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Inklusion in Schule und Gesellschaft

 

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 4

Iris Beck (Hrsg.)

Inklusion im Gemeinwesen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031322-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031323-1

epub:    ISBN 978-3-17-031324-8

mobi:    ISBN 978-3-17-031325-5

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Vorwort der Reihenherausgeber

 

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Reihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band   1:

Inklusion in der Primarstufe

Band   2:

Inklusion im Sekundarbereich

Band   3:

Inklusion im Beruf

Band   4:

Inklusion im Gemeinwesen

Band   5:

Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band   6:

Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band   7:

Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band   8:

Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band   9:

Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11:

Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12:

Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhalt

 

 

  1. Vorwort der Reihenherausgeber
  2. Einleitung
  3. Historische und aktuelle Begründungslinien, Theorien und Konzepte
  4. Iris Beck
  5. 1 Lebenslagen behinderter Menschen – Rahmendaten und Einblicke
  6. 2 Inklusion im Gemeinwesen: Entwicklungsstränge, Begründungszusammenhänge und konzeptionelle Ansätze
  7. Literatur
  8. Schule, Gemeinwesen und Inklusion. Möglichkeiten und Grenzen sozialraumorientierter Schulentwicklung
  9. Joachim Schroeder
  10. 1 Die Schule und ihr Umfeld
  11. 2 Exklusionsprozesse im Sozialraum und die Folgen für die Schule
  12. 3 Inklusive Entwicklungsplanung im Schulbezirk
  13. 4 Neue Aufgaben für die inklusive Schulentwicklung
  14. Literatur
  15. Lokale und kommunale Teilhabeplanung
  16. Albrecht Rohrmann
  17. 1 Traditionslinien der Behindertenpolitik und -hilfe
  18. 2 Chancen einer kommunalen Behindertenpolitik
  19. 3 Die UN-Behindertenrechtskonvention als soziale Innovation
  20. 4 Inklusion als Thema in der Bevölkerung
  21. 5 Inklusive Gemeinwesen planen
  22. Literatur
  23. Bildung in der inklusiven Stadtgesellschaft der Gegenwarten. Theoretische Reflexionen zu Optionen der Vernetzung, Planung und Partizipation durch eine kommunale Sozialpädagogik
  24. Stephan Maykus
  25. 1 Stadtgesellschaft der Gegenwarten und Inklusion
  26. 2 Mikro-stadtsoziologische Perspektive auf Inklusion
  27. 3 Inklusive Bildung und kommunale Sozialpädagogik
  28. 4 Optionen von Vernetzung, Planung und Partizipation in Kommunen
  29. 5 Statt eines Fazits: Erziehungswissenschaftliche Positionierungen
  30. Literatur
  31. Soziale Räume als Orte der Lebensführung. Optionen, Beschränkungen und Befähigungen
  32. Gudrun Wansing
  33. 1 Zur Einführung: Über die Notwendigkeit, den Referenzrahmen von Inklusion zu bestimmen
  34. 2 Inklusion in der modernen Gesellschaft – Bedingungen für die Lebensführung
  35. 3 Inklusion – global oder lokal? Räumliche Differenzierung und soziale Ungleichheit
  36. 4 »(Re-)Territorialisierung des Sozialen« – Zur (Wieder-)Entdeckung von Räumen und Orten
  37. 5 Soziale Räume, Behinderung und Teilhabe – Ein interdependentes Verhältnis
  38. Literatur
  39. Autorenverzeichnis

 

Einleitung

 

 

»Man könnte […] sagen, dass die Gemeinde jener Ort ist, an dem die Gesellschaft als höchst komplexes Phänomen unmittelbar anschaulich wird, während ausnahmslos alle weiteren Erscheinungsformen der Gesellschaft sehr schnell abstrakt werden«, so René König (1958, S. 9) in seiner grundlegenden Bestimmung von Gemeinde als einer Grundform der sozialen Wirklichkeit, die alle Formen des sozialen Lebens – wie Familien, Nachbarschaften, Freundesgruppen, Vereine und andere soziale Kreise – ebenso einschließt wie alle Funktionen der Lebensführung: Einrichtungen der Versorgung ebenso wie Angebote der Erziehung und Bildung, des Wohnungs- und Arbeitsmarktes, der Freizeit, Gesundheit, Kultur, des Sports oder der politischen Teilhabe. Gleichzeitig sind diese Formen und Funktionen konkret »verortet« und werden dadurch erlebbar, während »Gesellschaft« oder »das Bildungssystem« unanschaulich bleiben. Dabei schwingt in der etymologischen Herkunft des Wortes das »Gemeinsame« des räumlichen Bezugs ebenso mit wie das »Gemeinsame« einer »Gemeinschaft«. Der gemeinsame Raum kann ein rechtlich umgrenzter Aufenthaltsort sein, wie ihn die Kommune als Verwaltungseinheit darstellt. Er kann aber auch die soziale Verortung der Menschen meinen, was ihre Lebensführung und ihre Beziehungen betrifft, und diese ist nicht mit administrativen Grenzen deckungsgleich. Und so, wie die individuelle Lebensführung von größeren, staatlichen, aber auch nationale Grenzen überschreitenden globalen Strukturen beeinflusst wird, werden auch die Kommunen und Gemeindeverbände in ihrer Entwicklung davon beeinflusst. Dabei unterscheiden sich aber die vorfindlichen Lebensbedingungen nach wie vor nicht nur zwischen Weltregionen, sondern auch zwischen Ländern und innerhalb der Länder von Region zu Region und auch innerhalb einer Kommune. Die alltägliche Lebensführung ist und bleibt aber lokal gebunden. Die Frage, ob Menschen generell und behinderte Menschen im Speziellen im Gemeinwesen leben, stellt sich unter dem Gesichtspunkt der territorialen Gliederung von Gebieten nicht. Zweifellos stellt sie sich aber hinsichtlich der Handlungsspielräume, die zur Erfüllung wichtiger Anliegen der Lebensführung zur Verfügung stehen, und der gleichberechtigten Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Spielräume. Sozial ungleiche Zugänge in Abhängigkeit z. B. eines ungünstigen Sozialstatus wie eines fehlenden Schulabschlusses wirken sich auf den Zugang zum Ausbildungsmarkt ebenso aus, wie der Wohnort selbst schon bessere oder schlechtere Bedingungen für den Zugang zu Wohnraum, Arbeitsplätzen oder zur Gesundheitsversorgung bieten kann. Für die Lebensführung wiederum ist kennzeichnend, dass sich die einzelnen Bereiche wie Mobilität, Wohnen, Schulbesuch oder Erwerbstätigkeit gerade nicht voneinander trennen lassen, sondern im Gegenteil die einzelnen Bereiche jeweils als Kontextfaktoren füreinander betrachtet werden müssen, wobei sie bezogen auf den Lebensverlauf unterschiedliche Bedeutung und Gewichtung erfahren. So ist im Kindesalter der Schulbesuch zentral, aber ohne das Wohnen nicht denkbar, das Wohnen wiederum nicht ohne ein Mindestmaß an Infrastruktur von Versorgungsangeboten.

