Gunter Pirntke

 

Geschichte des Rechts und der Wirtschaft

Vorlesungsskripte

 

TU-Dresden Hörsaal

 


Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Digitalisierung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke



© 2016 andersseitig.de

ISBN

9783961181810 (ePub)

9783961181827 (mobi)

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Gunter Pirntke, Altenberger Str. 47

01277 Dresden, Ruf: +49 (0)15901959485

 

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Vorwort

 

In 30 Jahren Dozententätigkeit beschreibt man eine Menge Papier, die ersten Jahre noch mit der guten alten Schreibmaschine. Die wichtigsten Skripte aus meinen beiden Disziplinen, die der Autor gelehrt hat, wurden zusammengefasst und bilden nun dieses Lehrbuch, welches die Geschichte beider Wissenschaften nachvollzieht und übersichtlich gestaltet.

Die Rechtsgeschichte ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sowohl dem Kreis der Rechtswissenschaften als auch dem der Geschichtswissenschaften zuzurechnen ist. Im deutschsprachigen Raum wird sie traditionell als juristische Grundlagenwissenschaft an juristischen Fakultäten gelehrt und zerfällt in einen romanistischen, germanistischen und kanonistischen Zweig. Während die Rechtsgeschichte im 19. und noch Anfang des 20. Jahrhunderts einen hervorragenden Stellenwert im juristischen Studium einnahm, ist sie seit etwa 1945 mit einem zunehmenden Bedeutungsrückgang und – damit verbunden – mit Legitimationszwang verbunden.

Die Wirtschaftsgeschichte untersucht die Entwicklung und die Organisation von Volkswirtschaften, Branchen und Unternehmen in historischer Perspektive. Sie ist deshalb eine Brückendisziplin zwischen den Wirtschaftswissenschaften und der Geschichtswissenschaft. Je nach Betrachtungsweise können die Volks- und Betriebswirtschaftslehre sowie die Geschichtswissenschaft der Wirtschaftsgeschichte als Hilfswissenschaften dienen. Oder aber die Wirtschaftsgeschichte wird zur Hilfswissenschaft der erstgenannten Fächer, beispielsweise zur Untersuchung der epochenübergreifenden Gültigkeit von Theorien. Seit Ende der 1950er Jahre wurde die Wirtschaftsgeschichte ausgehend von den angelsächsischen Ländern durch die Cliometrie erneuert. Dieser Zweig nutzt für die Analyse vor allem wirtschaftswissenschaftliche und statistische Methoden wie beispielsweise Regressionsanalysen. Auch in Deutschland verwenden immer mehr Forscher diesen Ansatz, womit die deutsche Wirtschaftsgeschichte international wieder anschlussfähig geworden ist. An den Universitäten werden Lehrstühle für Wirtschaftsgeschichte in der Regel entweder an geschichtswissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt. Öfters wird das Fach dabei mit verwandten Disziplinen wie der Sozial- oder Agrargeschichte gekoppelt.


I. Teil: Die Geschichte des Rechts

1. Band: Die Anfänge des Rechts

 

Salus publica suprema lex

(Das Wohl des Volkes ist oberstes Gesetz)

Es ist äußerst schwierig, Gerechtigkeit zu definieren. Der Grund der Schwierigkeiten ist relativ einfach: Jeder versteht etwas anderes darunter. „Recht“ – was ist das?

Ein Jurist versteht unter Gerechtigkeit, dass das „Recht“ eingehalten wird. Andere, wie C. Gusy sagen: ,,Recht ist Politik, die sich entschieden hat“. Eine weitere Meinung sagt: Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammenvereinigt werden kann.

In der Tat scheint es fast unmöglich zu sein, genau zu definieren was Recht ist. Bei einer Durchsicht der Schriften berühmter Rechtsgelehrter sind zum Begriff des Rechts bemerkenswerte Tatsachen zu tagen getreten.

Die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die Rechtswissenschaft dient zum einen der Kontrolle von Mythen und Legenden sowie Legitimationsargumenten. Nebenbeigesagt auch der Unterhaltung. Weiterhin ist sie eine Auslegungshilfe für das bessere Verständnis der Gesetze.

Recht existiert in der Zeit (Zeitstruktur), die Rechtsgeschichte erläutert die Dimension der Zeit für die Rechtswissenschaft. Zum zweiten ist die Entstehungsgeschichte als historisches Argument zu sehen, d.h. die Legitimation der heutigen Gesetzte aufgrund ihrer historischen Basis wird unterstrichen und letztlich lassen sich viele Rechtsfragen mit der Geschichte erklären.

Auf den ersten Blick erscheint uns das Recht in zeitloser, steinerner Gestalt. Ein Recht, das unbeweglich in den Zeitläufen steht. Man denke nur an Rechtsdogmen, die heute und offenbar schon vor 2000 Jahren Geltung hatten bzw. haben, oder an unsere Privatrechtskodifikationen.

Aber erscheint uns das Recht vielleicht nur so, weil wir nur dieses zeitlose Gesicht sehen wollen oder können, geblendet vom Wunsch nach Rechtssicherheit und Stabilität?

Zu Beginn kam das Recht aus dem Volk: die Deutung, Anwendung und Fortbildung des Rechts war Sache des Volkes und der Volksgerichte. Die Verwaltung des Rechts war also bei denjenigen, die auch alle andern Tätigkeiten verrichteten.

„Die Sicherheit des Rechts fordert Positivität des Rechts: wenn nicht festgestellt werden kann, was gerecht ist, so muss festgesetzt werden, was rechtens sein soll...“ (Aus: „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ von Gustav Radbruch (1914)

Irgendwann erfolgte – wie in allen übrigen Bereichen – der Schritt zur Spezialisierung, Technik und Systematik: das Leben war komplizierter geworden und es konnten nicht mehr alle Tätigkeiten von allen ausgeführt werden. Eine Gruppe von Menschen, welche Erfahrung und Wissen im Umgang mit dem Recht behaupteten, übernahm die Verwaltung des Rechts: die Juristen. Dies bedeutete eine Ausklammerung großer Teile des Volkes vom Recht und seine Verwissenschaftlichung. Die Juristerei erschien immer mehr als eine „Geheimwissenschaft“ der „Eingeweihten“.

Savignys* Begriff der geschichtlichen Kräfte selbst ist von unseren Vorstellungen verschieden. Recht erscheint ihm als Teil der Gesamtkultur. Kultur aber sieht er als geistige Tradition.

Wer dies außer Acht lässt, läuft Gefahr, Savignys Volksgeist biologisch oder als soziale Realität statt als kulturelle Tradition misszuverstehen. „Volk“ ist also gar nicht die politische und gesellschaftliche Realität der geschichtlichen Nation, sondern ein idealer Kulturbegriff und somit nahezu identisch mit den Richtern und Gelehrten eine Landes.

