Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit ist das Hauptwerk Thomas Nagels zur politischen Philosophie. Hervorgegangen aus seinen 1990 in Oxford gehaltenen Locke Lectures, erkundet Nagel in diesem dichten Traktat den Konflikt zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Gleichheit – zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv. Dieser Konflikt, den er als das Grundproblem der politischen Philosophie bezeichnet, hat seinen Ursprung darin, daß schon jede Person zwei Standpunkte einzunehmen in der Lage ist: den persönlichen und den überpersönlichen. Diesem unhintergehbaren Dualismus Rechnung zu tragen ist die Aufgabe jeder politischen Lehre, die die Frage beantworten will: »Wie sollen wir in einer Gesellschaft miteinander leben?« Ein Klassiker.

Thomas Nagel ist Professor für Philosophie und Recht an der New York University. Zuletzt erschienen: Der Blick von nirgendwo (stw 2035) und Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist (stw 2151).

Thomas Nagel

Eine Abhandlung
über Gleichheit
und Parteilichkeit

Aus dem Amerikanischen
von Michael Gebauer

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe:

Equality and Partiality.

First Edition was originally published in English in 1991. This translation is published by arrangement with Oxford University Press.

Erstmals erschienen 1991 bei Oxford University Press. Die Übersetzung erscheint mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press.

Copyright © 1991 by Thomas Nagel

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2166.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Thomas Nagel

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74272-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorbericht

1 Vorrede

2 Zwei Standpunkte

3 Das Utopismusproblem

4 Legitimität und Einigkeit

5 Kants Maximenprobe

6 Moralische Arbeitsteilung

7 Egalitarismus

8 Konvergenzprobleme

9 Strukturprobleme

10 Gleichheit und Motivation

11 Optionen

12 Ungleichheit

13 Rechte

14 Toleranz

15 Grenzen: Der Globus

Namenregister

Für John Rawls,
dem die Sache ein neues
Ansehen schuldet

Vorbericht

Die Abhandlung ist in der Zeit zwischen 1987 und 1990 entstanden, und ich bedanke mich hier gern für die großzügige Unterstützung, die ich in diesen Jahren durch den Filomen D’Agostino and Max E. Greenberg Faculty Research Fund des Juristischen Seminars der Universität von New York erfahren habe. Ein Teil des Materials stammt aus Vorlesungen, die ich 1989 als Thalheimer Lecturer an der Johns Hopkins University gehalten hatte, und der Hauptteil der vorliegenden Fassung kam dann 1990 im Rahmen der John-Locke-Vorlesungen an der Universität von Oxford zum Vortrag. Eine ursprüngliche Fassung des dritten Kapitels war bereits 1989 in der Zeitschrift Social Research unter dem Titel »What Makes a Political Theory Utopian?« publiziert worden, und das vierzehnte Kapitel ist zum Teil aus meinem 1987 in Philosophy and Public Affairs veröffentlichten Aufsatz »Moral Conflict and Political Legitimacy« hervorgegangen.

Das Buch ist das Ergebnis (und mein Diskussionsbeitrag zu) einer nach wie vor andauernden Erörterung ethischer und politischer Themen durch einen Kreis von Freunden und Kollegen. Wie es aus der Feder kam, wurde es jeweils dem Kolloquium für Recht, Philosophie und politische Theorie unterbreitet, das jeden Herbst von Ronald Dworkin, David Richards, Lawrence Sager und mir selbst am Juristischen Seminar der New York University abgehalten wird, und ich habe von den Reaktionen dieser Kollegen und anderer Teilnehmer eine Menge profitiert, unter ihnen vor allem von Frances Myrna Kamm. Die Probleme waren bereits in der langjährigen Korrespondenz und in Gesprächen mit Thomas M. Scanlon, Derek Parfit und John Rawls zur Sprache gekommen, und jeder dieser Philosophen hat einen merklichen und offenkundigen Einfluß auf mein Denken gehabt. Was meinen Lehrer Rawls betrifft, so erstreckt sich sein Einfluß mittlerweile – seit ich ehedem als Student an der Cornell University in seiner Einleitung in die Philosophie auftauchte, in der Thomas Hobbes’ De Cive einer der Texte war – auf den überwiegenden Teil meines Lebens.

Als ich im Frühjahr 1990 dann die Locke Lectures gab, hatte ich das große Glück, zwei Semester als Visiting Fellow am All Souls College zu einer Zeit verbringen zu können, als man in Oxford eine besonders günstige Konstellation politischer Philosophen und Moralphilosophen zu Gesprächspartnern vorfand. G. A. Cohen, Ronald Dworkin, Derek Parfit, T. M. Scanlon, Samuel Scheffler trafen sich mit mir zu wöchentlichen Diskussionsrunden unserer im Entstehen begriffenen Texte, und wir alle arbeiteten an verwandten Problemen. Diese Gespräche haben sich dann als besonders hilfreich erwiesen, als es galt, die endgültige Fassung der Abhandlung niederzuschreiben.

New York, im Januar 1991

T. N.

1
Vorrede

Die Abhandlung, die ich hier vorlege, hat es mit einer Fragestellung zu tun, die nach meiner Überzeugung als das Grundproblem der politischen Philosophie gelten muß. Statt dieses Problem aber am Ende wieder einmal ›lösen‹ zu wollen, wird es mir um den Versuch gehen, zum einen begreiflich zu machen, worin es in Wahrheit besteht, und zum anderen, warum es nur unter erheblichen Schwierigkeiten überhaupt jemals einer Lösung zuführbar sein könnte. Ein solches Ergebnis muß nicht zwangsläufig zu pessimistischen Bedenken Anlaß geben, denn von jeher war die Einsicht in ein gravierendes Hindernis, das der Lösung eines Problems entgegenstand, zugleich auch eine notwendige Bedingung des Fortschritts. Und wie ich glaube, dürfen wir immerhin hoffen, daß es der Mensch in irgendeiner Zukunft einmal zu politischen und sozialen Institutionen bringe, die seinen so wetterwendischen Bildungsprozeß in die Richtung moralischer Gleichheit auch vorantreiben, ohne sich dabei über die hartnäckigsten Tatsachen der menschlichen Natur kurzerhand hinwegzusetzen.

