Die Seelen der Ertrunkenen

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In einem holländischen Fischerdorfe, dicht am Meere, lebte ein alter Fischer, auf dessen Familie und Eigentum ein ganz besonderer Segen ruhte. Er genoß in seinem hohen Alter noch frischer, fast jugendlicher Kräfte, und seine Kinder und Kindeskinder, ein gutgeordnetes Völkchen, umgaben ihn zu Lust und Freude. Auch fehlte es nicht an reichlichem Gut, das Sparsamkeit und treffliches Haushalten stets vermehren halfen. Im Dorfe gab es manchen Tagedieb und schlechten Haushalter, der ihn um sein gutes Leben beneidete und Gerüchte in Umlauf setzte, auf welche Weise der alte Andreas seine Schätze erworben hatte. Da hieß es denn, er sei dem Teufel bündig geworden, daß dieser ihm die alten Schätze des Meeres bringe, oder Andreas sei in seiner Jugend Seeräuber gewesen und zehre nun vom Gut der armen Beraubten. Die Wahrheit von allem war jedoch, daß Andreas eine arme Seele aus dem Meeresgrunde befreit hatte, die dort unter einem darüber gestülpten Topfe gefangen saß. Die Sache verhielt sich, genau genommen, folgendermaßen.

Der alte Fischer pflegte, obgleich er im ganzen ein strenges Geheimnis daraus machte, dennoch im vertrauten Kreise seiner Kinder und Enkel einzelne Winke hinzuwerfen, aus denen die andern leicht eine vollständige Erzählung zusammensetzten. Wir lassen Andreas selbst sprechen:

»Ich bin nicht immer so glücklich gewesen, daß ich Gut und Eigentum um mich sah und liebende Herzen zählte, die mir meine Tage versüßten. Es ist jedem von uns gegeben, daß er einmal in der weiten Welt ganz allein steht und sich recht bis in die innerste Seele hinein verlassen fühlt. Der Himmel gibt uns solche bittere Einsamkeit zu kosten, damit wir uns dann desto freudiger an eine liebe Menschenbrust anschließen und Gott im Menschen lieben lernen. Meine Jugend war voller Widerwärtigkeit und Drangsal gewesen. So sehr ich auch arbeitete und mich abmühte, der Lohn wollte nicht kommen. Schon fing sich mein Rücken an zu krümmen und meine Haare sich grau zu färben, und noch sah ich kein Glück vor mir. Es war, als sollte nur ich allein von allen ausgeschlossen bleiben. Dennoch murrte ich nicht. Ich hatte frühe gelernt Gott lieben und auf ihn vertrauen. Eines Abends ging ich, wie ich oft zu tun pflegte, hinaus aus der Hütte, weit über die Grenze des Dorfes, bis dahin, wo das Gestade sich fernhin ausdehnt und das Auge nichts sieht als die einsamen Dünen und das weite Meer. Dieses war mir die liebste Stelle, weil ich dort keine andern Laute als die der Wellen vernahm und keinem fröhlichen Menschenantlitz begegnete, das mir hätte sagen können, wie elend und verlassen ich sei. Wirklich fand ich auch niemand, der mich hätte stören können. Das Meer war bis weit hinaus ruhig und glatt, ich hatte es in Wahrheit noch nie so stille gesehen: kein Segel und kein Boot, so weit ich auch spähen mochte, der Himmel darüber völlig wolkenlos, die Sonne, die im Sinken war, warf einen gelbroten Schein auf die Dünen vor mir. Ich ging bis an die Stelle, wo ein altes Wrack lag, ich stützte mich gegen einen der morschen Pfosten und sah vor mich hinaus. Hier in der Stille überkam mich nun der Schmerz in seiner ganzen Gewalt. Wie sehr ich mich auch dagegen sträubte, meine Gedanken nahmen ihren alten, gewohnten Weg. Andreas! rief ich bei mir selbst, heute ist der Tag deines Schutzpatrons. Wie wenig hat er getan, um dich reich und glücklich zu machen! Vor einem Jahre hast du dein Weib begraben und wenige Wochen darauf auch dein Kind. Womit hast du so viel Elend verdient? Wäre es anders gekommen, so gingst du nicht hier einsam umher, sondern säßest im Dorfe bei den Lustigen, die sorglos dahinleben und ihre besten Tage vor sich haben.

Bei diesen Gedanken faßte mich die Wehmut so heftig, daß ich hätte weinen mögen, aber eine Gewalt in meiner Brust hielt die Tränen zurück. Ich konnte nichts als immer wieder auf das Meer schauen, dessen tiefe Ruhe und Freundlichkeit mir seltsam durch die Seele schnitt. Die Sonne ging langsam unter, und ein farbloses Grau begann sich über die weite Fläche zu breiten, nachdem noch lange einzelne lichte Scheine hin und her gezittert hatten, gleichsam als wollten sie den eintretenden Geistern der Nacht das Feld streitig machen. Der Himmel behielt seine helle, durchsichtige Farbe, bis auch er sich immer mehr mit tiefen Schatten füllte. Ein leiser Wind erhob sich und warf mit Getön kleine Wellen an die Wände des Wracks. Ich stand auf in der Absicht, meinen Rückweg anzutreten, da fiel mein Blick auf eine Erscheinung, die ich mir nicht gleich zu erklären vermochte. Es zeigte sich nämlich an dem alten Holzwerk ein lichtes Flämmchen, das mit großer Geschwindigkeit auf und nieder fuhr und mit seinem bläulichen Schimmer leuchtete. Ich kann sagen, daß ich während vieler Gefahren meines Lebens nie das Gefühl gekannt, das man Furcht nennt. Trotz meiner Einsamkeit und der schon eingetretenen Nacht empfand ich daher auch jetzt nicht die mindeste Bangigkeit. Aufmerksam sah ich dem Spiel des seltsamen Flämmchens zu und bemerkte, wie es sich von Zeit zu Zeit von dem Wrack losriß, eine ziemliche Strecke in die See hineinfuhr, dort mit hellerem Licht leuchtete und dann wieder zurückkehrte. Ich hatte wohl sprechen gehört, daß durch dergleichen Erscheinungen versunkene Schätze im Meere angezeigt würden, allein, ich empfand keine Lust, weiter darauf zu achten, drehte meinen Rücken und wanderte weiter. In dem Augenblick rief eine Stimme meinen Namen, sogleich wandte ich mich um und sah jetzt hinter dem Wrack, noch halb versteckt, einen Mann stehen, der aus einem ältlichen, bleichen Gesicht mich ansah. Ich kannte ihn nicht, und seine Kleidung war mir völlig fremd. Er stand lange Zeit da, ohne zu sprechen, und sein bittendes Auge, mit dem er mich unverwandt anblickte, werde ich nie vergessen. Endlich rief ich mit lauter und beherzter Stimme: ›Was wollt Ihr, Herr? Warum habt Ihr mich gerufen?‹

›Andreas!‹ tönte die Erwiderung, ›du hast soeben geklagt, daß das Glück dir Schätze versagt habe, ich will dir welche verschaffen, sobald du tust, was ich von dir begehre.‹

