Ursula M. Muhr, geboren in Franken, Studium in Mannheim, lebt jetzt wieder in ihrer Heimatstadt Altdorf bei Nürnberg. Sie arbeitet seit 1989 als freie Schriftstellerin und schreibt für Kinder und Erwachsene, Lyrik und Prosa, Heiteres und Nachdenkliches. Soeben ist im Knabe Verlag Weimar ihr neuestes Bilderbuch erschienen: Der Zirbelkönig. Ein Märchen, nicht nur für Kinder!

Informationen und Kontakt über: www.ursula-muhr.de




1. Auflage 2012


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(eBook) ISBN: 978-3-95452-018-3


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Geschichte und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.


Nur die Geschichte der Vatersuche wurde mir von einem lieben Freund geschenkt - vielen Dank dafür!



»Schafft er es?«, fragte Hauptkommissarin Beate Maiwald die Ärztin. Diese zuckte die Achseln. »Bis jetzt kann man gar nichts sagen. Er ist nicht mehr der Jüngste. Wenn er wirklich die ganze Packung genommen hat, dann ist die Giftmenge ausreichend, um einen Ochsen zu töten. Aber vielleicht war die Packung doch nicht mehr ganz voll und wir waren schnell genug, dann hat er eine Chance. Im Moment können wir nur abwarten.«

Die Kommissarin betrachtete den kahlköpfigen Alten, der mit grauem Gesicht auf dem Bett der Intensivstation lag. Eigentlich sah er jetzt schon aus wie tot. Die Schläuche und Kabel, an denen er hing, die Monitore mit ihren blinkenden Anzeigen, das Geräusch der Beatmungsmaschine – das alles wirkte lebendiger als der Mann, den sie am Leben erhalten sollten.

Beate Maiwald seufzte. Die Woche fing nicht gut an. Sie dachte sich, was wahrscheinlich alle denken, die so etwas sehen: Hoffentlich erwischt es mich nicht auch mal. Nur nicht so hilflos daliegen – Gott weiß wie lange. Dieser Wunsch nach einem schnellen und schmerzlosen Tod, den fast alle haben und der letztlich den allerwenigsten vergönnt ist. Beate kannte die Statistiken nur zu gut. Für den Mann auf dem Intensivbett vor ihr kam erschwerend hinzu, dass er vermutlich freiwillig gehen wollte. Wie mochte sich das anfühlen, dann so aufzuwachen? Falls er überhaupt wieder aufwachte.

»Warum sind Sie hier? Die übliche Routine oder gibt es begründete Zweifel an seinem Selbstmord?«, fragte die Ärztin mitten in ihre Gedanken hinein.

»Beides. Auffällig war die Reaktion seiner Lebensgefährtin – die hat den Notarzt misstrauisch gemacht.«

»Er vermutet, dass er die Tabletten nicht freiwillig genommen hat?«

Beate Maiwald zuckte die Schultern. »Es ist alles sehr vage«, sagte sie. »Nichts Greifbares. Der Doc wollte wohl einfach nur auf Nummer Sicher gehen. Ich hatte kürzlich mit ihm zu tun, da hatte er etwas voreilig einen Totenschein ausgestellt. Leider musste er dann einsehen, dass er einen Mord übersehen hatte. Das will er wohl in Zukunft vermeiden.«

Die Ärztin lächelte. Sie erinnerte sich lebhaft an den Fall, vor allem auch an das, was der Kollege über die Kommissarin gesagt hatte. Zitierfähig war nur der Satz gewesen, dass er den Tag herbeisehnte, an dem diese besserwisserische alte Zicke endlich in Rente gehen würde. Sie hatte ihm förmlich die Anstrengung angesehen, mit der er sich den Begriff ›Besserwessi‹ verkniff. Auf Beates Ruhestand würde er sich im Übrigen nach menschlichem Ermessen noch gute zehn Jahre gedulden müssen. Sie war sich sicher, dass die Kommissarin nicht die Absicht hatte, vorzeitig das Feld zu räumen.

Die Ärztin konzentrierte sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Nachdenklich sagte sie: »Ich halte es für unmöglich, jemandem eine größere Menge von diesen Tabletten zu verabreichen, ohne dass er es bemerkt. Erstens sind sie so bitter wie die Not. Und wenn man sie in suizidaler Absicht schluckt, dann darf man auf keinen Fall alle auf einmal nehmen. Sie reizen den Magen und kommen schneller wieder hoch, als sie wirken können. Der häufigste Fehler, der dabei gemacht wird.«

»Von Ihnen kann man direkt noch was lernen«, antwortete die Kommissarin. Sie mochte die Ärztin, die ihre Menschlichkeit und Anteilnahme immer hinter einer Aura von unnahbarer Eleganz verbarg. »Falls ich mal was in dieser Art vorhabe, dann wird mir dieses Wissen sehr hilfreich sein.«

Ein prüfender Blick von der Seite war die Folge. Die Ärztin hatte in ihrem Leben zu viel gesehen, um über solche flapsigen Bemerkungen einfach hinwegzugehen.

