflikt um rationale oder irrationale Zugänge zum Phänomen Kunst und seiner Lehrbarkeit eine erste Formulierung, andererseits werden zugleich nationalistische, ja völkische Vorstellungen in die Ästhetik dieser Jahre eingebracht. Eine bedeutende Weichenstellung vollzog sich auf dem Dresdner Kunsterziehertag 1901, auf dem divergierende Konzeptionen aufscheinen. Carl Götze hob in seinem Beitrag die Gefahr hervor, die dem Denken durch »Verwissenschaftlichung« drohe und beschwor das »anschauliche« Denken, das für ihn wirklich »lebendig« sei.[1] Ein weitreichendes Postulat stellte auf derselben Tagung Konrad Lange auf, indem er forderte, Kinder zur »ästhetischen Genußfähigkeit« zu erziehen, ohne in irrationale Schwärmerei zu verfallen.

Konrad Lange

»Kinder sollen nicht über Kunst schwatzen, sondern Kunst sehen und genießen lernen« (1901)

Diese Idee lautet: Erziehung des Kindes zur ästhetischen Genußfähigkeit. Erlauben Sie mir zunächst, um Mißverständnissen vorzubeugen, daß ich Ihnen sage, was wir darunter nicht verstehen.

Wir verstehen zunächst nicht darunter, daß alle Kinder zu Künstlern erzogen werden sollen. Das wäre ja schon durch die verschiedene Begabung ausgeschlossen, und dazu sind auch unsere allgemein bildenden Schulen nicht da. Wir wollen vielmehr die Kinder nur zur rezeptiven Genußfähigkeit erzogen wissen. Dem Kinde schon auf der Schule die Meinung beizubringen, als ob es selber erfinden, selber in die tiefsten Geheimnisse der künstlerischen Produktion eindringen könne, das wäre nach unserer Ansicht verfehlt. Denn darin würde sich eine Verachtung der großen schöpferischen Kunst aussprechen, die genau das Gegenteil von dem bewirken würde, was wir damit beabsichtigen.

Wir wollen auch kein neues Schulfach, wie Kunstgeschichte oder Ästhetik, einführen. Denn die Aufgaben unserer Schulen sind so schon groß genug, und wir meinen, daß in Bezug auf kunstgeschichtliche Belehrung schon jetzt hie und da des Guten eher zu viel als zu wenig geschieht. Unsere Kinder sollen nicht über Kunst schwatzen, sondern Kunst sehen und genießen lernen.

Und unsere Absicht geht deshalb dahin, den bei allen Menschen im Keime vorhandenen Kunstsinn soweit zu wecken und auszubilden, wie es innerhalb der bescheidenen Grenzen des Nichtkünstlertums und innerhalb der übrigen Erziehungsziele möglich ist.

Es kommt dabei weder darauf an, ein bestimmtes theoretisches Wissen mitzuteilen, noch auch die Hand zu gewissen äußeren Manipulationen zu befähigen. Es kommt vielmehr darauf an, das künstlerische Gefühl auszubilden, die Hand dem Auge und der Phantasie dienstbar zu machen.

Deshalb verwerfen wir bei der Kunsterziehung zwar nicht das Wort, denn ohne dieses kommt man natürlich bei der Belehrung nicht aus, wohl aber das ungebührliche Sichvordrängen der theoretischen Unterweisung. Deshalb verwerfen wir das übertriebene Wertlegen auf die äußerliche technische Routine. Denn die Technik an sich besagt in der Kunst gar nichts, sie erhält ihren Wert erst dadurch, daß sie etwas bedeutet, daß etwas mit ihr ausgedrückt wird.

Man kann die Kunst nicht lehren, wie man die Wissenschaft und das Handwerk lehrt. Die Kunst hat ihrem Wesen nach etwas Freies, Spielendes, Gefühlsmäßiges. Der Erzieher darf sie deshalb nicht mit dem grübelnden Verstand des Gelehrten und auch nicht mit den plumpen Händen des Banausen anfassen.