Diese Rede verdroß mich und ich antwortete schnell:

›Herr, was kümmert Euch mein Leid? Habe ich mir Schätze gewünscht, so habe ich sie nicht von Euch verlangt.‹

Der Blasse merkte meinen Unmut und daß ich dabei ein Kreuz über meine Brust schlug. Er rief mit einer Stimme, die sehr rührend und eindringlich klang:

›Ich bin kein böser Geist, Andreas, vertraue mir! Nimm diesen Ring und um die dritte Mitternacht steige getrost eine Büchsenschußweite ins Meer hinab; dort wirst du auf dem Boden drei umgestülpte Töpfe finden, den mittelsten derselben hebe auf und befreie die Seele eines Ertrunkenen, die daruntersteckt. Eile dann schnell wieder hinauf, ohne dich unten aufzuhalten und ohne dich im geringsten um das zu kümmern, was du sehen oder hören wirst. Hast du das vollbracht, so sei versichert, daß ich dich reichlich belohnen werde und es dir und den Deinigen nie an Segen fehlen wird.‹

Ohne meine Antwort abzuwarten, war er mit diesen Worten verschwunden, indem er ein Ding, gleich einem vor Alter trüb gewordenen Fingerreif vor mir zurückließ. Ich hütete mich wohl, es anzurühren. Ach! rief ich, was gehen mich die Seelen an, die dumm genug waren, sich auf dem Meeresgrunde unter einem elenden Topfe fangen zu lassen? Mögen sie immerhin bleiben, wo sie sind. Dieses bedenkend, ging ich ruhig nach Hause, und als die bezeichnete dritte Nacht kam, rührte ich mich nicht aus meiner Kammer.

Das Jahr, das jetzt folgte, brachte mich noch tiefer herunter, ich verlor eine kleine Summe, die ich mir mühsam erspart hatte, auf dem Schiffe, wo ich in Dienst stand, brach eine Krankheit aus, und ich mußte neun Monate im Krankenhaus zubringen. Als man mich entließ, kam ich am Bettelstabe hierher, um mein Grab zu suchen, denn ich war müde zu leben. Ich weiß nicht, wie es kam, denn ich suchte nichts dort, daß ich mich in einer Nacht wieder an dem einsamen Strande befand. Es war wiederum der Andreastag, aber das Meer war dieses Mal nicht ruhig, es rauschte und lärmte wild, und die Schaumwellen trieben ihr Spiel mit dem alten Wrack, so daß es aussah, als wolle es wieder in See stechen. Ich hatte nicht lange hier gestanden, als sich die wohlbekannte Stimme hören ließ und das alte Männchen vor mir stand. Ich sah ihm jetzt wie einem alten Bekannten dreister ins Antlitz. Er wiederholte denselben Antrag wie früher, nur zeigte er sich um vieles dringender und ließ dann beim Verschwinden denselben Reif wie früher zurück. Diesmal nahm ich ihn und steckte ihn an den Finger, zudem faßte ich den Entschluß, dem Geiste den Willen zu tun. Bei den Menschen, rief ich bei mir selbst, ist keine Hilfe und kein Beistand für dich zu finden, laß sehen, was die Geister vermögen.

Um es kurz zu machen, ich kam in der dritten Mitternacht und stieg ins Wasser hinab. Noch jetzt weiß ich nicht, wie es zuging, aber je tiefer ich ins Wasser tauchte, desto mehr hörte es auf Wasser zu sein, und zuletzt befand ich mich auf einer hübschen, grünen Wiese, die ich nie schöner und üppiger auf der Erde gesehen. Auf der Wiese waren viele junge Burschen versammelt, von denen einige mit blitzenden Sensen das Gras abmähten, andere es in Bündel zusammenbanden. Sie sangen dabei eine fröhliche Weise, in der viel von dem Lobe einer schönen Frau vorkam sowie von dem Lohne, den sie ihnen nach der Arbeit reichen werde. Nach der Weisung des Geistes hielt ich mich nicht lange bei ihnen auf, doch konnte ich mir nicht versagen, manchem ins Gesicht zu spähen, und da war es mir, als sähe ich meine Freunde und Bekannten, die schon vor langen Jahren im Meere ertrunken waren. Auf der Wiese stand ein Haus, und wie ich darauf zuging, trat eine wunderschöne Frau auf mich zu, breitete die Arme aus und rief mit einer süßen, schmeichelnden Stimme:

›Ach, so kommst du endlich, mich heimzuführen! Wie lange schon habe ich auf dich gehofft!‹

Bei dieser Rede und bei dem Anblick der schönen Gestalt hätte ich beinahe die Mahnung des Geistes vergessen; doch besann ich mich noch schnell, schoß unter den erhobenen Armen der Schönen durch und auf einen Platz los, wo ich die drei Töpfe aufgestellt sah. Im Nu hatte ich den mittelsten umgeworfen. Ich weiß nicht, wie mir geschah, im Augenblicke sah ich alle jungen Burschen von der Wiese auf mich zustürzen, die schöne Frau erhob ein helles Klagegeschrei, ich hörte es dicht vor meinen Ohren auf betäubende Weise rauschen und klingen und hatte das Gefühl, als wenn mich jemand schnell aufwärts zöge. Wie ich meine Sinne wieder sammelte, befand ich mich am Ufer, am alten Wrack lehnend, todmüde und wie an allen Gliedern zerschlagen.

Das Gute an der Sache war, daß der kleine Blasse Wort hielt rücksichtlich der versprochenen Belohnung. Ich fand an meiner Seite eine lederne Tasche, wie sie vor hundert Jahren die reisenden Kaufleute zu tragen pflegten, angefüllt mit Gold und kostbaren Steinen. Noch mehr aber als dieser Schatz war der Segen wert, der von Stunde an sichtlich auf allem ruhte, was ich tat und unternahm. Mein Leben war wie umgewandelt: hatte es früher die rauhe Seite herausgekehrt, so zeigte es jetzt nur die glatte, samtweiche. Ich machte noch einige Fahrten, heiratete dann mein liebes Weib, setzte mich zur Ruhe hier im Dorfe und nahm die guten Tage hin, die mir der Himmel gab. Gott sei Dank! Sie haben noch nicht aufgehört, obgleich ich nahe an die Hundert zähle, fühle ich mich doch frisch und wacker, und wenn irgendwo lustige junge Burschen zusammensitzen, bin ich gerne unter ihnen, wohl bedenkend, wie es einst eine Zeit gab, da ich jedes heitere Gesicht scheute, das mich an mein Elend und meine Verlassenheit erinnerte. Das ist das Werk des guten Geistes.«

