Buchinfo

Als June ein Stipendium für die Saint Gilberts High School erhält, geht ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Nur ihre Tante ist nicht begeistert. Sie warnt vor einem uralten Fluch und sieht eine dunkle Gefahr über Saint Gilberts aufsteigen. Doch June hat andere Sorgen: Sie hat sich Hals über Kopf in Jacob verliebt, was alles andere als unkompliziert ist. Außerdem taucht immer wieder ein unheimlicher Rabe in ihrer Nähe auf und verfolgt sie sogar bis in ihre Träume. Und plötzlich geschehen tatsächlich merkwürdige Dinge in dem alten Schulgemäuer. Hatte Tante Phoebe etwa recht damit, dass ausgerechnet June die Bestimmte ist, die den Fluch auf Saint Gilberts aufheben wird? Und zwar im Tausch gegen ihre große Liebe …

Autorenvita

© privat

Anja Ukpai wuchs in einer kleinen Stadt im Münsterland auf. Schon früh begann die gelernte Sozialpädagogin mit dem Schreiben und arbeitet inzwischen als freie Autorin. Seit 2010 veröffentlicht sie Kinderbücher im Thienemann-Esslinger Verlag, die unter anderem mit dem »Leipziger Lesekompass« ausgezeichnet wurden. Nach einer Zeit in Michigan/​USA ist die Autorin nun wieder zurück an ihrem Schreibtisch im Münsterland, den sie manchmal auch gegen ihren Lieblingsplatz unter dem alten, knorrigen Kirschbaum eintauscht.

Rabenherz

Für Nele und Niklas

und für einen schwarz schillernden Raben,

der in seinem Federkleid ein Geheimnis hütete.

PROLOG

Vincent George Lewis of Doorley

1894  1911

Mortlock Park, 19. März 1911

Der Wald atmete wie ein wildes Tier. Oder war es das Blut, das in ihren Ohren rauschte, weil sie etwas Verbotenes taten?

»Hast du Angst?«, fragte er und drückte den Stacheldraht herunter.

»Sehe ich so aus?«, fragte sie zurück, raffte ihr Kleid und kletterte über den Zaun in den Mortlock Park, den dichten Wald, der die private Jungenschule Saint Gilberts vom Dorf trennte.

»Komm«, flüsterte er und suchte nach ihrer Hand.

»So eine bin ich nicht«, zischte sie, reckte stolz ihr Kinn und beschritt den kaum erkennbaren Weg, der durch das Geäst hinauf zu dem alten Gemäuer führte, um das sich ebenso viele Legenden wie Efeu rankten.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er ihr hinterhereilte. Sie war so anders als die Mädchen, die er kannte. Sie interessierte sich nicht für seinen Adelstitel oder das Vermögen seiner Familie. Maura Roberts hatte nur eine Schwäche: Saint Gilberts.

Zu Anfang hatte sie sich damit begnügt, seinen Erzählungen zu lauschen. Sonntagnachmittags hinter der Dorfkirche. Wie gebannt hatte sie an seinen Lippen gehangen. Doch sie wollte mehr. Und an diesem Abend im März, an dem die Sonne warm schien und doch den Winter aus dem Schatten der Bäume noch nicht zu vertreiben vermochte, an diesem Abend nahm sie ihm das Versprechen ab, sie zur Schule hinaufzuführen. Zu seiner Schule.

Erst als das Kloster hoch oben auf Mortlock Hills vor ihnen auftauchte, hielt sie in Ehrfurcht erstarrt inne. Saint Gilberts war ein beeindruckendes Gebäude und beherbergte seit vielen Jahrhunderten eine Privatschule für die Söhne reicher Londoner Adelsfamilien. Unten im Dorf wurde gemunkelt, dass es auf Saint Gilberts nicht mit rechten Dingen zugehe. Die Alten behaupteten sogar, dass ein Fluch auf der Schule liege. Schüler seien vor vielen, vielen Jahren von dort verschwunden und man habe weder sie noch ihre Leichen je gefunden. Doch zur Dämmerstunde könne man ihre rastlosen Seelen wie weiße Nebel zwischen den Bäumen von Mortlock Park herumgeistern sehen.

Mit der Zeit aber verblassten die Warnungen vor Mortlock Park und kaum einer konnte sich mehr an das Geheimnis um die verschwundenen Schüler erinnern.

»Komm schon«, flüsterte er plötzlich und wusste selbst nicht so genau, warum. Zwischen den Bäumen stieg weiß der erste Dunst auf. Bald schon würde es dunkel werden.

»Wir sind nicht allein«, wisperte sie, deutete auf einen Schatten nahe des Waldsees und griff nach seiner Hand.

Sein Herz klopfte schneller und durch die Wärme ihrer Hand ermutigt rief er: »Ist da jemand?«

»Nicht, Vincent«, rief sie erschrocken, als er ein paar Schritte in Richtung Mortlock Lake machte. »Lass uns von hier verschwinden.«

Es war der besorgte und zugleich zärtliche Klang in ihrer Stimme, der ihn in einen wahren Glücksrausch versetzte und jegliche Vorsicht lahmlegte.

»Warte hier«, raunte er ihr leise zu und pirschte sich durch den Wald. Er würde ihn stellen. Wer auch immer hier draußen herumlungerte und ihr Angst einjagte.

Es war kurz nach Sonnenuntergang, als die Schulhunde, die den Falkner Sean Peters auf seinem abendlichen Rundgang begleiteten, anschlugen. Als hätten sie ein Kaninchen gewittert, jagten sie in den Mortlock Park.

»Verdammte Bande«, zischte Sean Peters und eilte ihnen hinterher. Doch er hatte sie längst aus den Augen verloren. Peters war nicht mehr der Schnellste, die vielen Drinks unten im Dorfpub hatten ihn kurzatmig werden lassen. »Beim Allmächtigen«, flüsterte er, als er die Hunde vor einem zusammengekauerten Mädchen nahe Mortlock Lake fand. »Kind«, rief er. Längst verblasste Bilder rasten durch seinen Kopf, als er zu dem Mädchen eilte, sie an den Schultern fasste und hochhob. Ihr Gesicht war bleich, ihr schlanker Körper zitterte. Musternd sah er sie an. »Bist du nicht die Kleine vom Black Fox unten im Dorf? Martha? Mariah?«

»Maura«, flüsterte sie und taumelte, als er den Griff um ihre Schultern lockerte.

»Maura, was tust du hier draußen ganz alleine im Mortlock Park?«

»Alleine?«, stammelte sie nur und sah sich mit angstvollem Blick um.

