Zum Buch:

Als Gillian, die Enkelin seines Bosses, auf der Ranch ankommt, ist Blake überwältigt. Er weiß, er würde alles tun, um sie und ihren kleinen Bruder zu beschützen. Was sie jetzt braucht, ist ein Ort, an dem sie vergessen kann, was in den letzten Wochen passiert ist. Einen Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlt und endlich frei sein kann. Blake hofft, dass die Ranch ihres Großvaters in Montana genau dieser Ort für sie ist. Doch er spürt auch, dass es ihr schwerfällt zu vertrauen und dass er alles daransetzen muss, ihr dabei zu helfen, ihr Glück zu finden.

„Eine berührende Geschichte über eine Frau, die erst durch die Liebe erkennt, welche Stärke wirklich in ihr schlummert.“

Romantic Times Magazine

 

Zur Autorin:

Jennifer Ryan lebt mit ihrer Familie in der San Francisco Bay Area. Wenn sie nicht gerade an einem ihrer Bücher schreibt, liest sie. Ihre Leidenschaft für Bücher in jeglicher Form lässt sie manchmal alles um sie herum vergessen. Und wenn sie dann einmal ihre Fantasiewelten verlässt, findet man sie meist in ihrem Garten. Selbst dort ist sie in Gedanken noch immer bei den Menschen, die nur in ihrem Kopf existieren, bevor sie sie für ihre Leser auf dem Papier zum Leben erweckt.

 

 

 

Lieferbare Titel:

Montana Dreams – So ungezähmt wie das Land

Jennifer Ryan

Montana Dreams –
So wild wie das Leben

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Milena Schilasky

 

 

 

 

 

 

 

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MIRA® TASCHENBUCH

 

 

 

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Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
When It’s Right
Copyright © 2015 by Jennifer Ryan
erschienen bei: Avon Books,
an Imprint of HarperCollinsPublishers

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Umschlagabbildung: Harlequin Books S.A.
Redaktion: Christiane Branscheid

ISBN eBook 978-3-95649-966-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit
lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Für meine Mutter, ich liebe dich.

Für Tante Jean, die ihre Jungs liebt, einschließlich ihres eigenen Justin. Danke für eure Unterstützung und Liebe.

Für all die Mütter da draußen, die sich um Kinder kümmern und sie lieben, ob es nun ihre eigenen sind oder nicht.

1. Kapitel

San Francisco, Kalifornien

„Hilfe!“

Gillian kam spät von ihrer Schicht als Tellerwäscherin im Jade Palace und rannte die Treppen hoch, so schnell sie nur konnte. In der zweiten Etage angekommen, bog sie rechts ab und stürmte den Flur entlang, vorbei an ihrer offenen Wohnungstür und weiter in Richtung von Mrs. Wicks Wohnung am Ende des Flurs. Sie konnte ihre Schreie schon von draußen hören – es war auch nicht das erste Mal, aber bei Gott, wenn ihr Vater Justin auch nur ein Haar krümmte, würde sie ihn umbringen.

„Ich rufe die Polizei!“, drohte Mrs. Wick, die Babysitterin, so lauthals, dass es durch den ganzen Flur hallte.

„Er ist verdammt noch mal mein eigen Fleisch und Blut!“, brüllte Gillians Vater daraufhin.

Gillian stürzte in die Wohnung und sah Justin. Er hielt seinen Arm fest, drückte ihn gegen seinen Körper und hatte Tränen in den Augen, schien ansonsten aber unverletzt zu sein. Gillian musterte ihren Vater, um die Situation einzuschätzen. Außerdem fragte sie sich, welche irrsinnige Idee er wohl nun wieder hatte und wie ihre Chancen standen, ihn davon abzubringen. Er trug dieselben Klamotten wie vor vier Tagen, als er wegging. Seine Haare hingen fettig und zerzaust herab. Er stank nach Whiskey, Zigaretten- und Marihuana-Qualm, gemischt mit beißendem Körpergeruch. Der irre Blick in seinen blutunterlaufenen Augen verriet, dass er seit Längerem nicht mehr richtig geschlafen hatte. Wahrscheinlich war er seit Tagen in einem Dauerrausch auf Meth. Bald würde er seinen Sinn für die Realität komplett verlieren und noch mehr Drogen brauchen, nur dass selbst die ihm nicht mehr helfen würden, da er seinen Körper schon überstrapaziert hatte. Er würde abstürzen. Sein Körper würde das nicht länger mitmachen und ihn für ein, zwei oder sogar drei Tage in Tiefschlaf versetzen. Dann würde er wieder aufwachen, sich elend fühlen und mehr von genau dem Zeug wollen, das ihn in diesen Zustand gebracht hatte.

Gillian war frustriert und wütend, aber gleichzeitig war es ihr auch irgendwie gleichgültig – immer wieder dieselbe Leier. Sie war entschlossen, auch diese Nacht zu überstehen wie so viele Nächte zuvor. Ein Kind mit wenig Geld aufzuziehen ließ ihr kaum andere Möglichkeiten, und erst recht keine guten. Ihr Vater bewegte sich nur ruckartig, kratzte sich mit seinen dreckigen Fingernägeln an den Armen, den Beinen und am Nacken. Er klatschte sich auf den Schenkel und fing an, in seine Fingerkuppen zu beißen. Alles Zeichen dafür, wie sehr er in seinem Rausch gefangen war. Nicht gut.

Sie versuchte, ihn mit ruhiger Stimme zu beschwichtigen: „Dad, komm jetzt. Lass uns nach Hause gehen. Ich mache dir was zu essen.“ Wie ein Pulverfass könnte er jeden Moment in die Luft gehen. Jede Kleinigkeit könnte der Auslöser dafür sein. Justin kauerte währenddessen auf der Couch und beobachtete das Geschehen aufmerksam. Er wagte nicht, sich zu bewegen, aus Angst, die Aufmerksamkeit von Gillians Vater auf sich zu ziehen. Er war zwar erst sechs Jahre alt, wusste aber schon ganz genau, wie diese Spiele funktionierten.

Mrs. Wick verzog sich in die Küche und überließ es Gillian, ihren Vater aus der Wohnung in ihre eigene zu bekommen. Sie hatte es ja sonst auch geschafft. Normalerweise wäre er sowieso zu ihr gekommen, aber sie war bei der Arbeit gewesen, daher fand er Justin allein in der Wohnung. Gillian ließ Justin wenn möglich niemals mit ihrem Vater allein, erst recht nicht, wenn er wie seit einem Jahr immer öfter high und paranoid vom Meth war, anstatt betäubt durch Alkohol und Gras wie vorher so ziemlich ihr ganzes Leben lang.

Die letzten zwei Wochen waren die Hölle gewesen, und Gillian wurde ungeduldig. Wenn sie ihren Vater nur aus Mrs. Wicks Wohnung hinüber in ihre bekommen könnte, dann würde Justin ein paar Tage woanders übernachten, bis ihr Vater wieder etwas runtergekommen war. Dann, oh Freude, würde alles wieder von vorne losgehen.

Wenn Justin und ich doch bloß von hier wegkönnten!