In dem Dorfe, wo sich die vergnügliche Begebenheit mit dem alten Andreas zugetragen hatte, lebte ein Fischer, der der trägste, liederlichste und ausgelassenste Bursche war, den man weit und breit finden konnte. Sein Gesicht glich einer alten, aufgekochten und geplatzten Pflaume, die Augen waren die einer Wasserratte, die kleine Nase steckte in diesem ungeschlachten Antlitz wie ein Mandelkern im Pfefferkuchen, sein aufgerissenes Maul umgab ein Bart, der wie die Stacheln eines Igels aussah, und seine Beine waren nicht viel dicker wie Peitschenstiele und nicht viel gerader wie eine Sichel. Die Leute, die zu Peter Knöck kamen, um mit ihm Geschäfte zu machen, mußten von seinem Weibe Martha hören, er sei unwohl und könne nicht erscheinen. Die Wahrheit aber war, daß Peter Knöck vom frühen Morgen bis zum späten Abend betrunken in der Hütte hinterm Ofen lag und den Kirchturm von Gent für eine Branntweinflasche ansah. In diesem Zustande führte denn Martha das Regiment des Hauses, und man mußte ihr den Ruhm lassen, daß ihr Szepter von einer durchgreifenden Sprödigkeit war. Sie pflegte oft zu sagen, ihr Mann sei ein altes, schwerfälliges Paketboot, das wegen zu starker Ladung nicht recht fortkönne, sie aber sei eine leichtfüßige Fregatte, der der Wind nur die schmächtigen Flanken zu rühren brauche, um sie zum pfeilschnellen Laufe anzutreiben. Die Wahrheit dieses Gleichnisses bestand darin, daß Martha am Tage den Fischfang und die Geschäfte besorgte und am Abend, wenn sie nach Hause kam, ihrem Manne das Leben sauer machte. Gewissenhafte Leute wollen behaupten, daß sie ihn gelegentlich tüchtig zerschlug.

Diese kleinen Zerwürfnisse verbitterten Peters Privatleben. Es wollte keine rechte gemütliche Freude mehr zustandekommen. Saß er in Cornelis Delfts freundlicher Trinkstube, so war es ihm nicht recht, daß die Fenster aufs Meer gingen. Das Meer war ihm verhaßt, weil er wußte, daß Frau Martha darauf herumruderte und Fische fing. Er hätte gewünscht, sie läge tief auf dem Boden des Meeres, und er und die Fische hätten Ruhe vor ihr. Aber Frau Martha war nicht der Meinung, sie erfreute sich des besten Wohlseins und blühte in ihren reifen Tagen gleichsam noch einmal auf, je mehr Peter Knöck zusehends einschrumpfte. Wahrlich, wenn Frau Martha nicht bald dazu tat, so hatte Peter nicht übel Lust, ihre Stelle auf dem Meeresgrunde einzunehmen, so herzlich überdrüssig war er des Treibens.

Dessenungeachtet hielten es beide doch noch ein Jahr miteinander aus. Da geschah es, daß Frau Martha eines Abends, als die Fischerboote einliefen, nicht mit nach Hause kam. Sie hatte ein wichtiges Hindernis, nicht zu kommen, denn sie lag nun in der Tat da, wo Peter sie oft hingewünscht hatte. Peter erschrak anfangs über diese rasche Gefälligkeit des Schicksals, dann aber rieb er sich vor Freude die Hände, schlich in Cornelis Delfts Trinkstube, ließ sich seine Flasche geben, zündete den kleinen Pfeifenstummel an, strich den borstigen Bart über die Lippen, drückte beide Augen schmunzelnd zu und schielte aufs Meer hinüber, zum ersten Male mit dem freundlichsten Blicke von der Welt. Denn das Meer war jetzt sein bester Freund, er bedachte, daß Frau Martha auf seinem Grunde liege und er und die Fische Ruhe vor ihr haben.

Peter lief noch abends an den einsamen Strand, und der Himmel weiß, was ihm in den Sinn kam, er setzte sich auf das alte Wrack, schwenkte seinen Hut in die Lüfte, und den Pfeifenstummel im Munde, brummte er in wahnsinniger Lustigkeit ein altes Schifferlied, das er einmal in bessern Tagen gelernt hatte. Die kleine schwarze Koboldgestalt mit den dürren, in der Luft umherfahrenden Händen und der rauchenden Pfeife im bärtige Maule zeichnete sich wie ein Schattenriß schwarz gegen den Abendhimmel und das ruhige Meer ab. Aber Peter Knöck blieb nicht lange allein der Schauspieler auf dieser einsamen Bühne. Alsbald zeigte sich ein blaues Flämmchen, das hin und her zuckte und um Peters Beine fuhr. Diesem kam jetzt die Geschichte des Andreas in den Sinn. In der Freude seines Herzens und bei der Stimmung, in die ihn die Flasche in der Trinkstube versetzt hatte, fühlte er nicht die mindeste Furcht.

»Aha, Gevattersmann!« rief er laut, »bist du wieder da? Gibt's noch ein Seelchen zu befreien?«

Der Geist, der jetzt vor ihm stand, nickte bejahend mit dem Haupte.

»Nun, wenn sich etwas dabei gewinnen läßt, so hast du hier deinen Mann gefunden. Ich bin ein freier Bursche geworden und gerade bei Laune, deine Taschen um ein paar Goldsäcke leichter zu machen. Geschwind, zeigte mir, wie du dem Andreas gezeigt hast, wo der Weg hinuntergeht in dein Kämmerlein.«

Der Geist verzog bei dieser Rede, die ihm sehr wenig behagen mochte, merklich sein Antlitz. Ohne etwas zu erwidern, legte er den Reif auf einen der Pfosten vor Petern und verschwand. Peter bedachte sich nicht lange, schob ihn geschwind an den Finger, und sowie sein Fuß das Wasser betreten hatte, schwand es vor ihm hin, und er gelangte, ohne weit zu suchen, auf die Wiese im Meeresgrunde.

Hier sah er, wie Andreas erzählt hatte, die Jünglinge mit dem Heumachen beschäftigt und dazu ein Lied singend, das die Reize ihrer Gebieterin und den Lohn, den sie zu erteilen pflegte, rühmte.

»Ei«, rief Peter bei sich, »möchte ich sie nur auch zu sehen bekommen! Ist sie wirklich so schön, wie ihr sagt, so will ich mich anders benehmen wie der blöde Andreas.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als er das Haus auf der Wiese vor sich sah und daraus hervortretend eine Gestalt, dick wie eine Biertonne und auf kurzen, breiten Füßen daherwatschelnd. Ihr Gesicht glich dem aufgehenden Monde, wenn er dicht am Horizonte durch die Nebel in feuriger Gestalt erscheint, und ein Maul zog sich darinnen in die Breite, bewaffnet mit ungeheuren Robbenzähnen, blitzend und weiß wie das schönste Elfenbein. Mit diesem Munde und den kleinen, feurigen Augen winkte sie dem Ankömmling einen freundlichen Gruß zu. Peter erschrak heftig und hatte nur den Mut, mit leiser Stimme nach den drei Töpfen zu fragen.