Meine Überzeugung lautet nicht einfach nur, daß alle bis in unsere Tage konzipierten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen ungenügend sind. Das könnte schließlich auch daran liegen, daß es alle real existierenden Systeme versäumen, ein bereits entworfenes Ideal, das uns immer schon als das richtige vor Augen stehen sollte, in die Tat umzusetzen. Vielmehr besteht ein tieferes Problem – und zwar eines, das auch theoretischer und nicht lediglich praktischer Natur ist: Wir besitzen nach wie vor erst gar kein anerkennenswertes politisches Ideal, und dies aus Gründen, die zur Dimension der praktischen und der politischen Philosophie entscheidend hinzugehören. Wiewohl das Problem, das noch keine Lösung gefunden hat, das geläufige ist, wie denn eine Aussöhnung des kollektiven Standpunkts mit dem Standpunkt des einzelnen eigentlich erreichbar sein soll, werde ich die Problematik gerade nicht in erster Linie als eine Frage nach dem Verhältnis der Person zur Gesellschaft angehen, sondern als ihrem Wesen und Ursprung nach ein Problem in bezug auf das Verhältnis eines jeden Individuums zu sich selbst. In diesem Ansatz findet sich eine definitive These über die Herkunft ethischer Gründe wieder, die ich mir seit langem zu eigen gemacht habe: Die Ethik wie auch die nötigen moralischen Fundamente politischer Theorie sind beide Male so zu begreifen, daß sie aus einer Polarität in der Persönlichkeit erwachsen und einer Differenzierung zweier Perspektiven geschuldet sind – der rein persönlichen Perspektive und der unpersönlichen –, die sich in jedem einzelnen von uns herausbildet. Der überpersönliche Standpunkt vertritt dabei den Anspruch der Kollektivität und verleiht ihm seine Überzeugungskraft für ein jedes Individuum. (Wäre er nicht vorhanden, würde es gar nicht erst zu einer Ethik kommen können, sondern einzig und allein zu Kollisionen, Kompromissen und der nur gelegentlichen Konvergenz rein persönlicher Perspektiven.) Nur weil ein menschliches Subjekt nicht immer bloß den eigenen Blickwinkel einnimmt, kann es im Zuge der persönlichen und der politischen Moral für die Ansprüche anderer überhaupt empfänglich werden.

Jede gesellschaftliche Institution, welche die Beziehungen unter Personen reguliert, ist von einer entsprechenden Ausgewogenheit des Kräftespiels im Ich abhängig, gleichsam ihrem Spiegelbild im Mikrokosmos. In der Proportion, die in der Innenwelt jedes Individuums zwischen der persönlichen und der unparteiischen Perspektive vorherrscht, spiegelt das Verhältnis sich wider, auf das die soziale Einrichtung einerseits angewiesen ist und das sie uns andererseits abverlangt. Soll eine Einrichtung Anspruch darauf erheben können, von den Menschen, die unter ihren Bedingungen zu leben haben, getragen und gefördert zu werden – soll sie mit anderen Worten Legitimität beanspruchen können –, muß sie sich auf eine bestimmte Form vernünftiger Stimmigkeit der Komponenten des von Natur aus fundamental polarisierten Ichs solcher Persönlichkeiten entweder immer schon stützen oder aber eine solche Form der Integration herbeiführen. Wohl handelt es sich oben um einen sehr globalen Dualismus, der sich über ein weites Feld ihrerseits komplexer Subregionen erstreckt, doch glaube ich, daß kein Denken über unsere gegenwärtige Materie ohne ihn auskommen kann.

Die schwierigsten Probleme in der politischen Philosophie gehen auf eine fortdauernde Diskrepanz in foro interno jedes einzelnen zurück, und keine äußerliche Lösung, die diese Konflikte nicht an ihrer Wurzel angeht, wird ihnen je angemessen sein können. Der impersonale Standpunkt im Individuum begründet, wie ich darlegen werde, ein machtvolles Verlangen nach uneingeschränkter Unparteilichkeit und Gleichheit, während die rein persönliche Perspektive individualistische Sonderinteressen und Bindungen erzeugt, die der Hinwendung zu diesen Idealen und ihrer Verwirklichung im Wege stehen. Und die Einsicht, daß dies für schlechterdings jeden gilt, konfrontiert den überpersönlichen Standpunkt dann mit weiteren Nachfragen, was dafür nötig sein wird, diese Menschen mit gleicher Rücksicht zu behandeln, Fragen, die dem Individuum im Gegenzug wiederum neue Konflikte bereiten.

Bereits die Moral des persönlichen Handelns beschert uns diese Probleme, doch gilt es im vorliegenden Buch zu verdeutlichen, daß ihre Bearbeitung auf das Feld des Politischen übergreifen muß, wo von den Verhältnissen des gegenseitigen Beistands oder aber Konflikts, die zwischen gesellschaftlichen Institutionen und den Beweggründen des einzelnen herrschen, schlechterdings alles abhängt. Es erweist sich schließlich, daß eine harmonische Synthese eines anerkennenswerten politischen Ideals mit annehmbaren Wertmaßstäben der Individualmoral nur sehr schwer zu erreichen ist. Wir können unserem Problem daher auch die folgende Fassung geben: Sobald wir es unternehmen, in ethischer Hinsicht vernünftige Normen eines persönlichen Lebens aufzudecken, um diese dann in einem weiteren Schritt mit fairen obersten Bewertungsmaßstäben gesellschaftlicher und politischer Institutionen zusammenzuführen und vereinigt zur Geltung zu bringen, scheint uns die Integration der beiden Wertmaßstäbe nicht auf befriedigende Weise gelingen zu können. Sie reagieren auf konträre Zwänge, die bewirken, daß sie auseinanderfallen.

Zu einem erheblichen Teil versuchen politische Institutionen und ihre theoretischen Legitimationsverfahren die Forderungen des überpersönlichen Standpunkts zu externalisieren. Doch sind sie allemal immer auf Personal angewiesen und von konkreten und besonderen Individuen ins Leben zu rufen und zu tragen, für welche die überpersönliche Perspektive jederzeit mit der subjektiven koexistiert, und diese Rücksicht muß sich bereits in ihrer Anlage niederschlagen. Meine These wird lauten: Nach wie vor ist keine Lösung für das Problem gefunden worden, Institutionen zu konzipieren, die zum einen dem Faktum, daß alle Menschen gleich wichtig sind, wirklich gerecht werden und zum anderen an Individuen nicht mit unerträglichen Postulaten herantreten – und den Grund dafür sehe ich zum Teil darin, daß für die Welt, in der wir leben, das Problem der richtigen Beziehung zwischen dem personalen und dem impersonalen Standpunkt eben noch ungelöst ist.