Ursprünglich habe zwar das Volk, etwa auch durch Priester oder Laienrichter, das Recht selbst verwaltet, aber irgendwann sei dieses zu kompliziert geworden. Dann habe sich ein gelehrter Juristenstand abgesondert, der das Recht ausschließlich weiter fortgebildet habe. Zur Rechtserzeugung ist nunmehr der wissenschaftlich gebildete Jurist berufen, der als „Organ“ des Volkes ein Monopol für Theorie und Praxis des Rechts erhält.

Das Recht war in räumlicher und sozialer Hinsicht zersplittert. Mit dem Aufkommen vermehrter Mobilität (und damit einhergehend der Geldwirtschaft) entstand das Bedürfnis nach einem einheitlichen Recht. Man wollte das gleiche Recht (und damit Rechtssicherheit) überall dort, wo man sich (räumlich und sozial) bewegte. In groben Zügen kann die gesamte Rechtsgeschichte zusammengefasst werden als zunehmende Vereinheitlichung des Rechts.

In der Nikomachischen Ethik erklärte Aristoteles das Recht wie folgt: „Das für politische Gemeinschaften geltende Recht zerfällt in das natürliche und das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall die gleiche Kraft besitzt, unabhängig davon, ob es anerkannt ist oder nicht. Gesetzlich ist jenes, dessen Inhalt so oder anders sein kann und erst durch positive Festsetzung so bestimmt wird.“

Der berühmte Rhetor des klassischen Griechenlandes, Demosthenes, äußerte sich in einer Rede gegen Aristogeiton dazu: „Recht ist das, was alle Menschen aus mehrfachen Gründen befolgen sollten, besonders aber deshalb, weil jedes Recht Erfindung und Geschenk der Götter ist, der Beschluss weißer Männer, eine Korrektur absichtlicher oder unabsichtlicher Irrtümer, ein Gesamthandelsvertrag mit dem Staate, dem alle Untertanen gemäß zu leben gehalten sind.“

Der Stoiker Chrysipp schrieb: „Die Welt ist ein großer Staat mit einer Verfassung und einem Gesetz. Die natürliche Vernunft gebietet darin, was zu tun, und verbietet, was zu lassen ist.“

Rudolf von Jhering brauchte für die Rechtsdefinition nur einen Satz: „Die Summe der in einem Staat geltenden Zwangsregeln.“

Bringen wir es kurz und bündig auf einen Nenner. Recht sichert das friedliche Zusammenleben der Menschen. Es ist dadurch charakterisiert, dass die Gültigkeit seiner Normen ggf. durch den Staat erzwungen werden kann (im Gegensatz zu ethischen Normen).

Die Identität von Recht und Sittlichkeit wurde historisch immer dann behauptet, wenn man glaubte, absolute, objektiv vorgegebene, alle Menschen und Zeiten gültige Wahrheiten gefunden zu haben. Dies geschah auf den Gipfeln der ideellen Naturrechtslehrern wie von Aristoteles, Thomas von Aquin und Hegel. Es ist kein Zufall, das allen diesen Lehren ein autoritärer, undemokratischer Zug eigen ist; deren Spuren bis in die Gegenwart reichen. „Noch im 6. Band der Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen ist expressis vertis von einer „Übereinstimmung“ des Rechts mit dem Sittengebot die Rede und wird von dem Recht „vorgegebenen und hinzunehmenden Ordnung der Werte“ gesprochen, schrieb Frietjof Haft in „Aus der Waagschale der Justitia“.

Erst 1814 erkennt man, dass „alles Recht Gewohnheitsrecht ist, welches erst durch Sitte und Volksglauben, dann durch Jurisprudenz erzeugt wurde“ (vgl. Friedrich Carl von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“).

„Recht“ ist die Bezeichnung für eine vom Staat vorgenommene Ordnung, die das menschliche Zusammenleben so regelt, dass Konflikte weitgehend vermieden werden. Es hat die Aufgabe, durch Gebote und Verbote das Verhalten verschiedener Menschen zu koordinieren. Bei Verstößen gegen Gebote und Verbote drohen Sanktionen. Nur so ist es als gelebte, praktizierte Normenordnung, als geltendes Recht, nachdem sich das soziale Leben einer Gemeinschaft richtet, zu verstehen. Da das Recht aber eine vom Staat vorgenommene Ordnung ist, sind die Vorstellungen vom Recht –dem Regime und der Epoche entsprechend– sehr unterschiedlich.

So haben Rechtsnomen (Rechtssätze) , die dem einen Interesse zu viel, dem anderen zu wenig Rechnung tragen, zu allen Zeiten Kritik hervorgerufen und das Problem der Gerechtigkeit aufgeworfen.

Der Grundgedanke, dass das Recht immer darauf abstellt, den Pflichten Rechte zum Ausgleich gegenüberzustellen und in einem Beziehungsgeflecht dieses Gleichgewicht in jedem einzelnen Beziehungsstrang herzustellen, kann dazu dienen, die einzelnen Regeln des Öffentlichen Rechts zu verstehen und im Einzelfall sachgerecht anzuwenden.

Insbesondere ist dies bei den Beziehungen zwischen Staat und Bürgern zu beobachten. Unsere Gesellschaft bietet ein sehr ausgeglichenes Verhältnis zwischen persönlicher Freiheit und gleichzeitigem Schutz von Schwachen. Auch wenn die „Staatsverdrossenheit“ eine Modererscheinung der heutigen Zeit für viele Zeitgenossen ist, kennen die Autoren keine Staatsform, die eine derartig hohe Lebensqualität bei einer vergleichbaren Absicherung der sozial Bedürftigen gewährleistet.

Als Nachteil des Systems wird häufig empfunden, dass es in vielen Bereichen undurchschaubar geworden ist. Wir beobachten es tagtäglich: Der Alltag wird ständig komplizierter, und viele Bürger haben den Eindruck, dass ohne juristische Ausbildung selbst alltägliche Dinge kaum noch zu bewältigen sind. Immer mehr Gesetze, Verordnungen und andere Vorschriften müssen im Alltag beachtet werden. Die Wurzeln sind aber kaum bekannt.

Wie sagte ein Nachfahre des großen Kardinals Richelieu:

„Der Cardinal von Richelieu verhalf Ludwig XIII. zu einer so großen Macht, um an seiner Stelle desto despotischer zu befehlen; er setzte die Minister in den beharrlichen Besitz dieser unumschränkten Gewalt, welche sie oft gemissbraucht haben, und ihm hat man das Geschlecht von Tyrannen zu verdanken, das ein Vergnügen daran fand, alle die Übel, worunter Frankreich seufzte, noch immer mehr zu vergrößern. Ludwig XIV. musste den Cardinal von Richelieu wohl lieb haben; er hatte ja alles seiner Herrschaft unterworfen, und war die Ursache, dass er keine Hindernisse fand, seine für Frankreich so verderblichen Endzwecke auszuführen. Aber hatten die Untertanen auch Ursache ihn zu lieben? Wer von uns weiß es nicht schon längst, dass dieser Minister das, was er tat, nicht zu Ludwigs XIII. Ruhme vernichtete?