Deshalb verwerfen die meisten von uns auch das nach Vorlagen zu zeichnende, aus dem Zusammenhang herausgerissene historische Ornament, das bisher neben den geometrischen Formen fast den ganzen Zeichenunterricht beherrschte. Wir wollen nicht, daß das Kind die Natur zuerst durch die Brille der Vergangenheit, durch die Vermittlung bestimmter historischer Stilarten sehe, und wir stehen deshalb auch allen neueren Versuchen fern, den Zeichenunterricht auf die Kunstgeschichte, auf die kunsthistorischen Stufen zu gründen. Denn wir glauben, daß das Kind dadurch zu dem Irrtum verführt wird, die Schönheit eines Bauwerks oder Geräts bestehe in dem von außen angeklebten Ornament, was ja nicht der Fall ist, oder gar in der bestimmten historischen Fixierung, die die ornamentalen Formen in irgend einer Periode der Vergangenheit einmal erhalten haben.

Quelle

Lange, Konrad, Zeichnen und Formen, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehertages in Dresden am 28. und 29. September 1901, Leipzig 1902

Konrad Lange lehrte als Professor an der Universität Tübingen, bereitete mit Lichtwark u. a. den Kunsterziehungstag in Dresden 1901 vor.

Rege kunstdidaktische Tätigkeit mit weit ausstrahlenden Konsequenzen entwickelte der Hamburger Museumsdirektor Alfred Lichtwark seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, indem er sowohl in zahlreichen Publikationen, Vorträgen und Führungen, als auch in der Ankaufspolitik der Hamburger Kunsthalle seinen didaktischen Intentionen Ausdruck und Wirksamkeit verlieh. Verbreitete Traditionen seines Jahrhunderts aufgreifend, förderte er gerade den Zugang der »Dilettanten« zur Kunst durch Unterweisung in künstlerischen Techniken und ikonographischen Fragen, aber auch mit der erklärten Zielsetzung, zur »Genußfähigkeit« zu erziehen.

Alfred Lichtwark

Kunst in der Schule (1893)

Der Schwerpunkt unserer deutschen Bildung liegt im Wissen. Wissen und Bildung sind daher bei uns fast synonym geworden; Erziehung und Unterricht gelten in den Gedanken des Volkes für ungefähr gleichbedeutend. Die Ansicht des Auslandes bestätigt diese Auffassung. Wenn wir aus all den richtigen und schiefen Urteilen unserer Nachbarn die Summe ziehen, so heißt sie: Der Deutsche ist unterrichtet, aber nicht erzogen. Eine Wahrheit, die wir uns sorgfältig zu verhehlen pflegen.

Der Stand unserer Kunstbildung zeigt auf den drei großen Gebieten ein sehr verschiedenes Niveau.

Auf dem Gebiet der Musik nehmen wir gegenwärtig unter allen Völkern den höchsten Rang ein, wie denn auch unser Einfluß in der ganzen gebildeten Welt deutlich sichtbar hervortritt.

In den redenden Künsten hat unsere Bildung seit einigen Jahrzehnten unerhörte Rückschritte gemacht. [...] Am tiefsten steht unser Bildungsniveau jedoch in den bildenden Künsten.

Mit überraschender Klarheit wird dieses Verhältnis durch den Dilettantismus widergespiegelt. Dilettanten, die als solche unerschrocken auftreten dürfen, gibt es bei uns nur in der Musik. Vom Dilettantismus in der Poesie oder in der bildenden Kunst können wir in Deutschland nicht reden hören, ohne zu lächeln. Aber wir sollten uns dessen nicht rühmen. Ich glaube, es ist einer der beklagenswertesten Mängel unserer Bildung, daß wir den Dilettanten zu einer lächerlichen Figur gestempelt haben.