Bei näherem Nachdenken spüren die meisten dies auch. Wir leben in einer Welt, in der so uferlose wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten obwalten, daß einem dabei geistig übel werden muß, in einer Welt, deren Fortschritt in Richtung einer Ratifizierung wirklich allgemeingültiger Normen der Toleranz, der Freiheit der Persönlichkeit und der Erschließung humaner Möglichkeiten bedrückend langsam vonstatten geht und kaum Bestand hat. Dann und wann kommt es in dramatischen Schüben zu einem Aufschwung, und die Besserung der politischen Lage der Menschen im Osten Europas, die sich ereignet, während ich an diesem Buch arbeite, kann jemandem nur zu denken geben, der – wie sein Autor – bis heute auf die Ereignisse, die unser eigenes Jahrhundert dominiert haben, mit einem gepflegten defensiven Pessimismus im Hinblick auf die Zukunftsaussichten der Gattung reagiert hat. In der Tat wissen wir aber nicht, wie wir Menschen eigentlich miteinander leben sollen. Obschon die erklärte Bereitschaft ansonsten zivilisierter Leute, einander millionenfach in einem Atomkrieg abzuschlachten, zur Stunde nachzulassen scheint, da die politischen Gesinnungskollisionen, die diese Gefahr beständig geschürt haben, für den Augenblick an Brisanz verlieren, steht es selbst in den Teilen der Welt, die nicht unterentwickelt sind, – und auf jeden Fall in der Welt als ganzer – durchaus nicht so, daß die Probleme, durch die es zu dem extremen gesellschaftlichen und moralischen Widerspruch zwischen einem demokratischen Kapitalismus und einem autoritären Kommunismus gekommen war, aufgrund der Wettbewerbsunfähigkeit des letzteren etwa schon gelöst wären.

In Europa ist dem Kommunismus in unseren Tagen eine vielleicht endgültige Niederlage bereitet worden, und womöglich erleben wir es noch, irgendwann auch seine Abschaffung in Asien begrüßen zu können. Doch bedeutet das auf keinen Fall, daß der demokratische Kapitalismus etwa der Weisheit letzter Schluß wäre, wenn es gilt, menschliche Sozialbeziehungen zu regeln. Gerade beim aktuellen geschichtlichen Stand der Dinge tut es not, sich dessen zu erinnern, daß der Kommunismus sein Bestehen zu einem Teil einem eminent wichtigen Ideal der Gleichheit verdankt, das ein attraktives Ideal ist und bleibt, ganz gleich, wie schlimm die Verbrechen wie auch die wirtschaftlichen Katastrophen waren, zu denen es in seinem Namen gekommen ist. Demokratischen Gesellschaften ist es nicht gelungen, diesem Ideal etwas entgegenzusetzen: Das Ideal der Gleichheit bleibt ein Problem für die alten Demokratien des Westens, und auch für die neuen Demokratien, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Osten Europas entstehen, wird es zu einem bitterernsten Problem werden. Politische Philosophie wird diesen Zustand von sich aus zwar nicht umgestalten können, doch hat sie – da einige augenscheinlich praktische Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Lebens in Wahrheit aus Quellen stammen, die theoretischer und ethischer Natur sind – dennoch eine eigene Aufgabe zu erfüllen. Moralische Überzeugungen fungieren durchaus auch als Motor der politischen Dezision, und jedes Fehlen ethischer Einigkeit kann, wenn es schwerwiegend genug ist, sehr viel trennendere Auswirkungen haben als irgendein bloßer Interessenkonflikt. Wer dazu neigt, politischer Theorie prinzipiell den Kontakt zur Realität abzusprechen, wird sich in den heutigen Entwicklungen nicht mehr behaupten können: Gerade jetzt werden überall auf dem Globus ethische und politische Schlachten ausgefochten – und nicht selten mit echten Panzern.

Politische Theorie hat man sich als wirkliche Forschung zu denken: als ein Unternehmen, das menschliche Möglichkeiten entdeckt, zu deren allmählicher Verwirklichung die Entdeckung selbst wiederum motiviert und beiträgt. So ist sie jedenfalls in der Tradition von den meisten Protagonisten politischer Philosophie gesehen worden: Nach dem Selbstverständnis dieser Theoretiker war es ihr Geschäft, sich eine moralische Zukunft der Gattung vorzustellen und nach Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung beizutragen; und da nicht zu vermeiden ist, daß man sich bei einem so verstandenen Unternehmen der Gefahr des Utopismus aussetzt, wird dieses Problem zu einem vorrangigen Aspekt unseres Themas.

Eine politische Lehre wird utopisch im pejorativen Sinne, sobald sie eine kollektive Lebensform ins Auge faßt, der aber der Mensch – die meisten wenigstens – in Wahrheit nicht gerecht werden könnte und durch keinen realisierbaren gesellschaftlichen und seelischen Umbildungsprozeß je zu entsprechen lernen könnte. Als ›Möglichkeit‹ für einige wenige und unerreichbarer Gegenstand der Bewunderung für die anderen mag sie gegebenenfalls noch einen gewissen ideellen Wert haben, doch eignet sie sich nicht als generelle Lösung der primären Frage jeder politischen Lehre: Wie sollen wir in einer Gesellschaft miteinander leben?

Schlimmer noch als motivationale Unmöglichkeit ist, daß auch die pure Illusion der Möglichkeit einer nach Lage der Dinge von der Motivation her unmöglichen Lebensform den einen oder anderen noch antreiben kann, sie mit autoritären Mitteln verordnen zu wollen, was dann endgültig unkenntliche Resultate nach sich zu ziehen pflegt. Ständig versuchen Gesellschaften, sich Subjekte zurechtzuschmieden, weil es diesen fortwährend mißlingt, sich mit irgendeinem vorgefaßten Muster vermeintlicher ›Möglichkeiten‹ für die Menschheit in Übereinstimmung zu bringen. Insofern ist politische Theorie eine empirische Disziplin, deren Hypothesen die Zukunft auch gefährden und deren Experimente äußerst kostspielig werden können.[1]

Während es wichtig ist, sich vor den Utopismen zu hüten, ist es indes nicht minder wichtig, ihren diametralen Widersacher zu meiden, den starrköpfigen Realismus. Zugegebenermaßen wird sich jede Theorie, die neue Möglichkeiten vorschlägt, der Gefahr bewußt sein müssen, daß diese Möglichkeiten rein imaginär sind. Die tatsächliche Menschennatur und die Grundverfassung der Antriebe des Menschen gehören auf jeden Fall zu unserem Untersuchungsgegenstand hinzu, und ein gewisser Pessimismus ist hier durchaus angebracht – schließlich haben wir reichlich Grund erhalten, die menschliche Natur zu fürchten. Doch dürfen wir keinesfalls die Hände in den Schoß legen in Anbetracht von Schranken, die sich lediglich der Niedrigkeit heutiger Beweggründe verdanken oder angesichts irgendeines weit übertriebenen Pessimismus in bezug auf die Möglichkeit einer Höherentwicklung der Gattung. Es bleibt unerläßlich, daß man sich auch dann schon den nächsten Schritt vorzustellen bemüht, wenn man noch nicht in die Nähe einer Verwirklichung der besten Lösungen gekommen ist, über die man bereits verfügt.