Die Situation wurde immer angespannter. So gern würde sie einfach mal den Mund aufmachen und alles rauslassen. All die Flüche, die Beleidigungen und die Vorwürfe, die Justin und sie täglich aushalten mussten. Sie hasste ihren Vater dafür, dass er schon sein ganzes Leben an der Flasche hing und alles wegen der Drogen kaputt machte. Justins und ihr Leben genauso wie sein eigenes. Sie wollte einfach, dass es aufhörte, auf die eine oder andere Weise; es sollte endlich vorbei sein.

Ihr Vater schlug nach irgendeinem imaginären Vogel oder Schmetterling. Vielleicht auch ein Drache; bei den Halluzinationen, die ihn quälten, war alles möglich. In diesem Stadium seines Rauschs war er noch unberechenbarer und gefährlicher als sonst.

„Dad, komm schon. Ich mache dir einen Burger und hol dir ein Bier.“

„Wir müssen hier weg“, sagte er hastig. Er schlug weiter um sich und drehte sich hin und her, immer auf seine imaginären Bestien konzentriert.

Müde und frustriert schüttelte sie den Kopf. Das alles hier war Wahnsinn, sie wollte nur noch weg, aber wohin konnte sie schon gehen? Sie schaffte es gerade so, Justin ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch zu bieten – mit der verschwindend geringen Hilfe ihres Vaters. Auf der Straße oder in irgendeiner Sozialunterkunft würden noch ganz andere schreckliche Dinge auf sie warten. Was wäre das denn für ein Leben für Justin? Vielleicht wäre es tatsächlich besser als das hier, vielleicht aber auch nicht. Wie auch immer, sie musste einen Weg finden, Justin ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein Leben ohne einen unberechenbaren Säufer, der sich in keinem Job halten konnte und seine Sucht mit Dealen finanzierte.

„Wir müssen hier weg. Wir müssen hier weg. Wir müssen hier weg.“ Er wurde immer unruhiger. Mit einer Hand schlug er sich selbst gegen den Kopf, und mit der anderen kratzte er an seinem Bein, als würden unsichtbare Käfer unter seiner Haut an seinem Bein hochkrabbeln.

Jetzt hatte sie es endgültig satt. Sie ging auf ihn zu, um ihn am Arm zu packen und nach Hause zu bringen, aber er sprang lachend aus dem Weg. Es war kein lustiges Lachen, eher ein hysterisches, seltsam schrilles. Nun zeigte er auf sie und schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein, nein, nein, nein!“ Sein unheilvolles Kichern ließ sie erschaudern. Ihr Vater packte Justins Arm und zog ihn von der Couch, in deren hinterste Ecke sich der Junge inzwischen verkrochen hatte. Gillian blieb entschlossen vor ihm stehen. Niemals würde sie ihn mit Justin verschwinden lassen.

„Lass ihn los. Er muss noch Hausaufgaben machen.“ Das war ein dummer Vorwand, aber sie hoffte, ihr Vater würde Justin loslassen und sie könnte ihn hinausbringen.

„Er gehört mir! Er hält sie zurück. Er hat das Licht, das sie zurückhält.“

Paranoides, wahnsinniges Arschloch!

Sie seufzte. Gillian wusste genau, wohin das führen würde, und es gefiel ihr kein Stück. Bald würde er sich komplett in seinem Wahn verlieren, und niemand könnte etwas dagegen tun.

Bitte, werde endlich ohnmächtig.

Aber so viel Glück hatte sie nicht. Angespannt wartete sie ab, was als Nächstes passierte. Ihr Vater hielt Justin vor sich, hatte die beiden Arme des Jungen fest im Griff und schwenkte ihn hin und her wie einen Schild gegen seine eingebildeten Feinde.

„Aua!“, rief Justin, als sich die Finger ihres Vaters in seine dünnen Arme bohrten.

„Du musst sie zurückhalten!“ Ihr Vater hatte Justin immer noch fest gepackt. Unter Schmerzen und voller Angst versuchte Justin sich loszureißen, aber ihr Vater ließ ihn nicht los. Er drehte Justin zu sich herum, sodass er ihm ins Gesicht schauen konnte. Als Justin dabei hinfiel, hielt Gillian es nicht länger aus, ihre Wut war nicht mehr zu bändigen.

„Halte sie zurück!“, schrie ihr Vater erneut und schüttelte Justin. Das war zu viel.

„Ich habe dich gewarnt, wenn du ihn jemals anfasst …“ Sie ging auf ihren Vater los, schlug gegen seinen Arm, und er ließ Justin endlich los. Dann drängte sie ihren Vater zurück, während Justin in die Küche zu Mrs. Wick rannte. Die Nachbarin gab gerade am Telefon der Polizei die Adresse durch. Es war nicht das erste Mal, dass jemand wegen ihres Vaters die Polizei rief, und vermutlich auch nicht das letzte. Doch sie wusste, sie würden nicht mehr rechtzeitig kommen. Was auch immer als Nächstes passieren mochte, Gillian war entschlossen, ihren Vater nie wieder in Justins Nähe zu lassen.

Wütend und im Vollrausch stapfte ihr Vater auf sie zu. Die Drogen verliehen ihm Kraft und ließen ihn nur noch seine rasende Wut wahrnehmen. Alles, was er noch wusste, war, wie man jemanden verletzte. Sie war schon unzählige Male in genau solchen Situationen gewesen, also bereitete sie sich auf die Wucht des Schlages vor, der sie direkt am Auge traf. Der Schmerz schoss in ihren Kopf. Es gelang ihr, ihn etwas zurückzudrängen, aber ihr Vater kam erneut auf sie zu und schlug ihr heftig mit der flachen Hand gegen den Kiefer. Sie musste sich wehren! Also trat sie ihm gegen das Schienbein und stieß ihn von sich. Er taumelte zwei Schritte rückwärts und zog seine eine Hand hinter dem Rücken hervor. Für einen kurzen Moment stand Gillian vollkommen regungslos da und starrte in den Lauf der Pistole, die er hielt. Sie konnte nicht glauben, dass er tatsächlich eine Waffe auf sie richtete, und hatte keine Ahnung, woher er sie überhaupt hatte. Ihr war lediglich klar, dass es alles in ein anderes Licht rückte und dies nicht bloß ein weiterer verdammter Abend war. Das hier war schlimmer.

Ihr Vater hielt die Waffe ruhig, selbst während er noch nach den imaginären Biestern schlug. Er fixierte Gillian, und in diesem Moment wurde auch sie von dem Wahnsinn der Situation mitgerissen.

Du oder ich?

Nur einer von ihnen würde diese Wohnung lebend verlassen.

Justin braucht mich.

Du.

Sie schoss auf ihn zu, griff nach der Waffe und rammte ihm eine Schulter in die Brust. Die Pistole, die beide umschlungen hielten, war auf das Fenster gerichtet. Ihr Vater versuchte sich zu befreien, hieb ihr in die Rippen, aber sie riss unerbittlich immer wieder an der Waffe, damit er sie freigab. Gillian zog und kratzte an seiner Hand, bis er endlich losließ und die Pistole zu Boden fiel. Er schubste Gillian von hinten, sie taumelte nach vorn, griff blitzschnell nach der Waffe auf dem Boden und drehte sich zu ihm um.