»Gemeinde« muss über die Verwaltungseinheit hinaus als sozialer Raum gedacht werden, der deutlich kleiner als ein rechtliches Gebiet, aber auch weit darüber hinausreichen kann und sich in unterschiedlichen Dimensionen konkretisiert: als Raum der sozialen Beziehungen ebenso wie als Raum von Machtpositionen, die sich durch den sozialen Status ergeben; als Raum, der dem Einzelnen zugänglich ist und als Raum der Artikulierung und Durchsetzung von Interessen. Zugänge zu wichtigen Gütern wie Arbeitsplätzen, Versorgungsangeboten, Wohnungen usw. sind mit Interessensdurchsetzung und damit auch immer mit Konflikten verbunden, und diese zeigen sich nirgends so deutlich wie auf der kommunalen und regionalen Ebene. Inklusion wiederum realisiert sich genau hier, in der Feinstruktur sozialräumlicher Bedingungen, also zwischen den national und global agierenden Systemen der Wirtschaft und der Lebenswelt: Der Vorgang der Inklusion bezieht sich auf Mitgliedschaften in Organisationen. Die individuelle Lebensführung ist hochgradig abhängig vom Zugang zu organisationsgestützten Strukturen wie dem Kindergarten, der Schule, Arztpraxen oder Kliniken. Dass in der UN-Behindertenrechtskonvention der Inklusion in das Gemeinwesen und dem Recht auf ein Leben in der Gemeinschaft ein sehr großer Stellenwert zukommt, erklärt sich so einmal aus der Erkenntnis, dass zur Realisierung gleichberechtigter Lebenschancen neben den Rechtsansprüchen entsprechende Strukturen und Handlungsprozesse vor Ort, bezogen auf konkrete Lebensbedingungen und auf die Sonder- wie die Regelangebote, erforderlich sind. Zum anderen muss die Lebensführung als Ganzes in den Blick genommen werden, sollen Bruchstellen nicht schon vorprogrammiert werden: Schon im horizontalen Gefüge einer Lebenssituation muss z. B. die Entscheidung für eine bestimmte Beschulungsform im Kontext mit gegebenenfalls erforderlichen außerschulischen Hilfen zur Ermöglichung des Schulbesuchs getroffen werden, abgesehen von allen Fragen, die sich mit Blick auf die Bezugnahme einer Schule selbst auf Strukturen vor Ort stellen, z. B. was das Beschaffen von Praktikumsplätzen betrifft oder hinsichtlich der Lebensbedingungen der Familien. Vertikal betrachtet geht es um die Gestaltung der Übergänge zwischen Lebensphasen und Lebensbereichen, um den Einbezug der Kontextfaktoren einer Lebenssituation als Ganzes und damit auch um Fragen der interdisziplinären Kooperation. Bereits die Salamanca-Erklärung der UNESCO von 1994 hebt durchgängig die Notwendigkeit der Verknüpfung der Schule und der Bildungspolitik mit außerschulischen Bereichen (Gemeinde) und der Sozial-, Arbeits- und Gesundheitspolitik heraus. Inklusion in das Gemeinwesen und Inklusion in Angebote der Bildung, Erziehung und sozialen Unterstützung sind untrennbar aufeinander bezogen. Zahlreiche der in den Leitlinien der Salamanca-Erklärung beschriebenen Maßnahmen beziehen sich hierauf, zusätzlich stellen »externe unterstützende Systeme« und »Perspektiven in der Gemeinde« zwei von insgesamt sieben eigenen Aktionsbereichen dar.

Mit »Inklusion« und »Gemeinwesen« geht es tendenziell »um alles«, nämlich sowohl um alle Lebensphasen als auch um alle Lebensbereiche. Diese können und sollen aber nicht alle eine explizite Thematisierung im vorliegenden Band erfahren. Vielmehr soll ein grundlegender Einblick in die übergeordneten und zentralen Fragestellungen der Verwirklichung gerechter Bildungs- und Erziehungschancen im Rahmen konkreter sozialräumlicher Strukturen und auf der Ebene eines Gemeinwesens gegeben werden. Folgende Fragen sind für die Beiträge leitend geworden:

Was bedeutet Inklusion und Partizipation in der »Gemeinde« bzw. im »Sozialraum«, und welche historischen und aktuellen Konzepte und Verständnisweisen gibt es hierzu? Diesen Fragen widmet sich schwerpunktmäßig der erste Beitrag. Die historischen Bezüge zu früheren fachlichen, aber auch sozialpolitischen Leitzielen und Konzepten einer Gemeinde-Orientierung, die auch demokratietheoretische Bezüge hat, sollen Wurzeln und Traditionen ebenso wie Brüche und Kontroversen der aktuellen Entwicklung verdeutlichen. Dazu gehören auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gemeindebegriff sowie mit Ansätzen der Raumsoziologie, neben einer einführenden Aufarbeitung des empirischen Wissens um den Stand des Lebens im Gemeinwesen angesichts von Behinderung.

Wie können sich Bildungseinrichtungen (am Beispiel Schule) sozialräumlich positionieren und vernetzen? Joachim Schroeder diskutiert anhand interdisziplinärer raumtheoretischer Ansätze das komplexe Verhältnis der Institution Schule zum sozialen Umfeld und legt eine Bestimmung der Aufgabenfelder einer inklusionsorientierten Schulentwicklung dar, die systematisch den Sozialraum einbezieht, einschließlich eines Beispiels zur Vorgehensweise einer inklusionsorientierten qualitativen kommunalen Schulplanung. Dabei werden auch Mobilität, Migration und Transnationalisierung als sozialräumlich wirksame Prozesse thematisiert und die damit einhergehenden Herausforderungen für die Schulentwicklung am Beispiel der Verschränkung von Behinderung und Migration verdeutlicht.