Das Wohl des Volkes war ihm sehr gleichgültig; alle seine Handlungen zweckten nur darauf ab, sich sattsam zu erheben und zu rächen. Ein unermesslicher Ehrgeitz beseelte ihn und er verlangte, dass alles ihm unterworfen sein sollte. Kurz; er war ein Despot, der keinen Widerspruch litt. Hätte dieser Despotismus, der ihn doch noch dann und wann Gutes zu tun verleitete, wenigstens mit ihm ins Grab gelegt werden können, so wäre er doch nicht in die Hände so vieler niederträchtiger Seelen geraten, die durch Cabale oder das kriechendste Hofmachen bei Leuten, die noch weit verächtlicher waren als sie, ins Ministerium gekommen sind. Diese After-Minister, welche weder das Genie noch die Talente eines Richelieu hatten, und sich von Subalternen, und Commis, ihren untergeordneten Halbtyrannen, regieren lassen mussten, bedienten sich der ihnen übergebenen eisernen Rute, auf eine nicht weniger tyrannische Art das Volk, so sie verwünschte, blindlings zu geißeln.

Der Franzose wagte es nur einzeln und unter dem Dache, wo seine Tränen flossen, um Rache zu schreien: die geringste Klage hätte ihn um seine Freiheit gebracht; was ihm zur Schande gereicht, dem Untier, welches ihn zerfleischte, ward doch noch dann und wann von ihm geschmeichelt. O ! Franken, meine Mitbürger und Brüder, was waret ihr einst, und was seid ihr jetzt? Aus Sklaven sind Menschen geworden, und die Tyrannei ist verschwunden!“

 

Warum nun die Behandlung der Rechtsgeschichte?

Denn schaut man hinter dieses zeitlose Gesicht des Rechts, erkennt man, dass es nur Fassade, nur eine mögliche Ansicht ist. Denn es gibt nicht nur das schriftlich festgehaltene (und dadurch Sicherheit vermittelnde) Recht, sondern auch vieles, das beim Aufschreiben verloren gegangen ist. Verschriftlichung bedeutet Verlust.

Das geltende Recht tritt meist in der Gestalt abstrakter Normen vor uns hin. Auch der Vorgang der Abstraktion bedeutet Verlust, weil Abstraktion zwingend Selektion verlangt.

Alles, was nicht als allgemein gültig erscheint, wird weggelassen. Diese weggelassenen Reste sind aber nicht einfach verschwunden, sie sind weiterhin im Hintergrund vorhanden und treten bei der konkreten Rechtsanwendung wieder hervor.

Die Rechtsgeschichte ermöglicht das Auffinden und den Umgang mit diesen versteckten Teilen des Rechts.

Das geltende Recht – und sei es noch so neu – ist immer auch eine Botschaft aus der Vergangenheit: der Zeitpunkt des Erlasses liegt immer schon zeitlich zurück. Je weiter zurück der Erlass eines Gesetzes liegt, desto mehr geht der Kontext der Entstehung verloren und ändert sich der Sinn der Normen. Das Recht ist nur immer an den aktuellen Zeitpunkt gebunden sichtbar.

D.h. die Zeit und ihr Verlauf sind dem Recht inhärente Elemente. Die Aufgabe der Rechtsgeschichte ist der Umgang mit dieser Zeitbehaftetheit des Rechts.

Objektive Geschichte gibt es nicht. Jeder Betrachter der Geschichte bringt seine Geschichte, sein eigenes Vorverständnis und seine eigenen Vorurteile mit in die Betrachtung ein: er sieht einerseits nur diejenigen Elemente der Geschichte, die er sehen will bzw. sehen kann; und anderseits hat sein Vorverständnis Einfluss auf die Interpretation der gesehenen Teile. Die Vergangenheit ist also nur durch die Brille der an der Gegenwart Teilnehmenden sichtbar. „Der Interpret erzählt immer (nur) seine Geschichte.“ Umso mehr ist dies der Fall bei Geschichte, die nicht abgeschlossen ist, die heute noch Wirkung zeitigt: z.B. bei der Geschichte der aktuell geltenden Rechtsnormen. Mehr als anderswo besteht hier die Gefahr, nur diejenigen Teile der Geschichte zu sehen, die wir sehen wollen.

Gerade Juristen laufen oft Gefahr, nur dasjenige in der Geschichte zu sehen, was Ursprung, was Wurzel, was Präfiguration des aktuellen Rechtszustandes ist. Dies zeigt sich u.a. im Umgang mit dem römischen Recht, in welchem gewisse Juristen die Vorbildung unseres heutigen Privatrechts zu erblicken glauben.

Dogmen und Institute, die auf eine schon Jahrtausende alte Geschichte zurückblicken können, vermögen demgemäß mehr Autorität auszustrahlen als rechtliche Lösungen, die neu und noch nicht bewährt sind. Allein schon sein Alter legitimiert derart in der Vergangenheit verwurzeltes Recht.

Wenn dazu dieses Buch, welches eine Art Rechtsphilosophie darstellen soll, d.h. die systematische Beschäftigung mit den Grundfragen des Rechts, beiträgt, betrachten Autor und Verlag das Anliegen als erfüllt.

1. Abschnitte der Rechtsgeschichte

Die Rechtsgeschichte ist (naturgemäß) ein derart umfangreiches Gebiet, dass sachbezogene Einschränkungen erforderlich wurden, die zu einer nunmehr eingebürgerten Spartenbildung führten: Antikes Recht, wobei dem römischen Recht wegen seines überwältigenden Einflusses auf die Rechtsentwicklung bis in die heutige Zeit die Hauptrolle gebührt. Das germanische Recht; byzantinisches Recht; kanonisches Recht; Privatrechtsgeschichte der Neuzeit; neueste Rechtsgeschichte; Strafrechtsgeschichte; Verfassungsgeschichte.

Trotz dieser Einteilung ist damit bei weitem noch nicht die gesamte Rechtsgeschichte erfasst. Man befleißigt sich hierbei nämlich eines zwar durchaus verständlichen, aber gleichwohl perspektivenverengenden Eurozentrismus. Über die Rechtsgeschichte etwa der Japaner, der Araber, der nordamerikanischen Indianer, der Inka oder der Eingeborenen Zentralafrikas wird nichts berichtet (Vorwurf an uns Lehrende und Forschende).

Man kann sich die zeitlichen und räumlichen Abschnitte der Geschichte, speziell der Rechtsgeschichte in der Antike bis zum Beginn des Mittelalters etwa folgendermaßen vorstellen:

I.      Orientalische Rechte, insbes.

1.      Keilschriftrechte,(Recht in der Steinzeit)

am bekanntesten der Codex Hammurabi von Babylon um 1700 v.u.Z.,

2.      Hebräisches Recht,

enthalten in dem von den Christen so genannten Alten Testament (jüdisch: Thora).