»Bevor Sie sich ›etwas in dieser Art‹ vornehmen, sollten Sie mit jemandem reden, der etwas von Ihrem Kummer versteht«, sagte sie leise. »Ich glaube mich zu erinnern, dass ich Ihnen das schon einmal gesagt habe, oder?«

»Stimmt, haben Sie. Ich hatte es auch ganz fest vor. Und dann doch verschoben, verdrängt und schließlich vergessen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das war nur ein Witz.«

»Darüber macht man keine Witze«, antwortete die Ärztin streng. »Und jetzt gehen Sie, Sie können hier nichts tun. Der Anblick deprimiert Sie, geben Sie es zu. Ich rufe Sie an, wenn sich irgendetwas ergibt. Der Mageninhalt ist bereits auf dem Weg ins Labor.«

Beate Maiwald hatte nichts anderes erwartet. Sie nickte dankbar, verabschiedete sich und ging. Der Anblick hatte ihr in der Tat mehr zugesetzt, als sie erwartet hätte. Was hatte sie in ihrem langen Berufsleben schon alles gesehen! Da war dieser alte Mann auf der Intensivstation wirklich nichts Besonderes. Und doch, irgendwie berührte sie sein Anblick tiefer, als sie es jemals zugegeben hätte.

Ein Wunder ist es nicht, dachte sie resigniert, als sie durch die Krankenhausgänge zum Ausgang ging. Nach allem, was in den letzten Wochen los gewesen war, da konnte man schon dünnhäutig werden.

Sie fuhr sich mit der Hand durch die blonde Stoppelfrisur und kontrollierte ihr Aussehen in einer der großen Glastüren. Nichts dran auszusetzen, befand sie. Zierlich, sportlich und durchtrainiert, man sah ihr die gut fünfzig Lebensjahre nicht an. Ihre Fältchen waren in dem verschwommenen Spiegelbild nicht zu sehen. Umso besser. Ein Pfleger mit einem Tablett voller Blutproben kam ihr entgegen und grinste, als hätte er ihre Gedanken erraten. Beate grinste zurück.

Ihr junger Kollege Klaus Hubertson wartete in der Eingangshalle auf sie. Er trank Kaffee, und zwar nicht aus einem der deprimierenden Plastikbecher aus dem Krankenhausautomaten, sondern stilvoll aus einer echten Porzellantasse. Angeregt unterhielt er sich mit der Frau an der Rezeption.

Beate betrachtete ihn missbilligend. Er wies mit einem Kopfnicken auf die Tasse in seiner Hand. »Da staunst du, was? Ich habe erstens einen Parkplatz gefunden, direkt vor der Tür, und zweitens von dieser Zierde ihres Berufsstandes eine Tasse Kaffee bekommen. Das musst du mir erst mal nachmachen.«

Die junge Frau lachte. »Möchten Sie auch eine Tasse? Er ist ganz frisch«, bot sie Beate an. Aber die lehnte dankend ab. Sie trank ausschließlich Espresso, allenfalls mal einen Cappuccino, der übliche Filterkaffee jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. »Und das mit dem Parkplatz glaube ich erst, wenn ich es sehe. Zur besten Hauptbesuchszeit direkt vorm Haus? Nie und nimmer.«

Hubertson zuckte die Schultern, murmelte etwas von ›Mutter-Kind-Parkplatz‹ und trank seinen Kaffee aus. Er gab der Schwester die Tasse zurück, bedankte sich und dann gingen sie hinaus.

Mindestens zehn Autos kreisten auf dem völlig überfüllten Parkplatz. Auch die für Mütter mit Kindern reservierten Plätze waren alle belegt, ebenso die für Dialysepatienten. Wahrscheinlich nicht von der entsprechenden Klientel, sondern von entnervten Besuchern, vermutete Beate.

Als Hubertson den Wagen aus der Parklücke lenkte, kam eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem Kinderwagen vorbei, die offensichtlich irgendwo ganz hinten einen Stellplatz gefunden hatte. Sie warf einen Blick ins Wageninnere und als sie dort weder ein Kind noch einen leeren Kindersitz sah, wurde sie wütend.

»Ich hoffe, ihr sitzt bequem auf euren egoistischen Hintern!«, rief sie.

Bevor ihr noch mehr einfiel, gab Huberston Gas und fuhr weg. »Manchmal wünschte ich, ich wäre bei den uniformierten Kollegen, da kannst du das Auto mitten auf der Autobahn abstellen und jeder macht höflich einen Diener«, knurrte er. Im Rückspiegel sah er noch, wie die junge Mutter ihnen den Stinkefinger zeigte. Dann packte sie entschlossen den Griff des Kinderwagens und stürmte in Richtung Klinikeingang.

»Wenn du mal Polizeichef bist, dann kriegst du einen Chauffeur, der für dich stundenlang im Kreis fährt. Vorher musst du eben suchen oder beten«, sagte Beate achselzuckend.

