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S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche

Aus dem Herzen gesprochen

Juwelen der
alten Kadam-Meister

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Atisha-Statue mit dem Namen Jowo Je Ngadrama (= sieht aus wie ich) aus dem Tara-Tempel (Drölma Lhakhang) in Nyethang. Als Atisha diese Statue sah, sagte er, dass sie aussähe wie er.

1. Auflage 2015

© Tibethaus Deutschland e.V.

Umschlaggestaltung: A. Ansmann, E. Hessel, C. Hackethal, Satz: A. Ansmann

Bezugsadresse:

ISBN 978-3-95702-005-5

Inhalt

Vorwort

Zur Person von Dagyab Kyabgön Rinpoche

Unterweisungen von Atisha

• an den König Lha Lama Jangchub Ö

• an Dromtönpa, Khutön Tsöndrü und Ngog Legpäi Sherab

• an Ölgöpa Yeshe Bar

Aus dem Leben der alten Kadam-Meister

Einleitung

Aus dem Leben des Atisha

Aus dem Leben des Dromtönpa

Aus dem Leben des Lotsawa Loden Sherab

Aus dem Leben des Gönpawa

Aus dem Leben des Ben Gunggyäl

Aus dem Leben des Kharag Gomchung

Aus dem Leben des Ne‘u Surpa

Aus dem Leben des Langri Thangpa

Die Acht Verse des Geistestrainings mit Kommentar

Aus dem Leben des Gyergompa

Vorwort

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beinhaltet Unterweisungen, die S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche im Mai 2011 über verschiedene kürzere Texte des Meisters Atisha gegeben hat.

Zunächst bezieht sich Rinpoche auf die letzte Unterweisung, die Atisha auf Bitten des Königs Lha Lama Jangchub Ö in Tibet erteilt hat. Es handelt sich um einen in sich abgeschlossenen Text ohne spezifischen Titel. Als Ergänzung geht Rinpoche außerdem auf einige Fragen und Antworten zwischen Atisha und seinen Hauptschülern Dromtönpa, Khutön Tsöndrü und Ngog Legpäi Sherab, sowie eine Belehrung Atishas an Ölgöpa Yeshe Bar ein.

Alle Drei stammen aus einer Sammlung von Unterhaltungen der Kadam-Meister — bKa’-gdams-kyi skyes-bu dam-pa rnams-kyi gsung-bgros thor-bu-ba (tib.; Blockdruck, Lhasa, Ohne Datum). Sie wurde von Ce Gompa (tib.: lCe sgom-pa), einem bekannten früherer Lehrer, zusammengestellt.

Der tibetische Originaltext wurde von Rinpoche direkt während der Unterweisungen als Paraphrase ins Deutsche wiedergeben.

Der erste dieser drei Texte hatte für Rinpoche eine besonders wichtige Bedeutung. Er erinnerte sich in Dankbarkeit an den Kommilitonen in der Klosteruniversität in Tibet, der ihm diesen Text schenkte und wie durch diese Lektüre sein Interesse am Buddhismus erst richtig wachgerufen wurde.

Die Aussagen von Atisha beinhalten lebensnahe Ratschläge sowohl für den Alltag als auch für die formelle Dharma-Praxis, die Rinpoche mit wertvollen Berichten aus seiner Lebensgeschichte und vielen persönlichen Erfahrungen ergänzt und zugänglich macht. Sie ermutigen uns, unsere eigene geistige Haltung auf den Prüfstand zu stellen und wenn nötig in eine neue Richtung zu lenken.

Der zweite Teil beinhaltet drei Publikationen, die schon einmal als eigenständige Broschüren veröffentlicht wurden. Es sind Geschichten „Aus dem Leben der alten Kadam-Meister“, die Rinpoche seit Mitte der 80er Jahre im Rahmen verschiedener Unterweisungen erzählt hat. Die Vorbemerkungen von Dr. Cornelia Weishaar-Günter aus dem Jahr 1991 wurden in Rücksprache etwas gekürzt und den Biographien vorangestellt.