Wenn jeder, der seit seinem siebenten Jahr täglich eine Stunde musiziert, dieselbe Zeit auf seine Ausbildung im Aquarellmalen oder im Modellieren verwendete: Was für ein ganz anderes Publikum würde unsere Ausstellungen besuchen!

Wir müssen dahin streben, daß auch bei uns und für uns selbst die höchsten Leistungen möglich werden. So ungeheuerlich uns die Preise klingen, die ein gebildeter Franzose für moderne Kunstgegenstände, namentlich für Erzeugnisse der Kunstindustrie zahlt, sie sind die Gradmesser einer hochentwickelten Produktion. Wo die allerhöchsten Ansprüche überhaupt nicht erhoben werden, da muß das Niveau niedrig bleiben. Unser Ziel zu erreichen, gibt es jetzt nur einen Weg: die Empfindung und Selbständigkeit des kaufenden Publikums stärken.

Eins der Mittel, uns den Käufer zu Hause zu erziehen, bietet uns die Schule. Wir dürfen uns allerdings kein unmittelbares Ergebnis versprechen und müssen uns hüten, zu hoch anzuschlagen, was sich auf dem Wege erreichen läßt. Aber ich bin fest überzeugt, es läßt sich außerordentlich viel wirken, wenn die Arbeit praktisch angefaßt und eingerichtet wird. Wir müssen nur nichts Verkehrtes wollen. Kenner lassen sich in der Schule nicht erziehen. Kunstgeschichtliches Wissen wird schnell vergessen, nützt so gut wie nichts und kann sogar dem Deutschen unter Umständen höchst schädlich sein. Wir müssen dem Schüler Unverlierbares mitgeben, das in ihm weiter arbeitet. Dazu gehört zu allererst die Fähigkeit, anzuschauen, die Freude an dem Einfachen, Gediegenen, Sachgemäßen. Durch die aufmerksame Betrachtung einer kleinen Anzahl von Kunstwerken, die der Schüler ganz in sich aufnehmen muß, ist sein Interesse zu wecken. Mit dieser bloßen Anregung, anschauend zu genießen, ist schon unendlich viel gewonnen. Wer hat nicht an sich erlebt, welche Kraft in dem Wort eines anregenden Lehrers liegt!

Wenn auch während der ganzen Schulzeit das hohe Ziel nicht darf aus dem Auge verloren werden, so fällt doch die Hauptaufgabe auf die Zeit vom zwölften bis zum fünfzehnten Lebensjahr. In diesem Alter muß jedoch für alle Schulen im Wesentlichen nach denselben Grundsätzen verfahren werden. Der bildenden Kunst gegenüber macht hier der Bildungsunterschied zwischen Mädchen und Knaben, zwischen dem Zögling der Volksschule und dem Gymnasiasten keinen wesentlichen Unterschied, da es auf das bei allen gleich schwach entwickelte Anschauungsvermögen ankommt.

Es fragt sich, was sollen die Schüler bis zum Alter von fünfzehn Jahren anschauen? Ich glaube, im Wesentlichen nur moderne Kunst. Wir wollen, soweit es angeht, das kommende Geschlecht dazu erziehen, daß es in seiner Zeit lebt und nicht durch die Gedanken an die Vergangenheit sich von der Gegenwart abziehen läßt. Aber wir müssen uns auch wieder vor der Einseitigkeit hüten. Der Schüler soll Ehrfurcht vor den Werken der älteren Epochen behalten. Wir tun bei uns in Hamburg sicher am besten, wenn wir uns an das in öffentlichem Besitz vorhandene Material halten. Das ist wesentlich modern. Viel besitzen wir ja nicht; aber für die Erziehung kommt es in erster Linie auf eine gründliche Kenntnis eines weniger umfangreichen Stoffes an.