»Suchen oder beten, danke für den guten Rat. Ich bin wie ein Satellit um diese blöde Klinik gekreist. Um diese Zeit hast du keine Chance. Selbst im Parkverbot musst du dich hinten anstellen. Und ich habe keine Lust, zehn Minuten durch die Gegend zu latschen. Ich bin nicht zum Vergnügen hier.«

»Keiner ist zum Vergnügen hier. Es ist schließlich ein Krankenhaus und kein Wellnesstempel«, antwortete Beate unwillig. Sie hatte immer noch das Bild des alten Mannes vor Augen und Hubertson ging ihr auf die Nerven. Selbst der am weitesten entfernte Stellplatz war allerhöchstens drei Gehminuten von der Klinik entfernt. Das Krankenhaus von Gotha war schließlich nicht die Berliner Charité, sondern eine durchaus überschaubare Institution.

»Das nächste Mal fahre ich dich auf dem Fahrrad her. Bin gespannt, wie du das finden wirst«, brummte Hubertson und fädelte sich in einen Kreisverkehr ein.

»Was meint überhaupt der Dok?«, fragte er dann.

»Der Dok sagt, dass er – oder besser sie – noch nichts sagen kann. Sobald sie Genaueres weiß, ruft sie uns an. Aber es sieht nicht wirklich gut aus.«

»Was ihm zu wünschen wäre, wenn er es mit Absicht gemacht hat. Reisende soll man nicht aufhalten.«

»Hubsi, an dir ist ein Philosoph verloren gegangen.«

Etwas in ihrer Stimme machte ihn stutzig. »Siehst du es anders?«, fragte er aufsässig. Beate antwortete nicht gleich.

»Stell dir doch mal vor, wie es dir damit ginge«, beharrte Hubertson. »Du überwindest dich endlich, es zu tun – und nach allem, was ich weiß, muss allerhand geschehen sein, bis man so weit kommt – und dann wachst du im Krankenhaus auf und der Dok sagt: ›Ätsch, wir waren schneller. Ich bin nicht der Erzengel Michael, sondern der Stationsarzt.‹ – Wie würdest du dich fühlen?«

»Bei dir hört sich Selbstmord an, als ginge es darum, beim Sportfest einen Hindernislauf zu gewinnen«, knurrte Beate. »Kannst du dir nicht vorstellen, dass es manchmal nur ein Hilferuf ist? Von jemandem, der keinen anderen Weg mehr sieht, sich bemerkbar zu machen?«

»Ich denke, dass die Hilferufer das Ganze dann so inszenieren, dass sie eine reelle Chance haben. Ich glaube nicht, dass sie das Risiko eingehen, es könnte wider Erwarten doch klappen«, antwortete Hubertson.

»Du bist ein Zyniker. Und wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich das nicht. Schon allein deshalb, weil die wenigsten wirklich eine Ahnung davon haben, was sie da tun. Außerdem kenne ich zwei, die dank irgendwelcher Zufälle gerettet wurden und die das Geschenk dieses zweiten Lebens sehr gerne angenommen haben.«

»Na gut, ich kenne zwei, die es kurz darauf noch einmal probiert haben, diesmal mit Erfolg. Also sind wir quitt.«

Beate betrachtete ihren Kollegen. Das Gespräch ekelte sie plötzlich an. Waren sie wirklich so abgebrüht, dass sie über menschliche Katastrophen so flapsig reden konnten? Dieses grauenvolle Scheitern, das nicht nur ein Leben beendete, sondern das alle Überlebenden in einem Chaos von Schuld, Fragen und Vorwürfen zurückließ? Lieber Himmel, dachte sie, was macht dieser Beruf aus uns?

»Tut mir leid«, sagte Hubertson plötzlich. »Ich meine es nicht so. Das Problem ist – ich kannte den alten Knaben.«

»Du kanntest ihn? Und das sagst du jetzt erst? Woher?«

»Er war ein Freund meines Vaters.«

»War? Was ist passiert?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten nichts mehr von ihm gehört habe. Ich nehme an, die beiden haben sich über irgendetwas in die Haare gekriegt. Und das ist schon eine Weile her, also bestimmt mehr als zehn Jahre.«

»Könnte es auch sein, dass er sich einfach zurückgezogen hat? Rückzug aus allen sozialen Bindungen geht einem Selbstmord oft voraus«, überlegte Beate.

»Kann sein. Wenn du willst, dann frag ich bei Gelegenheit nach. Ich muss sowieso mal wieder bei dem alten Herrn vorbei, er mault schon.«

»Mach das bitte«, antwortete sie knapp.

Hubertson bog in den Parkplatz am Präsidium ein. »Wenigstens hier hat man einen Stellplatz«, murmelte er, als er den Wagen abstellte.

Beate lächelte. Parkplatzsuche nervte ihren jungen Kollegen tödlich, dabei hatte sie immer gedacht, es sei ausschließlich ein Privileg der Älteren, sich darüber aufzuregen. Die Jungen kannten es ja eigentlich nicht anders. Die meisten ertrugen es mit stoischer Gelassenheit, genau wie die täglichen Staus auf der A4. Nicht so Hubertson. Staus und Parkplatzmangel waren seine Lieblingsthemen, wenn er sich aufregen wollte. Dicht gefolgt von dem Dauerzwist mit seinem Vater.