Beide Teile wurden aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu einem Band zusammengefasst. Mit den Juwelen der alten Kadam-Meister sind somit sowohl die Unterweisungen von Atisha und der ihm nachfolgenden Kadam-Tradition ab dem 11. Jahrhundert in Tibet gemeint, als auch die Meister selbst, die uns mit ihrer Lebensgeschichte als Vorbilder inspirieren können.*

Dieses Buch wäre ohne die tatkräftige Hilfe folgender Personen nicht möglich gewesen. Ihnen gilt ein besonderer Dank: Gisela Behr, Anna Bremm, Elena Läßle, Sabine Leuschner, Barbara Rasch.

Tibethaus Verlag, Andreas Ansmann
Frankfurt, den 9.10.2015

* Das Wort Kadam (tib. bKa'-gdams) leitet sich folgendermaßen her: Ka = Buddha-Wort und dam = Unterweisung. D.h. alle Worte des Buddha sind als direkte Unterweisungen zu verstehen, die wir in die Praxis umsetzten sollen. Ausführlicher zum Hintergrund der Kadam-Tradition in der Einleitung zu den Biographien S. 77-87.

Zur Person von
Dagyab Kyabgön Rinpoche

S. E. Dagyab Kyabgön Rinpoche wurde 1940 in Minyak, Osttibet, in einer Bauernfamilie geboren und im Kleinkindalter als hohe Reinkarnation entdeckt. Als Kyabgön — „Schutzherr“ — von Dagyab ist er, wie schon seine Vorgänger seit dem 17. Jahrhundert, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Region Dagyab in Osttibet und gehört als „Hothogthu Nomonhan“ zu der Gruppe der ranghöchsten Tulkus. Er ist der einzige Hothogthu, der im Westen lebt. Rinpoche absolvierte das traditionelle Studium der buddhistischen Philosophie an der Klosteruniversität Drepung in der Nähe von Lhasa. Er gehört der Gelugpa-Tradition an, die auf den großen Meister Lama Tsong Khapa (1357—1419) zurückgeht und hat den Grad eines Geshe Lharampa. Darüber hinaus hat er viele Unterweisungen der Shangpa-Kagyü-Tradition und der Sakya-Tradition erhalten. 1959 floh er zusammen mit S. H. dem Dalai Lama nach Indien, wo er u.a. das Tibet House in New Delhi leitete.

Nach Deutschland kam Rinpoche 1966 auf Einladung der Universität Bonn, wo er bis 2004 als Tibetologe (Schwerpunkt: Tibetische Kunst und Ikonographie) arbeitete. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und mittlerweile fünffacher Großvater.

Seit 1984 ist er auch im Westen als buddhistischer Lehrer tätig. Rinpoche ist der spirituelle Leiter des Tibethaus Deutschland e.V.

Unterweisungen von Atisha

Unterweisungen von Atisha an den
König Lha Lama Jangchub Ö

Der indische Meister Atisha wurde im 11. Jahrhundert nach Tibet eingeladen. Er kam zunächst über Nepal nach Ngari, Westtibet, wo er drei Jahre lang weilte. Später gelang es seinem Schüler Dromtönpa und anderen tibetischen Meistern, ihn mit großen Mühen und geschickten Methoden nach Zentraltibet zu bringen. Eigentlich hätte Atisha nach seinem dreijährigen Aufenthalt in Westtibet nach Indien zurückkehren müssen. Der tibetische Übersetzer Norsang Lotsawa, der Atisha nach Tibet geholt hatte, hatte versprochen, Atisha nach drei Jahren wieder zurückzubringen. Zuerst hatte er Atisha gedrängt, nach Tibet zu kommen. Kurz vor Ablauf der dreijährigen Frist drängte er ihn jedoch aufgrund seines Versprechens, doch wieder nach Indien zurückzugehen. Sie befanden sich also schon wieder auf dem Weg nach Indien, als ihn der tibetische König Lha Lama Jangchub Ö inständig bat: „Bitte gib uns noch eine Unterweisung.“ Atisha antwortete: „Ich habe euch schon viele gegeben.“ Doch der König beharrte auf seiner Bitte, und daraufhin verfasste Atisha diesen Text, den ich nun durchgehen möchte.

Zunächst möchte ich berichten, wie ich diesen Text erhalten habe.