Bei der Betrachtung der Architekturdenkmale scheint mir besonders nötig, zu betonen, daß man mit der Sachkenntnis und nicht mit dem Wortwissen anzufangen hat. Vor dem Bauwerk soll der Schüler erkennen, was eine Säule bedeutet, soll er Basis, Schaft und Kapitell unterscheiden lernen, soll er die Bedeutung der konstruktiv und der dekorativ verwendeten Säule herausfinden. Erst wenn er selber die Entdeckung gemacht hat, wie viele Grundformen des Kapitells es gibt, und sie selbständig unterscheiden kann, darf er ihre Namen erfahren. Ebenso hat er die Bedeutung des Gebälks, die Funktion der Profile, und die Rolle, welche die Proportion spielt, selbständig zu finden. Es muß in ihm die Fähigkeit erweckt werden, eine zusammengesetzte Erscheinung zu zergliedern. Die Kenntnis der antiken Säulenordnung halte ich für den Schüler bis zum fünfzehnten Jahr für überflüssig. Aber das Wesen des gotischen Stils im Gegensatz zu den Stilarten, die sich aus der Renaissance entwickelt haben, läßt sich unschwer an den Bauwerken auch dem Schüler klar machen.

Geradezu verwerflich scheint mir die Verwendung von Abbildungen, wo sie nicht lediglich als Erläuterung beim Unterricht in der Geschichte oder der Geographie verwendet werden, denn sie enthalten die Hauptsache nicht und verführen zum oberflächlichen Sehen, da nichts Einzelnes genügend beobachtet werden kann.

Quelle

Lichtwark, Alfred, Vortrag 1893, in: Lichtwark, Alfred, Aus der Praxis. Die Grundlagen der künstlerischen Bildung, Berlin 1902

Alfred Lichtwark (1852-1914), Kunsthistoriker und Direktor der Hamburger Kunsthalle, gründete 1896 die »Hamburger Lehrervereinigung zur Pflege der künstlerischen Bildung in den Schulen« und wurde damit zu einem der Protagonisten der Kunsterziehungsbewegung.

Weite Verbreitung fand das ausgesprochen nationalistische Buch »Rembrandt als Erzieher« von August Julius Langbehn mit über 150.000 verkauften Exemplaren (bis 1945), in dem die völkischen Aspekte der Kunstbetrachtung wilhelminischer Zeit aufscheinen.

August Julius Langbehn

Der nationalistische Blick auf »deutsche Kunst« (1890)

Das Interesse an der Wissenschaft, und insbesondere an der früher so populären Naturwissenschaft, vermindert sich neuerdings in weiten Kreisen der deutschen Welt; es vollzieht sich ein merklicher Umschwung in der betreffenden allgemeinen Stimmung; die Zeiten, in welchen ein angesehenes Mitglied der Naturforscherversammlung zu Kassel diese allen Ernstes für das »Gehirn Deutschlands« erklären konnte, sind vorüber. Man glaubt nicht mehr so recht an diese Art von Evangelium. Man ist einigermaßen übersättigt von Induktion; man dürstet nach Synthese; die Tage der Objektivität neigen sich wieder einmal zu Ende und die Subjektivität klopft dafür an die Thüre. Man wendet sich zur Kunst!

[...] Die treibende Grund- und Urkraft alles Deutschthums aber heißt: Individualismus. »Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Frage gleichbedeutend,« sagt Fichte. Zu dieser ihm angeborenen, jedoch im Laufe der Zeit vielfach verloren gegangenen Eigenschaft muß der Deutsche zurückgezogen werden. Eben in dem zerklüfteten Wesen, in jenem zentrifugalen Bestreben, welches dem Deutschen von jeher eigenthümlich war, liegt seine Fähigkeit einer unendlich reichen und mannigfachen Ausstrahlung auf das Welt- und Menschheitsganze beschlossen. Je mehr es ihm gelingt, in dieser Hinsicht aus der Noth eine Tugend zu machen, desto vollkommener wird er sein Dasein gestalten. Seine Neigung, individuell zu sein, dem eigenen Kopfe zufolge, kurz die sprichwörtliche und politisch so oft nachtheilig gewesene deutsche Uneinigkeit, befähigt ihn ganz besonders, es auf künstlerisch-geistigem Gebiet weiter zu bringen als andere Völker. Individualismus ist die Wurzel aller Kunst; und da die Deutschen unzweifelhaft das eigenartigste und eigenwilligste aller Völker sind: so sind sie auch – falls es ihnen gelingt, die Welt klar widerzuspiegeln – das künstlerisch bedeutendste aller Völker.