Bei diesem Unternehmen läßt es sich gar nicht vermeiden, daß wir die Intuitionen unserer je eigenen praktischen Urteilskraft aufzubieten haben, und man sollte dies auch keinesfalls bedauern. Um unseren Intuitionen prinzipiell trauen zu dürfen – insbesondere all jenen Einschätzungen, die uns sagen: daß etwas unrecht ist, wenngleich wir noch in Unkenntnis darüber sind, was genau nun eigentlich das Rechte wäre –, benötigen wir nicht mehr als die Überzeugung, daß unsere Fähigkeit, ethische Sachverhalte zu verstehen, entschieden weiter reicht als unsere Befähigung, die allgemeinen Grundsätze, die solchem Verstehen zugrunde liegen, auch wirklich auszubuchstabieren. Intuition kann zwar auch von Sitte, Eigennutz und – nicht zu vergessen – Theoriegläubigkeit korrumpiert sein, doch erstens muß sie es nicht zwangsläufig sein, und zweitens wird das intuitive Urteilsvermögen eines Menschen ihm häufig wirksame Indizien dafür an die Hand geben, daß seine ethische Theorie tatsächlich etwas ausläßt oder daß die eingewöhnten institutionellen Regelungen, die er aufgrund seiner Herkunft für selbstverständlich zu halten gelernt hat, womöglich durch und durch ungerecht sind. Intuitives Ungenügen ist eine unverzichtbare Quelle politischer Theorie. Es kann uns auch dann sagen, daß etwas verkehrt ist, wenn es uns damit nicht unbedingt schon sagt, wie dieser Defekt zu reparieren wäre; und oft liegt in ihm eine vernünftige Reaktion sogar auf solche Modelle zeitgenössischer politischer Praxis, die geradezu ideal sind, und zwar, wie ich glaube, gleichermaßen auf der Ebene der Theorie: Es sagt uns, wenig überraschend, daß wir die Wahrheit noch nicht gewonnen haben, und kann uns auf diesem Wege helfen, ein gesundes Mißfallen an der Beharrungskraft des Hergebrachten zu kultivieren, ohne in einen hoffnungslosen Utopismus der unkritischen Sorte zu verfallen.

Ich glaube, daß die Kollision persönlicher und unpersönlicher Standpunkte eines der drängendsten Probleme ist, die sich uns auf solche Weise zu erkennen geben. Sollte es uns nicht möglich sein, durch ethische Theorie und die entsprechende Anlage ethischer Institutionen unsere unparteiische Sorge um jeden einzelnen Menschen mit einer begründeten Position darüber zu vermitteln, welche Lebensweise man einem konkreten Individuum mit Vernunft zumuten kann, besteht keinerlei Hoffnung, überhaupt die Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung für alle begründen zu können. Solche Integrationsprobleme gehen mit der Faktizität unseres Menschseins wesentlich einher, und wir können unmöglich damit rechnen, daß sie je verschwinden werden. Und doch muß die Bemühung um eine Auseinandersetzung mit diesen Problemen in jeder politischen Theorie spürbar sein, die beanspruchen will, realistisch zu sein.

Was diese Aufgabe so schwierig macht, ist der Umstand, daß es das Ziel unserer politischen Theorie sein sollte, auf einer bestimmten Ebene letztlich der Einhelligkeit so nahe wie möglich zu kommen: einem Einvernehmen nämlich im Hinblick auf die Unterhaltung jener gesellschaftlichen Einrichtungen, in die man dann hineingeboren wird und die uns mit Zwangsmitteln auferlegt werden. Eine solche These mag als extravagant oder gar unverständlich erscheinen, insofern das Fehlen von Einvernehmlichkeit ja gerade das Wesen des Politischen auszumachen scheint, doch werde ich sie in diesem Buch verteidigen und zu erklären versuchen, in welcher Beziehung sie zur Kantischen Ethik und zu dem Grundgedanken eines hypothetischen Gesellschaftsvertrages steht, mit dem sich diese philosophische Ethik in der Sphäre des Politischen geltend macht.

Das unverfälschte Ideal politischer Legitimität beinhaltet, daß jeder einzelne Bürger den Gebrauch staatlicher Macht muß billigen können – nicht etwa unmittelbar oder bis in die letzten Einzelheiten, sondern kraft seiner prinzipiellen Zustimmung zu jenen Rechtsgrundsätzen, Institutionen und Verfahrensnormen, die festlegen, wie solche Herrschaft eingesetzt wird. Dergleichen verlangt die Möglichkeit eines hinreichend hohen Niveaus einvernehmlicher Affirmation, denn sobald es in einem Staat Bürger gibt, die wider die Art und Weise, auf die staatliche Macht gegen sie eingesetzt wird, ein berechtigtes Veto geltend machen können, wird dieser Staat illegitim. Es kann uns nur frustrieren, daß wir eine solche Einhelligkeit als Ideal anerkennen müssen, während wir auf der anderen Seite notgedrungen die komplizierten Gegebenheiten der menschlichen Motivation und der praktischen Vernunft hinzunehmen haben, doch ist nach meiner Auffassung nichts anderes als dies die Aufgabenstellung politischer Theorie. Wir müssen sowohl versuchen, dieser Anforderung eine ethisch sinnvolle Interpretation angedeihen zu lassen, als auch zusehen, inwieweit sie von unseren heutigen Institutionen überhaupt erfüllt werden könnte.

