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Petra Oelker

Das Bild der alten Dame

Roman

1

Lady Amanda Thornbould zog die Gummistiefel aus, stellte sie ordentlich neben die Hintertür zur Küche und schlüpfte in die bequemen Slipper, die sie immer trug, wenn sie keinen Besuch erwartete. Sie legte die Rosenschere und die Gartenhandschuhe auf den Tisch, ein altes Ungetüm aus dunklem Holz, voller Narben von zahllosen Angriffen ungeschickter kleiner Finger. Gerade als sie die Hände prüfend um die Teekanne legte, drängte sich die Morgensonne durch die hohen Eiben am hinteren Rand des Gartens und schickte mildes Licht durch die weit geöffneten Fenster. Lady Amanda seufzte genüßlich und blinzelte hinaus in das satte Grün. Die zahllosen Tropfen, die der Regen der vergangenen Nacht in den Büschen, Bäumen und wuchernden Stauden hinterlassen hatte, glitzerten wie ein kostbares Netz. In einer Stunde würde die Augustsonne die Pracht dieser frühen Stunde aufgesogen haben, und Lady Amanda, wahrlich keine Freundin spartanischer Lebensweise, war froh, daß sie sich an diesem Tag dazu durchgerungen hatte, mit der Sonne aufzustehen.

Ein roter Setter war ihr auf nassen, schmutzigen Pfoten vom Garten ins Haus gefolgt, sie zog ihn sanft am Ohr und sagte: «Komm, meine Alte. Laß uns endlich frühstücken.»

Der Hund setzte sich neben den Korbsessel, Lady Amandas Lieblingsplatz, und sah seine Herrin erwartungsvoll an. «Du siehst aus, als wolltest du auch eine Tasse Tee», sagte sie lächelnd und gab ihm ein Stück von ihrem dünn mit Orangenmarmelade bestrichenen Toast. Sie trank einen Schluck Tee, wärmte die Hände an der dickwandigen Tasse und lehnte sich zurück. Sie liebte diesen Platz. Von hier hatte sie den schönsten Blick. Der Garten hinter dem Haus war immer noch fast ein Park und jetzt, im späten August, üppig, als sei er Jahrhunderte alt. Einige der Bäume waren das gewiß.

Als Thornbould Manor vor nur einem Jahrhundert gebaut worden war, war es ein stattliches Haus inmitten von Feldern und Wiesen gewesen. Die gab es immer noch, doch inzwischen waren neue Nachbarn nähergerückt, und die hohe Tujen-Hecke am Rande des vorderen Gartens grenzte nun an die Straße nach St. Brelade. Lady Amanda war vor mehr als fünfzig Jahren als junge Braut in dieses Haus gezogen, damals war die Straße nicht mehr als ein Schotterweg gewesen, im Sommer staubig, im Winter vom Schlamm kaum passierbar. Nun bedeckte ihn schon lange eine glatte Asphaltdecke. Motorengeräusche hatten das Knarren der hölzernen Wagen und das Klappern der Pferdehufe abgelöst. Die Autos störten Lady Amanda nicht. Es waren nicht viele, zudem wand sich die schmale Straße kurvig die Hügel hinauf und zwang zum Langsamfahren.

«Nach dem Frühstück kommen die Staudenbeete hinter dem Teich dran», sagte sie. «Aber du wirst dich zusammenreißen und die Pfoten davon lassen.» Sie blickte den Hund streng an. «Du kannst die alten Knochen ausgraben, die du vorgestern im Gemüsegarten verbuddelt hast. Oder glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt, Lizzy?»

Lizzy gähnte beleidigt. Der kleine Gemüse- und Kräutergarten hinter der Ligusterhecke bot mit seiner weichen Erde die besten Plätze für geheime Knochenlöcher, niemals würde sie sich an den Staudenbeeten oder gar am Rosengarten vergehen.

Die Rosen waren Lady Amandas Lieblinge. Sie fand das nicht besonders originell – jeder liebte Rosen –, aber zwischen den jüngeren standen noch ein paar alte Stöcke, die Joffrey gepflanzt hatte. Auf der Insel ging die Mär, sie züchte ihre Rosen selbst, so wie es sich für eine vornehme alte Lady gehörte. Tatsächlich kaufte sie ihre Pflanzen im Gartencenter in St. Peter, aber das wollte niemand wissen.