Wie kann in einem regionalen oder kommunalen Rahmen Inklusion geplant und umgesetzt werden, welche Akteure, welche Handlungsansätze und Instrumente gibt es? Albrecht Rohrmann vertritt ausgehend von den Benachteiligungen im alltäglichen Leben und der schleppenden Umsetzung der Barrierefreiheit die These, dass die Neuausrichtung der Behindertenpolitik und der Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderungen insbesondere auch einer Neubestimmung der kommunalen Behindertenpolitik bedarf. Wie eine solche kommunale Behindertenpolitik entwickelt werden kann, bildet den Schwerpunkt des Beitrags. Planerische Ansätze zur Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens werden vorgestellt, die das Ziel haben, die Barrieren für behinderte Menschen und andere sozialen Gruppen zu artikulieren, analysieren und im Rahmen partizipativer und lernorientierter Prozesse zu überwinden.

Wie sind kommunale oder regionale Bildungslandschaften über die Lebensspanne zu denken, welche Begründungen und welche Ansätze existieren hierzu? Mit dem Beitrag von Stephan Maykus wird der Fokus auf die kommunale Umsetzung von Bildungschancen gerichtet, in der die Parzellierung nach Leistungsfeldern überwunden werden soll. Inklusion als Entwicklungs- und Gestaltungsaufgabe für unterschiedliche Akteure stößt vor Ort nach wie vor auf getrennte Zuständigkeiten, Gesetze, Finanzierungsformen und Trägerstrukturen. Wie kann also ein kommunaler Bezug aussehen, der Vernetzung, Planung und Partizipation in den bestehenden Systemgrenzen ermöglicht? Die Perspektive des Beitrags richtet sich auf die einer Stadtgesellschaft der Gegenwart mit ihren Merkmalen der Segregation, Exklusion und Inklusion, Kommunikation und Anerkennung. Die Grenzen und Chancen der Stadt als inklusiver Raum und als theoretische Kategorie für die Analyse einer kommunalen Inklusion werden modellhaft geklärt, um zu einem Gestaltungsrahmen zur Planung inklusiver Bildung und Partizipation sowie zu Möglichkeiten der Vernetzung und Moderation unterschiedlicher Systemlogiken zu gelangen.

Welche Chancen und welche Grenzen beinhalten soziale Räume als Orte der Lebensführung, und wie wirken transnationale und globale Entwicklungen hierauf? Der abschließende Beitrag von Gudrun Wansing nimmt das Motiv der Lebensführung wieder auf. Die Inklusionsbedingungen der modernen Gesellschaft konfrontieren den Menschen mit komplexen Anforderungen, die sich ihnen zudem in unterschiedlichen Lebensbereichen auf je spezifische Weise stellen, und zwar zum einen hinsichtlich der alltäglichen Koordination innerhalb einer Lebensphase als auch bezogen auf den Lebenslauf. Der Beitrag liefert einen mehrperspektivischen Betrachtungsrahmen von Inklusion, der funktionale, normative und räumliche Dimensionen von Lebensbedingungen beleuchtet und in ihrer Bedeutung für die Lebensführung (von Menschen mit Beeinträchtigungen) diskutiert.

Alle Beiträge sind einerseits grundlegend im Sinn der theoretischen Fundierung angelegt und ermöglichen andererseits Einsichten in die Umsetzung anhand von Forschungsergebnissen, am Beispiel von praktischen Entwicklungen und anhand konzeptioneller Überlegungen. Für alle Beiträge ist die Konzentration auf Fragen der Bildung, Erziehung und Partizipation leitend, die institutionsübergreifend mit Blick auf Problemstellungen analysiert werden, die prinzipiell für alle Handlungsfelder relevant oder darauf übertragbar sind. Da die schulische Bildung sowohl bezüglich des angesprochenen Leserkreises der Bandreihe als auch bezüglich ihrer Scharnierstellung im Lebenslauf eine zentrale Bedeutung hat, ist dieses Feld jedoch auch explizit repräsentiert. Zugleich macht gerade der Bereich der Schule die Komplexität und auch die Spannungsfelder der Thematik deutlich: Denn hier geht es zum einen um benachteiligte, hierunter auch lernbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche, für die Kooperationen mit der Kinder- und Jugendhilfe ebenso gefordert werden wie die Debatte um den Sozialraum in Bezug auf diese Gruppen häufig einzig auf »benachteiligte Stadtviertel« verkürzt wird. Zum anderen geht es um geistig, körperlich oder sinnesbehinderte Kinder und ihre Familien, die wiederum oft in Debatten um sozialräumliche Schulentwicklung und um inklusive Bildungslandschaften vergessen werden und für die ebenfalls Kooperationen und Unterstützungssysteme – sowohl horizontal in einer Lebenssituation als auch vertikal an den Übergängen im Lebenslauf – notwendig sind. Gleichzeitig stellt sich die Aufgabe der Inklusion unterschiedlichster Gruppen – nicht nur in Bezug auf Behinderung – und eines sozialräumlichen Denkens, das den sozialen Raum nicht erst »draußen vor der Tür« beginnen lassen darf, soll die Gestaltung der Bildungsorte selbst, was Aneignung, Partizipation und soziale Beziehungen betrifft, nicht vergessen werden. Diese Problematiken müssen als quer zu allen Handlungsfeldern liegend begriffen werden.

