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Band 8 der

Eudora Welty

Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen

Drei Essays

Aus dem Englischen von Karen Nölle
Mit einem Nachwort von Luise F. Pusch

Neuausgabe August 2011

© 2011 editionfünf

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing

herausgegeben von Karen Nölle und Christine Gräbe

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Karen Nölle

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel One Writer’s Beginnings bei Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts. Eine deutsche Übersetzung erschien erstmals 1990 unter dem Titel Eine Stimme finden bei J. C. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH.

© 1983, 1984 Eudora Welty

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Hamburg

ISBN 978-3-942374-11-8
eISBN 978-3-942374-80-4

www.editionfuenf.de

Zum Gedenken an meine Eltern
Christian Webb Welty (1879–1931)
und Chestina Andrews Welty (1883–1966)

I
HÖREN

II
SEHEN

III
SAGEN

DANK, EDITORISCHE NOTIZ

KEINE BLASSEN KOPFGEBURTEN
Ein Nachwort von Luise F. Pusch

ALS ICH NOCH SO KLEIN WAR, dass ich morgens lange brauchte, um mir die Stiefel zuzuknöpfen, lauschte ich gern zum Flur hin: Oben rasierte sich Vater im Bad, und unten briet Mutter den Speck. Irgendwann begannen sie zu pfeifen, immer abwechselnd, treppauf und treppab. Vater pfiff seinen Part, Mutter versuchte zu pfeifen und summte dann ihre Antwort. Es war ihr Duett. Ich führte meinen Stiefelknöpfer ein und aus und hörte zu – ich wusste, es war »Die lustige Witwe«. Aber bei ihnen wurde das Lied von Lachen getragen und klang ganz anders: ganz anders als auf der Schallplatte, die zu Anfang brummte, als würde das Grammophon erst langsam aufgezogen. Immer hin und her ging es zwischen ihnen, die Treppe hinauf und die Treppe hinab, die ich jetzt gleich runterpoltern wollte, um meine Stiefel vorzuzeigen.

I
HÖREN

 

IN UNSEREM HAUS an der North Congress Street in Jackson, Mississippi, wo ich 1909 als erstes von drei Kindern geboren wurde, wuchsen wir zum Klang von schlagenden Uhren auf. Im Flur stand eine Eichenuhr im Mission-Style, deren gongartige Schläge, verstärkt durch den Resonanzboden der Treppe, durch Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und Vorratskammer hallten. Auch nachts fanden sie den Weg in unsere Ohren; sogar draußen auf der Schlafveranda konnte uns manchmal die Mitternacht wecken. Im Schlafzimmer meiner Eltern stand eine kleinere Schlaguhr, die der anderen antwortete. Und während die Küchenuhr nur die Zeit anzeigte, gab es im Esszimmer eine Kuckucksuhr mit Gewichten an langen Ketten; an einer davon hängte mein kleiner Bruder einmal, nachdem er über einen Stuhl auf die Anrichte geklettert war, einen Augenblick lang die Katze auf. Die Verwandten meines Vaters in Ohio waren Nachkommen von drei Brüdern, die im 18. Jahrhundert aus der Schweiz nach Amerika gekommen waren, und vielleicht haben sie etwas damit zu tun, dass die Zeit für uns alle zeitlebens etwas Maßgebliches blieb. Für eine künftige Schriftstellerin jedenfalls war es gut, sich so gründlich und fast als Allererstes mit Chronologie zu beschäftigen. Dies gehörte zu den vielen Dingen, die ich fast unmerklich lernte; als ich es brauchte, war es da.