»Nicht?«, fragte Sean Peters und eine schreckliche Ahnung kroch ihm den Nacken hinauf.

Der Mortlock Lake lag still und schwarz in der Abenddämmerung. Weißer Dunst stieg aus dem Erdreich auf und sammelte sich über dem See.

Maura schüttelte den Kopf und sah hoch in die Luft, doch das Einzige, was Sean Peters erkennen konnte, war ein einsamer Kolkrabe im Geäst einer Eiche, dessen lautes »Kroak« Maura zusammenzucken ließ.

»Komm, Maura, komm weg von hier.«

Sean Peters schob Maura die Böschung hinauf, half ihr über den Stacheldrahtzaun und dann den Weg hinunter ins Dorf. Eine nie gekannte Erleichterung überkam ihn, als sie den Mortlock Park hinter sich gelassen hatten.

Mit lautem Gebell schreckten die Schulhunde die Bewohner von Little Lixton auf, die beim Abendessen saßen oder den Sonntagabend-Nachrichten im Radio lauschten.

Man trug Maura ins kleine Zimmer hinter der Küche des Black Fox und schickte nach dem Dorfarzt und der Polizei.

»Vincent«, flüsterte Maura und ihr starrer Blick sah durch das Fenster in die rabenschwarze Nacht.

Akutes Schocksyndrom diagnostizierte der Dorfarzt, verordnete absolute Ruhe und bahnte sich seinen Weg durch die neugierige Menschenmenge, die sich inzwischen vor dem Black Fox versammelt hatte.

Später am Abend sah man einen Rolls-Royce vor dem Black Fox vorfahren und binnen weniger Minuten war das ganze Dorf wieder vor dem Pub versammelt. Das lag aber weniger am Rolls-Royce als vielmehr an der Tatsache, dass dem edlen Wagen samt Chauffeur der Earl of Doorley persönlich entstiegen war.

»Dass er seinen Jungen hierherschickt, habe ich sowieso nicht verstanden«, murmelte der alte Walter Jenkins und damit war klar, was viele schon vermutet hatten: Der junge Vincent, Sohn des Earls of Doorley, war Mortlock Park zum Opfer gefallen.

Noch in derselben Nacht durchstreifte ein vierzig Mann starker Suchtrupp aus dem Dorf den Wald, um nach dem Jungen zu suchen. Maura hatte etwas von einem Schatten nahe Mortlock Lake gestammelt, als der junge Earl vor ihren Augen verschwunden war. Wie vom Erdreich verschluckt.

Am nächsten Morgen sollten die erschöpften Suchtrupps mit schlechten Nachrichten ins Dorf zurückkehren. Nichts, keine Spur war von dem Jungen zu finden. Mortlock Park hatte Vincent of Doorley verschlungen und mit ihm sein Geheimnis.

Maura Roberts aber wurde krank, bekam binnen Stunden hohes Fieber. Noch in dieser Nacht riefen sie wieder den Dorfarzt, doch der schüttelte nur mit dem Kopf. »Gegen Kummer hilft nur die Zeit«, meinte er bedauernd.

So holte man die alte Mildred, die sich in Kräuterkunde, Handauflegen, Wahrsagerei und Gedankenlesen verstand. Niemand in Little Lixton wollte zugeben, dass er an ihre Heilkünste glaubte, und dennoch war sie so etwas wie der letzte Hoffnungsschimmer, wenn nichts anderes mehr half.

Mildred schickte sie alle fort und verbrachte eine ganze Stunde mit Maura in der kleinen Kammer hinter der Küche des Black Fox.

Als sie die Tür wieder öffnete, flüsterte sie mit bedeutungsschwerem Blick in die Runde: »Das verfluchte Ungeheuer ist wiedererwacht. Wie lange hat es in seiner Höhle gesessen und gewartet, bis das Vergessen uns gänzlich eingelullt hat?« Man bot ihr einen Stuhl vor dem Kamin an und reichte ihr einen Sherry.

Eine ganze Weile war nur das leise Knistern des Feuers zu hören. Irgendwo in der Ferne schrie ein Rabe, obwohl es Nacht war.

Mildred verlangte einen zweiten Sherry, dann sprach sie flüsternd: »Doch Maura ist nicht die, auf die er wartet.«

Die Gabe der Hellsichtigkeit zeigt sich zumeist schon in frühester Kindheit. Nicht selten haben wir ein aufgewecktes, lebhaftes Kind vor uns, welches von merkwürdigen Erlebnissen oder Erscheinungen berichtet, die wir Erwachsenen nicht einordnen können. Leider stoßen diese besonderen Kinder oft auf wenig Verständnis und sind mit ihrer Gabe auf sich allein gestellt. (Es ist zu beobachten, dass man heutzutage sogar dazu neigt, diese Kinder aus Unwissenheit mit Psychopharmaka zu behandeln.) Ein hellsichtiges Kind wird seine Gabe schon mit Eintritt in die Pubertät verloren haben, wenn es von keinem Seelenverwandten umgeben ist, der es fördernd an die Hand nimmt.

Der Förderer benötigt eine gehörige Portion Geduld und muss sich darüber hinaus im Klaren sein, dass ein hellsichtig begabtes Kind natürlichen Schwankungen unterliegt. Die noch ungeschulte, wilde Gabe ist eine ab- und zunehmende Fähigkeit, welche oftmals mit den Mondphasen einhergeht und von überschäumender Lebendigkeit auf der einen Seite sowie tranceähnlichen Traumzuständen auf der anderen gekennzeichnet ist.

aus: »Ich sehe was, was du nicht siehst!« – Handbuch für Eltern von hellsichtigen Kindern, 3. überarbeitete Auflage, Meister Jadoo

1.

Die Katze, die schon seit einer Viertelstunde vor Alma’s Bakery in der Sonne döste, hob ihren Kopf und spitzte die Ohren. Dann sprang sie mit einem Satz auf die Ladefläche von Dads Pick-up, der vor unserem Schaufenster parkte, und starrte mich an. Ich starrte zurück, denn etwas Besseres fiel mir nicht ein. Nach all den Jahren hatte ich noch immer nicht verstanden, warum nur ich diese Katze sehen konnte.

Das erste Mal bemerkte ich sie an dem Tag, an dem Tante Phoebe zu uns kam. Damals (vor neun Jahren) stand Tante Phoebe bepackt mit zwei Koffern plötzlich vor unserer Ladentür. Sie war an jenem novembertrüben Tag in einen Zug in London Victoria Station gestiegen und zu uns hinaus in den kleinen Ort Little Lixton gefahren. Sie hatte ihren Meister und Guru verlassen, weil sie in kurzer Folge zwei Eingebungen gehabt hatte. In ihrer ersten Vision hatte sie gesehen, dass ihr einziger Bruder Hilfe benötigte. Hilfe war untertrieben, denn an dem Tag, an dem Tante Phoebe plötzlich vor unserem Buchladen stand, kamen Dad, meine kleine Schwester Maggie und ich gerade von Mums Beerdigung.