Ein Charakter, der sich nicht widerspricht, ist keiner. Auch der Deutsche wird sich gewissermaßen selbst widersprechen müssen, um seinem höheren Beruf gerecht zu werden; er wird seine Individualität – das anscheinend Freie und Gesetzlose – zum Gesetz erheben müssen; er wird sich selbst zu konstruieren haben. Denn das Individuelle wirkt erst dann nützlich, wenn es der rein persönlichen Willkür entrückt ist; wenn es sich dem großen Bau eines Volks- und Weltlebens einfügt; wenn es dient. Der Deutsche soll dem Deutschthum dienen. [...]

Der lösende und erlösende Glaube an ein echtes Menschenthum ist es, welcher erst unser nationales Leben zu rechter Blüthe erwecken kann. Aber zu dem Substantiv: Mensch muß noch das Adjektiv: deutsch kommen. Wer ein rechter Deutscher ist, der ist auch ein rechter Mensch; keineswegs umgekehrt; eben hierauf beruht der Vorzug des Deutschthums, welches durch dieses Jahrhundert, vor dem Menschenthum, welches durch das vorige Jahrhundert angestrebt wurde. Das Geheimnis besteht darin, sich an seine Individualität zu binden, aber sich nicht von ihr binden zu lassen. Vielleicht daß es den Deutschen doch noch gelingt, den Weg zur Wahrheit zurückzufinden; sie brauchen sich nur auf sich selbst zu besinnen; »das nenne ich ein deutsches Aussehen, stark, wohlerzogen und fein« hat Rahel gesagt. Götter und Menschen, Dichter und Propheten, Mann und Weib rufen dem Deutschen zu: sei deutsch! Die Deutschen, als Volk genommen, sind nunmehr stark; aber »wohlerzogen« nur theilweise und »fein« noch weniger. Denn ihre Bildung ist unecht, und das Unechte ist nie fein. Wer das unschätzbare Gut seiner Individualität für den Flitter einer falschen Bildung hingiebt, ist nicht klüger als der Neger, welcher sein Land und seine Freiheit für eine Flasche gefälschten Rums und einige Glasperlen verkauft. Stark, wohlerzogen und fein – ist der Charakter der Bachschen Musik; an ihr und zu ihr sollen sich die Deutschen hinaufbilden; stark, wohlerzogen und fein – ist der Gehalt der Rembrandtschen Malerei; in sie sollen die Deutschen sich versenken. Das »wohltemperirte Klavier«, welches der Eine und die sorgsam entwickelte Skala des »Helldunkels«, welche der Andere hinterließ, sind höchste Bildungsmittel; sie sind es im eigentlichen wie im uneigentlichen, im fachkünstlerischen wie im menschlichen Sinne; sie sind es im deutschen Sinne.

Rembrandt ist der deutsche Mensch; die Eigenheiten der deutschen Natur liegen in ihm dicht beisammen; so daß sie, wie Blumenblätter in der Knospe, noch den Eindruck des Ungeordneten machen. Auch für sie wird der Sommer kommen. Linien trennen, Farben verbinden; Menschheit ist Form, Deutschthum ist Farbe; Form und Farbe aber vereinen sich innerlichst in der Blume. Kristallklar und farbig leuchtend muß die deutsche Bildung sein; sie soll dem besten Rhein gleichen; wie er das Blut des Landes ist, soll sie das Blut des Volkes sein. Der deutsche Mensch sei individuell künstlerisch philosophisch synthetisch gläubig frei! Von ihm, wie er ist, hat die deutsche Kunstpolitik auszugehen; auf ihn wie er sein soll, hat sie hinzuarbeiten; das ist Volkserziehung.