Es handelt sich um eine Aufgabe, die nicht bis ins Millennium hinausgeschoben werden darf, bis zu dem Tag, an dem die Konflikte etwa verschwunden wären und allen eine gemeinsame Zielvorgabe vor Augen stände. Die säkularisierte Version dieser verführerischen und gefährlichen Vision – einer Vision, die selbst noch das Ziel einer Einigkeit auf idealisierter Ebene unter den jeweils gegebenen Verhältnissen zurückweist und so lange auf Kampf um eines Endsiegs willen beharrt, als es überhaupt noch Klassen gibt, deren Interessen einander widerstreiten – macht das exorbitanteste Moment des ethischen Erbes aus, das der Welt von Karl Marx hinterlassen wurde. Harmonie bleibt ihr einer Zukunft vorbehalten, die nur zu vollbringen ist, indem man in der Gegenwart jede Harmonie zugunsten des politischen Krieges unversöhnlicher Interessen flieht.

Diese Auffassung ist zurückzuweisen und unser Eintreten für menschliche Gleichheit entschieden von ihr zu lösen. Das Ziel idealer Einigkeit ist an allen Stadien unserer Suche nach verbesserten menschlichen Lebensbedingungen beteiligt, gleichviel wie himmelweit man von endgültiger Gerechtigkeit jeweils noch entfernt ist. Wiewohl man sich überall dort, wo derlei Bestrebungen von den Subjekten noch nicht hinreichend allgemein geteilt werden, auch auf äußere Zwangsgewalt wird stützen müssen, kommt es einem Desaster gleich, wenn dieses Projekt aus der politischen Moral so lange ausgeschlossen bleibt, bis die Geschichte mit anderen Mitteln jenen mythologischen Endpunkt erreicht haben soll, an dem es sich angeblich mühelos zuwege bringen läßt.

2
Zwei Standpunkte

Der überwiegende Teil unserer Welterfahrung wie auch der überwiegende Teil unserer Wünsche gehören unserer persönlichen Perspektive an: Wir sehen die Dinge gleichsam von hier aus. Doch besitzen wir darüber hinaus eine eigentümliche Befähigung, über die Welt auch in Abstraktion von unserer besonderen Stellung in ihr nachzudenken – davon abzusehen, wer wir selbst in ihr sind. Ja, es ist uns sogar möglich, noch weitaus radikaler von den Kontingenzen unseres Selbst zu abstrahieren: Verfolgen wir beispielsweise jene Art von Objektivität, die uns die Physik und die anderen Naturwissenschaften abverlangen, abstrahieren wir in Wahrheit sogar davon, daß wir Menschen sind. In der ethischen Theorie dagegen ist nichts weiter als jene Art der Abstraktion von unserer eigenen Identität wirksam, durch die wir in Abzug bringen, wer wir sind.[2] Jeder von uns geht zunächst immer aus von einem typischen Gefüge je eigener Anliegen, Wünsche und Interessen und ist in der Lage, wahrzunehmen, daß auch andere dies tun. In einem zweiten Schritt kann er dann in Gedanken sich von seiner besonderen Stellung in der Welt subtrahieren und einfach allgemein über all die Menschen nachdenken, um die es geht – ohne künftig noch den von ihnen, der er faktisch selbst ist, als Ich auszusondern.

Durch diese Abstraktionsleistung kommt es zu einer Einstellung, die ich oft alternativ als den ›überpersönlichen‹ oder ›unpersönlichen‹ oder ›impersonalen Standpunkt‹ bezeichne. Die Gehalte und Eigenarten der unterschiedlichen subjektiven Standpunkte, die wir in impersonaler Einstellung durchmustern können, bleiben dabei erhalten: Allein der Umstand, daß eine unter diesen Perspektiven die meine ist (wenn sie es denn ist), wird von nun an in Abzug gebracht. Der springende Punkt ist dabei nicht etwa, daß man nun irgendwie nicht mehr weiß, wer man ist. Vielmehr handelt es sich darum, daß man dieses Faktum bei seiner Beschreibung der Lage eines Menschen nicht mehr mitberücksichtigt – man ›sieht von ihm ab‹.

Sehr vieles, unter anderem auch das ungeheure Unternehmen, uns die objektive Natur der Wirklichkeit zu erschließen, hat seinen Ursprung in dieser Fähigkeit, die Welt zu betrachten. Doch da dieselbe Objektivität darüber hinaus bei der Ausbildung von Werten und der Rechtfertigung von Handlungen wirksam ist, spielt der überpersönliche Gesichtspunkt auch im Zusammenhang der Bewertung politischer Institutionen eine wesentliche Rolle. Ethische und politische Theorie bilden sich heraus, sobald wir uns auf den impersonalen Standpunkt stellen und uns von daher auf das Datenmaterial konzentrieren, das uns die persönlichen Wünsche, Interessen, Vorhaben, Bindungen, Loyalitäten und Lebenspläne vorgeben, die für die Eigenperspektiven einer gewaltigen Masse sehr heterogener Individuen typisch sind, uns selbst nicht ausgenommen. Dann geschieht nämlich folgendes: Wir sehen ein, daß manchen dieser Dinge ein impersonaler Wert eignet. Dinge, die nicht automatisch gleichgültig werden, sobald wir sie unpersönlich betrachten, behalten ihren Eigenwert und zwingen uns, anzuerkennen, daß sie gerade nicht immer nur für Individuen oder Gruppen in ihrer Besonderheit von Bedeutung waren.

Seit langem schon bin ich der Überzeugung – und halte nach wie vor an ihr fest –, daß man dieser Konsequenz, stellt man die persönliche und die unpersönliche Perspektive auf sein eigenes Leben einander entgegen, unmöglich ausweichen kann. Wir vermögen gegen die Dinge in unserem Leben, die für uns selbst von vorrangiger Dringlichkeit sind, in impersonaler Einstellung einfach nicht indifferent zu sein; und wenn wir nicht umhinkönnen, den allerwichtigsten von ihnen einen Wert an sich zuzubilligen, dann haben auch andere Grund, sie in Betracht zu ziehen. Da der objektive Standpunkt jedoch gerade nicht mehr mich aus der Menge aller Individuen auszeichnet, muß dasselbe für Werte gelten, die in jedem anderen Leben aufkommen. Bin ich unpersönlich betrachtet von Bedeutung, dann auch ein jeder andere.