Ich war damals sieben Jahre alt und sie hatten Mum auf dem kleinen Dorffriedhof hinter der Kirche beigesetzt. Und genau in dem Moment hatte ich herausgefunden, dass ich mehr sehen konnte als andere.

Wir wollten gerade den Friedhof verlassen, als ich sie entdeckte. Eine kleine getigerte Katze, die hinter Maura Roberts Grab hervorgekommen war. Vielmehr war es der Geist einer Katze, der sich von einer Grabsteinfigur gelöst hatte und vor uns her die Dorfstraße hinablief. Immer wieder wartete die Katze auf uns und führte uns direkt zum Buchladen, als wüsste sie, wo wir wohnten. Dad hatte sich die verheulten Augen trocken gewischt und mir geschworen, dass er keine Katze sehen konnte. Maggie war damals noch keine drei Jahre alt gewesen und verstand nicht, dass Mum nie wiederkommen würde. Sie hatte laut »Twinkle, twinkle, little star« singend auf Dads Schultern gesessen. Dad hatte mich besorgt angesehen und gemeint, dass er mich zu Dr. Parker bringen würde. Menschen würden vor lauter Kummer manchmal etwas komisch. Ich hatte Angst gekriegt, dass ich verrückt wurde, und mir geschworen, die getigerte Katze nie wieder zu erwähnen.

Als wir um die Ecke bogen und Tante Phoebe vor unserem Buchladen auf ihren beiden Koffern sitzend vorfanden, hatte ich sie zunächst auch für einen Geist gehalten.

Doch zum Glück war Tante Phoebe keine Geistererscheinung, sondern Dads ältere Schwester aus Fleisch und Blut, die erklärte, dass sie bei uns bleiben und von nun an für uns sorgen würde.

Phoebe war eine zierliche Person mit wilden dunklen Locken, die immer ungekämmt aussahen, egal wie viel Mühe sie sich damit gab. Ihre Hochsteckfrisuren sahen immer so aus, als hätten Vögel darin genistet. Sie hatte warme bernsteinfarbene Augen und einen Hang zur Esoterik.

Bis zu diesem Tag hatten Maggie und ich Tante Phoebe noch nie gesehen. Phoebe war so etwas wie das schwarze Schaf in unserer Familie, das hatte Mum jedenfalls einmal behauptet. Dad hatte gar nicht über sie gesprochen und nirgends (nicht einmal in den staubigen Kisten auf dem Dachboden) gab es ein Foto von Tante Phoebe, obwohl sie in diesem Haus aufgewachsen war.

Maggie und ich liebten Phoebe und ihren schier endlosen Optimismus vom ersten Augenblick an und es machte uns überhaupt nichts aus, dass sie ständig das Essen anbrennen ließ oder dass die Batikkleider, die sie für uns nähte, noch grauenvoller aussahen als die Schuluniformen der Saint Gilberts High School, denn mit Tante Phoebe kam das Glück zurück in unser Leben. Sie war ein bisschen wie Mary Poppins. Sie brachte uns ständig zum Lachen. Sie feierte Feste mit uns und ganzen Horden von Kindern im Zimmer hinter dem Buchladen. Sie erzählte spannende Geschichten, zum Beispiel von ihrem Guru aus London (Geschichten, die so haarsträubend waren, dass sie nur erfunden sein konnten), und sie erinnerte Dad von Zeit zu Zeit daran, zum Friseur zu gehen. Sonntagmorgens scharte Phoebe uns vor dem Fernseher um sich und wir mussten andächtig ihrem Guru, ein Inder, der sich im Astro TV Meister Jadoo nannte, beim Kartenlegen und Weissagen zusehen.

Tante Phoebe schmiss sogar unseren Buchladen mit links und sie hatte ständig neue und verrückte Einfälle. Ihre berühmten Orakelkekse zum Beispiel.

Tante Phoebe behauptete nämlich, dass sie eine Seherin sei. Ein hellfühliges Medium. Das hatte ihr bestimmt der Guru eingeredet und es glaubte ihr außer Maggie niemand.

Maggie hatte Tante Phoebe von Anfang an für eine Zauberin gehalten. »Eine, die Tränen und den Abwasch und Läuse aus Haaren wegzaubern kann.«

Regelmäßig schloss Tante Phoebe sich in unserer Küche ein und buk ihre geheimnisvollen Orakelkekse, die besonders bei den Touristen aus London sehr beliebt waren. »Das verlorene Armband hängt im Ausguss-Sieb« oder »Nehmen Sie sich heute und in den kommenden drei Tagen vor Pilzen in Acht«, stand auf den kleinen eingebackenen Zetteln in den Cookies. Ganz oft schrieb sie auch berühmte und weniger berühmte Buchzitate auf die winzigen Papierschnipsel, die sie in die Kekse einbuk. »Auch eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig. – Mehr von Charles Dickens finden Sie hinten rechts bei den englischen Klassikern.«

Dad meinte, dass mit den Orakelkeksen sei genauso wie mit den Horoskopen aus der Zeitung. Millionen Menschen würden daran glauben. Dabei könne sich jeder mit ein bisschen Fantasie solche Vorhersagen ausdenken. Und wenn dann einer in der Zeitung liest, dass irgendwo einer an einer Pilzvergiftung gestorben ist, dann würde er denken: »Herrschaftszeiten, die Botschaft aus Phoebe Adams Orakelkeks hat mir das Leben gerettet.«

Die Touristen, die an den Wochenenden aus London zu uns heraus aufs Land kamen, schworen auf Tante Phoebes Orakel und manch einer hatte ihr schon gedankt, weil ihre Botschaft genau zur richtigen Zeit das Richtige vorhergesagt hatte. Und nicht selten behauptete einer, dass er durch die Buchempfehlung in dem Orakelkeks eine neue Lieblingslektüre gefunden hatte.