Dem Band liegt ein Verständnis von Inklusion zugrunde, das sozialwissenschaftlich fundiert ist und seine normative Begründung durch die menschenrechtliche Perspektive der UN-BRK erfährt. Hieraus entspringt die Bedeutung sowohl einer auf Partizipation gerichteten Bildung mit ihren vielfältigen Lernorten als auch einer kommunalen Planung und Umsetzung von Bildungs- als Lebenschancen. Die damit einhergehenden Spannungsfelder werden im vorliegenden Band nicht unterschlagen, sondern es werden Wege zu ihrer produktiven Bewältigung aufgezeigt, mit den Chancen, aber auch den Grenzen, Widersprüchen und Konflikten, die sich immer ergeben, wenn es um die Herstellung gerechter Bildungschancen geht. Inklusion stellt hierfür ein zentrales Mittel dar, sie ist aber kein Zweck an sich, sondern bemisst sich letztlich an der Frage, worin sich eine anerkannte und individuell befriedigende Lebensführung eigentlich bemessen lässt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Historische und aktuelle Begründungslinien, Theorien und Konzepte

Iris Beck

»Die Ausgeschlossenen sollen nicht ins alte System eingeschlossen werden […], sondern als Gleiche in einem neuen institutionellen Moment […] partizipieren. Man kämpft nicht für die Inklusion, sondern für die Transformation.« (Dussel, 2013, These 14.13)

1          Lebenslagen behinderter Menschen – Rahmendaten und Einblicke

1.1        Behinderung als Prozess erschwerter Partizipation am Leben in der Gemeinschaft und Gesellschaft

International wird Behinderung als ein Prozess der Erschwerung von Aktivitäten und der Partizipation aufgrund negativer Wechselwirkungen zwischen einer Person mit Störungen bzw. Beeinträchtigungen ihrer physischen, geistigen oder psychischen Funktionen und Faktoren ihrer sozialen und materiellen Umwelt betrachtet (International Classification of Functioning, DImDI, 2004; Schuntermann, 2011). Behinderungen entstehen in Relation zu bestimmten Normen, Werten und Einstellungen, zu strukturellen und situativen Kontexten und Anforderungen. Sie werden als eine gesellschaftliche Positionszuschreibung existent, wenn sich mit umfänglichen Beeinträchtigungen negative Bewertungsprozesse und Benachteiligungen, also Folgen für die Lebensführung im Sinne einer erschwerten Teilhabe, verbinden.

Behinderung ist ein komplexes, relatives, mehrdimensionales und prozesshaftes Geschehen, das von vielen Faktoren beeinflusst wird. Aber auch bereits das Ausmaß einer Beeinträchtigung (z. B. der Motorik) oder einer funktionellen Störung (z. B. eine Krankheit des Bewegungsapparates) werden durch äußere und personale Bedingungen beeinflusst, z. B. durch die medizinische Versorgung oder das Alter und den Gesundheitszustand einer Person. Ob es also zu Erschwernissen von Alltagsaktivitäten und der Partizipation kommt, und wenn ja, zu welchen, geht weder linear-kausal aus einer funktionellen Störung noch aus einer Beeinträchtigung hervor.

»Daß sich physische Schädigungen des Sehens bis zum Grad der Blindheit auf die Funktionabilität (Verhalten, Erleben, Lernen) des Individuums beeinträchtigend, erschwerend auswirken, erscheint plausibel. So wird u. a. von der meist verzögerten Entwicklung der Motorik berichtet, […] von der Erschwerung der Orientierung im Raum, von der Schwierigkeit, bei kognitiven Prozessen die ausfallenden visuellen Wahrnehmungen durch taktile und auditive zu ersetzen […] Die individuellen Unterschiede sind allerdings aufgrund der hohen Komplexität von sonstigen Wirkvariablen, zu denen insbesondere die Persönlichkeitsstruktur, Intelligenz, soziale Umwelt, ökonomische Bedingungen, Erziehung u. a. gehören, so groß, daß gegenüber Generalisierungen erhebliche Vorsicht geboten ist.« (Speck, 1996, 206f.)

Im alltäglichen Sprachgebrauch wird »Behinderung« häufig gleichgesetzt mit einer Schädigung oder Beeinträchtigung. Die fachliche, rechtliche und wissenschaftliche Bedeutung unterscheidet sich vom Alltagsverständnis. Der Begriff selber entstand historisch in den 1920er Jahren als ein Sammelbegriff zum Zweck der Erfassung derjenigen Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen »behindert an der selbstständigen Lebensführung« sind, er bezeichnete also von Anfang an die sozialen Folgen bzw. die Abweichung von Erwartungen und Normen. Es dauerte allerdings sehr lange, bis sich der Begriff in der Sozialgesetzgebung durchsetzte, und zwar zuerst 1961 im Bundessozialhilfegesetz mit den »Hilfen in besonderen Lebenslagen für behinderte Menschen« und dann 1974 mit der Schaffung des Schwerbehindertenrechts, das das alte »Schwerbeschädigtengesetz« ablöste.

Behinderte Menschen sind keine homogene Gruppe; Ursachen und Folgen von Beeinträchtigungen und Benachteiligungen stellen sich individuell und in Abhängigkeit von sozialen und gesellschaftlichen Faktoren sehr unterschiedlich dar. »Die Frage nach der Entstehung der Behinderungen führt uns mit zunehmender Erkenntnis immer häufiger auf den Einfluß gesellschaftlicher Bedingungen«, so von Ferber (1972, S. 34). Und weiter: »Wir orientieren uns nicht länger an einer einfach strukturierten biologischen Determination, sondern wir denken in komplexen […] multi-faktoriellen Bedingungsreihen, an deren Erforschung biologische, psychologische und soziologische Denkmodelle Anteil haben« (ebd., S. 35). »Die Kategorie der behinderten Menschen bildet ungeachtet ihrer sozialen Differenzierungen und der verschiedenen Formen ihrer Behinderungen eine Minderheit, deren gemeinsames Merkmal in der Beschränkung ihrer gesellschaftliche Teilhaben liegt« (ebd., S. 40).