Mein Vater besaß ein Faible für alle Apparate und Spielereien, die lehrreich waren und einen Zauber hatten. Sein Platz dafür war die Schublade im »Bibliothekstisch«. Dort lag oben auf seinen gefalteten Landkarten ein Fernrohr mit Messingauszügen, mit dem wir nach dem Abendessen im Vorgarten den Mond oder den Großen Wagen ausfindig machten und jede angekündigte Mondfinsternis beobachteten. Auch eine Kodak-Faltkamera verwahrte er dort, die zu Weihnachten, Geburtstagen und vor Reisen hervorgeholt wurde. Hinten in der Schublade lagen eine Lupe, ein Kaleidoskop und ein schwarzes Bougramkästchen mit einem Gyroskop, das er auf einer straff gespannten Schnur für uns tanzen ließ. Außerdem hatte er noch ein Sammelsurium von Geduldsspielen aus verketteten Metallringen und -gliedern und -schlüsseln, die außer ihm keiner von uns auseinanderzunehmen verstand, und wenn wir es noch so geduldig gezeigt bekamen. Er hatte eine fast kindliche Liebe zu allem Erfinderischen.

Irgendwann wurde auch ein Barometer an die Esszimmerwand gehängt, obwohl wir eigentlich keines brauchten. Als Junge vom Land kannte sich mein Vater ausgezeichnet mit dem Wetter und den Anzeichen am Himmel aus. Er trat jeden Morgen als Erstes vor die Tür, sah sich um und hielt die Nase in die Luft. Er war ein ziemlich guter Wetterprophet.

»Im Gegensatz zu mir«, pflegte meine Mutter mit großer Selbstzufriedenheit festzustellen.

Er erklärte uns Kindern, was wir zu tun hatten, wenn wir uns in einem fremden Land verirrten. »Sucht euch die Stelle am Horizont, wo der Himmel am hellsten ist«, sagte er. »Da spiegelt sich der nächste Fluss. Wenn ihr auf einen Fluss zulauft, werdet ihr Häuser und Menschen finden.« Mögliche Gefahren beschäftigten ihn sehr. So lehrte er uns Kinder beispielsweise vorsorglich, uns vor Blitzschlag in Acht zu nehmen. Bei den schweren Gewittern, die in unserer Gegend häufig sind, zog er uns immer von den Fenstern weg. Meine Mutter stand dabei und verlachte Vorsicht als Charakterfehler. »Ach, ich habe Stürme immer geliebt! In West Virginia hat mir kräftiger Wind nie etwas ausgemacht! Hört euch das nur an! Ich hatte überhaupt keine Angst vor ein bisschen Blitz und Donner! Wenn es richtig stürmte, bin ich raus auf den Berg und mit weit ausgebreiteten Armen durch den Regen gerannt

So kam es, dass ich einen starken Sinn für Meteorologie entwickelte. Als ich Jahre später Geschichten schrieb, spielte Atmosphärisches von Anfang an eine wichtige Rolle. Unwetter und die von derlei drohenden Tumulten ausgelösten Gefühle verbanden sich zu dramatischen Formen. (Als Erstes versuchte ich es mit einem Tornado, in einer Erzählung mit dem Titel »The Winds«.)

Von früh an brachte uns Santa Claus zu Weihnachten Spielzeug, mit dem Jungen und Mädchen (jeweils getrennt) lernen konnten, Sachen zu bauen – behauene Natursteine für altmodische Burgen, Holz- und Metallbaukästen. Vater bastelte uns eigens raffinierte Drachen, die man draußen vor der Stadt steigen lassen musste, auf einer Weide, die lang genug war (vor zuschauenden Pferden und Kühen hatte mein Vater keine Angst), dass er mit dem Drachen laufen und ihn an seiner langen Schnur zum richtigen Zeitpunkt loslassen konnte, während meine Mutter die Spule hielt. Dann durften wir Kinder den Drachen halten, und er zerrte wie etwas Lebendiges an unseren Händen. Es waren wunderhübsche, stabile, wohlgeformte Kastendrachen, die ihr ganzes kurzes Dasein lang angenehm nach Papierleim rochen. Und natürlich gab es für die Jungen, sobald sie annähernd das richtige Alter erreichten, eine elektrische Eisenbahn – die Lokomotive mit ihrem erbsengroßen, funktionstüchtigen Scheinwerfer, die Waggons dahinter, Schienen mit schaltbaren Weichen, Signale, den Bahnhof, die Brücken und den Tunnel –, die allen übrigen Verkehr im oberen Flur behinderte. Selbst unten im Erdgeschoss hörte man durch die Decke und über das aufgeregte Kindergeschrei hinweg das elegante Surren und Klicken des Zuges, wie er immer rundherum und rundherum seine Achten drehte.