Tante Phoebe jedenfalls nahm ihre Orakel sehr ernst. Immer wenn sie eine Botschaft aus dem Universum oder aus einem Buch von einer zufällig aufgeschlagenen Seite empfing, zuckte sie regelrecht zusammen, ließ alles stehen und liegen (oder anbrennen) und zog ihr kleines Notizbuch aus der Tasche. Als ein Artikel in der London Times über Tante Phoebe und ihre berühmten Orakelkekse erschienen war (und die Touristenströme nach Little Lixton daraufhin an manchen Tagen schon einer Wallfahrt glichen), hatte Dad es aufgegeben, mit Tante Phoebe zu diskutieren und gemeint: »Irgendwie ist es ja auch Werbung für unseren Buchladen.«

Und es war bei Weitem nicht nur Werbung für den Buchladen, sondern auch für Tante Phoebe selbst, denn plötzlich interessierten sich unglaublich viele Herren mittleren Alters für sie. Maggie und ich vermuteten in den vielen Briefen, die sie seit dem Zeitungsartikel erhielt, romantische Heiratsanträge. Leider schafften wir es nie, einen der Briefe zu lesen, denn Tante Phoebe ließ sie immer sofort in ihrem Zimmer verschwinden.

Noch nie hatte ich einen von Phoebes Orakelkeksen nach der Zukunft befragt und ich hatte mir geschworen, dass das auch für immer so bleiben würde.

Für immer endete an diesem letzten Abend im August, an dem ich stundenlang im Schaufenster unseres Buchladens gesessen und gewartet hatte.

Draußen flammten nacheinander die Straßenlaternen auf. Die Katze (die für einen Geist eine unglaublich schöne Zeichnung hatte) hüpfte von Dads Pick-up, auf dem Tom Adams Tierpräparationen stand, und lief die Straße hinab Richtung Dorffriedhof.

Ein zarter Duft von Anis stieg mir in die Nase, als ich den Keks in der Mitte durchbrach und den kleinen Zettel herauszog, der über die wichtigste Frage meines sechzehnjährigen Lebens entscheiden sollte. Mit den Fingerspitzen strich ich das Papier glatt. Phoebes Handschrift war schwer zu entziffern. Jede Wette, dass sie das absichtlich machte. Das sollte wohl zu ihrem Orakel dazugehören: eine Schrift, so geheimnisvoll wie die Inschriften auf verwitterten Grabsteinen englischer Friedhöfe.

Ist die Bestimmte für den letzten Kreis bereit, erhebt sich der Rabe in der siebten Zeit, doch geheim wird das Wissen um seinen Namen sein.

Augenblicklich wurde mir schlecht und für einen Moment hatte ich das Gefühl im Bauch, als hätte sich eine Klappe im Boden unter mir geöffnet und ich wäre im freien Fall, auf dem Weg neun Jahre zurück in meinem Leben.

»June.« Phoebe kam mit einem Stapel Bücher aus dem Hinterzimmer.

Ertappt stopfte ich den kleinen Zettel in die Rocktasche. Ich setzte eine Unschuldsmiene auf und schob schnell die Kekskrümel unter die Bestelllisten der Saint Gilberts High School, bevor Phoebe die Bücher daraufwuchtete.

»Dein Brief wird kommen. Heute Nacht, noch vor dem Morgengrauen. Darauf kannst du Gift nehmen.« Sie nahm das oberste Buch vom Stapel und pustete den Staub herunter. »Äh … wobei ich dir das mit dem Gift allerdings nicht raten würde, denn dann hättest du ja umsonst sechs Wochen lang auf die Stipendiumszusage gewartet.« Nachdenklich sah sie mich über den Rand ihrer goldenen, kreisrunden Brille an und schraubte den Deckel zurück auf das Glas. »Du kannst also aufhören, meine Orakelkekse zu befragen, und etwas Nützliches tun. Jemand müsste das Caramel Shortbread kosten, das ich heute gebacken habe. Und du solltest mich auch endlich deine Schuluniform zu Ende abstecken lassen.«

Während ich ins Hinterzimmer schlurfte, band ich mein dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Phoebe hatte recht, aber dafür musste sie keine Hellseherin sein. Wie jeden Tag der vergangenen sechs Wochen hatte ich auf das Schreiben der Wise-Fellows-Stiftung mit meiner Eintrittskarte in die teuerste und nobelste Privatschule des Landes gewartet. Doch das Einzige, was sich in der letzten halben Stunde in unserer verschlafenen Dorfstraße bewegt hatte, waren die Federspiele, die an der Markise zu Walters Falknereibedarf hingen, und die Katze, die nur ich sehen konnte.

»Morgen ist schon Freitag. Wenn der Brief nicht bald kommt, muss ich ab Montag aufs McMillan College.« Eine Schule, die Maggie nun seit einem Jahr besuchte und über die sie sich noch nie beschwert hatte. Außer vielleicht über den langen Schulweg mit dem Bus nach London.

Doch ich wollte mich nicht umgewöhnen. Wie jedes Mal spürte ich einen Kloß im Hals bei dem Gedanken, Saint Gilberts verlassen zu müssen. Etwas, das Maggie überhaupt nicht verstand, denn Saint Gilberts war die wohl spießigste und zugleich strengste Schule des Königreichs. Ein altes, schlossähnliches Klostergebäude voller angestaubter Traditionen, mit Butlern, jeder Menge Etikette und Benimmregeln und einer langweiligen schwarzen Schuluniform. Sogar Nachkommen des britischen Königshauses sowie ranghohe Politiker und einige britische Premierminister gehörten zu den ehemaligen Schülern. Nicht einmal der Gedanke, dass ich mich dann nie wieder über Rachel Howards und Zooey Pearce ärgern müsste, konnte mich trösten. Nicht nach fünf Jahren und ausgerechnet jetzt, wo es um die Aufnahme in die zweijährige Oberstufe ging, an deren Ende mir mit den A-Levels an jeder Universität des Landes Tor und Tür offen stehen würden.

Vielleicht hatte ich die Stipendiatenprüfung nicht bestanden?

»Einen IQ-Test, Prüfungen in Geschichte, Mathematik und Englischer Literatur und ein mindestens zweitausend Wörter umfassender Aufsatz zu dem Thema: Wie kamen die Raben in den Londoner Tower? Wie willst du das denn alles schaffen?«, hatte meine beste Freundin Emma beim Anblick der Liste von der Wise-Fellows-Stiftung erschrocken gerufen und zur Beruhigung einen von Tante Phoebes Orakelkeksen befragt.

Für Tante Phoebe jedenfalls hatte ich das Stipendium schon in der Tasche und wir hatten heute Morgen bei Nobles die neuen Röcke zu meiner Schuluniform eingekauft.