»Was?« schrie die Frau, »kommst du nicht, um mich zu heiraten?«

»Für jetzt noch nicht, Liebchen!« stotterte Peter und drückte sich scheu zur Seite. In dem Augenblicke ward er der drei umgestülpten Töpfe gewahr. Mit ein paar Sätzen sprang er auf sie zu, aber nun fiel ihm mit Schrecken ein, daß er vergessen habe, den Geist zu fragen, welchen der Töpfe er aufheben solle. Angstschweiß trat auf seine Stirne, seine Glieder bebten, er sah die dicke Frau zornig auf sich zu watscheln, und auf ihren Ruf versammelten sich alle Burschen von der Wiese, indem sie ihre Sicheln und Sensen schwangen. Ohne viel zu überlegen, hob er den mittelsten Topf. Da quiekte es drunten wie ein Gemisch von Froschstimmen und Hahnengeschrei, und es klang genau so, als wenn Frau Martha zankte. Schnell wollte Peter den Topf wieder aufstülpen, aber in der Eile und Betäubung entglitt er seinen Händen. Das Toben und Schreien um ihn her raubte ihm die Besinnung, und als er wieder zu sich selbst kam, lag er halbtot auf dem Sande am Ufer.

Ein böses Abenteuer, der ehrliche Peter Knöck war wohl nicht dazu gemacht, mit Geistern in Verkehr zu treten. Aber das Ärgerlichste an der ganzen Sache sollte noch nachfolgen. Kaum hatte er seine zertrümmerten Gliedmaßen zusammengerafft und war in das Dorf gehinkt, auf den Geist und seine umgestülpten Töpfe fluchend, als er in seinem Häuschen schon von weitem Licht flimmern sah. »Wer schafft denn dort?« fragte er sich selbst und näherschleichend, legte er sein Ohr an die Türe. »Wer spricht denn drinnen? Wahrhaftig, wenn Frau Martha nicht mausetot auf der Bank an der Wand läge, so könnten diese Schaltworte aus keiner andern als aus ihrer Kehle kommen! Ei, laß doch sehen!« Damit öffnete er leise, leise die Tür, kaum so viel, daß ein Lichtstrahl auf seine Nase fallen kann. Aber ach! was sieht er? Die Bank an der Wand ist leer, und mitten im Zimmer sitzt Frau Martha und zählt ihre Fische in den Kübel, frisch und gesund, als hätte sie nie Seewasser getrunken, und dabei auf den nichtswürdigen Tagedieb, ihren Mann, schimpfend, der sich noch immer nicht sehen lassen.

Als jetzt die Tür aufging und Peter hereintrat, empfing sie ihn auf die gewohnte Weise, und alles war völlig im alten Gleise. Frau Marthas Wiederbelebung wurde im Dorfe alsbald bekannt, und so sehr Peter sich die Mühe gab, den eigentlichen Hergang der Sache zu verdecken, so hatten es die feinen Köpfe und Späher im Dorfe doch bald heraus.

»Es ist ihm recht geschehen«, riefen viele, »wer hieß ihn aus frechem Übermute und Geldgier ein so gefährliches Abenteuer aufsuchen?« Andere lachten ihn von Herzen aus, indem sie ihn das Muster eines zärtlichen Gatten nannten, der selbst auf den Meeresboden hinabgestiegen, um sein liebes Weib wiederzubringen. Peter schüttelte den Kopf und meinte, sein ganzes Unglück habe in einem Fehlgriff bestanden: hätte er den Topf zur Rechten oder zur Linken aufgehoben, so besäße er unfehlbar jetzt die Freundschaft des Geistes und könnte über Tonnen Goldes gebieten. Dennoch hatte er nie den Mut, einen zweiten Versuch anzustellen.

Die Sage aber, daß die Seelen der im Meer Ertrunkenen auf dem Boden desselben von bösen Geistern unter drübergestülpten Töpfen gefangen gehalten werden, ist eine Wahrheit, die kein rechtgläubiger Schiffer bezweifelt.

Der arme Thoms oder die versunkene Stadt

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Am Gestade des nördlichen Meeres lebte vor langer Zeit ein Fischer, den die Leute im Dorfe nur den armen Thoms nannten. Er selbst wollte indes nicht eingestehen, daß er arm sei, denn er war zufrieden mit einer baufälligen Hütte, die er sein Eigentum nannte, und die notdürftigste Nahrung wurde ihm, ohne daß er darum zu sorgen brauchte, aus dem Dorfe täglich gebracht. Besondere Bedürfnisse hatte er nicht, und wenn diese auch da gewesen wären, so hätte er sie lieber unterdrückt, als daß sie ihn gezwungen, seine Hütte und den Platz dicht am Meere zu verlassen, so leidenschaftlich liebte der Alte die Nähe und den Anblick des freien Elements. Dessenungeachtet sah man ihn doch selten mit seinem kleinen Fischerkahn sich hinauswagen, aber öfters fand man ihn am Ufer sitzend, besonders an ruhigen Abenden, wo denn sein Blick sehnsüchtig auf die in Farbe und Bewegung stets wechselnde Weite gerichtet war. So einsam hatte er jedoch nicht immer gelebt, seine Jugend sowie auch sein spätes Mannesalter waren unter mannigfaltigen, zum Teil gefährlichen Reisen und Unternehmungen hingegangen. Hiervon hatte er sich manches seinem Gedächtnis besonders eingeprägt und pflegte es sonntags, wo die Fischer mit ihren Weibern sich öfters zu ihm gesellten, in vertraulicher Mitteilung zu erzählen. Die muntere Jugend im Fischerdorf fand Mittel, auch an anderen Wochentagen Thomsens Erzählungen anzuhören, wogegen die Altern und Erfahrneren zürnten, und zwar, weil sie wohl sahen, daß der seltsame Greis öfters Geschichten vorbrachte, die die Phantasie der Jünglinge schwärmen machten, so daß die tüchtigsten Burschen das alltägliche Werk versäumten, indem sie über ein Mittel grübelten, die wundersamen Schätze aus den Märchen des armen Thoms zu erbeuten. Eine der liebsten Geschichten des armen Fischers war aber die von der versunkenen Stadt.

Ziemlich weit in die offene See hinein konnte man nämlich bei hellem Wetter auf dem Meeresgrunde Gegenstände deutlich gewahr werden, die, seltsam geformt, schon seit Menschengedenken für die Trümmer einer alten versunkenen Stadt gegolten hatten. Der einsame Fischer, der heimkehrend diese Stelle des Meeres zu befahren hatte, konnte sich des Grauens nicht erwehren, dachte er an die dunklen Sagen von den Spukgestalten der Meerstadt, die hin und wieder waren gesehen worden. Dazu kam der Umstand, daß das Wasser hier selten ruhig war und nicht weit entfernt ein finsteres Felsenriff hervorstarrte, an dem schon manches unkundige Fahrzeug gestrandet war. Früher hatte ein reiches Dorf am Strande gestanden, allein, es war verlassen, und einsame Trümmer zeigten noch seine Stelle; des armen Thoms Hütte schien die einzig übriggebliebene.