II.      Griechische Rechte

1.      zum einen die Gesetzesreformen Drakons und Solons in Athen um 620 v.u.Z. sowie das Stadtrecht von Gortyn aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v.u.Z.,

2.      zum anderen die Rechts- und Staatsphilosophie Platons und Aristoteles' im 5. und 4. Jahrhundert v. u.Z.

III.      Römisches Recht, die überhaupt wichtigste Grundlage des modernen Rechts

1.      der Anfang markiert durch das 12-Tafel-Gesetz um 449 v.u.Z.,

2.      mit dem Höhepunkt der Schriften der klassischen Juristen um 0 - 200 n.u.Z.

und

3.      am Ende zusammengefasst durch Kaiser Justinian im Corpus Iuris Civilis, 533

4.      Vulgarrecht, d.h. die vom römischen Recht beeinflussten germanischen Rechte

 

IV. Mittelalter

Wiederentdeckung und Verbreitung, sogenannte Rezeption des römischen Rechts seit etwa 1100

I.      Orientalische Rechte, insbes.

1.      Keilschriftrechte,(Recht in der Steinzeit)

Recht in der Steinzeit

Menschen gibt es seit der sog. Altsteinzeit, die vor ca. 2 Mio. begann und bis zur Jungsteinzeit vor 10.000 Jahren reichte. In der Altsteinzeit hat sich herausgebildet, was heute noch Grundstruktur menschlicher Gesellschaft ist und hier finden wir die ersten Ansätze von “Recht”.

Als Steinzeit bezeichnet man den Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte, von dem angenommen wird, dass die damaligen Menschen als Werkstoff vorrangig Stein ver-wendeten (neben Holz, Knochen und Horn). Sie begann vor 2,6 Millionen Jahren und endete, als die Menschen seit dem 7. Jahrtausend v.u.Z. lernten, Metalle zu verwenden. Zu regional sehr unterschiedlichen Zeiten lösten Metalle allmählich Stein als vorrangigen Werkstoff (Grundstoff der Werkzeuge) ab. Wo die Entstehung der Menschen durch Werkzeuggebrauch definiert wird, wird die Steinzeit als die erste Epoche der Menschheit angesehen.

Von einem Recht in der Steinzeit kann man natürlich nicht sprechen, obwohl das Recht ja mit der Entwicklung der Menschheit daher geht. Mit Sicherheit gab es aber bereits Regeln für das Zusammenleben.

Per Definition beginnt die Steinzeit mit dem erstmaligen Gebrauch von Werkzeugen aus dem Material Stein durch den Menschen. Werkzeuge können so definiert werden, dass das Grundmaterial in irgendeiner Form zum Zwecke des Gebrauches verändert wurde. Demnach sind Geröllgeräte des Oldowan, die durch einige wenige Abschläge scharfe Kanten erhielten, die ersten belegten Werkzeuge der Menschheit. Ob diese Veränderungen anfangs bewusst herbeigeführt wurden oder aber durch Zufall entstanden, wird sich wohl nie restlos klären lassen. Mindestens aber erkannte der frühe Mensch den Nutzen und tradierte wohl auch bald die Werkzeuge und deren Herstellungsmethoden. Mit Gewissheit waren frühe Vertreter der Gattung Homo (Homo habilis, Homo erectus) die Erzeuger, möglicherweise stammen einige der frühesten Funde aber auch von Paranthropus robustus, einer Art aus dem Formenkreis der Australopithecina. Für viele Jahrtausende änderte sich am Inventar wenig.

Erstmals wird im Altpaläolithikum das Feuer genutzt – eine wichtige Voraussetzung, um auch kältere Regionen zu besiedeln und Nahrung für die Verdauung des Menschen bekömmlicher zu machen.

Als die ersten Vertreter der Hominini, die Werkzeuge nutzten, gelten Homo habilis und Homo rudolfensis, allerdings wurden auch Paranthropus robustus aus dem Formenkreis der Australopithecina Werkzeugfunde zugeschrieben. Der ihnen nachfolgende Homo erectus hat bereits Werkzeuge und Feuer genutzt; der erst 2003 entdeckte, kleinwüchsige Homo floresiensis, der noch vor rund 17.000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores lebte, war möglicherweise ein direkter Nachfahre von Homo erectus. All diese Arten der Gattung Homo sind dem Altpaläolithikum und seinen Geröll- und Faustkeilkulturen zuzurechnen. Hochrechnungen gehen davon aus, dass zu dieser Zeit auf der Erde nur wenige zehntausende Individuen existierten.

Als Menschentypus des Mittelpaläolithikums schlechthin wird von vielen Forschern der in Europa vor rund 200.000 Jahren aus Homo erectus / Homo heidelbergensis hervor-gegangene Neandertaler angesehen. Zugleich existierten in Afrika bereits die Übergänge von Homo erectus zu Homo sapiens.

Die ersten modernen Menschen in Europa waren dann – vor rund 35.000 Jahren – die Cro-Magnon-Menschen. Am Beginn des Jungpaläolithikum lebten Neandertaler und moderner Mensch einige Jahrtausende noch nebeneinander, manche Forscher sehen in den Kulturen des Aurignacien (Homo sapiens) und dem etwa gleichzeitigen Châtelperronien (Neandertaler) eine mögliche Unterscheidung auch in der materiellen Hinterlassenschaft, was allerdings umstritten ist. Vor etwa 30.000 Jahren starb der Neandertaler aus und überließ die Erde allein dem modernen Menschen, der Träger der weiteren Kulturen.

2008-08 archeon steinzeithaus

Archeon, Niederlande: Rekonstruktion eines Hauses aus der Jungsteinzeit

Die Menschen lebten in kleinen Sippen, die mit ihrer Jagd-Beute im jahreszeitlichen Wechsel herumzogen. Moderne Untersuchungen haben ergeben, dass die steinzeitlichen Menschen etwa zwei Drittel ihrer Energie aus tierischer Nahrung bezogen und nur 1/3 aus pflanzlicher Quelle.

Eine der größten Erfindungen des Menschen und eine gewaltige Zäsur stellte die Neolithische Revolution dar – der bewusste und gesteuerte Anbau von Nahrungsmitteln (Ackerbau) und die Viehzucht. Dies ermöglichte erst die wirklich dauerhafte Sesshaftwerdung, den Anbau von zusätzlichen Nahrungsmitteln, die Bevorratung der Überschüsse oder den gezielten und weitreichenden Handel damit und nicht zuletzt eine Bevölkerungsexplosion, weil mehr Menschen satt werden konnten. Eine weitere Folge war die Ausbreitung des Menschen auch in bis dahin unbesiedelte Gebiete.

Im Jungpaläolithikum tauchen Hüttengruben (Wohngruben) auf. Sie reichen von tief in den Erdboden eingegrabenen Gruben bis hin zu fast ebenerdigen Hütten. Sie enthalten meist Herdstellen und regelmäßig angeordnete Pfostenlöcher, die auf einen festen Oberbau hinweisen. Es wird angenommen, dass die Hütten zeltartige oder zelthüttenartige Formen aufwiesen.