Phoebe klemmte sich ein paar Stecknadeln zwischen die Lippen, während ich zurück auf den Hocker stieg. »Es ist ein Kreuz mit euch Unsehenden«, jammerte sie, ohne auch nur eine einzige Stecknadel dabei zu verlieren. »Wenn du mir doch nur ein Mal vertrauen könntest. Erst heute Morgen habe ich in meinem Teesatz einen Boten gesehen. Einen Boten.« Phoebe glaubte, aus fast allem die Zukunft lesen zu können: aus afrikanischen Wurzeln, aus Teeblättern und Hühnerknochen.

»Boten bringen auch schlechte Nachrichten«, flüsterte ich. Bislang hatte ich ihr verschwiegen, dass auch ich Dinge sehen konnte. Aber so begabt wie Tante Phoebe war ich wohl nicht, denn im Gegensatz zu ihr handelte es sich bei mir ausschließlich um den Geist der Katze vom Dorffriedhof. Im Handbuch für Hellsichtige hatte ich gelesen, dass Hellsichtigkeit genauso wie Hellfühligkeit und Hellhörigkeit vererbbar sein kann. Ein paarmal schon war ich kurz davor gewesen, Tante Phoebe einzuweihen. Aber aus Angst vor dem Theater, das sie veranstalten würde, hatte ich es dann doch nicht getan.

»Perfekt«, fand sie, als sie die letzte Nadel im Saum des schwarzen Rocks versenkt hatte und mich mit ein paar Schritten Abstand voller Stolz betrachtete. »So bedeckt er gerade noch deine Knie, genauso wie Mrs Stirlings Kleiderordnung es verlangt. Und wir wollen es uns ja nicht gleich mit ihr verscherzen. Ich hoffe nur, du wächst nicht so schnell. Zieh jetzt mal die Jacke dazu an.«

Seufzend schlüpfte ich in den schwarzen Blazer mit dem Schulwappen über der linken Brusttasche.

»Hach, meine kleine June sieht plötzlich so erwachsen aus«, rief Phoebe und ihre Augen hatten auf einmal einen verdächtigen Glanz. »Na?«, fragte sie zufrieden und schob einen Stapel Bücherkisten zur Seite, die den Blick in den Spiegel versperrten.

Maggie, die seit einer Stunde ihre neuen Stifte ins Federmäppchen sortierte und Tante Phoebes Shortbread dabei vernaschte, kicherte.

Obwohl ich schlechte Laune hatte, musste ich auch grinsen. Zu dem hochgesteckten schwarzen Rock der Schuluniform sahen das weiße, ausgeleierte Top und die selbst gestrickten Socken von Tante Phoebe irgendwie wild aus.

»Wenn Mrs Stirling mich so sehen könnte, würde sie der Schlag treffen.« Mrs Stirling war auf Saint Gilberts Lehrerin für klassische Tänze und leitete die Theatergruppe, aber ihre eigentliche Berufung war die Aufsicht des guten Benehmens und der Dressetikette.

»Bin ich froh, dass es bei uns keine Mrs Stirling gibt«, meinte Maggie. »Am McMillan College sagt keiner was, wenn der Rock zu kurz ist. Nicht mal wenn man Kniestrümpfe statt Strumpfhosen anzieht. Oder gar nichts.«

»Gar nichts?«, rief Phoebe erschrocken.

Maggie lachte und zeigte ihre glänzende Zahnspange.

Phoebe zog noch einmal kräftig an den Ärmeln meiner Jacke. »Vielleicht kann ich noch was vom Saum rauslassen«, meinte sie und strich seufzend über die abgenutzten Stellen an den Ellbogen. »Wenn es dich beruhigt, können wir Tom bitten, dass er morgen früh im Sekretariat in den Schülerlisten nach deinem Namen sucht.« Sie klopfte mir aufmunternd auf die Wange. »Nur falls der Brief heute Nacht aus irgendeinem Grund nicht zugestellt wird.«

Nein, das beruhigte mich kein bisschen. Dad war leider oft etwas zerstreut, was vermutlich seine vielen Jobs mit sich brachten. Er leitete Exkursionen in den Wäldern rund um Little Lixton für das Royal Veterinary College London, hauptsächlich arbeitete er als Tierpräparator und hatte vor einigen Jahren zusätzlich die Stelle des Falkners und Wildhüters auf Saint Gilberts übernommen. Infolgedessen bekamen wir ihn nicht oft zu sehen, zumal ich einen großen Bogen um seine Werkstatt für Tierpräparationen im Hinterhof machte, wo er auch heute Abend schon wieder stundenlang über irgendeinem toten Vogel saß. Ganz im Gegensatz zu Maggie, die manchmal ganze Nachmittage in Dads Werkstatt verbrachte und dort die ausgestopften Tiere abzeichnete. Besonders liebte sie ihre funkelnden Augen. (Als kleines Mädchen hatte Maggie immer behauptet, dass die ausgestopften Tiere nicht tot, sondern verzaubert seien und dass Dad ihnen nur aus der verwünschten Hülle herausgeholfen hatte.) Maggie kam eindeutig eher nach unserem Vater als ich. Ich hatte viel von Mum geerbt. Das behauptete Dad jedenfalls immer. Nur nicht Mums rote Locken, die hatte Maggie abbekommen.

»Okay, Herzchen«, sagte Phoebe und deutete auf den abgesteckten Rock. »Ich hol mal fix die Nähmaschine, damit zur Opening Ceremony am Samstag alles fertig ist.« Sie klang so aufgeregt, als wäre es ihr erstes Jahr in der Oberstufe. Umständlich stieg sie über ein paar Kartons und wollte schon in ihrem Zimmer verschwinden, als ihr etwas einfiel. »Ach übrigens«, sagte sie und blieb auf der Türschwelle stehen. »Weißt du, was ich heute Morgen in deinen Teeblättern gesehen habe?« Ihre Stimme klang gedämpft, sicher befürchtete sie, dass Dad sie sonst durchs offene Fenster bis in die Werkstatt hören konnte.

»Einen Raben«, flüsterten Maggie und Tante Phoebe bedeutungsschwer und im Chor.

Und da war sie wieder. Die Sache mit Phoebes zweiter Vision von vor neun Jahren. Diese Eingebung war im Gegensatz zur ersten, in der sie gesehen hatte, dass Dad Hilfe brauchte, nicht sehr konkret und ich hatte sie damals nur durch Zufall erfahren.

Es war spät in jener Nacht gewesen, in der Phoebe zu uns gekommen war. Ich konnte aus Kummer und Neugierde nicht einschlafen und war heimlich die Treppe hinuntergeschlichen, als ich Phoebe und Dad im Buchladen streiten hörte.

»Tom, wenn ich es dir doch sage. Ich habe ein Mädchen gesehen. Nicht irgendeines. Deine Tochter. Sie ist auserkoren.« Phoebes Stimme hatte sich beinahe überschlagen.