Folgerichtig fand er es, im Gegensatz zu ihr, ganz ausgezeichnet, dass die Dienststelle der Kripo in der Schubertstraße lag. Ein zweckmäßiger Neubau an einer der Ausfallstraßen, verkehrsgünstig in jeder Hinsicht. Aber hier war es eben bei weitem nicht so schön wie in der Innenstadt Gothas, mit den vielen Läden, Cafés und Kneipen. Da hätte sie sich auch mal ein schnelles Mittagessen bei ihrem Lieblingsitaliener am Buttermarkt gönnen können oder im Sommer einen Cappuccino in einem der Straßencafés. Aber wenn Beate ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass ihre knapp bemessene Zeit ihr oft nicht einmal einen Besuch in der Kantine erlaubte. Ein belegtes Brötchen vom Bäcker in der Nachbarschaft musste reichen, an manchen Tagen gab es nicht einmal das. Zum Glück hatten sie immer einen ausreichenden Vorrat an Schokolade im Schrank, die half nicht nur gegen Heißhungerattacken, sondern auch gegen Frustrationen aller Art.



Im Büro holte sich Beate erst einmal einen Espresso. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, legte einen dünnen Aktendeckel vor sich hin und sagte nachdenklich: »Also, mein Lieber, was haben wir?«

»Bis jetzt gar nichts, wenn du mich fragst. Außer der Aussage von diesem Notarzt, der dein ganz besonderer Fan ist. Er behauptet, dass sich die Lebensgefährtin des Alten sonderbar benommen hat. Das ist schon so ziemlich alles.«

»Hat ›der Alte‹ vielleicht auch einen Namen?«, fragte Beate indigniert. Es störte sie immer, wenn Hubertson nachlässig über Mordopfer oder Verdächtige sprach. Für sie war es eine Frage des Respekts, dass sie sie korrekt bei ihrem Namen nannte, möglichst mit Herr oder Frau vorneweg. Sie wies ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hin, aber ihre Erziehungsversuche hatten bis jetzt bemerkenswert wenig Erfolg.

Im Moment allerdings musste sie zugeben, dass auch sie den Namen des Opfers schon wieder vergessen hatte. Ich werde alt, dachte sie erschrocken und schlug den Aktendeckel auf. Er enthielt die kurze Aussage des Notarztes, der den Mann in die Klinik eingewiesen hatte.

»Kassian«, murmelte sie abwesend. »Hört man nicht allzu oft.«

»Ich dachte, er heißt Obsetter«, fragte Hubertson verdutzt.

Beate seufzte. »Das ist der Vorname, du Abgrund an Unwissenheit. Der Nachname ist Obsetter. Kassian Obsetter.«

»Lieber Himmel, Kassian – ist das die männliche Form von Kassandra? Was denken sich Eltern eigentlich, wenn sie ihren Kindern solche Namen geben?«

»Also, ich kann an Kassian nichts Verwerfliches finden. Selten, ja, aber klingt doch gut, finde ich. Ursprünglich ein römischer Name. Wird meistens mit C geschrieben. Aber ich finde ihn mit K sogar noch distinguierter.«

»Distinguiert, also bitte, was denn noch? – Kassian Obsetter. Kassian Obsetter. Ich kann mir nicht helfen, aber den Vornamen habe ich noch nie gehört. Vielleicht ist das ein anderer Obsetter?«

»Oder er hatte einen Spitznamen?«, schlug Beate vor.

Hubertson schüttelte abwesend den Kopf. Er grübelte. Schließlich gab er auf. »Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mich nicht einmal erinnern, ob mein Vater und er sich geduzt haben oder nicht. Ich frage ihn heute Abend. Aber Kassian hab ich noch nie gehört, das wüsste ich. – Was schreibt der Dok?«

»Nicht viel. Die Lebensgefährtin benahm sich auffällig, seiner Einschätzung nach. Panisch, fast hysterisch.«

»Das soll auffällig sein, wenn sie ihren Liebsten mit grauem Gesicht leblos in ihrem Bett findet? Wenn du mich fragst, dann ist ein gewisses Maß an Hysterie genau das, was ich erwarten würde. Du nicht?«

»Das Auffällige seiner Meinung nach war, dass sie zunächst behauptete, sie wäre den ganzen Tag zu Hause gewesen. Und da muss ich dem Dok recht geben, die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen Selbstmordversuch unternimmt, während der Partner im Zimmer nebenan sitzt, ist eher gering. Das funktioniert allenfalls, wenn sich einer eine Kugel durch den Kopf jagt. Aber Tabletten? Jedes Kind weiß, dass das ein bisschen dauern kann. Als der Dok sie auf diesen Umstand ansprach, fiel ihr plötzlich ein, dass sie doch unterwegs gewesen war. Angeblich hat sie eine Freundin besucht. In der Aufregung hätte sie das vergessen. Klingt nicht sehr glaubhaft, oder?«