Ausgehend von den Untersuchungen an diesen Stammesgesellschaften werden die Gesellschaften der Altsteinzeit als „Überflussgesellschaften“ bezeichnet. Die Menschen lebten hier gewisser Weise von der Hand in den Mund. Es wurde maximal 2 – 4 Stunden am Tag gearbeitet und nicht für die Zukunft geplant. Die kollektiven Jagden endeten täglich mit der Verteilung der Beute innerhalb der „Horde“.

Da die Lebensmittel nicht konserviert und angehäuft, sondern gleich konsumiert wurden, herrschte innerhalb dieser Horden ein labiles Gleichgewicht, welches zu häufiger Fluktuation der Hordenmitglieder führte.

Diese Horden waren nach dem Prinzip der Verwandtschaft aufgebaut und bestanden aus ca. 20 – 50 Personen. Entscheidungen, z.B. über den Abbruch des Lagers, die Jagd usw., wurden gemeinschaftlich getroffen. Auch wenn Einzelne sicherlich größere Autorität hatten als andere, herrschte ein egalitäres Klima, bei dem die Machtstrukturen jederzeit durch Abstimmung geändert werden konnten. Zusammengefasst kann man sagen, dass diese Jäger und Sammler anarchisch und herrschaftsfrei waren. Die Gruppe behielt ihre Souveränität. Innerhalb der Horde herrschte zwischen den Geschlechtern Arbeitsteilung. Während die Männer jagten, waren die Frauen für das Sammeln zuständig. In den meisten dieser Horden dürfte es ein leichtes Übergewicht des Mannes über die Frau gegeben haben, ohne das von Unterdrückung gesprochen werden kann. Dies zeigt sich auch an der großen sexuellen Freiheit in diesen ersten Jägergesellschaften.

Grundsätzlich lebte ein Mann mit einer Frau und den gemeinsamen Kindern in einer Kleinfamilie zusammen. Es galt das Prinzip der Exogamie, das heißt, dass innerhalb der Horde nicht geheiratet werden durfte, was freundschaftliche Beziehungen zu Nachbarhorden und eine ständige Erweiterung des Netzwerks verwandtschaftlicher Beziehungen notwendig machte. Das Exogamie-Gebot wurde durch das Inzest-Verbot gestützt, ohne dass sich die Wissenschaftler über die Gründe für das Inzest-Verbot einig sind. Während man früher überwiegend annahm, es handele sich um genetische Gründe (Zuchtwahl), gehen heutige Anthropologen eher davon aus, dass es gesellschaftliche Gründe waren, die aber noch nicht im Einzelnen benannt sind.

Persönliches Eigentum wird es wohl bei der beweglichen Habe, an der Wildbeute, an Arbeitsgeräten, Waffen, Kleidung und Schmuck gegeben haben, wobei diese „Habe“ überwiegend nicht vererbt, sondern den Toten mit ins Grab gegeben oder mit ihm verbrannt wurde. Eines der wichtigsten Organisationsprinzipien dieser Gesellschaften war die Reziprozität – was so viel bedeutet wie Gabentausch, den man in allen frühen Gesellschaften findet. Der Gabentausch hatte dabei eine doppelte Funktion, nämlich eine soziale und eine ökonomische. Die soziale Funktion ist darin gesehen worden, dass durch den täglichen Gabentausch auch täglich ein neuer Gesellschaftsvertrag geschlossen wurde. Hierdurch wurde Kultur hergestellt. Hierin liegt zugleich seine Friedensfunktion.

Im Gegensatz zu unserem heutigen Vertragsrecht war die jeweilige Gegenleistung oft unbestimmt und ergab sich aus der individuellen zufälligen Situation als Ausdruck persönlicher Bindung im Einklang mit der kleinen Gemeinschaft. Niemand suchte hierbei seinen Vorteil, es galt nicht das materielle Äquivalenz-Prinzip, sondern das formelle Konsenz-Prinzip, das heißt: auf Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung wurde kein Wert gelegt.

Auch Konflikte innerhalb der Horde wurden anarchisch gelöst. Konnten sie nicht durch gemeinsame Diskussionen beseitigt werden, musste einer die Horde verlassen, ohne dass es zu Teilungs- oder Produktionsproblemen hätte kommen können. Feste Regeln zur Konfliktlösung gab es kaum. Es gab mit anderen Worten kein öffentliches Strafrecht, sondern nur ein Privat-Strafrecht.

Im Laufe des Neolithikums, mit den ersten Bauernkulturen um 10.500 v.u.Z., gab es dann auch feste, dauerhaft besiedelte Wohnhäuser. Je nach Region bestehen sie aus Lehm, Stein oder Holz. Lehmbauten sind vom Orient bis nach Ungarn bekannt, Steinbauten seit über 10.000 Jahren im Orient, Holzbauten mit Wänden aus Brettern oder lehmverschmiertem Flechtwerk in den bewaldeten Gebieten. In Mitteleuropa ist der Pfostenbau die übliche Bauweise.

Hier finden wir möglichweise die Vorfahren der Begriffe Eigentum und Besitz.

Für deliktische Verletzungen entstanden oft feste Regeln über Bußzahlungen. So war die Buße für eine Tötung häufig genauso hoch wie ein Brautpreis, um dem Geschädigten den Verlust einer Arbeitskraft auszugleichen. Privatrecht und Strafrecht waren damit eins, nämlich Privatstrafrecht. Normverstöße wurden immer als Verletzung von individuellen Rechten, nicht als Verstoß gegen die Allgemeinheit (Recht und Ordnung) verstanden. Damit standen die Normen stärker zur Disposition der Parteien.

Bei den segmentären Gesellschaften war die Verflechtung von Recht und Religion deutlich stärker ausgeprägt, als bei den Jägern und Sammlern. Orakel und Magie erhielten einen höheren Stellenwert. Damit wurde das Problem jeder kleinen Gemeinschaft gelöst, dass bereits der böse Gedanke, Eifersucht, Habgier und Hass die Gemeinschaft bedroht. Sehr viel stärker als in den späteren staatlichen Gesellschaften geht in segmentären Gesellschaften ein solch als unmoralisch begriffenes Verhalten zu Lasten der unmittelbaren Umgebung und gefährdet daher die Gesellschaft. Die Vorstellungen von Hexerei und Zauberei sind dagegen oftmals ein wirksames Mittel. Bei Todes- oder Unglücksfällen fällt der Verdacht auf diejenigen, von denen man weiß, dass sie “schlechte” Gefühle haben. So scheut sich jeder in der Gemeinschaft “unmoralisch” zu reden oder auch nur zu denken, weil man jederzeit damit rechnen muss, als Hexe oder Zauberer verdächtigt zu werden.