Der Akt der Wiedergeburt wird wesentlich darin zu bestehen haben: daß sich die besseren Deutschen von den schlechteren Deutschen scheiden; daß jene auf diese Einfluß gewinnen; daß jene diese möglichst zu sich hinüberziehen; daß jene diese aufklären. Die unedlere Mehrheit soll von der »edleren Minderheit« erzogen werden; sie soll von ihr beherrscht werden; sie soll von ihr geadelt werden.

Quelle

Langbehn, August Julius, Rembrandt als Erzieher, 1890

August J. Langbehn (1851-1907) wirkte als nationalistisch-naturalistischer Schriftsteller; 1890 erschien anonym sein Werk »Rembrandt als Erzieher«, das großes Aufsehen erregte.

Johannes Richter

Über die »Wiederauferstehung der Volkskunst« (1909)

Bevor wir aber die volkspädagogischen Bestrebungen, die die Gegenwart geboren hat, im einzelnen in fruchtbringender Weise zu betrachten vermögen, ist es notwendig, das Verhältnis von Volk und Kunst im allgemeinen zu erwägen. Wiederholt schon ist in dieser Arbeit der Hinweis erfolgt, daß die Lösung der Kunst vom Leben und vom Volke zu den unheilvollsten Tatsachen der Kultur des 19. Jahrhunderts gehört. Die stetig zunehmende Isolierung der Kunst, die mit dem ausgehenden Mittelalter anhebt, hat ihre höchste Steigerung im Laufe des 19. Jahrhunderts erfahren. Über diese Tatsache herrscht in der Kunsterziehungsliteratur Einstimmigkeit.

Immer wieder fordert unsere Zeit vom Künstler ernste Vertiefung und Versenkung in das Leben und Empfinden der Volksseele. Aus dem Heimatboden soll die Kunst wachsen, und mit dem Herzblut der Nation soll sie getränkt sein. Nur so dürfen wir auf eine wahrhafte Wiedergeburt der Kunst im volkstümlichen Sinne hoffen. Kunst und Volk »gehören eben ihrer innersten Natur nach zusammen, beide können ohne einander nicht leben und gedeihen, sie verkümmern beide, wenn eins dem andern sich länger oder gar dauernd entzieht, denn beide sind nur Äußerungen eines und desselben Menschenwesens, beide finden ihre ewige Einheit und Zusammengehörigkeit im Menschen, seiner ureigensten Natur und seinen innersten Bedürfnissen«. Von dieser Einsicht aus geschieht es, daß die schaffenden Künstler wieder beim Volke in die Lehre zu gehen beginnen, daß sie das Volk bei seiner Arbeit und seinen täglichen Kämpfen, in seiner Freude und in seinen Leiden belauschen. Dem modernen Naturalismus mit seinem intensiven Ergreifen der Wirklichkeit in Natur und Leben gebührt unzweifelhaft das Verdienst, den Boden für eine kräftige volkstümliche Kunst wenigstens vorbereitet zu haben. Unser Streben muß aber auch darauf gerichtet sein, die erloschene Bauernkunst von neuem ins Leben zu rufen [...]

Der ganze Inhalt der volkspädagogischen Auslebungen des Kunsterziehungsgedankens ist schließlich dieses »Hinauf zur Kunst«! Alle Volkskreise sollen an der Fülle und Kraft unserer Kunst von der Marmorstatue bis zum künstlerisch gestalteten einfachen Hausgerät herab zu edlem Menschentum erzogen werden.