Im Alter von 14 Jahren kam ich von meiner Heimat in Osttibet nach Zentraltibet, um an der Klosteruniversität Drepung, der größten Klosteruniversität der Welt, zu studieren. Drepung beherbergte damals offiziell 7.700 Mönche, aber in Wirklichkeit studierten dort um die 9.000 Mönche. Nach dem Unterricht mussten wir Studenten die behandelten Texte auf dem Disputationsplatz diskutieren. Das Zuhören allein genügte nicht, wir mussten „face to face“ darüber debattieren. Ohne Debatte war das Studium nicht sorgfältig genug. Wir mussten uns immer wieder mit den studierten Texten und Erklärungen auseinandersetzen, uns selbst weiterführende Gedanken machen und den Kopf darüber zerbrechen: „Was spricht dafür? Was spricht dagegen?“ Das mussten wir immer wieder miteinander diskutieren. Theoretisch bestand freie Wahl, mit wem wir diskutierten, und die Diskussionspartner wurden auch immer wieder gewechselt. Von meinem Charakter her gesehen, war ich aber sehr scheu. Außerdem war ich gerade frisch aus Osttibet gekommen, wo ich bis zum 14. Lebensjahr sehr isoliert, ohne Spielkameraden und nur von erwachsenen Begleitern umgeben, gelebt hatte. In Drepung angekommen, musste ich dann gleich ins kalte Wasser springen. Umgeben von Tausenden von Mönchen und vielen anderen Rinpoches war es für mich nicht so einfach, meine Scheu zu überwinden und mir die nötige Offenheit zu verschaffen. Das hat mich sehr viel Überwindung gekostet. Aufgrund meiner Scheu war es mir nicht möglich, auf jeden Mitstudenten zuzugehen und mit ihm zu debattieren. Glücklicherweise fand ich schließlich jemanden, mit dem ich diskutieren konnte. Viele andere zeigten mir (als Rinpoche) gegenüber sehr große Ehrfurcht und Respekt. Das machte es für mich nur noch schwieriger. Wenn wir ganz geradeheraus, auf Augenhöhe kommuniziert hätten, wäre es mir leichter gefallen. Wenn mein Gegenüber mir aber mit zu viel Ehrfurcht und Respekt begegnete, dann zog ich mich noch mehr zurück, und es fand keine Begegnung statt. Es gab aber einen jungen Mönch, der war ziemlich ungeniert, und das hat mir sehr geholfen. Jedes Mal, wenn ich zum Disputationsplatz ging, suchte ich sofort nach ihm, und wenn ich ihn fand, hielt ich ihn fest. Dann haben wir zusammen diskutiert, und wir sind sehr gut vorangekommen. Er hat gleich gemerkt, dass ich innerlich Probleme hatte, abgelenkt war und nicht so intensiv studierte. Deshalb hat er mir diesen kurzen Text von Atisha einmal kommentarlos geschenkt.

Zuhause habe ich ihn immer wieder gelesen, und ich muss wirklich sagen, dass mir dabei die Tränen geflossen sind. Es ging mir an die Substanz und in die Tiefe hinein. Damals habe ich richtig verstanden, was Buddhismus ist. Dieses Geschenk war also das Geschenk meines Lebens. Es ist ein ganz kleiner Text, der mir kommentarlos einfach so gegeben wurde, aber er hat mir sehr genutzt. Ich konnte auch fast alles verstehen, was Atisha darin gesagt hat. Damals ist mein Interesse am Dharma richtig erwacht. Dadurch bin ich auch wacher und interessierter geworden, um neben dem philosophischen Studium auch Lamrim und den gesamten Buddhismus zu studieren. Das war ein großartiges Erlebnis. Jedes Mal, wenn ich diesen Text lese oder in die Hand bekomme, erinnere ich mich an den Mönch, an seine Güte und an seine große Unterstützung.