Es ist nützlich, sich hier eine Dynamik zu denken, durch welche die objektiven Werte, die in den Entwurf einer politischen Theorie Eingang finden, im Zuge von vier Phasen allererst erschlossen werden, wobei jede dieser Bildungsstufen aus einer ethischen Reaktion auf ein Problem hervorgeht, das sich infolge einer echten Entdeckung auf der vorangegangenen Stufe gestellt hat. Beim ersten Stadium handelt es sich um die fundamentale Einsicht des überpersönlichen Standpunkts, daß das Leben jedes einzelnen Menschen wichtig und niemand wichtiger ist als irgendein anderer. Das bedeutet nicht etwa, daß nicht manche Menschen wichtiger sein können, weil sie für andere wertvoller sind, sondern daß innerhalb einer horizontalen Dimension von (aus dem jeweiligen Leben von Individuen stammenden) Werten, auf der alle höherstufigen Werteungleichheiten beruhen müssen, jeder Mensch gleich viel zählt. Der impersonale Eigenwert eines bestimmten Quantums von etwas Gutem oder Schlechtem – von Glück und Not oder der Erfüllung und Enttäuschung von Wünschen – ist nicht dadurch bedingt, wem diese Dinge zugehören.

Nun existiert in der Welt eine so immense Anzahl von Menschen, deren Zwecke und Partikularinteressen einander überdies ständig in die Quere geraten, daß man sich diese Zahl fast nicht mehr vorzustellen vermag. Und was jedem einzelnen von ihnen widerfährt, ist dennoch ungeheuer wichtig – nicht minder vordringlich, als uns all das ist, was uns selbst zustößt. Die Wichtigkeit, die das eigene Leben für einen jeden dieser konkreten Menschen hat, sollte daher auch, wenn wir sie uns wirklich vergegenwärtigen, in der impersonalen Einstellung ihren Niederschlag finden: Der überpersönliche Standpunkt sollte eine dieser Wichtigkeit entsprechende Bedeutung ihres Lebens auch dann gewärtigen können, wenn er es nicht vermag, auch allen Bestandteilen dieses Lebens einen unpersönlichen Wert beizumessen, der dem persönlichen Wert entspräche, den sie für den Menschen haben, um dessen Leben es sich handelt – eine Einschränkung, von der ich augenblicklich aber noch absehe.

Angesichts dieser enormen Anzahl von Materien, die demnach auch unpersönlich betrachtet dringlich sind – von positiven und negativen Werten, die in jede nur mögliche Richtung weisen –, stellt sich dem überpersönlichen Standpunkt nun das Problem, zu bestimmen, wie diese Komponenten derart vereinigt zur Geltung zu bringen und Konflikte zwischen ihnen aufzulösen sind, daß eine kritische Wertung unter den Alternativen möglich wird, die verschiedenartige Individuen in so unterschiedlicher und ihnen nicht gleichgültiger Weise angehen.

Auf dieses Problem reagiert die zweite Phase der Dynamik, die ausgehend von ihren Materialien in der Dimension persönlicher Werte eine Ethik schafft. Obwohl ich an dieser Stelle des Arguments noch nicht einmal Gründe für eine partielle Lösung ins Feld führe, bin ich der Überzeugung, daß sich die korrekte Form überpersönlicher Rücksichtnahme auf jeden einzelnen durch eine Unparteilichkeit unter den Individuen auszuzeichnen hätte, die gerade nicht nur in dem Sinne auf Gleichheit orientiert wäre, daß sie einen jeden sozusagen bloß als gleichwertiges Argument einer kombinatorischen Funktion für gleich wichtig erachtete. Vielmehr müßte es sich bei ihr von Anbeginn an um eine konkrete Präferentialfunktion handeln, die immer schon ein positives Gewicht auf die Erleichterung des Loses derjenigen Menschen legen würde, denen es innerhalb der Hierarchie schlechter ginge, statt abermals nur den Nutzen der im Vergleich zu ihnen bereits Begünstigteren weiter zu mehren – wenn auch in gewissem Maße naturgemäß alle Lebensverbesserungen positiv ins Gewicht zu fallen hätten. Diese Grundüberzeugung steht offenkundig mit der egalitären Komponente in der Theorie der sozialen Gerechtigkeit meines Lehrers Rawls in Kontakt. Ich glaube jedoch, daß etwas Ähnliches in der Ethik erstens von sehr viel allgemeinerer Gültigkeit ist und daß der gebotene Grad der Bevorzugung Unterprivilegierter zweitens nicht allein von ihrer Stellung im Verhältnis zu ihren begünstigteren Mitmenschen abhängt, sondern zusätzlich davon, wie schlecht es den Betreffenden absolut gesehen geht. Die Linderung unerträglicher Not und Entbehrung ist bei der Abwägung, welche Auflösungen von Interessenkonflikten zustimmungsfähig sein können, immer von besonders grundsätzlicher Dringlichkeit.[3]

Wir handeln augenblicklich davon, wie uns die Dinge von einem gänzlich unpersönlichen Standpunkt aus erscheinen – von einem Standpunkt, den wir mit völliger Selbstverständlichkeit einnehmen würden, sobald wir irgendeine Situation, an der wir persönlich unbeteiligt sind, von außen beobachten. Entscheidend ist nun, daß es uns ja unsere Befähigung zur Abstraktion ermöglicht, diese Haltung auch Situationen gegenüber einzunehmen, an denen wir entweder unmittelbar oder durch unsere Verbindung mit einem anderen Menschen selbst beteiligt sind. Bedenken wir dann das Leben jedes der unzähligen von einer politischen Dezision berührten Menschen und bewegt uns die Frage, was insgesamt gesehen das Beste wäre oder wie entschieden werden könnte, welche von mehreren Alternativen die bessere wäre, zieht es uns zu der Folgerung hin, daß, was dem einen widerfährt oder widerfahren ist, objektiv soviel Gewicht hat, als wäre es jedem beliebigen anderen widerfahren, daß die Beseitigung gravierenden Elends, Leidens oder Mangels von vorrangiger Wichtigkeit ist, daß Verbesserungen auf höheren Ebenen dieser Hierarchie zunehmend weniger vordringlich werden, daß auf annähernd gleichwertigen Ebenen des Wohls der einzelnen eine erheblichere Verbesserung oder Verschlechterung die jeweils wichtigere ist und daß oberhalb einer bestimmten Schwelle auch die Anzahl der Betroffenen immer zusätzlich ins Gewicht fällt.[4]