Sie warf einen Blick in die Times, die sie vom Morgenspaziergang durch den Garten aus dem Briefkasten mitgebracht hatte, überflog die Schlagzeilen, legte sie wieder auf den Tisch und griff nach der Jersey Evening Post vom Vortag. Sie fand es angenehmer, Zeitungen erst zu lesen, wenn sie schon einen Tag alt waren. All die schrecklichen Nachrichten wirkten dann halb so schlimm. Aber bevor sie die Post aufschlagen konnte, klingelte es.

Lizzy, die sich unter dem Tisch zusammengerollt hatte, sprang auf und lief mit leisem Knurren durch die Halle zur vorderen Tür.

«Still, Lizzy, das ist sicher George. Du kennst doch George.» Sie tauschte eilig die Slipper gegen das Paar eleganter schwarzer Schuhe, das hinter der Chippendale-Anrichte in der Halle immer bereitstand, und öffnete.

«Guten Morgen, Lady Amanda.» George nahm die Mütze ab und wischte sich damit über die Stirn. «Ganz schön schwer das Ding. Muß ordentlich was gekostet haben, per Luftfracht. Mit der Fähre wär’s viel billiger gewesen. Aber Luftfracht», sagte er und reckte die Schultern, «ist natürlich viel sicherer. Wo soll ich’s denn hinstellen?»

George Goodwin kannte und verehrte Lady Amanda, seit er auf krummen Kinderbeinen seinen Vater begleitet hatte, wenn der die Büsche und Bäume im Park von Thornbould Manor pflegte. Als die krummen Beine gerade geworden waren, strolchte George nur noch selten durch den Park. Er saß lieber stundenlang am Rand der Wiese, die durch das graue Betonband einer Rollbahn zum Flughafen von Jersey geworden war. Er kannte alle Flugzeugtypen, wußte genau, wann sie starteten und landeten, wie viele Passagiere oder Tonnen Fracht sie transportierten, woher sie kamen und wohin sie flogen. Mit geschlossenen Augen konnte er die Flugzeuge nur am Geräusch unterscheiden. Goodwins Jüngster ist verrückt, sagten damals die Leute auf Jersey, bald wachsen ihm Flügel. Nichts wäre George lieber gewesen. Er wurde jedoch weder Engel noch Pilot, sondern Frachtgutmeister. Nicht das Cockpit, die Laderäume und Lagerhallen waren sein Terrain. Trotzdem war er seinem Traum sehr viel näher gekommen, als sein Vater je geglaubt hatte.

«Tragen Sie das Paket doch bitte in die Halle, George.» Lady Amanda hielt ihm die Tür weit auf. «Es ist ja riesengroß, mehr eine Kiste als ein Paket.»

«Stimmt», George ächzte, «und mächtig schwer.»

«Wie nett, daß Sie es mir bringen, alleine hätte ich das Monstrum gar nicht bewegen können.»

«Ist doch selbstverständlich, Lady Amanda. Wenn Sie wollen, mach ich es gleich auf. Ich hab eine Drahtzange mitgebracht.» Er griff in seine Jackentasche und zog eine große rote Zange hervor.

«Natürlich habe ich nichts dagegen. Ich glaube nicht, daß ich die Drähte alleine lösen könnte. Mach doch mal Platz, Lizzy.» Die alte Dame schob den Hund, der neugierig an dem großen Paket schnupperte, energisch beiseite. «Was mag das nur sein? Ich kenne niemanden, der Peter Müller heißt, ich kenne auch niemanden in Hamburg oder überhaupt in Deutschland.»

«Das ist komisch, ja. Aber so heißt der Absender, das steht auf allen Papieren, die sind korrekt. Wie ich Ihnen gestern abend am Telefon schon sagte. Da will Sie vielleicht einer überraschen.»

Mit einem kräftigen Druck auf die Zange löste er den letzten Draht. «Ich weiß nicht, Lady Amanda, vielleicht sollten wir lieber John rufen. Es könnte ja was drin sein, was explodiert, heutzutage …»

«Unsinn, George. Die Polizei hat Wichtigeres zu tun. Ich bin eine harmlose alte Frau. Keine Politik, kein Mädchenhandel – wer sollte mir eine Bombe schicken?»