Das alles, vor allem aber die Eisenbahn, steht für die tiefsten Überzeugungen meines Vaters – seinen Glauben an den Fortschritt, an die Zukunft. Mit seinen Geschenken rüstete er uns Kinder dafür aus.

Und genauso hielt es meine Mutter, mit ihren ganz anderen Geschenken.

Ich war erst zwei oder drei, als ich lernte, dass jedes Zimmer in unserem Haus, zu jeder Tageszeit, zum Lesen oder zum Vorlesen da war. Es war meine Mutter, die mir vorlas. Sie las mir morgens im großen Schlafzimmer vor, wo wir zusammen in ihrem Schaukelstuhl saßen, der im Rhythmus unseres Schaukelns knarzte, als würde unsere Geschichte von einer Grille begleitet. Sie las mir im Winter nachmittags am Kohlenfeuer im Esszimmer vor, wo unsere Kuckucksuhr die Geschichte mit »Kuckuck« beendete, und sie las mir abends vor, wenn ich in meinem Bett lag. Ich habe ihr anscheinend niemals Frieden gegönnt. Manchmal las sie mir in der Küche vor, während sie beim Buttern saß, und dann schluchzte das Butterfass, ganz gleich zu welcher Geschichte. Ich quengelte, dass sie mir vorlesen sollte, während ich die Kurbel drehte. Aber als sie mir einmal den Wunsch gewährte, hatte sie meine Geschichte längst ausgelesen, bevor ich ihr Butter lieferte. Sie war eine ausdrucksvolle Vorleserin. Wenn sie zum Beispiel den »Gestiefelten Kater« las, war nicht zu überhören, dass sie Katzen generell misstraute.

Zu erfahren, dass Bücher von Menschen geschrieben wurden und keine Naturwunder waren, die von selbst sprossen wie Gras, war für mich überraschend und enttäuschend. Doch wo sie auch herkamen – ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, in der ich sie nicht liebte: die Bücher als solche, mitsamt dem Umschlag und dem Einband und dem Papier, auf das sie gedruckt waren, und dazu ihren Geruch und ihr Gewicht und das Gefühl, sie in den Armen zu halten, wenn ich sie mit mir forttrug. Lange bevor ich lesen konnte, freute ich mich schon auf sie und war entschlossen, so viel zu lesen, wie ich irgend konnte.

Meine Eltern stammten beide nicht aus Familien, die sich in größerer Zahl Bücher leisten konnten, doch mein Vater war, obwohl ihn das als jüngsten Mitarbeiter einer neu gegründeten Versicherung finanziell ziemlich strapaziert haben muss, immerzu damit beschäftigt, Angebote zu sondieren und alles zu bestellen, womit wir beider Ansicht nach aufwachsen sollten. Sie investierten stets als Erstes in die Zukunft.

Außer dem großen Bücherschrank im Wohnzimmer, der bei uns nur die »Bibliothek« hieß, gab es im Esszimmer Regale unter den Fenstern und einen Tisch für Nachschlagewerke. Sie waren als Argumentationshilfen für die Diskussionen um den Esszimmertisch gedacht, mit denen wir groß werden sollten: der Unabridged Webster, die Columbia Encyclopedia, Compton’s Pictured Encyclopedia, die Lincoln Library of Information und später das Book of Knowledge. Und in dem Jahr, als wir unser neues, größeres Haus bezogen, wurde das mit der neuen Encyclopedia Britannica von 1925 gefeiert, die nach Ansicht meines Vaters, mit seiner unerschütterlichen Zukunftsgläubigkeit, natürlich besser war als alle vorherigen Ausgaben.