»Was ist mit deiner Theorie vom Hilferuf?«

»Möglich. Dagegen spricht die Menge der eingenommenen Tabletten, die er vermutlich geschluckt hat. Seine Freundin behauptet, dass die Tablettenpackung ganz neu war. Sie hat das Rezept für ihn vor ein paar Tagen selbst von seinem Arzt abgeholt und dann die Tabletten gleich besorgt. Das war am Freitag. Gestern, also am Sonntag, lag die Schachtel mit fünf leeren Blisterstreifen auf dem Nachttisch, neben dem Wasserglas. Kassian Obsetter müsste also die ganze Packung eingenommen haben. Das wären acht- oder neunundvierzig Tabletten gewesen. Diese Dosis, sagt die Ärztin, hätte einen Ochsen töten können. Allerdings sagt sie auch, dass man diese Tabletten auf keinen Fall jemandem unbemerkt verabreichen kann. Viel zu bitter. Und wenn man alle auf einmal nimmt...«

»... dann kotzt man. Kenn ich.«

Beate starrte ihn entgeistert an. »Doch hoffentlich nicht aus eigener Erfahrung?«, fragte sie.

Hubertson grinste. Es bereitete ihm sichtlich Vergnügen, dass er sie erschreckt hatte. »Nein, das war Stoff eines Lehrgangs. Mord und Selbstmord mittels giftiger Substanzen oder ein ähnlich verquaster Titel. Sehr interessant. Solltest du auch mal versuchen.«

»Vergiften?«

»Nein, Weiterbildung.«

Beate war erst vor kurzem von einem Lehrgang zurückgekommen und bedachte Hubertson mit einem finsteren Blick. Sie hatte drei Tage in der Provinz festgesessen, bei strömendem Regen und in Gesellschaft einer Schar desillusionierter, zynischer Kollegen. Ihrer Aussage nach waren sie nur durch den gezielten Einsatz von Hochprozentigem zu ertragen.

»Bloß nicht schon wieder!«, stöhnte sie. »Wenn wir in diesem Lehrgang das Thema Gift gehabt hätten, ich schwöre dir, nicht einmal die Hälfte der Teilnehmer wäre lebend zurückgekommen.«

Hubertson lachte. »Sei doch nicht immer so extrem! Erzähl mir lieber, wie die Lebensgefährtin heißt. Vielleicht Kassiopeia?«

»Nein, Jule. Jule Entner. Nach Aussage des Notarztes vorläufig nicht vernehmungsfähig, er hat ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben und sie in die Klinik eingewiesen, weil er sie auf keinen Fall allein lassen wollte. Verwandte oder so waren keine erreichbar. Wir sollen sie möglichst erst morgen befragen.«

»Auch gut. Sonst noch was?«

»Bis jetzt nicht. Weißt du was?« Beate klappte den Aktendeckel zu. »Mach Schluss für heute, besuch deinen Vater und frag ihn nach Kassian Obsetter. Wenn er sein früherer Freund war, dann bringt uns das vielleicht ein Stückchen weiter.«

Das ließ sich Hubertson nicht zweimal sagen. Er war zwar kein ausgesprochener Fan seines Vaters, weil der ihm immer mit seinen hochgesteckten Erwartungen auf die Nerven ging, aber es war allemal besser, als im Büro herumzusitzen.

»Bin schon weg. Ich werde zwar in der Gunst meines alten Herrn wieder komplett abstürzen, wenn er hört, dass ich nur in einem ziemlich eindeutigen Selbstmord ermittle und nicht gerade die italienische Mafia aushebe, aber auch er muss lernen, mit Enttäuschungen zu leben. Ciao, Beate, bis morgen!«



Die Kommissarin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sofort tauchte das Bild des graugesichtigen Alten auf. Sie hob unwillkürlich die Hand, als könnte sie es vertreiben oder wegwischen. Hörte das denn nie auf? Seit einiger Zeit hatte sie das Gefühl, dieser nicht enden wollenden Reihe von Opfern nicht mehr gewachsen zu sein. Es war weniger der oft abstoßende Anblick, das Blut, die Verletzungen, daran hatte sie sich in den Jahren gewöhnt, so weit das überhaupt möglich war. Es war eher die nackte Erbärmlichkeit mancher Lebensläufe, die sie in ihren Ermittlungen aufdeckte. Was taten sich die Menschen an, oft unter dem Deckmantel einer gutbürgerlichen Fassade? Sie hatte Einblicke gewonnen in Ehen oder Partnerschaften, die grausamer waren, als eine gesunde offene Feindschaft es je sein könnte. Und oftmals behaupteten die Beteiligten sogar noch nach einer blutigen Gewalttat, sie würden einander lieben und sie hätten es doch immer bloß gut gemeint.

Und sie selbst?