Quelle

Richter, Johannes, Die Entwicklung des kunsterzieherischen Gedankens, Diss. Leipzig 1909

Johannes Richter (1882- ?), Ausbildung als Volksschullehrer in Dresden, Studium der Pädagogik, Philosophie, Germanistik und Religion in Leipzig, Dissertation 1909, Direktor des Pädagogischen Instituts Leipzig (Lehrerausbildung), 1927 Honorarprofessor für Didaktik der Volksbildung an der Universität Leipzig, Entlassung 1933; weitere Lebensdaten fehlen.

3 Reichskunstwart und Bauhauspädagogik: Kunstunterricht in der Weimarer Republik

In der Zeitschrift »Die Woche« erschien bereits am 1. April 1916 ein Artikel des Generaldirektors der Berliner Museen, Wilhelm von Bode, der – an preußische Traditionen eines Freiherrn vom Stein anknüpfend – die Ziele einer Kunsterziehung für die Nachkriegsära formulierte. Wilhelm von Bode (1845-1929), wegen seiner der Gründerzeit verhafteten Konzeption »Bismarck des Museums« genannt, galt in seiner Zeit als einer der bedeutendsten Kunsthistoriker und Museumsfachleute. Mit seiner antimodernen Haltung prägte er aber auch das Kunstverständnis weiter Kreise und ebnete in seinen letzten Jahren mit seiner Wertschätzung des Bildhauers Josef Thorak der Kunstideologie des Nationalsozialismus den Weg.

Wilhelm von Bode

Aufgaben der Kunsterziehung nach dem Krieg (1916)

[...] Die Kunsterziehung muß ihre Grundlage im Leben haben und muß sich nach den Anforderungen des Lebens richten. Öffentlicher Unterricht in Kunst im weitesten Sinne ist ebenso notwendig wie jeder andere Unterricht, aber wie dieser auf der Volksschule beruht und von ihr ausgeht, so soll der Kunstunterricht auf der Ausbildung im Zeichnen und Modellieren beruhen, das jeder ebenso gut lernen kann, wie er Lesen und Schreiben erlernt, wenn auch nicht als Kunst. Auf dieser Grundlage muß sich der Unterricht in allen kunstgewerblichen Fächern aufbauen; nur wer in dieser allgemeinen Vorschule hervorragende Begabung zur hohen Kunst zeigt, soll dafür seine Ausbildung in den der Zahl nach möglichst einzuschränkenden Künstler- und Meisterateliers erlangen. So lassen sich Kunstakademie, Kunstgewerbeschulen und Kunstschule in eine einzige Anstalt verschmelzen, in der die Ausbildung zu einem der vielen kunstgewerblichen Berufe das Hauptziel bilden müßte, und welche mit den Fachschulen in enger Fühlung sein sollen, während den Übergang zur freien Kunst nur wenig wirklich Auserwählte finden sollen. [...] Kaum auf einem anderen Gebiete erscheint sie [...] als so dringende Pflicht als gerade in der Kunsterziehung, da sie dem Staate [...] nicht nur unnötige Kosten macht und Ungenügendes leistet, sondern vor allem Tausende von tüchtigen Kräften einer nützlichen Beschäftigung entzieht. [...] Wie für die Gelehrtenschule, wenigstens für das klassische Gymnasium, das Griechische hoffentlich erhalten bleibt, so wird auch die Vorbildung zum Künstler eine möglichst gründliche bleiben müssen. [...] Eine solche Reform unseres Kunstunterrichtswesens würde durchaus den guten alten preußischen Traditionen entsprechen; ja, die hier ausgesprochenen Grundlinien sind schon bei der Reform oder richtiger bei der Neuorganisation der Berliner Akademie, die Friedrich der Große im Februar 1786 anordnete, und die sein ausgezeichneter Staatsminister v. Heinitz, als dessen Schüler Frhr. v. Stein sich stolz bekennt, später durchführte, ausdrücklich als leitende Grundsätze betont. [...]