Es war eines Abends, als die Arbeit früher als gewöhnlich ruhte und das Vorgefühl des morgenden Festtags zahlreichere Gruppen um die Hütte Thomsens gelockt hatte. Der Erzähler saß heiter im Kreise seiner Zuhörer. Ein paar fremde Fischer brachten den Alten auf seine frühere Tätigkeit und befragten ihn, ob er sich nicht jetzt noch aus der behaglichen Ruhe manchmal hinaussehne. Thoms schüttelte das Haupt. »Nein, meine Freunde«, entgegnete er, »die Welt ist für mich beschlossen und geendet; ich habe schauen dürfen, was nicht jedem blöden sterblichen Auge zu schauen vergönnt ist, ich bin zufrieden. Glaubt mir, wenn ich so vor meiner Hütte sitze und die Natur rings um mich stille ist, der Mond über dem Gewässer schwebt und die Nachtkühle so recht innig durch meine Brust zieht, da keimen in mir unendlich süße Schauer, selige Träume, ich bedarf der äußeren tätigen Welt nicht. Das alte Land der Wunder tut sich auf, die graue Meeresfläche vor mir wird ein bunter Teppich, im Nu mit den köstlichen Gestalten der Fabelwelt gestickt. Ich sehe Magelonen vorbeischiffen, wie ein grauses Geschick sie fern von den Geliebten treibt, das reiche Zauberschiff Argo mit seinen tausend und aber tausend Kriegern und Sängern rauscht in die Nacht dahin, Gesänge und Farben tauchen auf und nieder, zwischendurch lauschen aus der alten Wiege des Ungestüms die Meerwunder herauf, ich höre ihr jedem andern unverständliches Gespräch, wie sie von den Schätzen der Tiefe erzählen, von dem, was unten begraben liegt und Ewigkeiten hindurch verborgen ausdauert. Mitten unter diesen Gebilden und Herrlichkeiten sinkt dann wieder eine so selige Befriedigung und Stille in meine Seele, ich weiß und fühle, daß alles nur Traum ist, daß der sterbliche Mensch nur in Frieden und Beschränkung Ruhe findet, und mein Plätzchen am Meeresstrande ist mir dann lieber als ein Ehrensitz in der kostbaren Argo unter Zauberern und Sängern.«

»Ja, wohl seid Ihr ein Träumer, Thoms«, nahm einer der fremden Schiffer das Wort, »von den Herrlichkeiten, die Ihr eben geschildert habt, ist uns nie das mindeste in Sinn und Gedanken gekommen.«

»Ei, ei«, rief ein anderer, »unser alter Gevatter könnte, wenn er wollte, uns noch viel wunderbarere Dinge erzählen. Ist es doch genugsam bekannt im Dorfe, daß einst die Seegespenster ihn hinuntergeführt haben in die alte Meerstadt und daß er von dort ein kostbar Kleinod mitgebracht hat.«

Der Kreis rückte bei diesen Worten näher heran. Ein sanfter frischer Abendwind kam vom Meer her und hob die weißen Locken am Haupte des Greises, der still und sinnend vor sich hinsah, als überdenke er längst vergangene Zeiten; indes ward er mit Fragen und Bitten bestürmt, sein Abenteuer zu erzählen. Endlich erwiderte er unmutig: »Ihr fragt alle doch aus eitler Neugier, und wie wollt ihr da, daß ich ein stilles, wundersames Ereignis euren Blicken entschleiern soll? – Ach, es wird mir doppelt schwer, denn ich muß des teuren Jugendgenossen gedenken, der auf eine rätselhafte und grausenvolle Weise mir entrissen wurde!«

Andreas, ein junger Fischer, der dem Greise zu Seite saß, rief: »Erzählt, Vater, und tut ihr es nicht der Menge zu Gefallen, so geschehe es uns zur Freude; Ihr wißt wohl, diese Bitte dürft Ihr uns nicht abschlagen.«

»So mag's denn geschehen«, entgegnete Thoms, »doch soll keiner mir das Ereignis auf seine Weise deuten und verkümmern wollen.«

»Seht, ich war ein Bursche von zwölf Jahren, als ich mit meinem Vater hierher in die Gegend zog. Er bestimmte mich zu seinem Gewerbe, und ich, indem ich frühzeitig in der Nähe des Meeres und der gewohnten Verrichtungen aufwuchs, lernte mich bald tätig und tüchtig erweisen. Was ich bin, habe ich dem heiligen Element zu danken, das wir dort vor uns sehen. Im Innenlande verkümmert der Mensch, am Meeresstrande bleibt er jedoch immerdar frisch und tätig. Mein Vater, der mein Treiben mit Lust ansah, ließ mir Freiheit, und oft zog ich mit seinem besten Kahne weit, weit hinaus, so daß ich das Ufer kaum mehr sehen konnte. War ich dort draußen, von keinem menschlichen Laut mehr erreicht, so zog ich die Ruder ins Boot, mich selbst legte ich an den Boden zurück, und indem das Fahrzeug so mit mir ins Grenzenlose wogte, langte mein Auge oben beim Zuge der Wolken an, wie sie in ganzen Scharen wunderbar eilig und geschäftig ihren Weg dahinflogen. War ich dieses Spiels müde, so bog ich mich über den Rand des Kahns und suchte nun wieder die Tiefe zu durchdringen, indem ich hoffte, Zauberpaläste und Kristallschlösser, von denen ich gehört hatte, zu entdecken. Wie wurde mir nun, meine Freunde, als ich eines Tages, dort über jener berüchtigten Stelle schwebend und hinunterschauend, wirklich den Giebel eines Hauses tief unter mir erblickte! Ich rieb mir die Augen, weil ich glaubte, das anhaltende Schauen habe sie geschwächt, doch das Bild blieb da, ja es trat jetzt eine ganze Straße hervor.

Ich konnte auf einen einsamen, stillen Marktplatz schauen, in ein wundersames, träumerisches Gäßchen, wo die dunkeln Häuser nah aneinanderstanden und wo niemand sich zeigte, der hindurchging. Es war, als gäbe es einen Sonntagmorgen unten und alles säße still zu Hause beim Predigtbuch. Meine ganze Seele war durchdrungen und erschüttert – ich sah und sah – und wollte immer mehr sehen, da trübte sich plötzlich der Meeresboden, ein dünner Schleier flog über das Wunder und deckte es zu.

Es war spät, als ich nach Hause kehrte. Mein Vater, dem ich das Erlebte erzählte, schalt mich heftig über meine Kühnheit, so allein mich hinauszuwagen, er verbot mir ernstlich, jemals wieder ohne seine Erlaubnis einen Kahn zu lenken, von der wundersamen Stadt wollte er vollends nichts wissen, und ich mußte meine Bilder und Träume, die mich beglückten und aufregten, in meine Brust verschließen. Ich vermochte dieses nur auf kurze Zeit, bald vertraute ich mich einem jungen Burschen meines Alters, mit dem ich immer gute Kameradschaft hielt und der auch nicht wenig erstaunt und begeistert war. Wir machten den Plan aus, sobald es sich irgend tun ließe, uns eines Kahns zu bemächtigen und hinauszuschiffen.