»Schluss jetzt!«, hatte Dad gebrüllt. »Wenn du nur hierhergekommen bist, um mir von deinen Hirngespinsten zu erzählen, dann ist es besser, du nimmst deine Sachen und gehst wieder. Zurück zu diesem Scharlatan nach London.«

»Hirngespinste?« Phoebe hatte fassungslos geklungen. »Ich habe gesehen, in welcher Not du bist, Tom. Willst du behaupten, dass das auch Einbildung war?« Und weil Dad daraufhin schwieg, hatte Phoebe geflüstert: »Siehst du? Ich warne dich nur ein Mal. Lass uns von hier verschwinden. Weit, weit weggehen. Einen Buchladen, tote Tiere zum Ausstopfen, ein College, eine gute High School, eine Falknerei … das alles finden wir auch woanders. Tu es für deine Tochter. Für eure Tochter. Grace würde es so wollen …«

»Woher willst du wissen, was Grace gewollt hätte? Hast du sie jemals kennengelernt?«, hatte Dad gezischt.

»Nein. Leider nicht. Aber das lag nicht an mir. Sei wenigstens so fair, das zuzugeben. Und ja, ich weiß, was Grace gewollt hätte. Eine Mutter will ihre Kinder beschützen. Und euer Kind ist in großer Gefahr. Ich habe gesehen, dass June die Bestimmte ist, die Saint Gilberts und all die rastlosen Seelen, die hier umhergeistern, von einem uralten Fluch befreien soll. Hörst du mir zu, Tom? Ich habe einen Raben gesehen, den Boten des Todes. Und ich habe gesehen, dass sie ihre große Liebe opfern soll. Du kennst doch die alte Prophezeiung? Jeder hier in Little Lixton kennt sie.«

»Lass mich mit dem Unfug in Ruhe!« Eine Tür wurde geöffnet und ich hatte mich schnell in die Nische unter der Treppe gezwängt. Keine Sekunde zu früh. Tante Phoebe eilte hinter Dad her, ein paar Stufen die Treppe hinauf.

»Ist die Bestimmte für den letzten Kreis bereit, erhebt sich der Rabe in der siebten Zeit. So heißt es doch, nicht wahr? Ich weiß nicht, was das mit dem letzten Kreis auf sich hat, aber ich weiß, dass es jedes Mal ein Unglück gab, als das Ungeheuer aufstieg. Und ich fühle, dass früher oder später der Tag kommen wird, an dem deine Tochter ihre Bestimmung zu erfüllen hat. Ich bitte dich nicht für mich, Tom. Ich bitte dich für sie.«

In dieser Nacht, in der ich noch lange und vor Angst und Kälte bibbernd unter der Treppe gehockt hatte, hatte ich mir zwei Dinge geschworen und später mit meiner krakeligen Kinder-Handschrift an die Tapete in meinem Zimmer geschrieben (an die Stelle zwischen Bett und Vorhang, die nur ich sehen konnte).

Ich will mich nie verlieben.

Ich mag keine Raben.

Aus den Tagebüchern des Rabenlords

Freitag, 03. September (im 600. Jahr n.V.)

Die letzte Nacht war mondhell und ich saß stundenlang in der uralten Linde vor dem Schulportal. Wie schnell sie gewachsen ist! Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem der alte Blake (der Dummkopf!) sie im Jahr 1416 als dürres Stämmchen gepflanzt hat.

Die vielen, vielen Jahre.

Wie lange habe ich nun wieder in dieser Höhle gehockt? Tief in der feuchten Dunkelheit jeden Lichtstrahl gemieden, nur um meinen schwachen Körper zu schonen. Hinausgezogen nur des Nachts, um gräuliche Würmer aus dem Erdreich zu fressen.

Mir drehen sich die Eingeweide um.

Ich vermisse es, auf zwei Beinen zu gehen ohne der Federn Gewicht.

Es ist Spätsommer in Mortlock Park und ich fühle die Kraft zurück in den Federsäften und darin pocht noch immer der Hass.

Noch immer und täglich drängender.

Ich will hinaus.

Jetzt.

2.

Bis drei Uhr hatte ich wachgelegen und immer wieder auf die Straße hinuntergesehen. Noch nie in den vergangenen fünf Jahren hatte ich mitbekommen, wer den Brief von der Wise-Fellows-Stiftung mit meiner Stipendiumszusage gebracht hatte. Und genauso geheimnisvoll wie der Brief war das Stipendium an sich. Unter höchster Geheimhaltung wurde meinen Mitschülern verschwiegen, dass ich kostenlosen Unterricht erhielt. Ausgenommen von diesem Geheimnis waren nur Dad, Tante Phoebe, Maggie und meine beste Freundin Emma, vor der ich einfach nichts geheim halten konnte. Dass ich Emma eingeweiht hatte, hätte mich mein Stipendium kosten können, denn ich musste jedes Jahr zu Beginn des Schuljahres einen siebenseitigen Vertrag unterzeichnen, in dem ich mich zu allem Möglichen verpflichtete, besonders aber dazu, über mein Stipendium und meine Zensuren Stillschweigen zu bewahren.

Um kurz vor drei fing es an zu regnen. Es regnete immer am ersten Schultag nach den Sommerferien. Doch es war kein typisch englischer Regen, wie er manchmal tagelang in grauen Schleiern über London hing. Dicke Regentropfen platschten von Böen herangetrieben aufs Kopfsteinpflaster, auf dem sich das Licht der spärlich beleuchteten Schaufenster spiegelte. Regenwasser sammelte sich in den Rinnen vor den Bordsteinen und versickerte in kleinen Strömen in den Gullis. Ich wollte gerade das Fenster schließen, als ich den Raben auf dem Dachsims gegenüber entdeckte. Ganz still saß er da. Ich hatte ihn nur deshalb bemerkt, weil das Licht der Straßenlaternen auf seinen feuchten Federn bläulich schimmerte. Auf einmal kriegte ich Angst und ich spürte am Hinterkopf ein Kribbeln und einen eiskalten Luftzug im Nacken – ungefähr so wie damals, als ich mit Emma einen Horrorfilm ansehen wollte und wir uns die ganze Zeit vor lauter Grusel ein Kissen vors Gesicht pressen mussten.

Nach einer Weile kam ich zu der Überzeugung, dass der Rabe mich anstarrte. Und von einer plötzlichen Idee getrieben, schlich ich durchs Haus und sah nach, ob mein Brief hinter dem Türknauf steckte. Steckte er natürlich nicht.