Kehre einem Psychopathen niemals den Rücken zu.

Erneut kam ihr Vater auf sie zu. Er wirkte wie ein verletztes Tier und griff sie mit einem blutrünstigen Blick in den Augen an. Dabei stieß er einen kehligen Laut aus, bei dem Gillian ein Schauer über den Rücken lief.

Dann feuerte sie. Einmal. Zweimal.

Mrs. Wick schrie auf. Das Blut breitete sich auf seiner Brust aus, aber er lief erneut auf Gillian zu. Unvermittelt griff er sie, hob sie hoch und stieß sie rücklings gegen die Scheibe des bodentiefen Fensters. Ihr Rücken und ihr Kopf knallten dagegen. Ein Knacken. Einen Sekundenbruchteil später zersprang das Glas. Die Scherben schnitten überall in ihre Haut, aber Gillian fühlte keinen Schmerz. Sie hatte einzig und allein einen Gedanken im Kopf.

Es ist vorbei.

„Gillian, nein!“, schrie Justin.

Es tut mir leid.

Sie flog aus dem Fenster.

Der dunkle Umriss ihres Vaters stand wie ein Schatten im hellen Fenster, bevor er zu Boden fiel.

Pass auf dich auf, Justin. Werde glücklich.

Mit einem schrecklichen, dumpfen Knall prallte sie auf einem Autodach auf. Dann wurde alles schwarz.

2. Kapitel

Three Peaks Ranch, Montana

Blake Bowden warf eine Scheibe Pressheu in Bingos Futtertrog, tätschelte dem Vollblüter den Hals und verließ die Box. Dee hingegen achtete nicht auf die Pferde, die ihre Köpfe zur Begrüßung aus den Boxen streckten, als sie den Mittelweg entlangstürzte. Sie sah besorgt aus. Ihr Blick war auf Blake gerichtet.

„Du musst etwas unternehmen! So habe ich ihn noch nie erlebt. Er ist schon bei seinem dritten Whiskey!“

Blake bemerkte sofort den dringlichen Ton in ihrer Stimme und verspannte sich schlagartig. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein, damit sein alter Freund zum harten Zeug griff. Normalerweise trank er gerade mal ein, zwei Bier in der Woche.

„Er ist in seinem Büro. Mit mir redet er nicht.“ Angst und Sorge spiegelten sich in Dees Augen. Nervös wrang sie das Geschirrhandtuch in ihren Händen. Blake hatte sie noch nie so aufgelöst gesehen. Er legte seine Hand auf ihre.

„Ist schon gut. Ich gehe zu ihm und sehe, was ich tun kann.“ Blake eilte zum Haus, dicht gefolgt von Dee. Im Wohnzimmer blieb sie stehen und zeigte stumm zur offenen Tür des Arbeitszimmers, in dem ihr Mann mit gesenktem Kopf saß. Blake betrat das Zimmer und stellte sich vor Buds Schreibtisch, aber Bud sah nicht auf, sondern starrte weiter auf die Zeitung in seinen Händen. Vor ihm auf dem Tisch standen eine Flasche Whiskey und ein halb volles Glas daneben. Die Stimmung in dem Zimmer verschlug Blake die Sprache. Er kannte Bud schon, seit er klein war, lang bevor der ihn zum Partner gemacht hatte und Blake so Teilhaber der Ranch geworden war. Doch so elend hatte er ihn noch nie gesehen.

„Bud, was ist passiert?“

Es folgte ein langes Schweigen, bevor Buds raue Stimme die fürchterliche Stille durchbrach.

„Er ist tot.“

„Wer?“

„Ron.“

Hinter Blake schnappte Dee nach Luft. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und hatte Tränen in den Augen. Blake kannte die Geschichte mit Ron. Dem Mann, der Bud seine einzige Tochter weggenommen hatte, als sie gerade mal achtzehn Jahre alt war. Er hatte sie dazu gebracht, mit ihm durchzubrennen, woraufhin sie jahrelang von Stadt zu Stadt gezogen waren und ein wildes Leben geführt hatten. Sie hatten sich von einem schlechten Job zum nächsten gehangelt, um sich den Alkohol und die Drogen zu finanzieren. Bud hatte die beiden schon vor Jahren aus den Augen verloren, bis er eines Tages Post vom Leichenbeschauer bekam, um seine Tochter zu identifizieren. Bud hatte es zu ihren Lebzeiten nicht geschafft, sie zu finden, aber die Drogen hatten es. Als er Erins Asche abgeholt hatte, war Ron mit der gemeinsamen Tochter bereits nicht mehr in der Stadt gewesen, wie immer ohne eine Adresse zu hinterlassen.

„Was ist passiert?“ Blake konnte sich schon vorstellen, was passiert war: Überdosis.

„Sie hat ihn erschossen.“

„Was? Wer?“

„Meine Enkelin. Gillian. Zwei Schüsse in die Brust.“

„Moment … woher weißt du das? Hat sie sich bei dir gemeldet?“

Bud schüttelte langsam den Kopf, ohne von der Zeitung aufzu blicken.

„Am Flughafen in Denver musste ich etwas Zeit totschlagen. Also ging ich in eine Bar und bestellte mir ein Bier und einen Burger. Ich dachte, um die Zeit bis zu meinem Flug rumzukriegen, könnte ich mir ein Spiel im Fernsehen ansehen. Ein Typ neben mir fluchte vor sich hin: ‚Manche Leute haben es verdient, abgeschossen zu werden.‘“ Bud strich über die Zeitung. Ein Bild war zu sehen, aber Blake konnte es nicht richtig erkennen.

„Er ging dann weg und ließ die Zeitung liegen. Ich nahm sie mir, um zu erfahren, worüber er sich so aufgeregt hatte.“ Bud atmete tief ein und fuhr langsam mit seinem Zeigefinger über das Bild. Blake ging etwas näher heran, und Bud drehte die Zeitung, den San Francisco Chronicle, und schob sie in Blakes Richtung. Auf dem Foto waren ein paar Feuerwehrmänner und Polizisten abgebildet, die um und auf einem Wagen standen. Anscheinend halfen sie jemandem, der auf das Dach des Wagens gefallen war. Blake las den Text unter dem Bild vor: „‚Im Zuge einer heftigen Auseinandersetzung mit ihrem Vater wurde Gillian Tucker aus einem Fenster im zweiten Stock gestoßen. Sie überlebte den Sturz. Ron Tucker, der Vater der jungen Frau, erlitt zwei Schusswunden in die Brust und erlag noch vor Ort seinen Verletzungen.‘“

Mit dem Schicksal ist es eine heikle Sache.

Es kann dir das geben, was du dir sehnlichst wünschst, oder dir in den Rücken fallen. Bud wurde gerade vom Schicksal verraten.