Der Tausch von Nahrung, Material, Werkzeug im unmittelbaren Umfeld kann schon für die ersten Kulturen der Steinzeit angenommen werden. Wichtige Güter wurden bereits früh über weite Strecken gehandelt. Funde von Muscheln weit im Landesinneren werden als Teil von Schmuckstücken interpretiert, Feuerstein und andere zur Werkzeug- und Waffenherstellung geeignete Materialien als wichtigste Rohstoffe der Steinzeit wurden sogar über sogenannte Handelsrouten verbreitet. Also können wir hier erste handelsrechtlichen Kriterien feststellen.

In der Urgesellschaft war festzustellen, dass es kein Geld und kein Kapital gab, also keinen Privatbesitz an gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Insoweit waren also auch keine direkten Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen zu verzeichnen.

Mach wir einen zeitlichen Sprung und stoßen direkt auf die Spuren des Rechts.

Codex Hammurapi

Der Codex Hammurapi (häufig auch Codex Hammurabi), eine Rechtssammlung König Hammurapis von Babylon (1792–1750 v.u.Z.), ist eine der ältesten Gesetzessammlungen der Welt und zugleich eines der besterhaltenen Exemplare der Literatur aus Mesopotamien. Überliefert ist er vor allem durch eine in Susa gefundene Stele. Der Text ist in Altbabylonisch, einem akkadischen Dialekt, verfasst.

Codice di hammurabi 03

Oberer Teil der Stele mit Hammurapi vor Schamasch

Mitte des 19. Jahrhunderts fanden Archäologen in den Ruinen von Ninive, der ehemaligen Hauptstadt der Assyrer, eine große Tontafel-Bibliothek, die Bibliothek des Assurbanipal. Unter den Texten fanden sich auch Abschriften der Gesetze Hammurapis, die über 1000 Jahre hin archiviert bzw. immer wieder kopiert worden waren.

Während der französischen Expedition nach Persien unter der Leitung von Jacques de Morgan entdeckten seine Mitarbeiter Gustave Jéquier und Jean-Vincent Scheil im Dezember 1901 und Januar 1902 in Susa, der Hauptstadt des Reiches Elam, drei Bruchstücke eines Steines aus Diorit. Zusammengesetzt ergaben diese Bruchstücke eine Stele von über 2 Metern Höhe und fast 50 cm Durchmesser. Die Stele wurde nach Paris gebracht und befindet sich heute im Louvre (Département des Antiquités orientales, Inventarnummer Sb 8). Scheil veröffentlichte bereits 1902 den gesamten Text. Die erste deutsche Übersetzung erfolgte noch 1902 durch Hugo Winckler.

Die Stele zeigt im oberen Relief, wie der König die Herrschaftssymbole aus der Hand des Sonnengottes Schamasch empfängt, womit die göttliche Herkunft der Gesetze symbolisiert wird. Im unteren Teil der Stele sind in 49 Kolumnen auf 4000 engen Zeilen über 8000 Wörter in Keilschrift eingraviert.

Auf der Stele aus Susa ist der Codex vertikal in Spalten in Keilschrift geschrieben: 16 Spalten auf der Vorderseite und 28 auf der Rückseite. 7 Kolonnen im unteren Teil waren abgemeißelt worden, konnten aber größtenteils aus erhaltenen Abschriften auf Tontafeln ergänzt werden.

Der Text umfasst 281 Paragraphen, wobei man darunter keine numerische Aufzählung verstehen darf, wie wir sie heute kennen. Der erste Herausgeber, der die Texte nach dem Auffinden veröffentlichte, hatte die einzelnen Abschnitte, die mit „Wenn …“ begannen, einfach durchgezählt. Es wurden auch noch andere Dokumente mit Gesetzen Hammurapis gefunden, so dass die eigentliche Zahl der „Paragraphen“ umstritten ist. Ungewiss ist auch, in welchem Regierungsjahr Hammurapis die Gesetze erlassen wurden; einiges deutet darauf hin, dass es in seinen letzten Regierungsjahren geschah.

Wie bei älteren Gesetzessammlungen besteht auch dieser Text aus Prolog, Gesetzen und Epilog. Der Prolog beginnt wie zahlreiche babylonische Texte, darunter der Schöpfungsmythos Enûma elîsch, mit einem Temporalsatz in der Form: Als… da…, worauf die Leistungen und Wohltaten des Herrschers gewürdigt werden, der sich in seiner Selbstdarstellung als Hirte seines Volkes präsentiert. Im Epilog weist der König auf seine Gerechtigkeit hin und empfiehlt seinen Nachfolgern, die Gesetze in seinem Sinne zu befolgen. Ein Herrscher, der diesen Hinweis ignoriert, solle verflucht sein.

Der Text liegt in mehreren Varianten vor. In Duplikat B fehlt die Erhöhung Marduks und die Hegemonie Babylons; Enlil spielt mit der Stadt Nippur die Hauptrolle. Duplikat B dürfte in der Zeit entstanden sein, als Hammurapi 1764 v.u.Z. in Nippur die Herrschaft übernahm. Als Hammurapi 1760 v.u.Z. Larsa eroberte, erfolgte zwingend die Aufwertung des Stadtgottes Marduk, was seinen Niederschlag in Duplikat A fand. Die Mythologie der Erhöhung des Marduk und die Betonung der Hegemonie von Babylon sind daher erst nach dem Fall von Larsa anzusetzen. Die späteren Duplikate weichen wiederum von den Duplikaten A und B ab.

Am Anfang des Gesetzestextes stehen Regelungen über die falsche Anschuldigung. Die Gerichte behielten sich das Recht vor, Fälle abzulehnen. Das entspricht in der heutigen Rechtsprechung einer Klageabweisung wegen Unzulässigkeit.

Es wurde derjenige schwer bestraft, der jemand anderen ungerechtfertigt des Mordes bezichtigte. Der Kläger wurde hingerichtet.

Schwerwiegend waren auch die Anschuldigungen wegen Zauberei. Der Beschuldigte wurde zu einem Gottesurteil gezwungen, d. h. er wurde ins Wasser geworfen. Ertrank er, war seine Schuld bewiesen, und die Anklage war berechtigt. Überlebte er das Gottesurteil (Flussordal), verlor der Ankläger seinen eigenen Besitz. Diese Gottesurteile waren nicht nur in Babylonien bekannt.

Schwer bestraft wurden auch Falschaussagen von Zeugen, denen bei Kapitalverbrechen die Todesstrafe drohte. Als Beweise galten in Prozessen Urkunden, die Aussagen der Zeugen und der geleistete Eid.

Auch die Richter konnten bestraft werden. Falls ein Richter eine Entscheidung nach Abschluss des Verfahrens revidierte, verlor er seinen Posten und musste eine Geldstrafe zahlen.

Des Weiteren wurde Eigentum und Besitz geregelt. Neben dem Besitz des Königs und des Tempels wurde auch der Besitz der Kleinbauern und ihrer Familien unter Schutz gestellt, wenn sie auf dem Land des Königs lebten.