Dieser Befund ist mit manchen vertrauteren moralischen Gefühlen zumindest nicht unvereinbar. Durchmustern wir die Welt aus der unparteiischen Perspektive, fühlen wir uns hart bedrängt von dem Leiden, das in ihr vorherrscht: Es erscheint uns dann als von so überwältigender Dringlichkeit, Elend, Unwissenheit und Ohnmacht zahlloser Mitmenschen zu beseitigen und das Leben wenigstens der Mehrheit von ihnen dereinst einmal auf das Niveau eines einigermaßen erträglichen Existenzminimums zu heben, daß zu einer offensichtlichen und erstrangigen Anforderung an jede Vergemeinschaftung und politische Ordnung die Wahrscheinlichkeit werden muß, mit der sie geeignet ist, zur Umsetzung dieses Zieles einen wirksamen Beitrag zu leisten. Hierbei handelt es sich um die ganz unmißverständliche überpersönliche Frage danach, was objektiv am wichtigsten ist – nach der Einschätzung, zu der man gelangen würde, sobald man die Welt aus einer distanzierten Außenperspektive beobachtete. Und wäre man tatsächlich irgendein mächtiges und wohlwollendes Wesen, das außerhalb der Welt stünde und ihren Bewohnern völlig unparteiisch Vorteile zugute kommen lassen könnte, würde man sicherlich das Gesamtergebnis zu bewirken suchen, das nach dem oben skizzierten gleichheitsorientierten Wertmaßstab das beste wäre.

Die Geschichte kommt hiermit aber nicht zu einem Halt, denn es ist gerade nicht die Aufgabe einer Ethik oder einer politischen Theorie, irgendeinen mächtigen und gütigen äußeren Beobachter, der auf das Wohlergehen aller menschlichen Wesen Einfluß zu nehmen vermöchte, mit gutem Rat zu versorgen. Vielmehr wird es beiden Theorien darum zu tun sein, im Weltlauf stehende Menschen zu beraten, die sich entweder als Privatleute oder in ihrer Eigenschaft als Gründer, Verwalter oder Bürger sozialer und politischer Institutionen die Frage vorlegen, was zu tun ist. Lösungen werden daher immer von der Befähigung solcher Menschen abhängen, den unpersönlichen Standpunkt durch Abstraktion erst einmal einzunehmen – vor allem auch dann, wenn sie von einer der zur Debatte stehenden Situationen mitbetroffen sind. Dabei wird es sich jedoch nie um den einzigen Standpunkt handeln, den sie innehaben.

Die Ausgangsdaten jeder Ethik – die persönlichen Zwecke, Interessen und Wünsche von Individuen, die auch von der impersonalen Perspektive erfaßt und aufgenommen werden – bleiben als die typischen Bestandteile der Perspektive jedes konkreten Menschen uneingeschränkt präsent. Und nicht selten wird der subjektive Standpunkt des einzelnen auch starke persönliche Loyalitäten gegenüber bestimmten Interessen- oder Überzeugungsgemeinschaften und affektive Identifikationen mit anderen einschließen, die wesentlich umgreifender ausfallen werden als innerhalb einer Familie oder einer Freundschaft, ohne auch nur annähernd Uneingeschränktheit anzunehmen. Dieses umfängliche Ensemble von Beweggründen – die zwar von ganz uneinheitlichem Gehalt sind, aber dennoch immer unausräumbar an Perspektiven gebunden bleiben, und deren breites Spektrum von Eigennutz bis hin zu nationaler Solidarität reichen kann – bildet nun die Kehrseite der globalen psychischen Diskrepanz, mit der es politische Theorie aufzunehmen hat.

Und es ist unverkennbar, daß das Nebeneinanderbestehen eines persönlichen Standpunkts mit Werten, die aus dem ursprünglichen Urteil des unpersönlichen Standpunkts hervorgehen, bei den meisten eine solche Diskrepanz im Selbst erzeugen wird. Aus dem je eigenen Blickwinkel auf die Welt trifft es auf jeden einzelnen Menschen mit allen seinen persönlichen Anliegen und Bindungen zu, daß er sich eminent wichtig und der Mittelpunkt eines Universums ist, das gleichsam ein Gefüge konzentrischer Kreise der rapide abnehmenden Identifikation mit anderen bildet. Doch vom impersonalen Standpunkt, den er gleichermaßen einnehmen kann, gilt für jeden anderen dasselbe: Das Leben jedes der unzähligen Individuen ist genausowenig gleichgültig wie sein eigenes und sein Leben objektiv nicht wichtiger als das eines beliebigen anderen. Diese beiden Einstellungen sind nicht so leicht zusammenzuführen, besonders aber nicht für einen (jedoch nicht nur für ihn), der in einer Welt lebt, in der es der Mehrheit anderer weitaus schlechter geht als ihm, und der in ihr sehr begünstigt dasteht, da es diese seine Stellung ja immer mit sich bringen wird, daß die Bedürfnisse der zu kurz Gekommenen vom impersonalen Standpunkt gesehen um ein Vielfaches vordringlicher sind als seine eigenen. Soll eine ethische oder politische Lehre Menschen jedoch sagen können, wie sie zu leben haben, muß sie mit diesem Nebeneinander arbeiten und eine allgemein gültige Antwort zu geben versuchen, die überdies von jedermann als eine solche anerkannt werden kann.

Eine äußerste Möglichkeit wäre natürlich die, im Konfliktfall mit persönlicheren Werten auf der untersten Legitimationsebene jederzeit jene Werte dominieren zu lassen, die, wie ich eben ausgeführt habe, auf die impersonale Perspektive zurückgehen. Nach einer altehrwürdigen Tradition in der Moraltheorie, die von den Utilitaristen bestens ausgearbeitet worden ist, müssen wir uns darum bemühen, uns soweit wie möglich zu Werkzeugen des impersonalen Standpunkts zu machen, gleichsam zu seinen Agenten, die genau die unparteiischen Werte in die Tat umzusetzen haben, die erst aus einem überpersönlichen Blickwinkel erscheinen – also letztlich so leben, als würden wir den Anweisungen eines wohlmeinend unparteiischen Beobachters der Welt Folge leisten, in der wir ja nur als ein Individuum unter Milliarden anderer auftreten. Dieses radikale Urteil ist jedoch begründungspflichtig und darf nicht kurzerhand vorausgesetzt werden. Ich werde hier jedenfalls die grundverschiedene Position verteidigen, nach welcher unser persönlicher Standpunkt auf direktem Wege in die Legitimation jedes ethischen oder politischen Systems mit eingehen muß, nach dem gewöhnliche Menschen sich in einem konkreten Leben richten können sollen. Und ich werde diese Einschätzung als einen Teil der Ethik selbst begreifen und nicht bloß als einen pragmatischen Ratschlag.