Das Bild war eine Nahaufnahme des schrecklichen Schauplatzes in Schwarz-Weiß. Alles, was Blake von Gillian erkennen konnte, waren ihre Füße. Sie trug ausgelatschte Leinenschuhe mit einem Loch an einem Zeh. Zwei Feuerwehrmänner, die Ersthelfer und ein Polizist verdeckten den Rest ihres Körpers, der durch die Delle im Autodach ohnehin beinahe verschluckt wurde. Blake konnte seine Augen nicht von den kleinen Füßen abwenden, die über die Kante des Autodachs hingen. Der Anblick ließ ihn an einen ähnlichen Albtraum in seiner Erinnerung denken. Ein anderes Paar Füße einer anderen Frau, verfangen in den wirren Ästen eines gefällten Baumes. Aber das lag in der Vergangenheit. Vielleicht war dieses Durcheinander von Vergangenheit und Gegenwart verantwortlich dafür, dass er den starken Drang verspürte, diesem armen Mädchen zu helfen. Nicht, dass es wiedergutmachen würde, was er damals getan hatte.

Buds Stimme drang wie ein Schuss durch die Stille des Raums. Er sprach ganz normal, aber das Zimmer, ja das ganze Haus, wirkte plötzlich so leer. So einsam wie der Mann, der hier vor ihm an seinem Schreibtisch saß. „Ich habe die Polizei in San Francisco angerufen. Ich wollte sichergehen, dass es auch der Richtige war – und die Richtige. Sie hat ihn erschossen, als er auf sie einschlug. Zweimal hat sie ihm in die Brust geschossen. Er muss wohl voll unter dem Einfluss irgendwelcher Drogen gestanden haben, hat es aber trotzdem noch geschafft, sie aus dem Fenster zu werfen, bevor er gestorben ist.“

„Hat die Polizei sie wegen Mordes festgenommen?“

Bud nahm einen Schluck vom Whiskey und starrte weiter ins Nichts. „Sie untersuchen den Fall noch, aber es sieht nach Notwehr aus. Die Nachbarn konnten auch bestätigen, dass es nicht das erste Mal war, dass er sie geschlagen hat.“ Bud nahm einen letzten großen Schluck. „Ich habe sofort meine Pläne geändert und bin statt nach Hause direkt nach San Francisco geflogen, aber sie wollte mich nicht sehen. Ich konnte nicht mal einen Blick auf sie werfen. Heute Morgen habe ich es noch einmal versucht, aber sie hatte ihre Meinung nicht geändert. Der Arzt sagte, sie brauche Ruhe und würde noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen, also bin ich hierher zurückgekommen. Was soll ich denn jetzt verdammt noch mal tun?“ Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Er hätte sie beinahe umgebracht!“

„Hat der Arzt noch was gesagt?“

„Nichts Genaueres … sie hat schwere Verletzungen, wird aber überleben. Was mich nicht loslässt, ist der Gedanke daran, was sie wohl vorher schon alles durchgemacht haben muss. Ich meine, sie hat ihren eigenen Vater erschossen, damit er sie nicht umbringt.“

Blake fragte sich genau das Gleiche. „Das Wichtigste ist doch, dass sie überlebt hat, Bud. Was hast du jetzt vor?“

„Ich werde alles tun, um sie hierherzuholen. Da sie ja nicht mit mir reden will, wird eben der Arzt für mich mit ihr sprechen. Er wollte mich noch zurückrufen.“ Jetzt schwieg Bud wieder, starrte weiter gegen die Wand vor ihm und wartete darauf, dass das Telefon klingelte.

Nach einer Weile ging Blake zu Dee in die Küche. Sie war damit beschäftigt, ein paar Stücke Hähnchenfleisch in der Pfanne hin und her zu schieben. Kochen als Eigentherapie. Dee und Bud hatten, erst lange nachdem Erin mit Ron durchgebrannt war, geheiratet – ein paar Jahre nach dem Tod von Buds erster Frau. Dee war natürlich auf Buds Seite. Ron war schuld daran, dass es in Buds Leben viel Elend, Sorge und Bedauern gab. Nur ein Funken Hoffnung blieb, nämlich dass eines Tages seine Enkelin nach Hause kommen würde.

„Wie lange ist es her, dass Bud etwas von Ron gehört hat?“

„Schon Jahre. Als er Gillian das letzte Mal gesehen hat, war sie noch ein Kleinkind. Schon lange bevor wir geheiratet haben, hat Ron aufgehört anzurufen, geschweige denn herzukommen.“ Dee legte den Pfannenwender beiseite und wandte sich Blake zu. „Er gibt sich selbst die Schuld.“

„Bud kann gar nichts dafür. Erin und Ron haben ihre Entscheidung allein getroffen.“

„Ja, und das arme Mädchen musste darunter leiden.“ In Dees Blick war die ganze Sorge zu sehen, die schon ihrer Stimme zu entnehmen war.

„Wir wissen nicht, was genau passiert ist. Der Artikel war ziemlich kurz. Ja, er hat sie geschlagen, und ja, sie hat ihn erschossen, aber das ist alles, was wir wissen. Wir wissen nichts über ihr Leben davor“, bemerkte Blake.

„Bud hat schon vor Jahren versucht, sie ausfindig zu machen. Ihm war nie wohl dabei, sie bei Ron zu lassen. Was ist, wenn sie nicht herkommen möchte? Wenn er nie die Chance bekommt, alles wiedergutzumachen?“

„Sie hat gerade ihren Vater erschossen. Vielleicht braucht sie einfach etwas Zeit, sich zu erholen und mit dem klarzukommen, was passiert ist.“

„Glaubst du, sie hat es absichtlich getan?“ In Dees Blick vermengten sich Sorge und Unsicherheit.

„Wenn mich jemand schlagen würde, und das nicht zum ersten Mal, und ich eine Waffe hätte, dann würde ich den Bastard auch abknallen.“ Wut brannte in Blakes Bauch. Wut auf den Mann, der seine Tochter zu so etwas gebracht hatte.

Dee presste ihre Lippen zusammen und nickte zustimmend.

Blake hatte kein schlechtes Gewissen, weil er so ehrlich war. Ron war die schlimmste Art Mann, die es gab. Man schlug keine Frauen, und man schlug ganz sicherlich nicht sein eigenes Kind. Entweder hatten die Drogen Rons Gehirn zerstört, oder er war einfach durch und durch ein mieser Typ. So oder so hasste Blake ihn dafür, wie schlecht er Gillian behandelt hatte.

„Ich denke, wir werden alles erfahren, wenn sie herkommt.“

Blake ging zurück in den Stall und zu seinen geliebten Pferden. Der Gedanke an die Frau mit den kleinen Füßen, die auf dem demolierten Autodach lag, ließ ihn nicht los. Er hoffte, dass es ihr gut ging, denn ihm war bewusst, dass ein Sturz alles änderte – ob nun vom Pferd oder aus einem Fenster.

3. Kapitel

Gillian wälzte sich in dem vergeblichen Versuch, eine gemütlichere Position zu finden, im Bett hin und her. Alles tat weh – vom dröhnenden Kopf bis hin zu den pochenden Knöcheln. Sie konnte sich kaum bewegen, denn an einem Bein trug sie eine Schiene, ein Arm war in Gips gelegt worden, der andere verbunden, und an Rücken und Kopf waren einige Schnitte genäht worden. In dem achtzig Jahre alten Haus hatte es kein Hightech-Sicherheitsglas gegeben, weshalb das dünne Fensterglas in unzählige scharfe Scherben zerbrochen war, die ihr die Haut zerschlitzt hatten.