Die Strafen für Diebstahl und Hehlerei von Königseigentum waren für heutige Verhältnisse drakonisch, darauf konnte sogar die Todesstrafe stehen.

Mit dem Tod wurde auch derjenige bestraft, der jemand des Diebstahls bezichtigte und es nicht beweisen konnte.

Die Richter machten in ihren Urteilen auch einen gewichtigen Unterschied zwischen König und Tempel auf der einen Seite und den übrigen Bewohnern des Landes.

Wurde der König oder der Tempel bestohlen, musste der Dieb eine höhere Strafe bezahlen, als wenn er einen „gewöhnlichen“ Menschen bestahl.

Die Soldaten

Der nächste Abschnitt behandelt die Gesetze, die das Leben der Soldaten regelten. Die Soldaten bekamen von Hammurapi Land zugewiesen, um von den Erträgen der Ernten ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Der Soldat war verpflichtet, der Einberufung Folge zu leisten. Erschien er nicht oder schickte er einen Stellvertreter, weil er noch sein Land bestellen wollte, wurde der Soldat zum Tod verurteilt.

Da Kriege sich über einen längeren Zeitraum erstrecken konnten, war es dem Soldaten oft nicht möglich, seine Felder zu bewirtschaften. Deshalb wurden seine Ländereien während seiner Abwesenheit an jemand anderen vergeben, um sie zu bearbeiten.

Kehrte der Soldat nach einem Jahr aus dem Kampf zurück, erhielt er sein Land zurück.

Zwangen die Kämpfe den Krieger jedoch zum weiteren Fernbleiben, verlor er seine Ansprüche auf das Land, wenn drei Jahre vergangen waren.

Anders war es, wenn der Soldat einen Sohn mit der Bewirtschaftung der Felder beauftragen konnte, dann blieb das Land weiter in seinem Besitz.

Ein Krieger, der in Gefangenschaft geriet, konnte freigekauft werden. Er konnte dafür Gegenstände seines Hauses als Lösegeld anbieten. Die Felder, der Garten und das Haus durften aber nicht als Lösegeld verwendet werden.

So sollte der freigelassene Soldat diesen Besitz behalten, um damit seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Auch Kaufleute oder der Tempel konnten Soldaten freikaufen, sie erhielten dann das dafür aufgewendete Geld vom König zurück.

Die Bauern

Auch den Bauern wurden Pflichten auferlegt. Die landwirtschaftliche Produktion war für Babylon lebenswichtig, deshalb war es nötig, dass die Felder ordentlich bestellt wurden.

Vernachlässigte ein Pächter seine Feldarbeit, und es gab keine Ernte, wurde er dazu verurteilt, eine bestimmte Menge Gerste als Strafe zu zahlen. Außerdem musste er das Feld dem Besitzer zurückgeben.

Wurden die Ernten durch Naturkatastrophen vernichtet, teilten sich Pächter und Besitzer die übrig gebliebene Ernte zu den festgelegten Pachtzinsen. Der Pachtzins schwankte zwischen einem Drittel und der Hälfte der Ernte.

Miete und Pacht

Es konnten nicht nur Felder und Gärten gemietet werden, auch Häuser tauchten in den aufgefundenen Dokumenten als Mietsache auf. Auch diese Mietverhältnisse ließ Hammurapi regeln. Die Verträge wurden oft für ein Jahr abgeschlossen. Die Miete wurde auf zwei Arten bezahlt. Entweder wurde zu Beginn des Jahres eine Anzahlung geleistet und der Rest zum Ende der vereinbarten Mietdauer oder man zahlte erst mit Ablauf des Jahres den Mietzins.

Wenn ein Bauer Silber, Gold, einen Sklaven oder eine Sklavin, ein Rind, ein Schaf, einen Esel oder etwas Anderes aus der Hand eines Bürgers oder eines Sklaven eines Bürgers ohne Zeugen und vertragliche Abmachen kauft oder in Verwahrung nimmt, so gilt er als Dieb und wird getötet.

Die Kaufleute

Die Bestimmungen über die Geschäfte der Kaufleute waren zum Teil sehr hart. Kaufleute schickten gewöhnlich Agenten auf Handelsreise in ferne Länder. Im Auftrag des Kaufmanns kauften oder verkauften sie Waren. Die Agenten wurden „Beutelträger“, Schamallu, genannt, und sie erhielten einen Anteil am Gewinn der Expedition. Die Gewinnspannen bei diesen Geschäften konnten hoch sein. Hatte ein Agent keinen Gewinn erzielt, so musste er dem Kaufmann (Tamkaru) das Doppelte des anvertrauten Kapitals bzw. der Waren als Strafe bezahlen. Die Strafe war deshalb so hoch, weil man den Agenten in diesem Fall des Betruges verdächtigte. Geregelt wurde auch der Fall, wenn ein Kaufmann seinen „Beutelträger“ fälschlich bezichtigte, Geld unterschlagen zu haben. Der Kaufmann musste dann das Sechsfache des eingesetzten Kapitals an den Agenten zahlen.

Schankwirtinnen

Neben den Kaufleuten wurden auch die Schankwirtinnen streng vom Gesetz behandelt, wenn sie gegen Bestimmungen verstießen. Gasthäuser und ihre Wirtinnen, Wirte schien es nicht gegeben zu haben, waren nicht sehr angesehen. Sie standen im Ruf, die Prostitution und das Verbrechen zu unterstützen. Forderte eine Wirtin als Bezahlung für das Bier kein Getreide, sondern Silber bzw. schenkte sie zu wenig Bier aus, wurde sie ins „Wasser geworfen“, d. h. sie wurde ertränkt. Es war für sie auch tödlich, wenn sie gesuchte Verbrecher in ihrem Haus beherbergte.

Die Familie

Die Ablösung der Tempelwirtschaft durch den Privatbesitz hatte auch Folgen für die Gesellschaft des Landes. Durch die Individualisierung des Besitzes und der Produktion verloren sich die bisherigen Bindungen an Stämme, Gemeinden und Großfamilien. Die unmittelbare Familie mit den Kindern, Nebenfrauen und Sklaven waren Grundlage der Gesellschaft geworden.

Diese gesellschaftliche Entwicklung fand deshalb ihren Niederschlag in der Rechtsprechung. So erließ Hammurapi zahlreiche Gesetze zum Thema Ehe und Familie.

Es gab zwar keine Gleichstellung von Mann und Frau, aber Hammurapi gewährte den Frauen zahlreiche Rechte. Eine Frau durfte selbständig Rechtsgeschäfte abschließen, wie Kauf und Verkauf und Tauschgeschäfte. Auch war es ihr erlaubt, Darlehen zu vergeben.