George dachte einen Moment nach. Die Vorstellung, daß nicht er, sondern John am Abend im Pub vom Auspacken des geheimnisvollen Paketes erzählen würde, gefiel ihm überhaupt nicht.

«Da haben Sie recht», brummte er, «wird wohl eher ’ne nette Überraschung sein. Von Ihrem Neffen vielleicht? Der kann ja jemanden beauftragt haben.»

George begann vorsichtig, die feste Pappe zu lösen.

«Timothy ist zwar immer für eine Überraschung gut, aber warum sollte er seinen Absender nicht auf das Paket schreiben? Der Inhalt wäre doch Überraschung genug.»

George nickte. Erst vor zwei Wochen hatte Lady Amanda ein Paket am Flughafen abgeholt, das Timothy aus Mexiko geschickt hatte. Allerdings ein nettes, handliches Paket, und jeder in der Frachtabteilung hatte den Absender lesen können. George hätte zu gerne gewußt, was Timothy geschickt hatte. Er sah sich verstohlen um, aber in der Halle stand nichts, das er nicht schon kannte. Timothy hatte als Kind, wie seine zahlreichen Cousinen, viele Sommer bei seiner Tante auf der Insel im Englischen Kanal verbracht, und George, nur ein oder zwei Jahre älter, hatte ihm großzügig die besten Angeltricks, die Bäume mit den süßesten Kirschen und – einige Jahre später – die schönsten Mädchen gezeigt. Timothy Bratton, inzwischen Experte und Gutachter für «alte Schinken», wie George es nannte, war oft in der ganzen Welt unterwegs. George war nie weiter als bis London und St. Malo gekommen, aber er beneidete ihn nicht. Trotz der Touristen, die im Sommer die Insel und vor allem die kleine Hauptstadt St. Helier überfluteten, gab es für ihn keinen Platz auf der Welt, an dem er sich lieber aufgehalten hätte.

Unter der festen, innen mit einer wasserdichten Folie beschichteten und mit breitem Klebeband gehaltenen Pappe kamen nun mehrere Schichten von dickem Sackleinen hervor, dann eine Lage steifes Packpapier und eine weitere aus weichem weißen Tuch.

«Lassen Sie mich helfen, George.» Lady Amanda, nun auch ganz unziemlich neugierig, begann, die letzten Klebestreifen, die das Tuch noch zusammenhielten, abzureißen.

«Mein Gott, George», flüsterte sie plötzlich, «es ist das Bild. Sehen Sie? Der alte Rahmen.» Hastig riß sie das Tuch ganz herunter. «Es ist das Bild. Joffreys Bild.»

 

Der Wirt hatte schon das letzte Glas vor der Sperrstunde ausgerufen, als George immer noch am Tresen des Blue Dolphin lehnte und zum drittenmal schilderte, wie Lady Amanda in der Halle stand und auf das Gemälde starrte, das unter der dicken Verpackung zum Vorschein gekommen war. Tränen seien ihr über das Gesicht gelaufen, ohne daß sie auch nur einen Schluchzer von sich gegeben hätte, und immer wieder habe sie gesagt: Joffreys Bild. Joffreys Bild ist wieder da. Und dann, der Höhepunkt seiner Geschichte, wie er allen Mut zusammennahm, die Karaffe von der Anrichte holte und der Lady einen kräftigen Schluck Whisky zu trinken gab. Niemand hatte sie bis zu diesem Tag Whisky trinken sehen. Und niemand hatte sie weinen sehen, nicht einmal in jenem Sommer vor mehr als dreißig Jahren, in dem das Bild verschwunden war.

2

Die Nacht zum fünften September war für die Jahreszeit zu kühl. Da der ganze Sommer nichts als ein vorgezogener Herbst gewesen war, kümmerte das niemanden. Ein halbvoller Mond hing tief über der Elbe, er hatte ein wenig Schlagseite, aber das, so dachte die Frau in dem dänischen Campingbus, lag vielleicht daran, daß man ständig nur ein Stück von ihm zwischen den Wolkenfetzen sah, die sich vor ihm über den Himmel schoben. Es war windstill, jedenfalls hier unten auf der Erde. Da oben mußte es anders sein. Es war schon nach Mitternacht, sie war zu müde gewesen, mit ihm in die Raststätte zu gehen. Die Vorstellung von dem Geruch gebratener Hühnchen und Würste und Pommes frites hatte ihr Übelkeit bereitet. «Dann bleib im Wagen», hatte er gesagt, «ich hol uns wenigstens ein Bier.» Offenbar trank er seins gleich dort, er war schon ziemlich lange fort.