Am vergangenen Abend hatte sie sich vor den Spiegel gestellt und ihren Rücken betrachtet. Sie wollte all die kleinen Schnitte zählen, mit denen ihr Rücken übersät war. Aber sie hatte den Anblick all der Wunden nicht ertragen und musste die Augen schließen. Die überwältigende Erinnerung an die Nacht, in der sie ihren Vater erschossen hatte, machte ihr Angst und ließ sie nicht los. Sie versuchte ruhig zu atmen, doch immer wieder fing sie an zu hyperventilieren. Eine Panikattacke hatte sie noch nie gehabt, stellte es sich jedoch genauso vor.

Am Morgen hatte sie vergeblich versucht, irgendetwas im Fernsehen zu finden, das sie von der Tatsache ablenkte, dass Justin nun irgendwo vom Jugendamt untergebracht worden war und sie nicht wusste, wo. Verdammt, sie wollte ihn nur aus der Pflegestelle herausholen und ihn wieder in die Arme schließen.

In einem Krankenhausbett hatte man viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Immer wieder erinnerte sie sich an die letzten Minuten mit ihrem Vater. Eine grauenvolle Momentaufnahme nach der anderen schoss ihr durch den Kopf, wie in einer Diashow. Die Faust ihres Vaters, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, kurz bevor er zuschlug. Die Waffe in seiner Hand, direkt auf sie gerichtet. Der Lichtblitz und der Rauch aus dem Lauf der Waffe, als sie auf ihren Vater geschossen hatte. Das Blut, das sich auf seiner Brust ausbreitete. Sein verzerrtes Gesicht, als er sie aus dem Fenster stieß. Seine unheilvolle schwarze Silhouette am Fenster, als sie fiel.

„Gillian.“ Dem Tonfall des Arztes nach zu urteilen, hatte er schon mehrfach versucht, auf sich aufmerksam zu machen.

„Ja?“

„Wie fühlen Sie sich heute?“, fragte er mit gezwungener Heiterkeit.

„Gut.“

Er runzelte die Stirn. Jedes Mal, wenn er fragte, gab Gillian ihm die gleiche Antwort. Er hatte schon versucht, sie dazu zu bringen, zu erzählen, was in den letzten Tagen, Wochen oder Jahren passiert war und was letztlich zu dem schrecklichen Vorfall geführt hatte. Das Wesentliche über das Leben mit ihrem Vater hatte sie ihm schon berichtet. Das ständige Umziehen und die Geldsorgen waren nur ein Teil des Dilemmas. Sie war schon kurz vor dem Verhungern und der Obdachlosigkeit gewesen, als sie noch viel zu jung war, um überhaupt zu begreifen, dass es anderen nicht so ging. Andere hatten ein Zuhause mit einem gefüllten Kühlschrank und nicht bloß das Essen, das zumeist vom Billigimbiss oder aus dem Discounter kam. Auf keinen Fall wollte sie, dass Justin ein solches Leben führen musste. Dafür kämpfte sie. Und dennoch waren sie immer mindestens einen Gehaltsscheck von einem guten Leben entfernt gewesen.

Die Kurzfassung von alldem hatte sie auch den Polizisten erzählt, die natürlich mehr Einzelheiten wollten. Nur ungern hatte sie ihnen genug von den Vorkommnissen geschildert, die ihren Vater belasteten, um nicht selbst ins Gefängnis zu kommen. Nicht, dass sie keinen Grund gehabt hätte, ihren Vater umzubringen. Er hatte sie angegriffen, und das nicht zum ersten Mal. Die Ohrfeigen, Schläge und Prügel hatte sie schon unzählige Male durchgemacht. Vermutlich hatte sie schon seit ihrer Geburt Angst vor ihm, aber es war niemals vorher so gewesen wie an diesem Abend. Sie hatte in seine blutrünstigen Augen gesehen und gewusst, dass einer von ihnen sterben musste – entweder er oder sie.

Ihr eigener Vater hatte sie dazu gezwungen, diese Entscheidung zu treffen.

Aber er hatte sie auch freigelassen. Jetzt musste sie keine Angst mehr vor ihm haben. Keine Angst davor, dass er ihr Justin wegnehmen würde, wenn sie nicht bei ihm blieb und ihm Geld gab. Geld, das ihn von der Gosse fernhielt, in die er eigentlich gehörte. Sie sah ihn vor sich, als er ihr mit einem boshaften Grinsen versprochen hatte, sie überall zu finden und ihr Justin wegzunehmen, wenn sie auch nur daran denken würde, mit dem Jungen abzuhauen. Als sie achtzehn war, hatte sie etwas Geld zusammengespart, um mit Justin wegzulaufen, damit sie ihm ein besseres Leben ermöglichen konnte. Doch ihr Vater hatte sie erwischt und war fortan sichergegangen, dass sie so etwas nicht noch einmal versuchen würde. Sie konnte immer noch die Schmerzen nach dieser Tracht Prügel spüren.

Gillian hatte sich immer bemüht, Justin etwas zu bieten, trotz der Schlinge aus Drohungen und Gewalt, die ihr Vater ihr um den Hals gelegt und sofort enger gezogen hatte, sobald sie versucht hatte, sich von ihm zu entfernen. Allein der Gedanke daran, was er Justin und ihr hätte antun können, hatte ihr eine solche Angst eingejagt, dass sie nie wieder darüber nachdachte abzuhauen. Die Gefahr, dass ihr Vater ihr Justin wegnahm und der letztendlich im Heim landete, zwang sie immer wieder zum Nachgeben. Gillian würde Justin niemals dem Schicksal überlassen, von Fremden bestenfalls nicht beachtet oder, schlimmer noch, verletzt und missbraucht zu werden. Sie hatte all die grauenvollen Geschichten von anderen Kindern gehört. Was, wenn der Staat der Meinung gewesen wäre, dass sie nicht in der Lage war, sich um Justin zu kümmern, wenn sie ihn nicht wiederbekommen hätte? Nein, das hätte sie nicht riskiert. Justin ging es bei ihr immer noch besser, trotz ihres unberechenbaren, gewalttätigen Vaters.

Ihr süßer Junge – die einzige Person, die sie jemals tatsächlich geliebt hatte. Ihre Rettung, wenn alles hoffnungslos schien. Ihr Fels in der Brandung, wenn der wütende Ron ihr Leben wieder unerträglich machte. Sie würde alles tun, um Justin zu beschützen.

„Brauchen Sie mehr Schmerzmittel?“

„Nein. Mir geht es gut.“

„Sie haben einen schweren Schock erlitten und ernsthafte Verletzungen. Es ist nur verständlich, wenn Sie etwas nehmen, das Sie ein wenig beruhigt.“

„Keine Drogen mehr. Ich muss nach Hause zu Justin.“

„Ich habe gerade mit Ihrer zuständigen Sozialarbeiterin gesprochen. Sie wird gleich mit Ihnen reden wollen.“

„Was haben Sie ihr gesagt?“

„Dass Sie sich trotz der schweren Verletzungen, die es schwierig machen dürften, für Justin zu sorgen, nicht davon abbringen lassen.“

„Ich kann und werde mich um ihn kümmern“, versicherte Gillian dem Arzt und betonte jedes Wort eindringlich, um sicherzugehen, dass er ganz genau verstand, wie ernst sie es meinte.