Die Ehe war nur dann gültig, wenn ein Ehevertrag abgeschlossen wurde. Dieser Vertrag war besonders wichtig in Vermögensfragen. Ertappte ein Mann seine Frau beim Ehebruch, so wurden die Frau und der Nebenbuhler gebunden ins Wasser geworfen und dadurch zum Tode verurteilt. Der betrogene Ehemann konnte seiner Frau aber das Leben schenken, wenn er es wollte. Eine Frau konnte ungerechtfertigte Anschuldigungen ihres Ehemannes durch einen Gottesschwur entkräften. Erfolgte die Verdächtigung jedoch von Bürgern, konnte sich die Ehefrau freiwillig im Fluss durch Untertauchen dem Urteil des Flussgottes unterwerfen. Die Todesstrafe erwartete den Mann, der die Verlobte eines Mannes im Hause ihres Vaters vergewaltigte.

Es gab für eine Ehefrau mehrere Möglichkeiten, sich von ihrem Mann zu trennen. War ihr Mann im Dienst des Königs längere Zeit abwesend oder in Kriegsgefangenschaft, so konnte sich die Frau einen anderen Mann nehmen, wenn sie nur dadurch ihre Familie versorgen konnte. Kehrte der erste Ehemann aber zurück, musste die Ehefrau den zweiten Ehemann verlassen und in die erste Ehe zurückkehren. Hatte der Ehemann seinen Wohnort aufgegeben und seine Frau verlassen, so war die Ehefrau nicht gezwungen, zum Gatten zurückzukehren, falls dieser wieder auftauchte.

Eine Frau konnte das eheliche Haus auch verlassen, wenn der Mann ein lasterhaftes Leben führte. Sie konnte zum Mann dann sagen: „Du sollst nicht mit mir verkehren“. Ein anschließender Prozess urteilte dann über die Scheidung. Erhielt die Frau Recht, konnte die Ehefrau ihre Mitgift nehmen und zu ihrem Vater zurückkehren. Galt die Ehefrau, die diese Forderung an ihren Ehemann richtete, aber selbst als lasterhaft, wurde sie in den Fluss geworfen. Ein Mann konnte sich leichter scheiden lassen. Er konnte seine Frau verstoßen. Er musste ihr den Brautpreis und die Mitgift geben. Hatte sie Kinder, musste er auch noch Garten und Feld dazu geben, damit die geschiedene Frau ihre Kinder ernähren konnte. Die möglichen Scheidungsfolgen wurden in den Eheverträgen geregelt. Es gab harte Strafen in einigen Verträgen. Falls eine Frau sich von ihrem Mann lossagte, konnte sie mit dem Tod oder der Sklaverei bestraft werden. Die Strafe des Mannes war weitaus humaner, er konnte, wenn er sich lossagte, Silber zahlen.

Die Auflösung einer Verlobung wurde in einzelnen Paragrafen geregelt. Löste der Bräutigam das Verlöbnis, so verlor er den an den Vater der Frau gezahlten Brautpreis. Löste der Brautvater die angehende Verbindung, so musste er den doppelten Brautpreis zurückzahlen. Den Babyloniern war es besonders wichtig, den Fortbestand der Familie zu sichern. Waren keine Kinder bzw. keine männlichen Nachkommen vorhanden, konnte durch Adoption die Familie weiter erhalten bleiben. Es konnten Freie, aber auch Sklaven adoptiert werden. Die Adoptierten konnten auch erben, falls es keine weiteren Kinder in der Familie gab. Adoptierte Kinder konnten vom Vater verstoßen werden. Sie bekamen aber einen Anteil am Erbe, wenn der Vater inzwischen leibliche Nachfolger bekommen hatte. Hart bestraft wurden Gattenmord und Inzest. Die Strafen reichten von Verbannung bis zur Todesstrafe.

Das Erbrecht

Hammurapi regelte in seiner Gesetzessammlung auch das Erbrecht. Testamente, wie wir sie kennen, gab es in dieser Zeit noch nicht. Ob die Erbfolge vom Vater zu den Söhnen allgemein galt, ist nicht sicher; denn mal ist vom Erbe der Söhne (§ 167), mal vom Erbe der Kinder (§ 170) die Rede. Der Mann konnte aber durch eine Urkunde zu Lebzeiten seinen Besitz seiner Frau schenken. Die Söhne gingen dann zunächst leer aus. Die Mutter konnte dann als nächsten Erben den Sohn einsetzen, den sie am meisten liebte (§ 152). Er konnte auch durch Urkunde einem Sohn etwas schenken, was im Erbfall bei der Teilung nicht auf sein Erbteil angerechnet wurde (§ 165).

Die Ammen

Es wurden viele „Säugeverträge“ gefunden, die die Aufgaben und Pflichten der Ammen betrafen. Zu dieser Zeit wurden die Kinder bis zum dritten Lebensjahr gestillt. Die Amme erhielt dafür Silber, Essen, Öl u. a. als Lohn ausgezahlt. Konnte eine Familie das geforderte Entgelt nicht bezahlen, so konnte die Amme das Kind behalten, und die leiblichen Eltern mussten außerdem noch das vereinbarte Silber zahlen.

Körperverletzungen

Hammurapis Gesetze werden heute als Beispiel für harte Strafen genannt, man spricht von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Dieses so genannte Talionsprinzip wurde aber nur im Zusammenhang mit Körperverletzungen angewendet. Die Babylonier Hammurapis stammten von den nomadischen Amurritern ab und deshalb war diese Art der Strafe bei ihnen noch im Bewusstsein. Wenn jemand einen anderen verletzte, so wurde dieser mit der gleichen Verletzung bestraft, so der Grundsatz „Auge um Auge …“.

Andere Länder dieser Epoche übten diese Bestrafung nicht aus, sie bestraften in diesem Fall mit Geldstrafen. Die gab es zwar auch bei Hammurapi, doch hier wurde nach der sozialen Stellung von Täter und Opfer unterschieden. Verletzte ein freier Bürger (Awilum) einen Muškenum, so musste er nur eine Geldstrafe bezahlen. Wurde der Sklave eines freien Bürgers verletzt, gab es als Strafe die Hälfte des Sklaven-Kaufpreises. Die Richter werteten in diesem Fall die Verletzung als Wertverlust.

Haftung

Es wurde auch die Haftung bestimmter Berufsgruppen geregelt. So lebten Ärzte und Handwerker gefährlich, falls durch ihre Schuld jemand verletzt oder getötet wurde. Starb ein Patient nach einer Operation bzw. wurde schwer behindert, konnte dem Arzt die Hand als Strafe amputiert werden. Auch hier gab es bei der Strafzumessung Unterschiede. War der Geschädigte ein Muschkenum, war nur eine Geldstrafe die Folge. Starb ein Sklave nach einer Behandlung, so musste der Arzt einen Sklaven als Ersatz anbieten. Auch Baumeister mussten für Schäden aufkommen. Stürzte das Haus ein und der Besitzer kam dabei ums Leben, so verlor der Baumeister sein eigenes Leben als Strafe. Das Haus musste außerdem neu errichtet und der beschädigte Hausrat ersetzt werden. Kam beim Hauseinsturz ein Sklave ums Leben, musste der Baumeister einen Sklaven als Ersatz anbieten.

Sklaven