Sie öffnete die Tür des Caravans, die kühle feuchte Luft war immer noch besser als der Geruch nach kaltem Tabakqualm. Sie haßte es, wenn er im Auto rauchte, doch seit sie auf der Rückfahrt waren, tat er das ständig. Sie stieg aus dem Wagen, reckte die Schultern und atmete tief, es roch nach nassem Pappellaub und Diesel. Auf den acht Spuren der Autobahn donnerte ein riesiger Laster vorbei, zwei PKWs folgten und setzten zum Überholen an. Sonst war nicht viel los. Auch die meisten Fenster der Hochhaus-Trabantenstadt zwischen der Autobahn und dem schwarzen Himmel waren dunkel. Riesige Stangen aus milchigem Licht teilten die Häuserkästen und -türme, in einigen der Flurtrakte mußte die Abschaltautomatik für die Beleuchtung ausgefallen sein.

Sie dachte an ihr warmes kleines Haus in Ribe und fröstelte. Vor Sehnsucht, vor Müdigkeit oder vor Kälte? Vielleicht vor Enttäuschung. Auch ihre Füße wurden kalt – sie trug nur dünne Leinenschuhe, am Gardasee war es noch sehr warm gewesen –, und sie schlenderte mit kurzen stampfenden Schritten an den parkenden Autos vorbei die Straße hinab. Bleib im Auto, hatte er gesagt. Wenn er so lange fortblieb, sollte er sie doch suchen, sollte er sich doch nur einmal fünf Minuten Sorgen um sie machen. Auf den langen Parkstreifen standen, schräg zur Fahrbahn eingeparkt, Laster neben Laster, hoch wie Häuser. Breite Schriftzüge verrieten ihre Herkunft: Ungarn, Polen, Türkei, Frankreich, Belgien, Niederlande oder Spanien, ein Däne war auch dabei. Sie strich leicht mit den Fingern über den dunklen Lack und wischte sich den öligen Schmutz an ihrer Jeans ab.

Dort wo die schmalen Fahrbahnen der Raststätte auf die Autobahn zurückführten, zweigte eine weitere, noch schmalere, zur Rückseite der Rastanlage ab. Die Bäume, wahrscheinlich Platanen, sie war nicht ganz sicher, maßen noch nicht mehr als drei oder vier Meter. Den Mann auf der Bank hinter dichtem Buschwerk bemerkte sie erst, als sie fast über seine Füße stolperte. Erschreckt murmelte sie eine Entschuldigung und wollte schnell zurückgehen. Weil sie es seltsam fand, daß einer der doch gewiß hundemüden Trucker tief in der Nacht auf einer Bank saß und den Mondfetzen nachstarrte, blieb sie stehen und sah ihn an. Wieder leuchtete ein Stück Mond hinter den Wolken hervor, und sie erkannte, daß er ein alter Mann war, eigentlich viel zu alt für einen Trucker. Er hockte auf der Bank, sein linker Arm lag steif über der Rückenlehne, als wolle er sich damit festhalten, seine Mütze hing ihm in die Stirn.

«Hallo», sagte sie. Und noch einmal: «Hallo?»

Der Mann reagierte nicht. Natürlich, dachte sie, er schläft. Es wäre besser, wenn er das in seinem Wagen täte, es ist viel zu kalt und feucht, um im Freien zu schlafen, und sei es nur für eine kurze Zeit.

Sie ging näher, tippte ihn vorsichtig an die Schulter und beugte sich hinunter, um ihm genauer ins Gesicht zu sehen. Wirklich ein sehr alter Mann. Er sah aus, als habe er sich zwei Tage nicht rasiert, seine dünnen Lippen waren spröde, und sein Kinn hing schlaff herunter, sein Gesicht zeigte die fahle Blässe, die sie bei sehr alten Menschen häufig gesehen hatte.

«Nille.» Der Ruf klang gedämpft zwischen den Bäumen hindurch. «Nille, verdammt. Wo bist du?»

«Hier», rief sie leise, «komm mal her, hier ist jemand.»