Sie hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Beziehung beendet, die diesen Namen nicht wirklich verdient hatte. Ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Es war genau so ekelhaft gewesen, wie man sich das landläufig vorstellt – Lügen, Halbwahrheiten, Ausflüchte, Vertröstungen. Sie wusste nicht, wer in dieser Geschichte schlimmer betrogen wurde, sie oder die Ehefrau. Bei Licht besehen hatte keiner von beiden besonders gute Karten. Einzig Alexander, der untreue Ehemann und ihr Liebhaber, kam ungeschoren und ohne Gewissensbisse davon. Für ihn war es einfach. Ein Verhältnis? Jeder wusste, dass Männer nicht auf Dauer treu sein können, das ist biologisch so angelegt. Und die Lügen? Hast du im Ernst erwartet, dass ich nach ein paar erfreulichen Nächten in deinem Bett meine Frau verlasse? Entschuldige bitte, aber ein bisschen Zeit musst du mir schon geben, das auszuprobieren. Was auszuprobieren? Ob die Beziehung mit dir trägt. Immerhin habe ich zwei Kinder. Da rennt man nicht einfach mit der Nächstbesten davon.

Beate packte die heiße Wut, wenn sie an dieses letzte Gespräch dachte. Die Nächstbeste. Ausprobieren. Ein paar erfreuliche Nächte. Sie hätte ihm damals liebend gern eine runtergehauen. Aber so richtig, links und rechts, am besten so lange, bis sie ihre Hand nicht mehr spüren würde. Bis sie vor Erschöpfung ihr Herz nicht mehr spüren würde. Das war ein Moment, in dem sie begriff, wie einer in hilfloser Wut zum Täter werden konnte.

Natürlich hatte sie ihn nicht geschlagen. Sie war gegangen. Sie hatte ihn ohnehin genug gedemütigt, als sie ihn einige Tage vor diesem Gespräch aus der Wohnung geworfen hatte. Das immerhin war eine Szene gewesen, an die sie sich gern erinnerte. Nur ihr Nachbar, ein wohlerzogener, sehr zurückhaltender älterer Mann aus Weißrussland, ging ihr seitdem aus dem Weg. Die tobende Nachbarin, die die Klamotten ihres Liebhabers in den Gang feuerte, ein nackter Mann, der diese fluchend an sich raffte und in den Keller floh – das war mehr, als der alte Herr aushalten konnte. Beate grinste. Sie mochte ihren Nachbarn gern, aber sie hatte kein Verständnis für seine stiftsdamenhafte Ehrpusseligkeit. Das Leben war kein Kaffeekränzchen, das sollte er in seinem Alter eigentlich langsam gemerkt haben.

Sie versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Das Schlimme an der Geschichte war, dass sie Alexander trotz allem vermisste. Immer noch. Sie ertappte sich nachts dabei, wie sie von ihm träumte und wie sich ihr ganzer Körper nach ihm sehnte. Es nützte nichts, wenn sie sich immer wieder vorsagte, er sei ein triebgesteuerter Idiot, ein eingebildeter, gefühlloser Holzkopf und Schlimmeres. Das sagte ihr Kopf, ihr Herz sagte etwas ganz anderes. Aus diesem Dilemma kam sie einfach nicht heraus.

Sie fragte sich, wie es Alexander gehen mochte. Hatte er bereits eine Neue? Oder verbrachte er jetzt, belebt durch ihre Affäre, wieder erfreuliche Nächte mit seiner Ehefrau?

Verdammt, Beate, vergiss es einfach und mach deine Arbeit! Schlag endlich ein Ei drüber!

Sie riss sich zusammen und begann damit, die Ermittlungen für diesen Fall zu planen. Dann rief sie – gegen den Rat des Notarztes – Jule Entner auf deren Handy an, erreichte aber nur die Mailbox. Sie versuchte es mit der Ehefrau von Kassian Obsetter, deren Telefonnummer in dem dünnen Aktendeckel vermerkt war, mit dem gleichen Ergebnis. Vermutlich war sie im Krankenhaus am Bett ihres Mannes.

Beate fühlte sich ausgelaugt und müde. Sie hatte noch einige wichtige Arbeiten in einem älteren Fall zu erledigen, den sie vor ein paar Tagen gelöst hatten. Sie beschloss, gegen besseres Wissen, dass Obsetter auch bis morgen warten konnte. Sie hatte keine allzu gravierenden Zweifel daran, dass es sich um einen Selbstmordversuch handelte.

Nachdem sie mit den zeitraubenden Schreibarbeiten endlich fertig war, räumte sie alle Unterlagen in ihren Schreibtisch und sperrte ihn ab. Schaltete den Computer auf Standby und verließ ihr Büro, ohne zu wissen, wie sie diesen leeren Abend verbringen würde. Vielleicht kam etwas im Fernsehen, das die Bilder der letzten Tage und Wochen vertreiben würde. Für Kino oder andere Zerstreuungen war sie viel zu müde. Das Einzige, was sie wusste, war, dass Cognac nicht half. Der machte es nur noch schlimmer.



»Was hast du von deinem Vater erfahren?«, fragte Beate ihren Kollegen am nächsten Morgen, nachdem dieser in dumpfem Schweigen seine zweite Tasse Kaffee geleert hatte. Er hackte ärgerlich auf seiner Tastatur herum, und Beate hätte allein vom Tastengeräusch her sagen können, dass er nichts wirklich Sinnvolles tat, sondern nur versuchte, seinen Frust loszuwerden.