Nun möchte ich mit der Erläuterung des Textes beginnen. Atisha hat Folgendes zum König Lha Lama Jangchub Ö gesagt:

Du hast ein hohes Wissen, deine Gedanken sind sehr klar, deshalb bin ich eigentlich nicht in der Lage, Freunden wie dir und vielen anderen auch noch einen Rat zu geben, weil ich selbst nicht dazu fähig bin. Meine Gedanken sind so niedrig, dass ich nicht in der Lage bin, euch einen großartigen Rat zu geben. Aber weil du es bist, ein von Herzen geschätzter, vortrefflicher Freund, weil du mich inständig gebeten hast, nochmals etwas zu sagen, deshalb will ich, eine Person mit begrenztem Geist, versuchen, meine Gedanken zu formulieren und einen Rat zu geben, um dich ein bisschen zu unterstützen. Freunde, solange man Buddhaschaft nicht erlangt hat, benötigt man einen Lehrer. Deshalb nehmt einen vortrefflichen Lehrer an. Solange man die Wahrhaftigkeit des absoluten Zustands nicht verstanden oder nicht erkannt hat, benötigt man „Hören“, d.h. Studium, deshalb hört euch die Unterweisungen von eurem Lama an.

Viele von uns, einschließlich der Tibeter, fallen bezüglich des Dharma-Studiums in eines der beiden Extreme: Ein Extrem ist, dass wir zu jedem Lehrer rennen, der über Dharma spricht oder Einweihungen gibt, und Dharma konsumieren, ohne etwas für uns zu behalten oder tiefer zu verinnerlichen. Das ist eindeutig falsch. Ebenfalls eindeutig falsch ist es, wenn man Genügsamkeit über das Dharma-Hören übt, indem man sich mit dem begnügt, was man bereits gehört hat. Man kultiviert also eine innere Haltung, dass man bereits genug Dharma gehört hat: „Ich bin seit so und so vielen Jahren bei diesem und jenem Lehrer mit großartigem Namen; von diesem habe ich das bekommen, von jenem habe ich das bekommen und vom nächsten habe ich das bekommen. Jetzt habe ich genug und gehe zu keinen wichtigen Unterweisungen mehr.“ Man geht also nicht mehr zu Unterweisungen von guten Lehrern wie S. H. Dalai Lama oder S. H. Sakya Trizin oder anderen guten Lehrern, sondern behauptet, dass man bereits genug Wissen erlangt hat. Das ist falsch.

Solange man Buddhaschaft nicht erreicht hat, benötigt man einen Lehrer. Deshalb nehmt einen guten Lehrer, einen vortrefflichen Lehrer an.

Was bedeutet es, ein „vortrefflicher Lehrer“, „guter Lehrer“ zu sein? Wie merke ich das? S. H. der Dalai Lama hat öfters ein schrittweises Vorgehen empfohlen. Zunächst besucht man Seminare oder Vorträge bei einem Dharma-Redner und betrachtet diesen als Dharma-Freund, ohne eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufzubauen. Man hört einfach nur mal zu. Durch dieses Hören und auch durch die Information von anderen Menschen kann man zu der Überzeugung kommen, dass dieser Lehrer ein guter Lehrer sei. Wenn man überzeugt ist, dass dieser Lehrer ein guter Lehrer ist, dann soll und kann man eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufbauen.

Ein guter Lehrer oder eine gute Lehrerin sollte folgende Eigenschaften besitzen:

1. Er soll ein guter Mensch sein, das ist wichtig.

2. Er soll mehr Wissen haben als man selbst, denn wenn ich einen Lehrer annehme, dann will ich von ihm Überlieferungen erhalten oder zumindest will ich etwas von ihm lernen. Deshalb muss er oder sie mehr Wissen haben als ich. Wenn ich mehr Wissen habe als der Lehrer, dann bin ich nicht auf seine Hilfe angewiesen. In der traditionellen Erklärung sagt man, der Lehrer muss selbst viel „gehört“, also Dharma studiert haben.

3. Der Lehrer soll nicht gierig sein. Er soll kein Interesse an weltlichen Dingen und finanziellem Profit haben. Das ist ein wichtiger Punkt.