Schritte raschelten durch das Laub über den Grasstreifen, dann stand er neben ihr. «Bist du verrückt, einfach wegzulaufen? Hier im Stockdunkeln? Wer weiß, wer sich hier rumtreibt.»

«Hör doch auf», sagte sie müde und sah weiter den Alten auf der Bank an. «Er sollte hier nicht schlafen, findest du nicht? Oder ist er krank? Er atmet kaum. Hallo, Sie», sagte sie etwas lauter, «wachen Sie lieber auf!» und stubste ihn sanft gegen die Schulter.

«Geh mal weg.» Der Mann schob sie zur Seite, beugte sich über den Alten und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Dann hielt er ihm den Handrücken vor Mund und Nase, suchte mit den Fingerspitzen nach seinem Handgelenk und sagte: «Der schläft ganz tief. Wir lassen ihn besser in Ruhe. Komm.» Er griff nach ihrem Arm und zog sie mit sich fort. «Der ist irgendein Penner, der hier ein ruhiges Plätzchen für eine Nacht gefunden hat. Diese Kerle sind hart, die bleiben auch im Januar draußen, eine kalte Septembernacht macht denen nichts aus. Los, steig ein, wir wollen weiter.»

«Aber wieso denn? Wir wollten hier doch übernachten, morgen nach Hamburg reinfahren, und erst …»

«Ich hab’s mir überlegt. Wir fahren doch besser in die Stadt, an der Außenalster gibt es einen ruhigen Parkplatz, da können wir viel besser übernachten. Hier ist es zu laut, dieses Gedonner auf der Autobahn, da kriegt man kein Auge zu.»

Er hatte kein Bier geholt, sondern zwei Pappbecher Kaffee. Sie standen neben dem Vorderrad des Caravans auf dem Kantstein, der Kaffee war kalt geworden. Sie trank ihn trotzdem, er hatte mal wieder den Zucker vergessen, der bittere Geschmack gefiel ihr heute nacht.

Zwei Minuten später lenkte er den Wagen von der Raststätte Stillhorn kurz hinter der Süderelbe auf die Autobahn Richtung Norden nach Hamburg hinein. Als sie die Brücke über die Norderelbe erreichten, machte er sie auf den schönen Blick über den Hafen und auf die Türme der Stadt aufmerksam. Sie sah starr geradeaus. Er zündete sich eine Zigarette an und beschloß endgültig, ihr nicht zu sagen, daß der Alte auf der Bank tot gewesen war, noch nicht lange, aber eindeutig tot. Ein toter Penner, na und? Obwohl er für einen Penner ziemlich sauber ausgesehen hatte.

Er beschloß auch endgültig, doch nicht von der nächsten Telefonzelle die Polizei anzurufen. Dann müßte er Nille sagen, daß der Alte tot gewesen war, und sie würde ihm übelnehmen, daß er nicht gleich einen Notarzt, die Polizei und wer weiß wen noch gerufen hatte. Ihr wäre es egal, aber er konnte das nicht. Es würde Fragen geben, stundenlang, die Polizei würde ihre Namen und Adressen notieren, womöglich würden irgendwelche Erbsenzähler in einigen Tagen noch eine Frage haben und bei ihm Zuhause oder in der Praxis anrufen, seine Frau würde am Telefon sein und ihn fragen, wieso die deutsche Polizei anrufe, wieso er in Hamburg gewesen sei anstatt auf der Tagung in Kopenhagen?

Diese ganze Hetzerei nach Italien war sowieso eine Schnapsidee gewesen. Nilles Idee, weil sie noch nie in Italien gewesen war. Nur Streß. Noch mehr davon brauchte er wirklich nicht. Überhaupt gab es mit Nille in letzter Zeit immer nur Streß. Dem Alten war sowieso nicht mehr zu helfen. Morgen würde in irgend jemand finden. Morgen, wenn sie schon wieder auf der Autobahn waren Richtung Norden. Hamburg würde er ihr ein anderes Mal zeigen. Diesen letzten Satz glaubte er allerdings selbst nicht.