Als wir eines Abends hierüber sprachen und an dem großen Steine saßen, den ihr dort sehen könnt – er ist jetzt durch die Zeit tiefer in den Boden gesunken –, da ereignete sich, was ich euch jetzt beschreiben will. Es war bereits Nacht geworden, das Meer ging hoch und warf schäumende Wellen mit Geräusch aus, ein Nebel schwamm auf den Gewässern, und wir verbargen uns unter einem der großen Boote, die auf dem Strande lagen. Hier nun, im sichern Versteck, erzählte ich von der geheimnisvollen Stadt und ihren Wundern. Mein Kamerad war ganz entzückt. ›Ach‹, rief er, ›wenn wir nur einmal in diese Stadt kommen und dort durch die wundersamen, einsamen Straßen wandeln dürften oder gar in die Häuser eindringen, wo seit Jahrhunderten die hübschen Mädchen verlassen schlummern müssen. Wie wollte ich sie aus dem Schlafe wecken, daß sie, ihre goldnen Locken schüttelnd, mich verwundert und süß lächelnd anblicken sollten, nicht wissend und begreifend, wo ich hergekommen sei. Als dann würden sie mir herrliche Schätze in Menge geben, und ich wäre der reichste Mann der Welt.‹ – ›Hanny!‹ rief ich dagegen, ›das sind gotteslästerliche Reden, weiß du denn nicht, daß, wie der lahme Christian im Dorfe sagt, jene dort unten zur Strafe verbannt sind in die Tiefe?‹ – ›Geh mir!‹ entgegnete er, ›ein echter Seemann soll keine Furcht im Herzen kennen, sonst ist er nicht mehr wert, als daß die Haifische sich mit ihm den Rachen füllen.‹

Indem wir so sprachen, war der Mond aufgegangen und schien trüb durch die Nebel auf das helle Sandufer vor uns. ›Thoms, sieh doch!‹ rief Hanny eilig und verstört, ›wer sind jene Leute, die noch so spät dort am Ufer herumspazieren?‹ Ich erhob mich, doch konnte ich keinen Schritt vorwärts machen, so seltsam wurde mir zumute, als ich den Blick hinausrichtete und er die Gestalten traf, die nicht weit von uns langsam dahinwandelten. Es war ein Mann und eine Frau, beide in eine Tracht gehüllt, die wir nicht kannten. Er trug ein schwarzes Kleid mit einem hohen spitzigen Hut, und ihr flossen lange, schleppende Gewänder, die wie Silber schimmerten, um den Körper. Sie gingen still nebeneinander, und als sie sich nun umkehrten, schienen ihre bleichen Gesichter seltsam durch den Nebel; langsam hoben sie ihre Arme und winkten uns heran. Wir hielten einander umschlungen, keiner wollte dem Winke folgen.

›Hanny,‹ lispelte ich leise, ›gewiß sind diese Leute aus der versunkenen Stadt.‹ Mein Kamerad winkte mir zu, wir blieben still, den Blick auf die Erscheinung gerichtet. Bald darauf sahen wir sie im Nebel verschwinden, und es war, als nähme das Meer sie auf. Ich glaubte noch lange den spitzigen Hut des Mannes aus den Wellen hervorragen zu sehen.

Zu jener Zeit traf in unserem Dorf ein fremder Spielmann ein, der die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zog. Er kam aus Böhmen, seine Kleidung, seine Rede waren fremd, und uns Knaben erschien der lange Mann mit dem wilden schwarzen Barte im bleichen Gesichte abschreckend und unheimlich. Er verweilte in unserm Dorf einige Zeit und hatte, da gerade ein ländliches Fest viele Gäste herbeilockte, einen bedeutenden Erwerb, indem er zum Tanz aufspielte, und es war wohl auffallend, daß, sowie die Pfeife des langen Böhmen erklang, sich jung und alt wie von einer unaufhaltsamen Tanzlust befallen zeigte. Es entstand Scherz und Gelächter, wenn sich schwere, unbeholfene Leute leidenschaftlich in den Reihen mischten und nicht eher aufhören mochten, als bis sie atemlos hinsanken, dagegen wurde andere, auch die sanfteren Naturen, zu einer widerlichen Zanksucht aufgeregt, so daß es ausgemacht schien, eine lustige Gesellschaft, wo der lange Böhme aufspiele, könne sich nur mit Zank und Schlägen endigen. Dies erregte Aufsehen, der böhmische Spielmann wurde verrufen als einer, der mit bösen Geistern im Bunde stehe, und seine Pfeife als ein solches Zauberinstrument angegeben, auf dessen Ruf sich die Geister sammelten. Wir jungen Burschen, bei denen man eben keine Zauberei vonnöten hatte, um sie zu Scherz und Mutwillen, gelegentlich auch zu Händeln aufzuregen, hörten dergleichen Beschuldigungen geduldig an und schlossen uns wohl gar, als wir uns mit des Böhmen Gestalt mehr versöhnt hatten, ihm näher an, indem wir mit ihm ins Land hinein durch Wies' und Wald zogen.

Eines Abends kamen wir mit ihm in eine Schenke, wo er sich, wie gewöhnlich, bereit finden ließ, zum Tanz aufzuspielen. Kaum hatte jedoch der Tanz einige Zeit gedauert, als er plötzlich die Spielweise änderte und einige traurige, durchdringende Töne angab. Die tanzenden Gruppen wußten nicht, wie ihnen geschah, sie hörten auf, sich rasch zu bewegen, und jeder sah sich mit verstörten Blicken im Zimmer um. Dazu ließ sich draußen plötzlich ein ungewöhnliches Rauschen und Bewegen vernehmen, ein nächtlicher Sturm wühlte im Laub der Bäume, und hie und da erblickte man mit Entsetzen bleiche fremde Gesichter, die sich von außen an die Scheiben der Fenster anlegten. Wir alle wollten fliehen, doch hielt uns eine unsichtbare Macht zurück, wir standen erstarrt da, und erst dann kehrte wieder Lebensmut in uns zurück, als der Spielmann, in die frühere Weise eingehend, heitere, lockende Töne erschallen ließ. Ihr könnt euch denken, Freunde, wie dieses Seltsame auf uns wirkte, unablässig drangen wir jetzt in den Böhmen, uns in seine Künste einzuweihen, was er uns jedoch immer zürnend abschlug. Aber Hanny, der noch leidenschaftlicher betroffen wurde, ließ durchaus nicht nach, und wir machten nun zusammen einen Plan, wie wir die geheimnisvolle Kraft des Spielmanns mit der versunkenen Stadt in Verbindung setzen wollten; denn es war nur zu gewiß, daß des Böhmen Pfeife die Kraft besaß, die Geister heranzulocken und die Fesseln eines magischen Lebens zu sprengen.