Was also rechtfertigt, sie als eigene gesellschaftliche Gruppe zu kennzeichnen oder den Begriff übergreifend zu verwenden, ist die erschwerte Partizipation aufgrund von sozialer Distanz und Ausgrenzung. Zusammen mit existenten Aktivitätseinschränkungen kann dies zu individuell unterschiedlichen, zum Teil andauernden Anforderungen mit Blick auf die Bewältigung von Barrieren und auch psycho-physische Belastungen mit sich bringen. Auch wenn Behinderung hochgradig sozial bedingt ist, würde eine Ausblendung der individuell sich ergebenden psychischen und physischen Beeinträchtigungen und Anforderungen die Lebenswirklichkeit und die Lebensleistung behinderter Menschen missachten. Behinderungen bringen eine erhöhte soziale Abhängigkeit mit sich und sie verändern die soziale Situation der Betroffenen. Deswegen kommt den psycho-sozialen Folgen und der Partizipation an alltäglichen Lebensvollzügen eine so hohe Bedeutung zu. Die Schwere einer Behinderung oder Benachteiligung bemisst sich entsprechend an den subjektiv erlebten und objektiv bestehenden Folgen mit Blick auf die Möglichkeiten erlebter und bestehender Einschränkung von Aktivitäten und Partizipation. Je höher dabei die Angewiesenheit auf soziale Hilfen und Leistungen ist, desto größer wird die soziale und gesellschaftliche Verantwortung dafür. Behinderte Menschen sind von sozial- und bildungspolitisch gesteuerten Dienstleistungen und Hilfen abhängig; neben die Eigenverantwortung für die Lebensführung treten die solidarischen Verpflichtungen und soziale Rechte. Eingeschränkte Selbstständigkeit muss nicht die Autonomie einschränken, wenn Hilfe bedarfsgerecht, nicht entmündigend oder bürokratisch gewährt wird, wenn Barrieren nicht strukturell wirksam werden und der soziale Status »behindert« keine Abwertung erfährt, unabhängig von den tatsächlichen Eigenschaften und Kompetenzen des betreffenden Menschen. Diesen Problematiken entspringt die Kritik der Betroffenen, wie sie sich im Rahmen der Selbstbestimmt-leben-Bewegung (Rüggeberg, 1990) artikuliert hat; mittlerweile ist es zu weitreichenden Veränderungen in der Gestaltung und Zielsetzung professioneller Hilfen gekommen, so dass es nicht um das Ob, sondern das Wie der Umsetzung einer gleichberechtigten Lebensführung geht.

Historisch wurde die Lage behinderter Menschen staatlicherseits lange als individuelles Schicksal betrachtet, von zwei Ausnahmen abgesehen: nämlich Behinderungen als Kriegsfolge und ab 1953 beruflich bedingte Behinderungen. In beiden Fällen lag dem der Gedanke zugrunde, dass die Ursache für die Lebenssituation nicht im Individuum liegt, während man die Lage aller anderen behinderten Menschen als rein individuell bedingt, als direkte Folge der Schädigung betrachtete. 1954 wurde vom Bundesverwaltungsgericht diese Auffassung als mit dem Grundgesetz und dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar zurückgewiesen. Damit wurden zwei für die Lage behinderter Menschen entscheidende Dinge festgestellt (Fahlbusch, 1997, S. 29f.):

1.  Allen behinderten Menschen steht unabhängig von der Ursache oder Art ihrer Behinderung ein Recht auf Hilfe zu (Finalitätsprinzip: Orientierung an den Folgen von Behinderungen für die Lebensführung anstelle des Kausalprinzips, der Orientierung an der Ursache der Behinderung als Maßstab für die Gewährung von Hilfen).

2.  Die Lage der behinderten Menschen ist kein in der individuellen Verantwortung liegendes, sondern ein gesellschaftliches Problem. Damit wurde eine Pflicht des Staates und der Gemeinschaft zu solidarischen Leistungen festgestellt; dem entspricht auf Seiten der behinderten Menschen ein Recht auf Hilfe.

Mit Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG; heute Sozialgesetzbuch XII) von 1961 wurde mit dem Einlösen dieses Anspruches begonnen. Behinderung wurde damals als eine besondere Lebenslage im Gesetz bezeichnet. Damit wurde anerkannt, dass die Besonderheit – also die Ungleichheit – der Lebenslage durch Benachteiligung und Ausgrenzung verursacht wird. Seitdem meint Behinderung in der Gesetzgebung die Erschwerung der Teilhabe und die Hauptfunktion der gesetzlichen Leistungen ist es seitdem, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und der Gesellschaft zu ermöglichen. Dieser Anspruch hat nun mit der Ratifizierung der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen (UN-BRK) eine enorme Stärkung erfahren, die sich auch explizit auf das Gemeinwesen richtet. Die UN-BRK will den »vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen« und »die Achtung der ihnen innewohnenden Würde« fördern (Art. 1). Der Artikel 3 legt dafür die Grundsätze fest und hebt u. a. die Achtung der individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft hervor. Partizipation ist in der vollen Bedeutung Grundsatz und Strukturmaxime der UN-BRK, also »leitend für die Umsetzung der Konvention und das Verständnis der darin enthaltenen Rechte« (Hirschberg, 2010, S. 2). Der Artikel 19 legt das Recht auf ein Leben in der Gemeinschaft fest; dieser bezieht sich auf

•  Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten wo und mit wem behinderte Menschen wohnen, einschließlich des Rechts, nicht in Sondereinrichtungen leben zu müssen. Sondereinrichtungen müssen dem Willen des Betroffenen auf freie Wahl seines Aufenthaltsortes entsprechen;

•  den Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten zuhause und in Einrichtungen sowie die Vermeidung von Isolation durch (spezielle) Dienste und

•  die Zugangsmöglichkeiten zu allgemeinen Dienstleistungen.

Damit sind die Veränderung der Sonder- und der allgemeinen Angebote und der Anspruch auf ein Leben in der Gemeinde rechtlich fixiert. Dieses muss – und dies sind entscheidende Zusätze – »voll und gleichberechtigt« (ebd.) möglich sein, es müssen also angemessene und wirksame Maßnahmen und zwar unter der Beteiligung der behinderten Menschen und Wahrung eines Wahlrechts ergriffen werden. Hierin, so die Überzeugung der UN-Konvention, kommt die Anerkennung als »Rechtssubjekte und Träger der menschlichen Würde« (ebd., S. 3) zum Ausdruck.