 

Es war kurz nach sechs und noch nicht ganz hell, als der Fahrer eines türkischen Lastwagens ein stilles Plätzchen für sein Gebet gen Mekka suchte und statt dessen den Toten fand. Der Körper war nun ganz erstarrt und halb von der Bank gerutscht. Der Türke hatte schon viele Tote gesehen, er erkannte gleich, daß der Alte nicht nur schlief. Er besah ihn sich, so genau es das dämmerige Mondlicht zuließ, und als er kein Blut, kein Messer, kein Einschußloch und auch sonst keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod entdeckte, ging er unter den Bäumen entlang hinüber zum Imbiß.

Der erste Polizeiwagen kam genau drei, der Notarztwagen 17 Minuten, nachdem der Mann hinter dem Imbißtresen telefoniert hatte. Einige Zeit später fuhren noch ein paar Autos bis an die rot-weiße Absperrung um die Bank, und bald darauf wurde der Tote weggebracht.

Er hatte weder Ausweispapiere noch Geld oder Kreditkarten bei sich, er trug weder Ring noch Uhr. Nun war er eine Sache, und für die war Hauptkommissar Klug von der Leichen- und Vermißtenstelle der Hamburger Polizei zuständig.

Die Liste der in der Region Hamburg Vermißten gab keine Beschreibung her, die auch nur annähernd auf den Toten aus Stillhorn paßte. Ein Foto mit einer Beschreibung wurde in den Hamburger Tageszeitungen veröffentlicht. Etwa 75 Jahre alt, 172 cm, 69 kg, schütteres, graues Haar, dunkelgrauer Anzug, schwarzblaue Jacke. Wer kennt diesen Mann? Niemand meldete sich. Nicht einmal die üblichen Verrückten und Wichtigtuer, die jederzeit bereit waren zu schwören, sie hätten Marilyn und J. F. K. am Hauptbahnhof Händchen halten sehen.

Der Obduktionsbericht aus der Gerichtsmedizinischen bestätigte, daß der Mann nicht durch Fremdeinwirkung gestorben war. Er war einer Angina pectoris erlegen, einer Verkalkung und Verengung seiner Herzkranzgefäße, die nach einem Krampfanfall zum Herzinfarkt und zum Tod geführt hatte. Dann stand da noch etwas von allgemeiner Verkalkung der Gefäße, schlechter Durchblutungsverhältnisse, vergrößertem Herz und noch einige weitere Befunde, die bei der Leiche eines Fünfundsiebzigjährigen als normal einzustufen waren. Todeszeitpunkt: etwa 23 Uhr. Klug rief den Arzt an, dessen Unterschrift unter dem Obduktionsbericht stand. Der bestätigte, daß der Tote bei rechtzeitiger Verabreichung, so drückte er sich aus, von Nitro-Spray oder Nitroglycerin-Kapseln den Anfall wahrscheinlich überlebt hätte. Solche Medikamente habe ein Patient mit diesem Befund normalerweise immer griffbereit in der Tasche.

Armes Schwein, dachte Klug, vielleicht hatte er seine Medikamente in der Tasche, und es waren Junkies gewesen, die ihn um seinen Besitz erleichtert hatten. Die nahmen alles, was nur entfernt nach etwas Schluck- oder Spritzbarem aussah. Was hatte der Alte auf der Bank gemacht? Auf dem Parkplatz der Raststätte war kein Auto übriggeblieben, das ihm gehört haben konnte. Er mußte mit einem anderen gekommen sein, als Beifahrer oder als Anhalter. Oder zu Fuß von Kirchdorf im Westen oder Moorwerder im Osten, was jedoch unwahrscheinlich war.

Die Kleidung des Toten, erfuhr Klug schließlich, sei einfach, Konfektionsware der unteren Kategorie. Es sei davon auszugehen, daß der größere Teil in Frankreich gekauft worden sei. Kein Wunder, daß ihn hier niemand vermißte, der Alte war Franzose. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Also gut, würden sie ihn im Kühlfach lassen, bis Interpol etwas herausfand. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Und so packte Hauptkommissar Klug alles zusammen, was den Kollegen in Paris helfen konnte: Fotos, Fingerabdrücke, Zahnstatus, Obduktionsbericht, die Liste der Kleidung, füllte die nötigen Formulare aus und legte den dicken Brief in den Postkorb. Ein unbekannter alter Mann in billiger Kleidung, der mitten in der Nacht auf einem Autobahnrastplatz seiner chronischen Krankheit erlegen war, machte keinen Eilkurier nötig.