Quelle

Bode, Wilhelm von, Aufgaben der Kunsterziehung nach dem Kriege, »Die Woche«, 18. Jahrgang, Nr. 14 vom 1.4.1916, S. 469-470; zit. n. Hans M. Wingler, Das Bauhaus, 3. Aufl., Bramsche (Rasch/DuMont) 1975, S. 31

Wilhelm von Bode (1845-1929); Jurastudium; danach Kunsthistoriker, führender Museumsdirektor in Berlin; erschloss wichtige Sammlungsgebiete durch Ankäufe und Stiftungen, gab als Kunsthistoriker bedeutende Werke über deutsche Plastik, die italienische Renaissance, über Botticelli und Leonardo da Vinci heraus.

Die Bemühungen um eine Kunstpolitik des Weimarer Staates reflektiert eine Denkschrift des Reichskunstwarts Edwin Redslob aus dem Jahr 1920, die zugleich das nationalistische Element der Kunstvermittlung aus wilhelminischer Zeit tradiert.

Denkschrift des Reichskunstwarts (1920)

Ebenso ist er [der Reichskunstwart] der Reichsregierung gegenüber Vermittler heimatlicher und einzelstaatlicher Gesichtspunkte, während er den einzelnen Bezirken und Vereinigungen gegenüber wiederum Vermittler eines einheitlichen Kulturwillens ist. [...] Nicht die einzelne Lösung, sondern erst die Erweckung eines künstlerischen Volkswillens hat hierbei als Ziel zu gelten. [...] [Aufgaben bestehen in] Fragen gesetzgeberischer Art, besonders Beratung vor Abfassen der Steuergesetze, Teilnahme an der Arbeit des Heimatdienstes und des Deutschen Schutzbundes sowie darüber hinaus an der Kulturpropaganda, besonders im deutschen Grenzgebiet, wie auch im Ausland, Verarbeitung und Pflege der Bestrebungen der Künstlervereinigungen und ähnlicher Organisationen, wie des Werkbundes, des Bundes Deutscher Architekten, des Deutschen Künstlerbundes, der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst, des Deutschen Museumsbundes u. a., Prüfung der Absichten von Organisationen, die sich zur Anbahnung eines kulturellen Austausches mit dem Ausland gründen ... Vortragstätigkeit, zumal bei besonderen Anlässen, wie Ausstellungen, Messen, Verbandstagen, vor allem nahe und im besetzten Gebiet, Einwirkung auf die Öffentlichkeit u. a. durch die Herausgabe der ›Mitteilungen des Reichskunstwarts‹, die zur Aufklärung der Presse und zum Versand an Behörden, Kunstschulen und Kunsthochschulen und dergl. je nach Bedarf herausgegeben werden. [...] Der Sinn der Tätigkeit des Reichskunstwarts ist, daß nicht etwa – wie ehedem – die Kunst im Staatsleben eine im Grunde überflüssige Verzierung ist. Die Stelle will eine Durchdringung mit positiven Kräften ermöglichen. [...] Sie sucht durch ihre Beratung die Pflege hochwertiger Arbeit herbeizuführen, die zur Grundlage wirtschaftlicher Gesundung beitragen könnte.

Infolge der allseitigen Bedrohung unseres kulturellen Lebens ist es nötig, das der an der Stelle zum Ausdruck gebrachte kulturelle Wille der Reichsregierung entscheidend hervortritt, ehe es zu spät ist.

Quelle

Bundesarchiv Koblenz – R32/1 (Bestand des Reichskunstwarts)

Edwin Redslob (1884-1973), Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie in Heidelberg; Tätigkeit in Museen und Sammlungen; 1920 bis zur Entlassung im Februar 1933 Reichskunstwart; Kontakte zum Bauhaus in Weimar; 1945 Mitbegründer des Berliner Tagesspiegels und der Freien Universität in Berlin; lehrte dort als Professor Kunstgeschichte.