Die Zeit, wo wir unser Vorhaben ausführen wollten, verschoben wir nicht lange. An einem besonders klaren, ruhigen Morgen ruderten wir beide den Spielmann hinaus in die See und hielten wie zufällig auf jener berüchtigten Stelle. Hier erzählten wir ihm nun umständlich, was wir erlebt und geschaut, und da er ungläubig lächelte, wiesen wir hinab auf den Boden des Meeres. Doch wie ärgerlich und beschämend für uns mußte es sein, daß gerade heute, trotz der Stille und Klarheit des Gewässers, sich die Tiefe verschleiert hielt. Es zeigte sich unsern Blicken nichts als dunkle Massen, denen man keine Form abgewinnen konnte. Der Spielmann saß schweigend da und sah uns abwechselnd mit seinen dunklen gespenstischen Augen an. ›Liebster Herr!‹ rief ich, indem ich im finstern Unmute nahe daran war, Tränen zu vergießen, ›ist die Kraft, die Euch gegeben, wirklich so wundervoll und bedeutend, so zeigt es uns hier: nehmt Eure Flöte und lockt die Geister längst vergangener Tage, die hier unten schlummern, sichtbar ans Tageslicht.‹ Mit diesen Worten gab ich ihm das Instrument, das neben ihm lehnte. Er sah uns noch finsterer und drohender an. ›Tolle, törichte Knaben!‹ rief er, ›ich täte wohl gut, euch den Kitzel auf immer zu vertreiben. Meint ihr, es komme hier nur auf ein Kunststückchen an, euch zu belustigen? Es kann euch wohl das Leben kosten.‹ Ich wurde mit Angst erfüllt, Hanny aber drang mutvoll in den Zürnenden, bis er endlich mit einem raschen Griff die Flöte nahm und sie an den Mund brachte.

Klagende, langgehaltende Töne zogen jetzt leise und dann immer lauter über die Wasserfläche dahin; wir beide wagten kaum Atem zu holen und starrten in die Tiefe. Was geschah da vor unsern Augen! Wie es jemand zumut sein mag, der von einem hohen Gebirge in ein nächtliches Tal sieht, das nach und nach mit Licht sich zu füllen anfängt, wo dann anfangs die Gipfel hoher Bäume, dann das niedrige Gebüsch, endlich mit überwindender Klarheit Blumen und Kräuter des Bodens hervortreten, so tauchte auch die Meerstadt hervor. Wir erblickten die Giebel der Häuser, die dunklen Mauern, dann die Treppen und Gänge in den Höfen, und zuletzt mochten wir wohl gar die Steine der Straße zählen können. Ein Grauen überschlich mich und dann wieder ein Entzücken, als jetzt aus der Tiefe leise Glockentöne hallten. Zugleich öffnete sich das Tor eines prächtigen Hauses unten, und ein Zug Männer und Frauen glitt über die Schwelle. Die leiseste Bewegung unseres Kahnes schien ein Schwanken unten zu verursachen, wie an den Schattenbildern einer Zauberlaterne. Hanny und ich gaben uns verstohlen Zeichen, keiner mochte sprechen, aber auf einmal brachen wir in einen Laut des Staunens aus, als unter den Männern und Frauen des Zuges jetzt eine wundersüße Mädchengestalt hervortrat, gekleidet in helle Gewänder, das goldgelbe Haar mit einer Krone geziert. Sie sah herauf, und ihr Blick traf uns, wir fühlten unsere Herzen heftig schlagen. Mein Gefährte brach gleich darauf in lautes Weinen aus. Zugleich verstummten die Töne des Spielmanns, es flossen wieder die trüben Schleier über das Bild, die Glockentöne verhallten, und wir mußten uns entschließen, den Rückzug anzutreten, da ein starker Sturm sich erhob und das Meer hohe Wellen schlug. Ich hatte bei den Rudern alle meine Kräfte anzuspornen, denn Hanny saß träumend und teilnahmslos da, sein dunkles Auge blieb auf das Spiel der Wogen geheftet, es suchte ängstlich die Geliebte und fand sie nicht. Der Spielmann richtete boshafte und höhnende Blicke auf den armen Knaben, als hätte er deutlich vorher gewußt, was später sich ereignete.«

Thoms unterbrach hier seine Erzählung, er wandte das Antlitz dem Meere zu, dem Schauplatze jener Ereignisse, die er eben schilderte. Die Sonne, im Versinken begriffen, kleidete Meer und Gestade in das blendendste Kolorit, des Greises Silberhaupt wurde von ihr gerötet, und die Jugend jener frühen Tage schien auf seine Wange zurückgekehrt. Jedoch der ernste Blick des Erzählers verkündete die düstere Betrachtung, zu der ihn der Verlauf seiner Geschichte aufforderte. »Meine Freunde,« begann er wieder, »unselig ist wohl der zu nennen, den es gelüstet, hinter den Schleier zu lauschen, mit dem wohltätig sich das Antlitz mancher Erscheinung verhüllt. In Tätigkeit, Arbeit und Mühe ist uns eine ehrenvolle Bahn angewiesen, um auf ihr wirkend fortzustreben. Gehen wir über die Grenze hinaus, so ist auf der einen Seite unheilbare Torheit, auf der andern Verderben unser Los. Hiervon sollte nun auch des armen Hanny Schicksal den Beweis geben.

Nach dem Ereignisse, welches ich euch soeben beschrieben, waren einige Monate vergangen; der Sommer verschwand, der Herbst trat ein, und die stürmischen Nächte, die um diese Jahreszeit gewöhnlich sind, zeigten sich mit allen ihren Schrecken. Um diese Zeit sind, wie ihr wißt, Freunde, unsere Küsten gefahrvoller als andere Gegenden. Der böhmische Spielmann hatte schon längst die Gegend wieder verlassen, mir waren die Bilder jener Tage fast wieder aus dem Sinn gekommen, den armen Hanny aber verfolgte eine unheilbare Schwermut. Ich, der ihn zu trösten suchte, mußte ihn oft lange suchen und fand ihn gewöhnlich dann irgendwo am Strande verborgen, seinen seltsamen Träumereien hingegeben. Einst, als wir uns zusammen besprachen, erblickten wir wiederum jenes geheimnisvolle trauernde Paar, am Ufer hinwandelnd. Doch wie sie näher kamen, sahen wir, daß sie nicht allein waren. Wer beschreibt das Entzücken Hannys, als er das schöne Mädchen mit der goldnen Krone zwischen den beiden Alten wandeln sah: gesenkten Hauptes, wie damals die herrlichen Haare aufgelöst im Winde flatternd. In ihrem bleichen Gesicht, das wir jetzt näher unterscheiden konnten, lag unendlicher Schmerz, gepaart mit einem wunderbaren fremden Liebreiz. Auch sie hob den Arm und schien uns zu winken. Ich schloß mich mit aller Kraft an meinen armen Kameraden, um zu verhindern, daß er dem verlockenden Trugbilde nicht augenblicklich folgte. Bald waren jene verschwunden. Wir eilten auf die Stelle am Ufer hin, und Hanny, der etwas mit bleichem Schimmer im Sande blinken sah, hob einen altertümlich geformten, goldenen Fingerreif auf, den er mir freudig zeigte. Ein heller, wasserblauer Stein war in das Gold gefaßt. Wie wir beratschlagten, was wir mit dem Funde beginnen sollten, erklärte Hanny leidenschaftlich, der Ring gehöre sein, er sei ein Geschenk der Geliebten, und er werde ihn fortan im Leben und Tode nicht von sich lassen. Sogleich knüpfte er auch ein rotes Band von seinem Hut los, befestigte den Ring daran und hing ihn an den Hals, indem er ihn sorgsam unter sein Kleid verbarg.