1.2        »… in erster Linie Kinder und Jugendliche wie alle anderen auch …« – Rechtliche Bestimmungen und ihre Bedeutung für ein gemeinsames Aufwachsen behinderter und nicht behinderter Kinder und Jugendlicher

Die gesetzliche Grundlage zur rechtlichen Feststellung der amtlich anerkannten Behinderung ist das Sozialgesetzbuch (SGB) IX, das das Ziel der Förderung der »Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« verfolgt. Der amtliche Behinderungsbegriff ist ein verwaltungstechnischer Begriff zu verteilungspolitischen Zwecken; die Statuszuweisung erfolgt mit dem Ziel, Hilfen zu gewähren, auf die ein umgrenzter Personenkreis Anspruch hat. Demnach gelten Menschen als behindert, »wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist« (§2 SGB IX). Die Angleichung dieser die Behinderung noch immer kausal aus der Beeinträchtigung herleitenden Definition an die ICF ist geplant, aber noch gilt der derzeitige Wortlaut, auf dessen Grundlage eine ärztliche Bedarfsfeststellung nach festgelegten Kriterien zur Messung des Grades der Behinderung (GdB) erfolgt. Ab einem GdB von mehr als 50 gilt man als schwerbehindert; generell muss ein GdB von mindestens 30 erreicht werden, um Hilfen beantragen zu können. »Schwerbehindert« sagt dabei nichts über die tatsächliche subjektiv empfundene oder objektiv bestehende Beeinträchtigung und das Ausmaß der Partizipationsbeschränkung aus, sondern stellt gleichsam eine Schwelle dar, ab der man feste Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB IX hat. Die im § 4 genannten Leistungen sollen unabhängig von der Ursache der Behinderung die Persönlichkeitsentwicklung und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in allen Lebensbereichen fördern »sowie eine möglichst selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung […] ermöglichen oder […] erleichtern« (§ 4, 2). Für behinderte Kinder gilt dabei, dass die Leistungen »so geplant und gestaltet [werden], dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit nicht behinderten Kindern betreut werden können« (§ 4, 3). Obwohl sich also die Feststellungspraxis derzeit noch stark an medizinischen Kriterien orientiert, liegt die Zielstellung für die individuelle Bedarfsgewährung damit eindeutig auf der Lebenslage als ganzer und auf der Partizipation.

Im Bereich der Bildungspolitik spielt der amtliche Behinderungsbegriff keine ausschlaggebende Rolle für die Zumessung eines besonderen Status, sondern der Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Er wird bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter festgestellt, »die in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten so beeinträchtigt sind, dass sie ohne sonderpädagogische Unterstützung nicht hinreichend gefördert werden können« (KMK, 1994, S. 5). Der Begriff ist deutlich weiter gefasst als die Bestimmungen von Behinderung im SGB IX und bezieht sich auch auf Problemlagen, die sozialrechtlich nicht als behindert anerkannt werden; dies betrifft vor allem Beeinträchtigungen des Lernens und der emotionalen und sozialen Entwicklung. Das zentrale Merkmal für die Statuszuweisung der speziellen Förderbedürftigkeit ist das drohende oder erfolgte Herausfallen aus den »normalen« Anforderungen und Bedingungen der schulischen Förderung, wenn keine zusätzlichen und spezifischen Maßnahmen erfolgen. Die Ursachen dafür können also vielfältig sein, sie sind nicht allein der Umstand einer Beeinträchtigung an sich oder ein sozialrechtlicher Status. Deshalb unterscheidet sich die Zahl der Kinder mit »Ausweis« nach dem SGB IX von der Zahl der förderbedürftigen Schüler. So weist die Statistik der Kultusministerkonferenz eine Gesamtzahl von 510.544 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf für das Schuljahr 2013/2014 aus; auch ihre Zahl steigt seit Jahren an. Davon wurden 157.201 Schüler inklusiv unterrichtet; allein 68.351 dieser Inklusionsschüler gehörten dem Förderschwerpunkt Lernen an. 343.343 Schüler befanden sich in Sonderschulen, von ihnen gehörten wiederum 125.640 zum Förderschwerpunkt Lernen.

Gesamtzahl sonderpädagogisch förderbedürftiger Schüler510.544

Tab. 1: Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf für das Jahr 2013/14 (nach KMK, 2013/2014)

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Nicht alle als behindert nach dem SGB IX geltenden Schüler gelten automatisch als sonderpädagogisch förderbedürftig; so kann z. B. ein körperlich beeinträchtigter, schwerhöriger oder sehbehinderter Schüler dann eine Regelschule ohne Statuszuweisung besuchen, wenn für ihn keine besondere pädagogische Unterstützung benötigt wird und er die Unterrichtsziele erreicht. Die Zahl solcher Schüler, man spricht hier von »grauer« Inklusion bzw. Integration, ist unbekannt, ebenso, wie sie ihren Schulbesuch bewältigen.

Behinderte Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe nach dem SGB IX. Die Ausführung und jeweiligen Zuständigkeiten und Ansprüche regeln aber die Einzelgesetze (z. B. das Krankenversicherungsgesetz die medizinischen Leistungen; das Sozialhilfegesetz SGB XII viele soziale, aber auch pädagogische Leistungen außerhalb des Schulunterrichts). Das hat historische Gründe: die Rechte behinderter Menschen haben sich im Wesentlichen aus der Kriegsbeschädigtenversorgung (Schwerbeschädigtengesetze der 20er und 50er Jahre) sowie der Armenfürsorge (erstes Fürsorgegesetz in der Weimarer Republik; Bundessozialhilfegesetz – BSHG 1960, Reform des BSHG 1974) entwickelt. Die Kriegsbeschädigtenhilfen mündeten in das Bundesversorgungsgesetz und die Gesetze zum Erhalt rehabilitativer Leistungen, die aber wiederum auf zahlreiche Einzelgesetze, vorrangig der Sozialversicherungsgesetzgebung, verteilt waren. Die Armenfürsorge entwickelte sich zur Sozialhilfegesetzgebung (heute SGB XII). In ihr wurden Hilfen für behinderte Menschen verankert, für die die anderen Gesetze keine Hilfen vorsahen; die Durchsetzung der sogenannten Eingliederungshilfe war ein mühseliger Prozess. Die Leistungen des SGB XII beziehen sich auf

•  die Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe im Kindesalter (z. B. heilpädagogische Frühförderung; Förderung des Kita-Besuchs),

•  Hilfe zur Schulbildung (z. B. Schulwegbegleitung oder Schulassistenz),

•  familienunterstützende Hilfen,

•  Hilfe zum Wohnen (betreutes Wohnen oder technische Hilfen),

•  Hilfe zur Ausbildung und Beschäftigung und

•  zur Teilhabe am öffentlichen und kulturellen Leben.

Träger der Leistungen sind überwiegend das Bundesland (überörtlicher Träger, Landessozialamt) und nur zum Teil auch die Landkreise bzw. Kommunen; dies ist derzeit in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Die allermeisten dieser Leistungen werden im Auftrag der gesetzlichen Träger von freien Trägern erbracht. Gesetzliche Träger sind Organe des Staates wie die Sozialämter oder die Arbeitsagentur, freie Träger sind die Einrichtungen und Dienste der Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Arbeiterwohlfahrt, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, Deutsches Rotes Kreuz).