Besorgt knallte ich das Fenster zu und zog die Gardinen vor. In Gedanken hatte ich Tante Phoebe verflucht, die mich schon ansteckte mit ihrer Hellseherei und wegen der ich beim Anblick eines harmlosen Rabens aufgeschreckt gewesen war.

Obwohl die Sommerhitze noch in meinem Zimmer unter dem Dach hockte, hatte ich die Bettdecke bis ans Kinn hochgezogen. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf, in dem ich von den Sieben Raben träumte, dem Märchen, das Tante Phoebe Maggie und mir so oft an kalten Winterabenden im Hinterzimmer unseres Buchladens erzählt hatte. Tante Phoebe hatte wohl schon immer ein Faible für Raben.

In meinem Traum hatte Dad uns unsere sieben älteren Brüder verschwiegen, die er alle vor langer Zeit zu Raben verflucht hatte. Durch eine Botschaft aus einem von Tante Phoebes Orakelkeksen war ich dem Geheimnis auf die Spur gekommen und machte mich nun auf, meine verfluchten Brüder zu suchen. Gerade als ich am Glasberg ankam und feststellte, dass ich den Schlüssel dazu (das Hühnerbeinchen) verloren hatte, wachte ich auf, weil mein Handy klingelte.

Emmas Stimme holte mich geradewegs aus dem Glasberg zurück in mein Zimmer über unserem Buchladen in Little Lixton und damit zurück zu der drängendsten Frage meines Lebens.

»Hey, June! Ich bin wieder im Lande. Tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht mehr kommen konnte, aber Mum hat mal wieder den allerletzten Flieger für mich gebucht. Und du kennst ja die Saint-Gilberts-Limousinen. Bis der Fahrer seine weißen Handschuhe ausgezogen hat, das Gepäck im Kofferraum verstaut war und er dann wieder hinterm Steuer saß, hätte ich auch zu Fuß vom Flughafen zum Internat laufen können. Aber weißt du was? Wir haben neue Schüler für die Oberstufe. Einer ist mit mir zusammen vom Flughafen abgeholt worden. Aber leider gibt’s auch schlechte Nachrichten. Rachel ist immer noch da. Ich hatte echt gehofft, dass sie und Zooey für die Oberstufe zum Clifton College wechseln würden. Und nun rate mal, was das Beste an der Oberstufe wird? June? Bist du da? June? Du hast doch dein …« Emma verstummte. »Du weißt schon was!«, flüsterte sie ins Telefon, als hätte sie Angst, dass uns jemand abhörte.

Ich hatte Emma vor fünf Jahren an unserem ersten Schultag auf Saint Gilberts kennengelernt und bis heute waren wir beste Freundinnen. Emmas Eltern lebten in Deutschland und gehörten zu irgendeinem steinreichen Landadel. Von Zwiesl zu Birnböckl oder so. Und obwohl Emma, eigentlich Emma Margareta Theresia, mit Geld nur so überschüttet wurde, war sie kein bisschen eingebildet. Sie träumte genau wie ich von ganz normalen Sachen. Zum Beispiel davon, die ganzen Sommerferien in einem Wohnmobil die Küste entlangzufahren. Wir stellten es uns immer unglaublich romantisch vor, jeden Abend woanders unser Lagerfeuer anzuzünden und nachts durch das Fenster im Dach des Wohnmobils die Sternschnuppen zu zählen.

»Bleib kurz dran, Emma«, rief ich ins Telefon, bevor ich es in die Schlafanzugtasche gleiten ließ, aus dem Bett sprang und die Treppe hinuntersauste.

»So viel zu deinem Versprechen, dass du mich nur ein Mal warnen wirst.« Dad kam kopfschüttelnd mit einer Tasse Kaffee aus der Küche. »Ah, guten Morgen, June. Halte dich besser von deiner Tante fern. Sie ist heute wieder auf einem ihrer ›Ich hatte eine Eingebung und wir müssen hier weg‹-Trip.«

»Nenn es, wie du willst«, murmelte Phoebe. Sie trug eine Kanne dampfenden Tee und stellte sie auf dem Tisch im Hinterzimmer unseres Buchladens ab. Meistens mussten wir den Tisch erst freiräumen. Heute Morgen türmten sich dort stapelweise Schulbücher für die Saint Gilberts High School, die Dad mit einer geübten Bewegung zur Seite schob. Das Hinterzimmer war alles gleichzeitig für uns: Esszimmer, Büro, Nähzimmer, Wohnzimmer und vor allem ein Lager für die Bücherlieferungen. In diesem Raum spielte sich unser ganzes Familienleben ab, denn das Wohnzimmer mit dem gemütlichen Kachelofen nebenan war vor neun Jahren kurzerhand in Tante Phoebes Reich umgewandelt worden.

»Was wollte ich denn nur?« Phoebe, die über ihrem Blümchenpyjama einen weinroten, seidenen Kimono trug und in deren roten Locken eine schwarze Schlafmaske steckte, stand nachdenklich im Raum und sah sich um.

»Du bist doch die Wahrsagerin. Wenn du es nicht weißt?«, zog Dad sie auf.

Als Phoebes Blick an der Nähmaschine hängen blieb, fiel es ihr wieder ein. »Ach ja«, rief sie und schnappte sich die Zeitung.

»Ist mein Brief von der Stiftung angekommen?«, fragte ich besorgt, denn ich konnte ihn nirgendwo entdecken.

In den vergangenen Jahren hatten Phoebe oder Dad ihn immer auf meinen Platz am Frühstückstisch gelegt. Letztes Jahr hatte Dad ihn sogar unter meiner Zimmertür hindurchgeschoben und ich hatte ihn schon beim Aufwachen gesehen. Heute Morgen allerdings hatte ich vergeblich als Erstes zur Tür geblickt und eine seltsame Ahnung hatte mich beschlichen.

»Ist er!«, flüsterte Phoebe und zog zögernd einen butterweißen Briefumschlag aus der Tageszeitung. Unter dem Wappen der Wise-Fellows-Stiftung stand An Miss Juniper Adams, Adams Bookstore, Little Lixton.

Mit bebenden Fingern riss ich den Briefumschlag auf.

»… freuen wir uns, Ihnen mitzuteilen, dass Sie sich im Auswahlverfahren für das zweijährige Oberstufenstipendium an der Saint Gilberts High School erfolgreich durchgesetzt haben«, las ich vor und durchs Telefon hörten wir Emmas Freudenschrei.

»Emma«, rief ich erschrocken und zog mein Handy aus der Schlafanzugtasche. Nach drei weiteren Freudenjauchzern sagte ich schnell: »Ich ruf dich gleich zurück.«

»Aber beeil dich, wir müssen noch so viel besprechen«, drängelte Emma, bevor ich auflegte.