Immer, wenn er am Vortag seinen alten Herrn besucht hatte, kam er in übelster Laune ins Büro. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Einer der Gründe dafür war, dass Hubertson die hochfliegenden beruflichen Pläne, die sein Vater für ihn gehabt hatte, in keiner Weise erfüllte. Aber Beate bezweifelte, dass das bereits alles war. Da musste mehr dahinter stecken. Doch ihr junger Kollege verbat sich alle psychologischen Deutungen. Also hielt sie den Mund.

Irgendwie sind wir alle reif für den Psychoklempner, dachte Beate resigniert. Von Hubertson kam immer noch keine verwertbare Antwort.

»So schlimm?«, fragte sie ihn vorsichtig.

Jetzt schob er immerhin die Tastatur zurück, nachdem er mit einem letzten energischen Hieb auf eine Taste das Programm beendet hatte.

»Noch schlimmer«, sagte er bitter. »So schlimm, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Der Alte wird senil. Gestern schlug er mir allen Ernstes vor, doch noch – auf seine Kosten! – ein Studium zu beginnen. Kannst du dir das vorstellen? Er kriegt es einfach nicht gebacken, dass ich kein ›echter‹ Akademiker bin. Bin ich deshalb nichts wert?«

Hubertson packte seine Kaffeetasse, als wollte er sie durchs Zimmer werfen, aber er stürmte nur in die Kaffeeküche, um sich einen weiteren Kaffee zu holen. Den dritten an diesem Morgen.

Beate runzelte die Stirn. »Du wirst unter der Zimmerdecke hängen, wenn du in diesem Tempo weiter Kaffee säufst«, warnte sie ihn, als er zurückkam.

»Da häng ich sowieso«, antwortete er düster. »Vor allem, wenn ich an gestern denke. Weißt du überhaupt, was diese unerfreuliche Diskussion über mein – so nennt er das allen Ernstes! – ›berufliches Versagen‹ ausgelöst hat? Meine Frage nach Kassian Obsetter. Und warum er nicht mehr zu meinem Vater gekommen ist in den vergangenen Jahren. Du wirst es nicht glauben: Es hat mit mir zu tun!«

Hubertson verbrannte sich an dem heißen Kaffee den Mund und fluchte.

Beate wartete gespannt, was nun kommen würde. Sie konnte ihm regelrecht ansehen, wie er sich anstrengen musste, um wenigstens einigermaßen ruhig und klar berichten zu können. Es gelang ihm nur teilweise.

»Ich fange vorn an. Kassian Obsetter war ein Kollege meines Vaters. Allerdings einer, der Karriere gemacht hat, und zwar so richtig. Er war zuletzt im Ministerium, auf dem besten Weg zum Staatssekretär, aber dann hat ihm seine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schlaganfall, Herzinfarkt, danach wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und auch die politische Laufbahn war beendet. Aber – und das ist der springende Punkt für meinen Vater – er hat drei Söhne, die alle mit großem Erfolg studiert haben. Einer ist Arzt, die anderen beiden sind Juristen, und das hat er wohl nicht mit anschauen können angesichts der kläglichen Karriere seines einzigen Sohnes als popeliger Kriminalbeamter. Obsetter muss wohl einige undiplomatische Bemerkungen in dieser Richtung gemacht haben, da hat ihn mein Vater in einem seiner legendären Wutanfälle rausgeworfen. Vor allen gemeinsamen Freunden. Danach hat sich Obsetter nicht mehr bei ihm gemeldet, was ich, ehrlich gesagt, verstehen kann.«

»Diese drei Obsetter-Kinder, wo sind die? Wir sollten mit ihnen reden, und zwar schnell. Hat sie jemand verständigt? Die Lebensgefährtin vielleicht?«, fragte Beate. Sie wollte das Gespräch in ein neutraleres Fahrwasser bringen.

»Vergiss die drei. Sie sind alle im Ausland. Die beiden Juristen sind im Auswärtigen Dienst beschäftigt und alle paar Jahre woanders, der Arzt ist in Indien oder Afrika und tut wahrscheinlich 24 Stunden am Tag Gutes. Näheres wusste mein Vater nicht. Es könnte höchstens sein, dass sie gerade zufällig hier Urlaub machen.«

»Sie müssten ja ungefähr in deinem Alter sein?«, überlegte Beate weiter. Hubertson schüttelte den Kopf.

»Die sind alle älter als ich, und zwar ziemlich. Kassian Obsetter hat sich in einem Alter vermehrt, wo es noch Spaß macht. Nicht wie mein Vater an der Grenze zum Greisentum. Da kann man dann nur noch die eigenen fehlgeschlagenen Träume auf den einzigen Stammhalter übertragen und den damit zur Verzweiflung bringen.«

»Hubsi, du übertreibst. Ganz so schlimm ist es nicht. Im Großen und Ganzen lässt er dich doch in Ruhe, oder? Und du hast genau das durchgesetzt, was du wolltest. Worüber beklagst du dich?«, versuchte Beate einzulenken.