Aus der Sicht des Sutra, Tantra, Vinaya, Bodhisattvayana gibt es verschiedene Aufzählungen der Qualitäten eines Lehrers. Es hängt davon ab, was ich jetzt gerade lernen möchte. Wenn ich die 900 Regeln der Mönchsdisziplin bzw. Vinaya lernen möchte, dann muss der Lehrer eine andere Qualität haben als ein Lehrer für Tantra oder Sutra. Wie schon gesagt, ist es besonders wichtig, ein guter Mensch zu sein. Das bedeutet, dass man andere Menschen wichtiger erachtet als sich selbst. Darüber hinaus soll die Person mehr Wissen haben und keine weltlichen oder finanziellen Interessen.

Solange man den absoluten Zustand nicht erkannt hat, benötigt man das Hören (Studieren). Daher hört euch Unterweisungen von den Lehrern an.

Hier geht es um die Leerheit. Wir müssen die Leerheit, den absoluten Zustand aller Phänomene (sowohl der Personen als auch aller anderen Phänomene) richtig erkannt haben. Dabei sind Verstehen und Erkennen für mich zwei verschiedene Dinge. Zunächst müssen wir das Thema ein bisschen verstehen, und später erlangen wir dann echte Erkenntnis darüber. Um diese Erkenntnis zu erlangen, benötigt man das Studium. Das bedeutet, dass man viel darüber hört, liest und nachdenkt. Das beste Hören geschieht nicht im Sinne eines „do-it-yourself“-Studiums, sondern durch das Studieren der Erklärungen eines guten Lehrers. Deshalb brauchen wir die Unterweisungen des Lehrers.

Nur durch das Verstehen des Dharma erlangt man keine Buddhaschaft. Deshalb genügt es nicht, nur zu verstehen, sondern man muss den Dharma praktizieren.

Hier besteht für uns eine große Gefahr. Dies gilt besonders auch für die Nonnen, Mönche und heutzutage auch für die Laien, die in den großen Institutionen buddhistische Philosophie studieren, und auch für die großen Geshes* und die großen Rinpoches mit hohen Titeln und hohem Rang. Viele von ihnen, so sage ich ganz vorsichtig, haben großes Wissen, aber keine richtige Erkenntnis über die buddhistische Bedeutung. Deshalb ist es ihnen nicht gelungen, das, was sie gelernt haben, mit ihrem Geist zu vermischen und in ihrem Geist zu verarbeiten. Sie haben, so gesehen, nicht richtig praktiziert. Leider ist es so.

Ich habe den Eindruck, dass Westler sehr oft falsche Vorstellungen haben. Viele Westler haben zu hohe Erwartungen an die großen Rinpoches, an die großen Geshes oder an die guten Studenten in den Klosteruniversitäten. Sie denken, dass sie sehr gute Menschen sein müssten, weil sie so lange dort studiert haben. Sie waren zwar sehr lange dort, aber das bedeutet nicht, dass sie dadurch auch gute Dharma-Praktizierende sind. Keineswegs! Je mehr Wissen jemand hat und je bekannter und berühmter jemand ist, desto stärker und größer wird sein Ego, und die Person denkt dann ungefähr so: „Ich bin derjenige, der …“ Das klingt leider abwertend, aber es ist relativ häufig so. Dadurch gibt es viele Probleme: Jähzorn, sehr starke Anhaftung, Egoismus und insbesondere Überheblichkeit. Ich als Tibeter im Westen, der von außen her seinen Kulturkreis betrachtet, habe häufig sofort den Unterschied beobachten können, wie sich ein Geshe vor und nach seiner Ernennung zum Abt benimmt, wie er z.B. läuft oder reagiert. Das wirkte alles sehr überheblich und stolz.

Ich habe mich auch mit einem großen Meister darüber unterhalten. Unter seiner Schülerschaft gibt es einen hervorragenden Gelehrten, der aber sehr viele Probleme verursacht und mit den anderen Schülern und Mitarbeitern überhaupt nicht zurechtkommt. Deshalb überlegte man, was man mit ihm machen soll. Zufälligerweise bat ein buddhistisches Zentrum in Taiwan um einen Lehrer, und man entschied: „Das ist die Chance, jetzt schicken wir ihn nach Taiwan.“ Aber auch dort verkrachte er sich mit den Mitarbeitern des Zentrums. Daraufhin sagte das Zentrum in Taiwan: „Nein, den brauchen wir nicht, bitte nehmt ihn zurück.“ Aber man hat ihn nicht zurückgenommen, so dass er jetzt irgendwo in Nepal ohne Ziel und ohne Stellung herumläuft. Und der große Meister, der mit mir darüber sprach, sagte: „Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Er hat so lange studiert und so viel Wissen erlangt. Warum kann er seinen Geist nicht zähmen, so dass er zumindest etwas sanfter wird? Weshalb muss er überall streiten und Unruhe erzeugen?“