Mit der Verankerung dieser Leistungen im SGB XII geht eine Schlechterstellung der Leistungsempfänger einher, weil sie grundsätzlich nur nachrangig gewährt werden. Das Einkommen bzw. Vermögen wird herangezogen, unter Anrechnung von Freibeträgen. Der Bedarf muss immer im Einzelfall nachgewiesen und geprüft werden; die gesetzlichen Leistungsträger müssen nicht von sich aus Angebote flächendeckend bereitstellen. Der Nachrangigkeitsgrundsatz bezieht sich auch darauf, dass der gesetzliche Träger kein eigenes Angebot wie eine Frühförderstelle oder ein Wohnangebot aufbaut, wenn dies ein freier Träger tut. Zudem besteht die Maßgabe des wirtschaftlichen günstigsten Angebotes; der Kostenvorbehalt nach § 13 SGB XII und die »Zumutbarkeit« einer stationären Einrichtung können das Wunsch- und Wahlrecht nach SGB IX § 9 einschränken. Die Folge ist ein von Bundesland zu Bundesland, ja, von Region zu Region höchst disparates und vor allem nicht immer bedarfsdeckendes Angebot an Leistungen, das in Abhängigkeit der jeweiligen vor Ort etablierten freien Träger, ihrer Zielsetzungen und Ausrichtungen sowie der länderpolitischen Entscheidungen und Zielsetzungen steht. Für viele Leistungen sind die Kommunen nicht zuständig oder sehen sich nicht als zuständig an, so dass die Frage der Bedarfsplanung und -umsetzung nicht dort, wo der Bedarf sichtbar und artikuliert werden kann, verankert ist. Die Frage, ob Eltern z. B. familienentlastende Dienste in Anspruch nehmen können und in welchem Umfang oder ob ein Angebot an ambulanten Hilfen zum betreuten Wohnen vorhanden ist, ist also eine des »Schicksals des richtigen Wohnortes« (vgl. hierzu ausführlich Thimm/Wachtel, 2002). Auf der anderen Seite fallen behinderte Kinder und Jugendliche, mit Ausnahme der als seelisch behindert geltenden Kinder (§35a SGB VIII) aus der Zuständigkeit des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Sozialgesetzbuch VIII) heraus, das bundeseinheitlich die Leistungen gegenüber Kindern, Jugendlichen, jungen Volljährigen und ihren Familien regelt. Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind u. a.

•  Offene Kinder- und Jugendarbeit (z. B. Jugendzentren, Freizeitangebote usw.),

•  Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz,

•  die Familienförderung und Kindertagesbetreuung,

•  Hilfen zur Erziehung in und außerhalb der Familie,

•  Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche,

•  Inobhutnahme und Vormundschaft.

Die Leistungen des SGB VIII werden im Gegensatz zu denen des SGB XII und des SGB IX auch von gesetzlichen neben den freien Trägern erbracht und es sind die Kommunen, die für die Planung und Umsetzung der Leistungen zuständig sind. Sie kennen die Strukturen und Problemlagen vor Ort und können und müssen sie direkt bearbeiten. Familien mit nicht behinderten Kindern finden somit ein vor Ort und auf örtliche Bedarfslagen bezogenes Angebot an Leistungen und dies zum Teil in öffentlicher Trägerschaft vor. Der Beitrag von Rohrmann vertieft diese historisch bedingte Trennung und zeigt die Folgen für die kommunale Angebotsstruktur und die Chancen und Grenzen einer kommunalen Teilhabeplanung detailliert auf. Denn mit diesen getrennten rechtlichen Zuständigkeiten für behinderte und nicht behinderte Menschen gehen erhebliche Bruchstellen einher, was die Zugänglichkeit von Angeboten und Leistungen im Gemeinwesen betrifft.

So kann z. B. ein als behindert geltender Schüler einerseits in einer Regelschule unterrichtet werden, aber einen vom Jugendamt der Stadt betriebenen Freizeittreff kann er nicht aufsuchen, weil dieser auf die Zielgruppe behinderter Kinder nicht ausgerichtet oder nicht barrierefrei gestaltet ist. Seine Eltern müssten im Bedarfsfall also beim Sozialamt aufwändig eine Assistenz über die Eingliederungshilfe beantragen und gleichzeitig beim Freizeittreff auf Akzeptanz für eine Teilnahme treffen. Ihre Lage als Familie mit einem behinderten Kind ist nicht systematisch in der Zuständigkeit der Kommune verankert und damit nicht im Blick der örtlichen Kinder-, Jugend- und Familienpolitik und der Angebotsstrukturen. Ein Mitschüler wiederum, der als sonderpädagogisch förderbedürftig im Förderschwerpunkt Lernen anerkannt ist, verliert in der Freizeit quasi diesen Status und kann den Freizeittreff ohne Weiteres besuchen. Sollte aber für die Familie dieses Mitschülers Beratung oder Unterstützung notwendig sein, würde ein Anspruch z. B. auf sozialpädagogische Familienhilfe durch das Jugendamt gewährt. Beide Beispiele verweisen auf die Dringlichkeit der Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Schule, um diese Bruchstellen von Inklusionsprozessen zu überwinden. Weitergehend ist geplant, die Rechte behinderter Kinder und Jugendlicher in das SGB VIII aufzunehmen, eine gesetzliche Umsetzung ist derzeit aber nicht abzusehen.