Dad freute sich mindestens genauso sehr wie Emma, doch brach er nicht in Jubelschreie aus, sondern stupste mir grinsend in die Seite. »Ich hab’s gewusst.«

Nur Phoebe schien sich nicht zu freuen. Sie saß nachdenklich über ihrer Teetasse – vermutlich wartete sie darauf, dass die Teereste am Boden ihrer Tasse sich zu einer Botschaft formierten.

»Hör zu, June«, flüsterte sie mir zu. »Auch auf die Gefahr hin, dass es von euch keiner mehr hören will. Wir sollten fortgehen von hier.«

»Fortgehen?« Ich sah Tante Phoebe bestürzt an. »Ausgerechnet jetzt, wo ich ein zweijähriges Stipendium bekommen habe? Jetzt, wo feststeht, dass ich bis zum Ende meiner Schulzeit auf Saint Gilberts bleiben darf?«

Tante Phoebe schien mir gar nicht zuzuhören. »Wir könnten nach Schottland ziehen. Es gibt so schöne Dörfer an Schottlands Küste. Und ganz exzellente Schulen für dich und Maggie. Mindestens so gute Schulen wie Saint Gilberts. Oder wir gehen nach London. Die Stadt liebst du doch so.« Sie strahlte bei dieser Idee. Vielleicht aber auch, weil sie dabei an ihren Guru denken musste. »Inmitten der Großstadt wird uns niemand so leicht finden. Ich meine es ernst. Sicher, ich weiß, dass du dich über das Stipendium freust. Aber erst letzte Nacht hab ich wieder einen Raben gesehen, der …«

»Ich auch«, unterbrach ich sie und suchte in dem Umschlag nach dem üblichen Stipendiatenvertrag. »So gegen drei. Aber er hat mit dem Brief hier nichts zu tun. Ich hab nachgesehen. Das Schreiben muss später gekommen sein.«

Dad und Phoebe blickten mich einen Moment lang an, als wäre ich übergeschnappt.

»Zwei Seherinnen im Haus halte ich nicht aus«, murmelte Dad, faltete die Zeitung auseinander und hielt sie vor sein Gesicht.

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich und schüttelte den Briefumschlag, doch das Einzige, was er zutage beförderte, war eine kleine Karte.

»… erwarten wir Sie heute Nachmittag um fünf Uhr zur Vertragsunterzeichnung in den Räumen der Wise-Fellows-Stiftung auf Lixton Hall«, las ich vor, was darauf stand.

Dad und Phoebe horchten auf.

»Zeig mal her«, forderte Dad und ich reichte ihm die Karte. »Das haben die ja noch nie gemacht«, sagte er stirnrunzelnd.

»Was denn, Tom?«, fragte Tante Phoebe aufgeregt und schnappte Dad die Karte aus der Hand. »… wird Sie um halb fünf unsere Limousine zu Hause abholen?« Tante Phoebe warf hektische Blicke auf die Wanduhr. Das machte sie immer, wenn sie in Stress geriet, als wollte sie die Zeit beschwören, langsamer zu verstreichen.

»Das wird nicht gehen«, sagte Dad und stürzte den Rest seines Kaffees hinunter. »Da muss ich in der Falknerei sein. Die meisten Schüler kehren heute schon zurück.«

»Das ist nicht schlimm, Dad«, beeilte ich mich zu sagen, bevor er es sich noch anders überlegte. Mit sechzehn brauchte man nun wirklich keinen Aufpasser mehr, besonders dann nicht, wenn man vor der Haustür von einer Stiftungs-Limousine abgeholt wurde.

»Und ob das schlimm ist«, rief Tante Phoebe. »Dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als den Buchladen eher zu schließen. Vielleicht wäre es sogar das Beste, wenn ich meine Bedenken vor dem Stiftungsausschuss persönlich vorbringe. Hier stoße ich ja nur auf taube Ohren. Wir kommen mit dir nach Lixton Hall, mein Kind.«

»Wir?«, fragte Maggie, die verschlafen die Treppe herabgestiegen kam.

»Wir begleiten deine Schwester heute Nachmittag zur Teestunde mit dem Earl of Gilligan.«

»Juhuu«, rief Maggie nun hellwach.

Ich versuchte ein dankbares Lächeln. Aber es gelang mir wohl nicht besonders, denn Dad klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, bevor er in seiner Werkstatt verschwand.

Pünktlich um halb fünf hielt die Limousine vor der Ladentür. Der Fahrer, gekleidet in einem schwarzen Anzug und mit Mütze und polierten Schuhen, stieg aus, um zuerst Tante Phoebe und dann Maggie und mich hinten einsteigen zu lassen. Es war eines dieser noblen Autos, die eine Mittelglasscheibe haben und die der Fahrer sogleich schloss, als er selbst eingestiegen war.

»Ich hab dir ja gesagt, dass du dich schick anziehen sollst«, sagte Tante Phoebe, die beeindruckt über die cremeweißen Ledersitze strich und der Fensterscheibe dabei zusah, wie sie den hinteren Wagenteil vom vorderen abschloss. »Wenigstens die Schuluniform hättest du anziehen können«, sagte sie seufzend mit Blick auf meine Jeans und das T-Shirt mit der Lochstickerei, wozu ich eine lange Strickjacke und meinen Lieblingsschal trug. Maggie hatte ihr den Gefallen getan und ihre Schuluniform des McMillan College angezogen. Aber die war auch zehnmal besser als unsere von Saint Gilberts. Die karierten Röcke waren gerade sogar furchtbar in und so kurz, dass Mrs Stirling einen Herzanfall bei Maggies Anblick bekommen hätte.

Auch Tante Phoebe hatte sich herausgeputzt, als hätte sie den Termin mit dem Earl und nicht ich. »Und vergiss nicht, dich zu bedanken für die vergangenen Jahre, in denen die Stiftung dich schon unterstützt hat«, sagte sie bereits zum dritten Mal, als wir die lange Einfahrt nach Lixton Hall hinauffuhren. Der Fahrer war den langen Weg rund um den Mortlock Park herumgefahren, statt einfach hindurch, übers Schulgelände und an der Falknerei vorbei.

Tante Phoebe wurde immer stiller und weil das selten vorkam, wunderte ich mich darüber.

Der Wagen hielt knirschend auf dem Kiesweg an. Wir standen vor einem viktorianischen Gebäude, ein »Protzbau«, wie Maggie es nannte, und Tante Phoebe klopfte gegen die Mittelscheibe.

Bediensteteneingang,