Ich habe früher schon einmal die folgende Begebenheit erwähnt, die mir mein Assistent aus Mundgod in Südindien erzählt hat. Es gab dort einen älteren Mönch, der keine Philosophie studiert hatte. Als er seinen Rundgang auf dem Klostergelände machte, kamen einmal einige junge Mönche vorbei und haben ihn geschubst, so dass er in den Graben fiel. Er wurde aber überhaupt nicht wütend. Er ist langsam aufgestanden, hat den Staub von seiner Robe geklopft, sich auf eine Bank gesetzt und über diesen Vorfall nachgedacht: „Die jungen, frechen Mönche haben mich als älteren Mönch respektlos geschubst, aber ich bin überhaupt nicht wütend geworden, es hat mich gar nicht gestört. Warum nur?“ Dann ist es ihm eingefallen: „Weil ich keine Philosophie studiert habe. Wenn ich buddhistische Philosophie studiert hätte, wenn ich unglücklicherweise einen besseren Verstand hätte, dann wären auch mein Ego, meine Überheblichkeit und mein Stolz stärker. Dann hätte ich ganz bestimmt Ärger erzeugt. Zum Glück habe ich dieses Studium nicht gemacht und bin deshalb auch nicht wütend geworden.“ Ja, so kann es passieren!

Die Westler idealisieren die tibetischen Mönche und Nonnen und überhaupt die Tibeter. Sie denken: „Alle Tibeter sind heilig und kommen aus dem Land der Schneeberge und sind total mit Avalokiteshvara verbunden. Der Dalai Lama ist der lebendige Avalokiteshvara, und er läuft mit mindestens vier Armen herum usw.“ Das ist alles übertrieben. „Be down to the earth.“ Bodenständig zu sein ist besonders wichtig und eine große Hilfe. Man muss das richtige Maß finden.

Das ist natürlich kein speziell tibetisches Problem, sondern ein Problem der Menschen im Allgmeinen. Ich kenne in meinem Fachbereich Tibetologie viele Professoren und Doktoren. Weil sie eine Doktorarbeit geschrieben haben, haben sie auch ihr besonderes Ego und können das Wissen, die Bücher, die Darlegungen und Auffassungen von anderen nicht so leicht akzeptieren. Da gibt es dann viele gleichartige Probleme.

Deshalb genügt es nicht, Dharma nur zu hören und zu verstehen, sondern man muss ihn in die Praxis umsetzen, d.h. den Dharma mit dem eigenen Geist vermischen. Wenn Dharma-Gedanken und normale Alltagsgedanken auseinandergehen, dann hat überhaupt keine Dharma-Praxis in mir stattgefunden. Meine Gedanken müssen den Dharma-Gedanken entsprechen, so dass es in mir nur Dharma-Gedanken gibt. So muss es sein. Dharma-Gedanken bedeutet nicht, dass man sich immer in Meditation befindet, in einem halb abgehobenen Zustand und in der Luft schwebend, so dass die Füße so gut wie nie den Boden berühren. Darum geht es nicht. Tatsächlich sind Dharma-Praxis und Dharma-Gedanken sehr lebendig, sehr down-to-earth, sehr bodenständig, alles im Wachzustand, im Beobachtungszustand, nicht nach außen, sondern nach innen. Zu prüfen: „Was mache ich? Wie mache ich es? Warum mache ich es?“ Diese Auffassung ist außerordentlich wichtig.

Halte dich von Dingen fern, die deinen Geist stören, die deiner geistigen Haltung nicht helfen.

Solange du keine Stabilität erlangt hast, suche Plätze auf, an denen du heilsame Erfahrungen sammeln kannst.