„Das glaube ich Ihnen, aber Sie werden Hilfe brauchen.“

„Ich brauche keine Hilfe, von niemandem.“

Der Arzt gab Gillian einen dicken Umschlag, den er von seinem Klemmbrett nahm. „Ihr Großvater wollte, dass ich Ihnen das hier gebe. Manchmal hat man keine andere Wahl und muss sich für das kleinere Übel entscheiden, auch wenn es einem nicht gefällt, Gillian.“ Damit verließ der Arzt das Zimmer und ließ die Sozialarbeiterin herein. Super, sie hatten sich anscheinend gegen sie verbündet.

In sauberer Schrift stand ihr Name über der Adresse des Krankenhauses auf dem Umschlag. Gillian öffnete den Brief und starrte fassungslos auf den Haufen Geldscheine, der sich darin befand. Außerdem lag ein zusammengefaltetes Blatt Papier darin. Sie faltete es auseinander – kein Mann vieler Worte, ihr Großvater. Er hatte bloß vier Worte geschrieben: Bitte komm nach Hause.

Die schlichte Bitte rührte ihr schmerzendes Herz. Gillian kämpfte mit den Tränen, die ihre Wangen herabzulaufen drohten. Sie hatte nie ein Zuhause gehabt. Kein richtiges jedenfalls, wie sie es aus dem Fernsehen kannte. Keins wie die anderen Kinder, mit einer Mutter, einem Vater und jeden Tag einem richtigen Abendessen. Ein Zuhause sollte sicher sein, man sollte sich wohlfühlen. All das hatte sie nie gehabt.

Dann unterbrach die Sozialarbeiterin ihre Gedanken.

„Gillian, ich habe heute Morgen mit Ihrem Großvater geredet.“

Ja, weil sie selbst nicht mit ihm reden wollte, wie ein bockiges Kind. Dafür verdiente sie ein wenig Unfreundlichkeit. Aber sie kannte ihn doch gar nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Sie war einfach davon ausgegangen, dass er entweder tot oder sie ihm gleichgültig war. So oder so machte es keinen großen Unterschied für Gillian. Wieso interessierte er sich ganz plötzlich für sie? Was wollte er von ihr?

Sie musterte Mrs. Carr, die Sozialarbeiterin, misstrauisch. Beschwichtigend hob diese ihre Hand, um Gillian davon abzuhalten, gleich aufzubrausen. „Keine Angst, ich habe ihm nichts von Justin erzählt.“

Gillian wollte nicht, dass ihr Großvater von Justin erfuhr und womöglich noch versuchen würde, das Sorgerecht zu bekommen, weil er dachte, sie wäre nicht in der Lage, sich um den Jungen zu kümmern.

„Er macht sich große Sorgen um Sie und möchte, dass Sie zu ihm nach Montana kommen. Er würde Sie sogar persönlich abholen. Für den Fall, dass Sie das nicht wollen, ist ein Flugplan in dem Umschlag – und genug Geld für ein Ticket.“

„Wer sagt denn, dass ich irgendwo hinfliege?“

„Ihre Miete ist seit zwei Monaten überfällig. Sie werden Ihre Wohnung verlieren, wenn Sie nicht sofort das Geld auftreiben. In Ihrer Verfassung können Sie die nächsten Wochen keinesfalls arbeiten. Sie haben nicht genug Geld, sich und Justin zu ernähren, bis Ihre Wunden verheilt und Sie wieder in der Lage sind, welches zu verdienen.“

„Ich kann arbeiten. Vielleicht nicht in all meinen Jobs, aber genug, um uns durchzubringen.“

„Gillian, momentan ist Justin gut versorgt in einem sicheren Heim. Der Arzt meint, es wäre nicht unmöglich, dass Sie sich allein um Justin kümmern, aber Sie würden es sich enorm schwer machen, ohne eine Wohnung und ohne Geld für Essen. Wenn Sie Justin behalten wollen, rate ich Ihnen, das Geld anzunehmen und nach Montana zu gehen. Ihr Großvater bietet Ihnen umsonst einen Platz zum Schlafen. Sie brauchen die Ruhe, um wieder gesund zu werden. Danach können Sie weitersehen.“

Montana? Das war ganz schön weit weg. Dennoch war es vielleicht genau das Richtige für Justin und um diesem Albtraum endlich zu entkommen.

„Wenn Sie Justin aus der Pflegestelle herausholen wollen, sobald Sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, muss ich wissen, dass Sie ihn zu Ihrer Familie nach Montana bringen. Andernfalls wird er in der Pflegestelle bleiben, bis Sie nachweisen können, dass Sie wieder einen Job und eine Wohnung haben und es sich leisten können, sich um den Jungen zu kümmern.“

Niemals. Sie würde Justin auf keinen Fall bei Fremden lassen. Schon gar nicht nach dem, was passiert war. Er brauchte sie jetzt erst recht. Was Gillian anging, war Justin die einzige Familie, die ihr blieb. Sie würde nicht zulassen, dass man ihn ihr wegnahm, und alles tun, um ihn bei sich zu haben.

„Ich kann immer noch Ihren Großvater anrufen, ihm von Justin erzählen und den Jungen allein nach Montana schicken. Aber das möchte ich nicht tun. Es ist Ihre Entscheidung.“

„Ich habe eigentlich keine Wahl, oder?“

„Nicht jeder will Ihnen wehtun und Ihnen das Leben schwer machen, Gillian. Ihr Großvater klang wie ein aufrichtiger Mann. Geben Sie ihm eine Chance. Wer weiß, vielleicht finden Sie in Montana, was Sie suchen.“

Alles, was Gillian wollte, war ein sicherer Ort für Justin, an dem er glücklich und gesund aufwachsen konnte. Ein Ort, an dem er so lange wie möglich ein kleiner Junge bleiben konnte. Ein Ort, an dem er lernen würde, wieder zu lachen. Vielleicht auch ein Ort, an dem nette, anständige Leute ihm zeigten, was einen richtigen Mann ausmachte.

4. Kapitel

Es war so hell draußen, dass Gillian die Augen schmerzten. Zwei Meilen von der Ranch entfernt blieb sie mit dem Truck stehen, um etwas Mut zu sammeln. Es war Mitte März, und ihr Blick fiel auf die grüne Hügellandschaft vor ihr. Sie ließ ihn scheifen, über die Bäume und die Berge hinauf, die das grüne Tal umgaben, in dem sich das Gras gerade erst vom eisigen Frost des Winters befreit hatte. Noch nie hatte sie etwas so Schönes gesehen. Gillian war gar nicht bewusst gewesen, dass Orte wie dieser tatsächlich existierten. Natürlich hatte sie Bilder gesehen, aber die waren ihr immer eher wie ein Märchen vorgekommen, verglichen mit den vollgestopften Wohnungen in den billigen Stadtvierteln, die bisher alles gewesen waren, was sie gekannt hatte. Es war ihr vollkommen neu, dass Gras verschiedene Farben annehmen konnte, wenn der Wind darüber wehte, oder dass Bäume so dicht stehen konnten, dass es unmöglich war, zwischen ihnen hindurchzusehen.

