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Phabongkha Rinpoche

VERSE DER VERWIRKLICHUNG

Übersetzung aus dem Tibetischen von
Dr. Cornelia Weishaar-Günter
in Zusammenarbeit mit
S.E. Dagyab Kyabgön Rinpoche

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1. Auflage 2015

© Tibethaus Deutschland e.V.

Umschlaggestaltung: Andreas Ansmann, Elke Hessel, Christiane Hackethal Lektorat: Monika Dräger

Umschlagbild: Aus der tibetischen Ausgabe des Buches Befreiung in unseren Händen von Phabongkha Rinpoche

Bezugsadresse:

ISBN 978-3-95702-006-2

Inhalt

Einleitung von Dagyab Kyabgön Rinpoche

Kurze Biografie von Phabongkha Rinpoche (1878-1941)

Verse der Verwirklichung

Das Lied: „(Essenz) aller untrüglichen Zuflucht“

Bitten um Realisation

Unterweisungen an mich selbst

Ein Lied der Traurigkeit

Das große Leichenfeuer

An einen Lama aus Dagyab

An den Bhikshu Drakpa

An Yangdjor, den Shramana aus Ngari

Aus dem Brief an Kongpo Trärab Tulku Ngawang Losang Tenzin

Herzensrat in Verbindung mit dem Stufenweg zur Erleuchtung — Antwort auf den Brief von Trula Khenchen

Ruf an den Lama aus der Ferne — eine Melodie voller Sehnsucht, um den Segen des Lamas in seiner Untrennbarkeit mit den Drei Kayas schnell heranzuziehen

Schriftliche Empfehlungen an einen hohen Regierungsbeamten (Ausschnitt)

Empfehlungen zur Handhabung von Sitzung und Sitzungspausen

Einleitung

Dieser Text eignet sich für alle, die sich mit dem Stufenweg zur Erleuchtung (tib. Lamrim) befassen.1 Es finden sich darin Erklärungen und Ratschläge in Bezug auf Sutra und Tantra, wobei die Praxis des Sutra dem Tantra vorangehen sollte.

Ich habe diese Schriften aufgrund meiner Erfahrung als Lehrer im Westen ausgewählt, weil uns hier die ausgleichende buddhistische Kultur fehlt, in der bestimmte Vorstellungen allein durch unsere buddhistische Umwelt korrigiert werden.

So begegne ich hier im Westen vielen Menschen, die buddhistische Themen intellektuell verstanden haben und nun behaupten, großes Wissen zu besitzen. Andere erfahren gute Träume oder angenehme körperliche Reaktionen auf ihre Praxis und denken nun, sie hätten eine innere Entwicklung erreicht.

Dagegen sehe ich bei manchen gute innere Erfahrungen und eine innere Entwicklung, die sich so unspektakulär wie das Zunehmen des Mondes ereignet. Da den Betreffenden die Entwicklung zu langsam geht, merken sie gar nicht, wie gut ihre Erfahrungen eigentlich sind. Oft versinken sie in Verzweiflung und meinen, all ihre Bemühungen seien umsonst gewesen.

Andere wollen gleich etwas erreichen, ohne Zeit oder Mühe zu investieren. Sehr bald beginnen sie sich zu beklagen: „Das bringt mir gar nichts!“

Wir alle begegnen diesen Erfahrungen in unterschiedlichem Ausmaß.

Unser Autor hier — der große Phabongkha Rinpoche — war kein hochrangiger Lama von Geburt an (wie etwa der Dalai Lama, Karmapa, Sakya Trizin usw.), sondern Rinpoche einer sehr kleinen, eher unbedeutenden Einsiedelei. Er hat durch schlichtes Hören, Nachdenken und Meditieren, bzw. eine sachlich richtige Praxis, seinen hohen Ruhm erlangt.

Als erfahrener Mönch zeigt er uns hier sehr genau den Weg. Durch seine Schriften können wir erfahren, wo wir stehen und was wir erreichen können. Das kann uns große Erleichterung verschaffen. Deshalb bin ich sehr glücklich über diese Veröffentlichung des Tibethauses.

Dagyab Kyabgön Rinpoche, im Oktober 2014

1 Entsprechende Fachbegriffe werden vorausgesetzt

Kurze Biografie von Phabongkha
Rinpoche (1878-1941)

Unser Autor wurde im westlichen Teil von Lhasa geboren. Mit 4 Jahren hatte er seine erste Haarschneidezeremonie, während dessen ein Lama einige Haare abschneidet und Wunschgebete macht. Mit 7 Jahren wurde er Mönch und bekam den Namen Jampa Thinley Gyatso.2 Mit 11 Jahren wurde er vom damaligen tibetischen Regenten als Reinkarnation des Abtes von Phabongkha, Tenzin Sangpo,3 anerkannt. Phabongkha ist eine sehr kleine Einsiedelei in der Nähe des Klosters Sera. Sie ist der Ort, an dem der 33. tibetische König Songtsän Gampo seine Klausur über Avalokiteshvara durchgeführt hat. Dieser König gilt als die wichtigste Persönlichkeit, die den Dharma nach Tibet gebracht hat.