In meinem Alltag soll ich alle unheilsamen Umgebungen vermeiden. Wo immer es ein heilsames Umfeld gibt, soll ich versuchen, dies anzunehmen. Ablenkungen sind für mich ein großes Hindernis, weil ich selbst instabil bin. Deshalb ist jede Art von Aufregung und Ablenkung sehr schädlich.

Vermeide die Freunde, die in dir geistige Gifte hervorrufen. Nehme jene Freunde an, die in dir heilsame Gedanken und heilsame Erfahrungen erzeugen. Halte dies in deinem Herzen fest.

Die Arbeit geht nie zu Ende, es gibt immer etwas zu tun. Deshalb fange nicht mit zu vielen verschiedenen Arbeiten an. Alles, was du angefangen hast, führe zu Ende.

Wir tendieren häufig dazu, hier und dort etwas anzufangen, unsere Nase überall ein bisschen hineinzustecken und nichts vernünftig zu machen. Wir finden dieses und jenes interessant, fangen überall etwas an und mischen uns ein. Aber irgendwie wird nichts davon vernünftig und gründlich weitergemacht. Deshalb soll man damit aufhören, zu viele Arbeiten anzufangen, die man nicht zu Ende bringen kann.

Beobachte immer deine Gedanken.

Das bedeutet, beobachten im Sinne von anschauen. Was entsteht in meinen Gedanken? Wie entstehen meine Gedanken? Was will ich mit meinen Gedanken erreichen oder bezwecken? Das will ich beobachten, und darauf will ich meine Aufmerksamkeit richten.

Es gibt eine weitere Formulierung, die in unserem jetzigen zeitlichen Kontext etwas schwierig zu verstehen ist. In der früheren tibetischen Gesellschaft war sie aber eindeutig. Hier wird gesagt:

Wenn du von Herzen entsprechend dem Dharma praktizierst, wird für deine Nahrung und für deinen Lebensunterhalt nebenbei gesorgt.

Das bedeutet, dass du alles bekommst. Es ist nicht nötig, dass du dich um deine Lebensgrundlage kümmerst. Wenn du wirklich im Sinne des Dharma handelst, dann bist du versorgt, auch mit Nahrung. Diese Formulierung bezieht sich insbesondere auf die damaligen Lebensumstände in der tibetischen Gesellschaft.

Noch ein Beispiel aus dem Klosterleben: Meine beiden philosophischen Lehrer hatten wirklich eine sehr schwierige Zeit während ihres Studiums und mussten mehrere Tage ohne Tsampa auskommen. Tsampa ist geröstetes Gerstenmehl. Auf Deutsch würde das bedeuten, ohne Brot und Kartoffeln auskommen zu müssen. Ohne Tsampa kann eigentlich kein Tibeter überleben. Meine Lehrer hatten also mehrere Tage lang nichts zu essen. Vielleicht haben sie manchmal von benachbarten Mönchen ein paar Löffel Tsampa, etwas Tee oder heißes Wasser bekommen. Manchmal haben sie diese paar Löffel Tsampa in kaltes Wasser getan, um einen ganz dünnen Brei zu machen und ihn zu trinken. So war ihre Lebensweise. Zum Schluss wurden meine Lehrer immer bekannter durch ihr gutes Studium.

Beim Ablegen der Geshe-Prüfung muss man eine feierliche Zeremonie ausrichten, womit auch materielle Gaben an das Kloster und an die Mönchsgemeinde verbunden sind. Zu diesem Zeitpunkt erhielten meine Lehrer viel finanzielle Unterstützung von den Adligen und anderen reichen Familien. Jetzt lag das Problem darin, dass jeder sie gerne unterstützen wollte. Es kamen sehr viele Gönner, und sie hatten die Schwierigkeit, von welchen Gönnern sie die Unterstützung annehmen sollten. Das ist ein Beispiel dafür, dass die finanziellen oder äußerlichen Rahmenbedienungen letztendlich kein Problem sein werden, wenn man sich wirklich gut auf den Dharma stützt. Ein anderes Beispiel ist mein wichtiger Lehrer Trehor Kyorpön Rinpoche Losang Dargye*