Seit dieser Zeit nun war der arme Jüngling völlig wie umgewandelt: am Tage sah man ihn gleich einem Träumenden herumwandeln, und die Abende brachte er bis spät in die Nacht hinein am Meeresstrande einsam zu, denn nicht einmal meine Gesellschaft mochte er mehr leiden. Die Mädchen im Dorfe gewahrten zuerst Hannys seltsame Krankheit. So manche war ihm gewogen, denn er war zum schönsten Burschen in der Umgegend aufgewachsen, sein Körper war schlank und biegsam, in seinen Zügen lag kecker Mut, mit zärtlicher Weichheit gepaart. Das schönste der Mädchen schrieb Hannys Herzensverwundung sich zu, und da sie nicht geneigt war, die Grausame zu spielen, so wählte sie mich zum Vertrauten, um den Trostlosen ihr zuzuführen. Als ich mit dieser Botschaft zu meinem Freunde kam, sah ich ihn zum ersten Male zornig gegen mich aufflammen. ›Wie?‹ rief er mir zu, indem er den Ring aus dem Busen zog, ›du mein Genosse und Vertrauter, bist schändlich genug, mich der schwärzesten Untreue fähig zu halten? Bin ich ihr nicht anverlobt, der süßen Geliebten? Harret sie nicht meiner dort unten in schauerlicher Einsamkeit, daß ich kommen soll, sie zu trösten, ihr herbes, unendliches Leid zu mildern?‹ Ich blickte ihm erstaunt in die Augen und schloß ihn mit Rührung in meine Arme. ›Du bist recht krank‹, rief ich, ›das einsame Grübeln taugt nicht, vergiß das seltsame Traumbild!‹

Er wandte sich von mir ab, seine Tränen flossen, ruhig ließ er mich meine Besorgnisse und Tröstungen aussprechen, dann wandte er sich zu mir, zog mich sanft zu sich auf den Uferstein und begann mit leiser Stimme: ›Thoms, dir ahnet nicht, wie mir gestern nacht geschehen. Ich saß, wie schon lange, hier einsam am Ufer, die Dunkelheit überraschte mich, und ich sank in Schlaf. Da war es mir, als erwache ich in einer Stadt, die ich zuvor nie geschaut: auf einen öden Marktplatz sah ich mich hinversetzt, rings um mich blickten altersgraue Steinbilder, die Häupter mit grünlichem Moose bedeckt, zu mir nieder. Sie trugen alle Kronen und schienen die frühern Beherrscher der Stadt zu sein. Voll Ehrfurcht und Staunen wandelte ich an ihnen vorüber, und wie ich eine enge Gasse betrete, wird mir beim Anblick eines hohen Giebelhauses plötzlich zu Sinne, als kenne ich diesen Ort, ja, als müsse ich hier recht eigentlich zu Hause sein. Jetzt wurde mir deutlich, daß ich mich unten in der Meerstadt befinde. Eine entsetzliche Angst befällt mich, weit, weit von allem Lebendigen entfernt, sehe ich mich eingeschlossen in der Stadt der Toten. Eilige Flucht schien mir das einzige Mittel, mich zu retten. Allein, wohin fliehen? Indem sehe ich das Tor des großen prächtigen Hauses offen, unwillkürlich treibt es mich, hineinzutreten. Durch leere finstere Gänge und Kammern schreite ich vorwärts und gelange in einen Saal, wo auf schwarzem Gerüste, wie es scheint, eine Leiche ausgestellt liegt; rund umher auf reichen Sesseln liegen im tiefen Schlummer prachtvoll gekleidete Gestalten, Männer und Frauen. Unter diesen fand ich auch das geheimnisvolle Paar, das wir hier haben wandeln sehen. Mich treibt es, die Gestalt auf dem Gerüste zu betrachten. Ach, es war meine Erwählte! Sie lag hier starr und kalt, das Krönlein schimmerte in ihrem Haar. Ohne zu wissen, was ich unternahm, warf ich mich, in Tränen ausbrechend, über das süße Bild und bedeckte den bleichen Mund mit glühenden Küssen. Sie erwachte, öffnete die holdseligen Augen, lebendige Röte goß sich über das schöne Antlitz aus. ›So bist du gekommen!‹ rief sie mir zu, ›dem Winke meiner Liebe hast du nicht widerstehen können! Wohl mir, du bist mein, ich bin gerettet!‹ Sie erhob sich von ihrem Lager, und indem sie, anmutig auf meine Schulter gestützt, herabschwebte, fühlte ich mich den Glückseligsten aller Sterblichen. Wir gingen jetzt im Kreis herum, und von ihrer Hand leise berührt, erwachten die Gestalten umher, und indem sie sich vor mir und meiner schönen Gebieterin beugten, ordneten sie sich zum Zuge, und wir schritten nun zum Tore hinaus. Auf dem Platze angelangt, wo die ernsten Königsbilder standen, nahm meine Geliebte eine Krone und rief, indem sie sich mit einem Kusse zu mir beugte: ›Nimm dieses, du bist jetzt der Unsrige, darum herrsche wie jene dort.‹ Sie ließ die Krone auf meine Locken sinken, und da durchfuhr ein jäher Schmerz mein Gehirn, zugleich neigten die steinernen Bilder die steinernen Antlitze, und ich hörte aus weiter Ferne eine bekannte Stimme, die mich ängstlich beim Namen rief; es war die deinige. Mein Auge suchte dich, ich blickte in die Höhe und sah oben einen Nachen schweben, in demselben dich, und in dem Momente, wie du deine Arme schmerzlich nach mir ausbreitetest, erwachte ich.‹«

»Diese Erzählung«, fuhr Thoms nach einer Pause fort, »die der arme Hanny mir vertraute, machte mich zwar nachdenklich, allein, bald suchte ich durch Scherz und Spott die seltsamen Gebilde zu verhöhnen und zu verscheuchen. ›In der Tat!‹ rief ich, ›es wäre nicht so übel, wenn du auf so leichtem Wege zu einer hübschen Frau und einem guten Hause kämest! Greife zu, teurer Freund, ehe dir beides wieder verschwindet. Du weißt, es ist nun bald der Andreastag, wo die Hochzeiten im Dorfe gefeiert zu werden pflegen, da bring uns dann auch deine Nixe, an unserer guten Aufnahme soll es nicht fehlen.‹ Der sonderbare Bursche sah mich ernst und traurig an und schwieg, wir haben nie wieder hierüber gesprochen.«

Thoms schwieg hier ebenfalls und sah fast zürnend vor sich hin, eine Pause trat ein, die den neugierigen Zuhörern höchst peinlich war. Unterdessen hatte sich der Himmel finster bewölkt, ein Wetter schien im Anzuge, und manche der Fischer, den Heimweg bedenkend, winkten ihren jungen Gefährten. Doch diese wollten von keinem Aufbruche wissen, ehe sie das Ende von Thomsens Geschichte erfahren. »Nun, Vater!« riefen sie diesem zu, »Ihr vergeßt gänzlich, uns zu sagen, weshalb ihr beide nicht mehr von dem seltsamen Abenteuer und dem noch seltsamern Traum spracht.« – »Weil«, entgegnete der Greis, »den andern Morgen der arme Hanny sich ins Wasser stürzte und seitdem nicht mehr gesehen wurde. Seht, Freunde, das ist das Ende des guten Burschen und zugleich meiner Geschichte.«