Kurz darauf bat Phabongkhapa im Gyälrong Khangtshän, einem Haus des „unteren Sera-Klosters“4 bzw. einem der drei Kollegs des Sera-Klosters um Aufnahme. Er begann damit, die gesamte buddhistische Philosophie zu studieren und legte mit 18 Jahren die Lingse5-Geshe-Prüfung ab. Mit 19 Jahren trat er in das „obere Tantra-Kloster“6 ein und studierte das gesamte Tantra. Mit 20 Jahren nahm er die Bhikshu-Gelübde. Zwischendurch studierte er Sanskrit, Dichtkunst und weitere der sog. „kleinen Wissenschaften“ wie Astrologie.

Insgesamt hatte er Dutzende maßgeblicher Lehrer, erhielt über 500 Wortüberlieferungen (Lung), 1000 Erlaubnis-Ermächtigungen,7 über fünfzig große Kommentare und knapp über 200 große Ermächtigungen8 aus unterschiedlichen buddhistischen Traditionen, nicht nur aus der Gelug-, sondern auch aus der Nyingma-, Kagyü- und Sakya-Schulrichtung. Er hörte sie nicht nur (d.h. nahm daran teil), sondern vertiefte sie in seiner Praxis.

Er selbst achtete sehr auf die Regeln. Beispielsweise stand in seinem Hauptzimmer auf dem Altar eine Statur von Dagpo Lama Rinpoche Jampäl Lhündrub Gyatso, den er besonders verehrte. Aus Respekt saß er dort niemals ohne sein Obergewand, legte sich nicht hin oder streckte etwa seine Füße aus.

Nach und nach begann er, immer mehr Unterweisungen zu geben. Nach den Regeln des „oberen Tantra-Kollegs“ musste er nach seinem Studienabschluss noch ein Jahr dort bleiben, ohne aber an Versammlungen teilnehmen zu müssen. Danach jedoch kehrte er nach Phabongkha zurück, wohin nun Schüler von weither pilgerten. Es gab zur damaligen Zeit kaum einen Gelugpa, der nicht Schüler von Phabongkha Rinpoche gewesen wäre. Darunter zählten auch beide Lehrer des Dalai Lama, viele große Lehrer, die nach weiteren Ermächtigungen und Kommentar-Unterweisungen suchten und sehr viele Schüler, die sich später zu Lehrern entwickelten.

Unter anderem arbeitete er auch als tibetischer Arzt und musste dabei beispielsweise den Urin der Patienten auf die Zunge nehmen und ihn ohne jeden Ekel nach Farbe, Geruch und Geschmack testen.

Insgesamt drei Jahre verbrachte Phabongkha Rinpoche in Osttibet, und auch dort wurde er durch seine Unterweisungen sehr bekannt. Da das Klosterleben in der Region teilweise sehr degeneriert war, sorgte er dafür, dass die Mönche aufhörten, z.B. Alkohol zu trinken oder Tiere für sich töten zu lassen. Das galt theoretisch nur für seine eigene Gelug-Tradition, hatte jedoch auch Auswirkungen auf andere Schulrichtungen.

1919 vergab die tibetische Regierung den Auftrag für eine Neuausgabe des Kangyur. Dabei wirkte Phabongkha Rinpoche wesentlich mit und erstellte dafür insbesondere den Katalog.

Oberhalb von Phabongkha ließ er die Tagten9-Einsiedelei und daneben seine persönliche Unterkunft Tashi Chöling10 mit circa 100 Mönchen errichten. Während der Zeit in Tashi Chöling hatte er pausenlos Besucher und versuchte, ihre Wünsche ohne Zeitdruck zu erfüllen. Manche Unterweisungen waren z.B. für 12 Uhr geplant, aber aufgrund der Besucher musste er später beginnen. Dafür dauerten seine Unterweisungen dann nachts länger, weil diese nie verkürzt wurden. Obwohl er klein und korpulent war, wirkte er auf dem Thron majestätisch. Es wird beschrieben, dass man sich in seinem Zimmer sehr wohl fühlte — so, als wolle man für immer bei ihm bleiben.

Zwischendurch fertigte er eigenhändig Tsa-tsas aus Ton. Diese mussten rausgetragen und getrocknet werden, bevor sie wieder zur Segnung zu ihm gebracht wurden. Einmal ging sein Schreiber Gän Losong Dorje11 zu früh zurück in Phabongkha Rinpoches Zimmer, so dass die Segnung noch nicht abgeschlossen war. Sein Schreiber sah, wie die teilweise runden Tsa-tsas entgegen aller gewöhnlicher Erfahrungen aufrecht standen. Phabongkha Rinpoche gefiel es gar nicht, dass sein Schreiber hiervon Zeuge geworden war.

Bei seinen Unterweisungen sprach er ganz normal, aber aus der Entfernung hörte es sich lauter an, ohne dass er besondere Stimmübungen dafür gemacht hätte. Somit war seine Reichweite sehr groß.

An Bettler verteilte er oft Tsampa (Gerstenmehl), Geld oder Kleidung. Insgesamt verfasste er 12 Textbände. Er verstarb mit 64 Jahren.

2 tib. Byams-pa Thin-las rGya-mtsho

3 tib. bsTan-´dzin bZang-po

4 tib. Se-ra smad

5 tib. gLing-bsre

6 tib. rgyud-stod

7 tib. rjes-gnang

8 tib. dbang-chen

9 tib. rtag-brtan

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