Die getrennten rechtlichen Zuständigkeiten haben aber noch eine andere Seite, nämlich die der getrennten professionellen Systeme. Seit Jahrzehnten bestehen historisch unterschiedlich gewachsene Felder der Regel- und Sonderschule, der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe nebeneinander, als versäultes System mit voneinander getrennten Zielgruppen, Ausbildungsgängen, Berufsbildern bis hin zu unterschiedlichen Leitzielen, Handlungskonzepten, Fachverbänden, -zeitschriften, -verlagen oder Tagungen. Diese strukturelle Versäulung und Separierung hat auch zur Folge, dass sowohl innerhalb der Unterstützungssysteme für behinderte Menschen als auch im Bereich der anderen Systeme der Bildung, Erziehung, Beratung, Förderung und Assistenz der Blick auf »Differenz« eingeschränkt bleibt und entsprechend Problemlagen ausgeblendet oder nur mangelhaft bearbeitet werden, in fachlich-praktischer, aber auch in wissenschaftlicher Hinsicht: Schroeder zeichnet dies in seinem Beitrag detailliert für das Thema Migration und Flucht nach. Umgekehrt ist Behinderung aber auch kaum Thema im Feld der interkulturellen Pädagogik. Ähnliches gilt für das Thema Geschlecht, Armut, Alter und Obdachlosigkeit. Im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Universität Hamburg wird seit vier Jahren untersucht, wie sich diese getrennten Zuständigkeiten im Alltag auf die Frage der Inklusion im Stadtteil auswirken. Die Untersuchung von vier Stadtteilen unterschiedlicher Bezirke in Hamburg ergab dabei, dass bereits auf der Ebene der Information, seien es Stadtteilführer oder die behördlich erstellten Sozialraumbeschreibungen, über Angebote für behinderte Menschen und ihre Familien, wenn überhaupt, nur zufällig, ausschnittsweise und unsystematisch informiert wird, obwohl die behördliche Sozialraumbeschreibung den Anspruch hat, alle Lebenslagen und Zielgruppen zu erfassen. Das Thema Behinderung aber ist Sache des bezirksübergreifenden Fachamts »Eingliederungshilfe«, während alle anderen Fragen, wie die von Alter, Migration, Kindheit, Arbeit, Gesundheit, Freizeit, Bildung usw., im Dezernat Jugend, Soziales und Gesundheit der Bezirksämter vereint sind, wo auch das Sozialraummanagement und die Fachplanung für Jugend und Soziales angesiedelt sind. Entsprechend konnte in den vier Stadtteilen bislang keine systematische inklusive Sozialraumplanung nachgewiesen werden. Für behinderte Kinder und Jugendliche hat dies Konsequenzen für ihre Chancen auf Partizipation am öffentlichen Leben: bei der Untersuchung von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendhilfe, wie z. B. Mädchentreffs, Bauspielplätzen oder Jugendzentren, konnte, trotz der bundesweit steigenden Beispiele inklusiver Kinder- und Jugendhilfeangebote (siehe hierzu auf der Ebene der Handlungsempfehlungen für die Praxis Aktion Mensch, 2015), kein Angebot gefunden werden, das Inklusion für behinderte Kinder und Jugendliche auf der Ebene des informationellen, funktionalen oder sozialen Zugangs im Sinne der Eröffnung einer umfassenden, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe und Teilnahme ermöglicht.

1.3        Leben im Gemeinwesen – Annäherung an Kenntnisse der Lebenslagen und Problemstellungen

Behinderung als gesellschaftliches Phänomen: nationale und internationale Erfassungen von Behinderung und Beeinträchtigung

Im Jahr 2013 lebten in Deutschland 10,2 Millionen Menschen (ca. 13 % der Bevölkerung) mit einer amtlich anerkannten Behinderung (Statistisches Bundesamt, 2013). 2,5 Millionen von ihnen haben einen sogenannten Migrationshintergrund (BMAS, 2013, S. 56; vgl. zur Frage von Migration und Behinderung ausführlich den Beitrag von Schroeder). Der größte Teil, nämlich rund 7,5 Millionen Menschen (9,4 %), hatte einen Grad der Behinderung von 50 und mehr, galt also als schwerbehindert; diese Zahl ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen; so waren es im Jahr 2003 noch rund 6,6 Millionen schwerbehinderte Menschen. Ca. 2,7 Millionen Menschen hatten einen Grad der Behinderung zwischen 30 und 50. Da aber diese »leichter« behinderten Menschen in der amtlichen Statistik nicht systematisch erfasst werden und sich zudem viele Leistungen explizit am Schwerbehindertenstatus orientieren, liegen amtliche Daten nahezu ausschließlich zu dieser rund 7,5 Millionen Menschen umfassenden Gruppe der als schwerbehindert anerkannten Menschen vor, von denen etwas mehr als die Hälfte (52 %) Männer waren. Behinderung ist vor allem ein Problem im höheren Lebensalter; so war »fast ein Drittel (30,9 %) der Menschen 75 Jahre und älter; knapp die Hälfte (45,0 %) gehörte der Altersgruppe der 55- bis unter 75-Jährigen an. Dagegen fiel der Anteil der unter 25-Jährigen mit 3,8 % gering aus« (Statistisches Bundesamt, 2013, S. 5). 3,3 Millionen schwerbehinderte Menschen waren im erwerbsfähigen Alter, 1,6 Millionen von ihnen zwischen 55 und 65 Jahre alt. Im Alter zwischen 0 und 25 Jahren waren 350.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Besitz eines Ausweises; im Alter unter 6 Jahren waren es 28.000. Die tatsächliche Zahl behinderter Kinder und Jugendlicher ist aber höher; nicht immer wird der Ausweis beantragt. An zwei zentralen Schwellen steigt die Zahl jedoch: beim Schuleintritt und dann wieder im Alter von 18 bis 25 Jahren, also beim Ausbildungsbeginn und beim Eintritt in die berufliche Tätigkeit. An dieser Stelle zeigt sich die Berechtigung der Rede von der erschwerten Teilhabe ebenso wie die gesellschaftliche Bedingtheit erschwerter Partizipation: Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit determinieren die Lebenschancen und stellen zugleich die wichtigsten Instanzen der Hervorbringung struktureller Benachteiligung und ausgliedernder Prozesse dar.

Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist Behinderung wesentlich ein Problem des Erwachsenalters und es überwiegen körperliche Beeinträchtigungen als Folge von Krankheiten im Lebensverlauf. Das Bild der Öffentlichkeit von Behinderung ist jedoch häufig ein anderes, sowohl bzgl. der Ursachen (so wird die Zahl der angeborenen Behinderungen häufig stark überschätzt) als auch hinsichtlich der Art der Beeinträchtigung.

Krankheitsfolge 85,0 %

Tab. 2: Ursachen von Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (nach Statistischem Bundesamt, 2013, S. 5)

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Körperliche Beeinträchtigungen 4567 62,7 %

Tab. 3: Art der Beeinträchtigung bei schwerbehinderten Menschen (nach BMAS, 2013, S. 60; Berechnung anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes, Schwerbehindertenstatistik 2011)

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Die hier erhobene Zahl liegt deutlich höher als die der Schwerbehindertenstatistik, nämlich bei 16,8 Millionen Menschen