Es kann jedoch erst gar nicht zu einer Lösung des spezifisch ethischen Problems kommen, wenn man es den beiden Standpunkten einfach selbst überläßt, irgendwie im Innenleben jeder Person einen Kompromiß auszufechten oder sich einstellen zu lassen. In Wahrheit ist der Konfliktzustand vielmehr als ein eigenständiges Problem moraltheoretischen und politischen Denkens zu begreifen – als das neue Datenmaterial für eine erst noch zu schaffende Theorie. Und auf dieses Problem reagiert nun die dritte Phase der ethischen Bildungsdynamik, die an dieser Stelle dann ihre spezifisch Kantische Form anzunehmen hat. Damit meine ich, daß sie ganz prinzipiell über die Frage: »Was können wir alle übereinstimmend als das aus impersonaler Sicht Beste erachten?« hinauszugehen und der Frage sich zuzuwenden hat: »Was können wir – wenn überhaupt – angesichts des Faktums, daß unsere Antriebe nicht allein in überpersönlichen Interessen bestehen, noch zusammenstimmend als das Gesollte begreifen, als etwas, das wir alle tun müssen?« So und nicht anders gelangen wir zu der vorhin erwähnten Forderung nach idealer Einigkeit wie auch zu der Skepsis, ob sie überhaupt erfüllbar ist.

Würde mich nicht der denkbare Vorwurf, Standpunkte praeter necessitatem zu vervielfachen, davon abhalten, wäre ich an dieser Stelle versucht, den Gesichtspunkt, von dem aus diese Frage gestellt wird, ausdrücklich als ›den Kantischen Standpunkt‹ zu kennzeichnen, der die Dinge gleichzeitig aus der persönlichen Perspektive jedes konkreten Individuums zu sehen und zu einer Motivationsverfassung zu gelangen sucht, die allen gemeinsam sein kann, statt ihre persönlichen Perspektiven durch eine unpersönliche Sichtweise ersetzen zu wollen, die nur zu erreichen wäre, indem man sich – wie im Falle der genannten extern distanzierten Einstellung eines absolut unparteiisch verfahrenden Wohlwollens – aus Eigenperspektiven insgesamt herausbegäbe. Doch darf ich ihn statt dessen vielleicht ›die Kantische Fortbildung des impersonalen Standpunkts‹ nennen.

Was der überpersönliche Standpunkt auf der ersten und zweiten Bildungsstufe für einen jeden zur Folge hat, ist ein massiver Zuwachs an Werten, der nicht im mindesten Hinweise darauf gibt, wie diese Werte mit den bereits vorhandenen persönlichen Werten zusammenzuführen und vereinigt zur Geltung zu bringen sind. Zwar wird nun das Individuum freilich nur als eines unter den Unzähligen berücksichtigt, deren Leben aus der impersonalen Perspektive als real und wichtig begriffen werden, doch bringt dies sein persönliches Interesse am eigenen Leben ja in keinem Fall zum Verschwinden. Hier bekommen wir es nach meinem Dafürhalten mit einem bedenklich unbequemen Problemstand zu tun: Auf keinerlei offensichtliche Weise kann den Ansprüchen beider Perspektiven zugleich Genüge getan werden – beispielsweise indem sie als untergeordnete Aspekte eines einheitlichen Wertesystems höherer Ordnung begriffen würden. Vielmehr wird die Erfüllung der einen Forderungen im Gegenteil nahezu unvermeidlich mit der Erfüllung der anderen in Kollision geraten. Und nichts anderes mag sogar für die Lage der sozial schwächsten (und aus diesem Grunde von gleichheitsorientierter Unparteilichkeit am stärksten favorisierten) Menschen gelten, da ihre Eigeninteressen womöglich nicht dem entsprechen, was den Interessen ihrer Mitmenschen wirklich dienlich wäre. So wird es also wahrscheinlich, daß sich jeder einzelne von uns buchstäblich zwischen den Extremen hin und her gerissen sieht, nachdem er sich die Ergebnisse des ersten Stadiums unpersönlicher Wertung angeeignet hat.

Es wird dann zu einer offenen Frage: Wie können wir uns aus solcher Zerrissenheit aufs neue zusammenfinden? Das Problem des Politischen ist – ganz wie Platon erkannte – im Innern jeder besonderen Seele selbst zu lösen, wenn es denn überhaupt lösbar werden soll. Das heißt zwar nicht, daß seine Lösung nicht mit zwischenmenschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Institutionen zu tun haben wird, doch es bedeutet durchaus, daß derlei ›äußerliche‹ Lösungen nur gültig sein können, wenn sie geeignet sind, einer angemessenen Reaktion auf jene Teilung im Selbst zu wirksamer Äußerung zu verhelfen, in der jederzeit ein Problem für das konkrete menschliche Einzelwesen zu sehen ist.

Will man es mit Platons Problem aufnehmen, wird an dieser Stelle etwas anderes hinzukommen müssen als die ursprüngliche Einstellung der Unparteilichkeit, obgleich wir uns wohlgemerkt auch dieses zusätzliche Moment aus der impersonalen Perspektive heraus zu denken haben. Unparteilichkeit allein könnte ja immer nur internen Konflikten geschuldete Beklommenheiten und Ängste dem Gesamtbetrag menschlicher Übel hinzufügen und ihren allmählichen Abbau im Hinblick auf jeden einzelnen dann zu einer neuen objektiven Zielvorgabe erklären. Damit würde das Problem aber für ein konkretes Einzelwesen seinem Wesen nach unverändert fortbestehen, dessen persönlichere Ziele mit dem solchermaßen neu bestimmten gemeinschaftlichen Besten auch weiterhin in Konflikt gerieten. Was statt dessen erfordert wird, ist ein allgemein gültiges Verfahren zur Auflösung des inneren Konflikts selbst, ein Verfahren, das unbeschränkt anwendbar wäre und von jedem einzelnen im Lichte der Universalität des Konflikts gebilligt werden könnte. Doch werden die von allen zu bejahenden Werte von nun an eine andere Form annehmen: Sie werden nun angeben, was eine jede konkrete Person angesichts des uneingeschränkten Gesamtspektrums der Faktoren vernünftigerweise tun und wollen soll, und nicht mehr bloß, welche Lösungen die neutral besseren oder schlechteren wären. Diese Idee des Vernünftigen, die in der Diskussion dann eine ganz entscheidende Rolle spielen wird, geht auf den Gegenstand eines spezifisch Kantischen Interesses: was ich als etwas gutheißen kann, das von jedem getan werden soll, der sich an meiner Stelle befände, und was daher von allen übereinstimmend als das für mich in der gegebenen Situation Richtige gebilligt werden muß.