Gillian hatte auch noch niemals eine solche Dunkelheit wahrgenommen wie letzte Nacht, als Justin und sie im Truck geschlafen hatten. Sie hatte nicht noch mehr Geld für ein Motel verschwenden wollen. Die Sterne hatten so hell und in solcher Vielzahl gefunkelt, dass sie gar nicht recht fassen konnte, was sie die ganze Zeit verpasst hatte, während sie von Stadt zu Stadt gezogen war.

Trotz der schrecklichen Umstände hatte sie San Francisco immer geliebt. Bald würde sie sicher die salzige Meeresbrise vermissen oder den Nebel, der wie eine Wand auf einen zukam oder plötzlich einfach da war wie ein Geist.

Ihr würden die vielen unterschiedlichen Menschen fehlen, die alle ihre eigenen Geschichten mitbrachten und aus allen Teilen der Welt kamen. Sie würde Chinatown vermissen und auch, das gerade dort geholte Chow Mein direkt am Hafen zu essen. Ihr würde das Brüllen der Seelöwen fehlen und das Kreischen der Möwen. Aber nicht heute. Heute gab es nur den klaren blauen Himmel, die frische Luft und so viel Platz um sie herum, dass sie am liebsten sofort die Arme weit ausbreiten und sich im Kreis drehen würde.

Die Berge ragten groß und eindrucksvoll auf, beinahe so, als hätten sie sich erhoben, um das Land zurückzuhalten; nicht unähnlich den Mauern, die sie um sich selbst errichtet hatte. Gillian bewegte sich ein wenig auf dem Fahrersitz und versuchte, mit ihrem Rücken nicht die Sitzlehne zu berühren, damit ihre Wunden nicht daran rieben. Seit zwanzig Meilen hatte sie schon keine anderen Wagen mehr gesehen, und vor ihr lag nichts als freies Land. Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, als könne sie zum ersten Mal in ihrem Leben richtig durchatmen. Am liebsten hätte sie die Fensterscheiben heruntergelassen, um die frische Bergluft einzuatmen, aber da Justin neben ihr schlief, entschied sie sich dagegen. Sie hatte überlegt, ihn zu wecken, bevor sie bei der Ranch ankamen, denn ihm hätte die Landschaft sicher auch gefallen, aber sie ließ ihn lieber ausruhen, das hatte er sich verdient.

Nicht weit entfernt stieg ein Falke aus einem Baum auf und flog anmutig durch die Luft, höher und höher. Der Anblick machte Gillian traurig. Sie fragte sich, ob sie sich wohl jemals so frei und leicht fühlen würde. Alle Gefühle, die sie kannte, waren Angst und Verzweiflung. Die waren so alltäglich für sie, dass sie inzwischen komplett abgestumpft war. Jeden Tag ging es nur ums Überleben, darum, genug Geld zu verdienen, um Essen auf den Tisch zu bringen. Darum, auf irgendetwas zu hoffen, das sie von diesem Dasein befreite. Und plötzlich war genau das geschehen. Alles, was es gebraucht hatte, waren eine Waffe und ein Sturz aus dem zweiten Stock gewesen.

Sie hoffte, dass heute der Anfang eines neuen Lebens war. Nach dem Sturz. Nach dem Tod ihres früheren Lebens.

Gillian zog die alte Flanelljacke ihres Vaters fester um sich. Die Jacke war zwar nicht warm genug, um die Kälte ganz fernzuhalten, aber etwas Besseres hatte sie nicht finden können. Sie hasste es, seine Klamotten zu tragen, wegen der schrecklichen Erinnerungen, die der Geruch und der Anblick in ihr wachriefen. Der Gestank nach Zigaretten, Gras, Schweiß, Bier und Whiskey ließen Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie konnte die Jacke noch so oft waschen – niemals würde sie die Gerüche aus der Jacke herausbekommen. Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Alles, was sie hatte, waren ein paar Jeans, T-Shirts und ein paar Pullis. Das Geld reichte nicht für die Reise, Essen und eine neue Jacke.

Gillian sah erneut zu den emporragenden Bergen und fühlte die Einsamkeit tief in ihrer Seele.

Du kannst hier nicht ewig rumstehen. Du bist schon so weit gekommen, beweg jetzt deinen Hintern.

Sie fragte sich, wonach ihr Stolz wohl schmecken würde. Sie würde immerhin einiges von ihm schlucken müssen, damit das hier funktionierte. Aber für Justin würde sie eine ganze Wagenladung davon schlucken. Er war der einzige Grund, weswegen sie die Einladung ihres Großvaters überhaupt angenommen hatte. Sie hätte Justin niemals im Heim gelassen oder ihn allein nach Montana geschickt. Er hatte ein besseres Leben verdient als bisher, und Gillian würde sicherstellen, dass er das auch bekam.

Der Motor heulte kurz auf, als Gillian den Wagen anließ. Schmerz schoss ihr durch den Arm, aber sie versuchte ihn zu ignorieren. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig. Der Schmerz war ihr ständiger Begleiter geworden. Eigentlich wollte sie nur in Ruhe gelassen werden, wie jeden Tag, doch das war dem Schmerz egal; er hatte sich tief in ihren Knochen und Muskeln eingenistet und würde nicht so bald wieder verschwinden.

Ein kurzer Blick in den Rückspiegel, und schon war sie wieder unterwegs. Dabei hatte sie versehentlich einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild erhascht und musste schnell wieder wegsehen. Aber sie riss sich zusammen, setzte ihre Sonnenbrille auf. Zusätzlich steckte sie ihre blonde Mähne in den Kragen der Jacke und zog den Reißverschluss bis ganz nach oben. Das sah nicht besonders vorteilhaft aus, aber es musste reichen, sie konnte es sich ja nicht aussuchen. Die Jacke verdeckte die meisten Verletzungen am Körper, und die Brille verbarg nicht nur Teile ihres blau geprügelten Gesichts, sondern gab ihr auch die Möglichkeit, ihre Reaktion ein wenig zu verbergen, wenn sie auf ihren Großvater traf. Das war vielleicht feige, aber im Moment konnte sie weder Mitleid noch Kritik ertragen. Mitleid wäre sogar das Schlimmere von beidem.

Seit Stunden hatte Gillian nun schon dröhnende Kopfschmerzen, sie brauchte wirklich eine heiße Dusche, eine warme Mahlzeit und Schmerztabletten – nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Ihr wäre alles recht, was ihr Großvater anzubieten hatte, da sie so oder so nicht genug Geld hatte, um zurück nach San Francisco zu kommen. Sie würde es höchstens bis in die nächste Stadt schaffen. Sie musste sparsam mit ihrem Geld umgehen, aber dass Justin eine neue warme Jacke und genug zu essen hatte, war erst mal das Wichtigste. Dass es ihm gut ging, war das Einzige, was zählte.