Aber Hubertson schüttelte nur störrisch den Kopf. »Frauen verstehen das nicht. Väter und Söhne, das ist einfach eine ganz spezielle Geschichte.«

Beate ließ es dabei bewenden. Sie rief im Krankenhaus an, aber der Zustand des Patienten Obsetter war unverändert.

»Ich besuche jetzt die Freundin, diese – wie heißt sie gleich? – Jule Entner, genau. Versuchst du mal herauszubringen, was an Familie hier zu finden ist? Ich hab bis jetzt nur die betrogene Ehefrau, aber auch sie hab ich noch nicht erreicht«, sagte Beate. Hubertson nickte etwas abwesend. Er kramte in seinem Schreibtisch nach Schokolade. Eindeutig zu viel Kaffee, diagnostizierte Beate. Das löste immer Heißhungerattacken bei ihrem Kollegen aus. Jetzt riss er hektisch das Papier von der Schokolade, biss davon ab, wie von einem Butterbrot und kaute mit vollen Backen.



Beate Maiwald rief Jule Entner auf deren Handy an, um herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Sie sei gerade in ihrer Wohnung in der Fritzelsgasse, erklärte sie ihr mit leiser Stimme. Aber eigentlich sei sie bereits wieder auf dem Weg ins Krankenhaus, fügte sie noch hinzu. Beate versprach, sie nicht allzu lange aufzuhalten und bat sie, in der Wohnung auf sie zu warten. Der Stimme nach war die Frau sehr jung und sehr durcheinander. Beate war gespannt, was sie von ihr hören würde.

Als Jule Entner die Wohnungstür öffnete, korrigierte Beate sofort ihren akustischen Eindruck. Die Frau war weit in den Vierzigern, vielleicht auch schon über fünfzig. Die Stimme hatte am Telefon kaum wie zwanzig geklungen. Der zweite Eindruck allerdings bewahrheitete sich, sie war sehr durcheinander und völlig überfordert von der Situation.

»Was soll ich jetzt bloß tun?«, fragte sie Beate, als die sich vorgestellt hatte. Beate hätte am liebsten gesagt, sie sei von der Kripo, nicht vom Sozialdienst. Aber das brachte sie doch nicht fertig. Sie erklärte kurz, warum sie hier war. Jule Entner nahm das ohne erkennbare Regung zur Kenntnis. Beate Maiwald wartete einen Moment auf irgendeine Äußerung, dann fragte sie, ob sie wüsste, wo die drei Kinder von Kassian Obsetter zu finden seien.

Jule Entner schüttelte den Kopf. »Die leben alle irgendwo im Ausland, ich weiß nichts Genaues. Er hat nie über seine Kinder gesprochen. Er hatte kein allzu gutes Verhältnis zu ihnen.«

»Wissen Sie warum?«

»Nein, keine Ahnung. Das Thema war tabu.«

Die Frau setzte sich auf die Kante eines Stuhls am Esstisch und bot Beate mit einer Handbewegung an, sich ebenfalls zu setzen. Beate dankte, kramte ihr kleines Aufnahmegerät aus der Handtasche und legte es auf den Tisch.

»Kennen Sie irgendwelche anderen Angehörigen?«, fragte sie.

Die Frau sah sie abwesend an. Beate wartete. Schließlich murmelte sie: »Seine Ehefrau. Also kennen wäre zu viel gesagt. Aber ich weiß, wie sie heißt und wo sie wohnt.«

»Lebt Herr Obsetter in Scheidung?«

Das schien ein wunder Punkt zu sein. Frau Entner wand sich. »Nein«, sagte sie schließlich leise. »Nein, noch nicht. Die Scheidung läuft angeblich. Aber er lebt seit langem von ihr getrennt.«

»Haben Sie sie von dem Vorfall benachrichtigt?«, bohrte Beate Maiwald weiter, erntete aber nur ein Achselzucken. »Warum sollte ich? Sie ist seine Frau. Ich vermute, dass man sie ganz automatisch anruft, oder?«

Beate seufzte. »Natürlich, Sie haben recht. Gibt es irgendeine Patientenverfügung, die Sie in die Lage versetzt, für Ihren Freund tätig zu werden?«, fragte sie. Sie kannte die Antwort schon im Voraus. Natürlich nicht. Wenn die Ärzte ihre Aufgabe genau nahmen, und vor allem wenn die verlassene Gattin sich auf die Hinterfüße stellte, dann würde Jule Entner ihren Geliebten auf der Intensivstation nicht einmal besuchen dürfen.

Der Frau schien das bewusst zu sein. Sie saß reglos und mit starrem Blick da, während ihr Tränen übers Gesicht liefen. Beate tat sie leid. Sie fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und reichte es ihr. Jule Entner schnäuzte sich wie ein gehorsames Kind und wischte sich die Wangen ab.

»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte sie schließlich, um Fassung bemüht.

»Erzählen Sie mir, wie der Sonntag verlaufen ist«, forderte die Kommissarin sie auf.

»Von früh an?«, fragte die Frau unsicher.

Beate lächelte. »Alles, was Sie für wichtig halten.«