Gillian schaute noch einmal kurz auf die Karte. Ein Tankstellenangestellter hatte ihr den Weg genau beschrieben und ihr sogar eine Skizze aufgemalt. Nach seiner Aussage sollte sie die Zäune der Ranch nach einer halben Meile sehen können.

„Sie können es gar nicht verfehlen“, waren seine Worte gewesen.

Gillian hatte viel Zeit gehabt, um sich auszumalen, was sie wohl am Ende dieser Reise erwarten würde. Sie wusste ja nicht einmal, was für eine Ranch ihr Großvater besaß. Ob es Rinder, Pferde oder anderes Vieh gab? Sie fragte sich, ob es nur eine baufällige Hütte war oder etwas viel Besseres. Doch letztlich war das auch egal – es musste irgendwie funktionieren.

Lass es bitte ein gutes Zuhause für Justin sein.

Wenn sie nicht so stur gewesen wäre und mit ihrem Großvater geredet hätte, wüsste sie vermutlich mehr darüber, wie er lebte. Der Arzt hatte Gillian versichert, dass ihr Großvater ihr nur helfen wolle. Aber so einfach war sie nicht zu überzeugen. Ihr Großvater musste es ihr schon beweisen und sich ihr Vertrauen verdienen. Sie würde Justins Leben nicht aufs Spiel setzen. Nicht mehr. Nie wieder.

Wenn sie ihrem Großvater in die Augen sehen konnte, würde sie schon wissen, ob er ihnen helfen oder sie nur wieder im Stich lassen würde. Aber, bei Gott, wenn er Justin auch nur ein Haar krümmte, würde sie auch ihn umbringen. Nie wieder, versprach sie sich und umklammerte das Lenkrad fest mit ihrer gesunden Hand.

Niemals wieder.

Ein dunkelbrauner Zaun begrenzte die Wiese, auf der die Pferde standen. Gillian musste lächeln, als eines der Pferde über die Koppel an den Zaun gelaufen kam. In dem Moment dachte sie, dass sie vermutlich noch nie etwas so Schönes gesehen hatte. Das braune Fell schimmerte im Sonnenlicht, während die schwarze Mähne und der Schweif im Wind wehten. Was für ein majestätischer Anblick.

Sie stellte sich vor, wie die kahlen Bäume und der dunkle Zaun im Winter im krassen Kontrast zu der dicken weißen Schneedecke standen. Sie hatte noch nie in ihrem Leben Schnee gesehen. Gern würde sie den Schneeflocken zusehen, die langsam auf den Boden schwebten und wie kleine Lichter vom dunklen Himmel herabfielen. Justin würde es auch lieben. Sie könnten gemeinsam einen Schneemann bauen.

Du träumst wieder von unmöglichen Dingen, dabei hast du doch keine Ahnung, was dich überhaupt erwartet, ermahnte Gillian sich selbst. Dieser Gedanke machte sie nervös.

Etwas zögerlich nahm sie die Abzweigung zur Ranch, als sie vor ihr auftauchte. Als Gillian die beiden großen Steinsäulen sah, zwischen denen ein schwarzes Schild mit der Aufschrift Three Peaks Ranch baumelte, überkam sie völlig unerwartet ein Gefühl von Vertrautheit. Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, irgendwo wirklich hinzugehören, und doch fühlte sie sich aus irgendeinem sonderbaren Grund zu diesem weiten Land hingezogen.

Three Peaks Ranch. Hier bin ich, und jetzt?

Es ragten tatsächlich drei Berggipfel am Horizont auf. Gillian fuhr durch das Tor und die Zufahrt hinunter. Der Weg machte eine leichte Kurve und führte leicht bergab. Für einen kurzen Moment war Gillian sprachlos, und sie war kurz davor, die Bremse zu ziehen und auf das Haus zu starren.

Das Haus lag zu ihrer Linken: ein enormer, zweigeschossiger Steinbau mit Veranden auf beiden Ebenen. Ein so eindrucksvolles Haus hatte Gillian noch nie gesehen. Vor dem Haus befand sich ein kleiner Vorgarten. Hier war der Frühling bereits angekommen. Blumen blühten überall in so lebhaften Farben, dass der Anblick geradezu überwältigend war. Gillian entdeckte ein weiteres großes Gebäude auf der rechten Seite, vermutlich war es ein Stall für die Pferde oder eine Scheune. Bei der Größe würden sicher fünfzig Tiere hineinpassen, dachte sie. Das Gebäude, das ebenfalls aus Stein und zum Teil aus weißem Holz bestand, war passend zum Haupthaus in einem dunklen Blau gestrichen. Mehrere Pferde standen außerhalb des offenen Stalls in einem eingezäunten Areal.

Alles war perfekt für Justin, er könnte hier herumrennen, so viel er wollte. Das Grundstück war riesig. Er könnte reiten lernen oder sogar einen Hund oder eine Katze bekommen. Er würde es hier gut haben. Vorausgesetzt, ihr Großvater war anders als ihr Vater. Das müsste sie noch herausfinden, bevor Justin sich einlebte.

Neben dem Haus brachte Gillian den Wagen zum Stehen. Sie sah ein Pferd auf einer weiteren Koppel und war schockiert. Wer auch immer dem armen Pferd das angetan hatte, sie wollte die Person am liebsten auf der Stelle umbringen. Das Tier war bis auf die Knochen abgemagert, die unter dem gescheckten braunen Fell deutlich hervortraten. In seinen traurigen Augen lag der Blick eines verlorenen Kindes. Diesen Blick kannte sie gut, sie hatte ihn oft genug im Spiegel gesehen.

Gillian wusste nichts über Pferde, aber sie wusste einiges über Vernachlässigung und Misshandlung. Sie kämpfte gegen den Drang an, umzukehren und wieder wegzufahren. Sie wollte nicht hierbleiben, wenn ihr Großvater seine Pferde so behandelte. Das Einzige, was ihr etwas Hoffnung gab, war, dass alle anderen Pferde gesund aussahen.

Zwei Männer kamen aus dem Haus, blieben auf der Veranda stehen und beobachteten sie. Gillian betrachtete den älteren Mann – vermutlich war er ihr Großvater. Sein wohl einst braunes Haar war ergraut, und er trug einen Schnurrbart. Er war größer, als sie es erwartet hatte, sicherlich über eins achtzig. Wie stolz und aufrecht er dastand. Das gefiel ihr. Er trug abgenutzte Jeans und braune Cowboystiefel; typisch für jemanden, der auf einer Ranch lebte. Sein Chambray-Hemd war frisch gebügelt, und darüber trug er eine schwarze Daunenweste, um die Kälte fernzuhalten.

Das raue, aber attraktive Aussehen des anderen Mannes, der auf der Veranda stand, löste tief in ihr etwas aus. Er war ein Stück größer als ihr Großvater und sehr viel jünger – etwas unter dreißig, schätzte sie. Sein Gesicht war so braungebrannt wie das ihres Großvaters. Auch war er ähnlich gekleidet: Jeans, Shirt, schwarze Stiefel und eine schwere, mit Fell gefütterte Jeansjacke. Er hatte eigentlich braunes Haar, aber von der Sonne heller gefärbte Strähnen zogen sich überall durch das dunkle Haar, was die Farbe im abnehmenden Licht zu verändern schien.