In der »Bibliothek«, dem Mission-Style-Bücherschrank mit seinen drei rautengitterverzierten Glastüren neben Vaters Morris-Sessel und der Tischlampe mit dem Glasschirm, standen Bücher, die ich mir schon bald vornehmen konnte – und so tat ich es auch: Ich las sie alle unterschiedslos der Reihe nach durch, so wie sie kamen, vom obersten bis zum untersten Bord. Unter anderem die gesammelten Vorträge von John Lawson Stoddard mit ihrem altmodischen Vokabular des 19. Jahrhunderts, den vielen Schilderungen von bäuerlichem Leben und altertümlichen Sitten und Gebräuchen und den düsteren Illustrationen: der Ausbruch des Vesuv, Venedig im Mondlicht, Zigeuner am Lagerfeuer. Ich hatte damals keine Ahnung, dass sie ein Zeugnis davon waren, wie gern mein Vater mehr von der Welt gesehen hätte. Auch seine andere ferne Liebe las ich in einem Zug: das Victrola Book of the Opera, mit Zusammenfassungen der Opern von A bis Z und Porträts von Melba, Caruso, Galli-Curci und Geraldine Farrar im Bühnenkostüm, deren Stimmen wir zum Teil auf unseren Red-Seal-Schallplatten lauschen konnten.

Meine Mutter las nur in zweiter Linie, um sich zu bilden; als Hedonistin, die sie war, vertiefte sie sich in Romane. Sie las Dickens mit solcher Inbrunst, als wollte sie mit ihm durchbrennen. Die Romane aus ihrer Mädchenzeit, die in ihrer Fantasie fortlebten, waren neben denen von Dickens, Scott und Robert Louis Stevenson Jane Eyre, Trilby, Die Frau in Weiß, Das Vogelmädchen, Auf der Suche nach dem Schatz der Könige. Auch der Name Marie Corelli wurde gelegentlich erwähnt, aber mir war deutlich, dass sie meiner Mutter nicht mehr gefiel und dass sie Ardath nur noch aus Treue aufbewahrte. Inzwischen las sie am liebsten Galsworthy, Edith Wharton und vor allem Thomas Manns Josephsromane.

St. Elmo hatten wir nicht im Haus. Ich sah es aber häufig bei anderen. Dieser ungemein populäre Südstaatenroman ist schuld, dass bei uns so viele Mädchen Edna Earle heißen. Sie alle sind nach der Heldin benannt, die es schaffte, einen zügel- und morallosen Lebemann und Atheisten – ihren Geliebten St. Elmo eben – zu zähmen. Darauf konnte meine Mutter verzichten. Doch den klassischen Rat an Rosenzüchterinnen, wie man die Sträucher lange genug bewässerte, merkte sie sich: »Man nehme sich einen Stuhl und St. Elmo

Beiden Eltern verdanke ich die frühe Bekanntschaft mit meinem geliebten Mark Twain. Wir hatten von ihm eine Gesamtausgabe und von Ring Lardner eine Auswahl im Bücherschrank, und diese Bücher vereinten uns mit der Zeit alle, die Eltern wie die Kinder.

Indem ich alles las, was dastand, stolperte ich auch über ein ramponiertes kleines Buch, das meinem Vater als Kind gehört hatte. Es hieß Sandford and Merton. Ob es wohl noch jemanden gibt, der sich daran erinnert? Es ist das berühmte um 1780 von Thomas Day verfasste Erbauungsbuch, aber auf der Titelseite der Ausgabe meines Vaters ist sein Name nicht erwähnt. Hier heißt es Sandford and Merton in Words of One Syllable, als Autorin wird Mary Godolphin genannt, und es ist ganz in Wörtern mit nur einer Silbe gehalten. Sonst ist alles da: der reiche und der arme Knabe und ihr Lehrmeister Mr Barlow, die langen, von dramatischen Szenen durchsetzten Ausführungen, in denen Arm und Reich in je unterschiedliche Gefahren geraten und wieder daraus errettet werden. Die Wörter mögen nicht mehr als eine Silbe enthalten, doch ein häufig gebrauchtes ist das antiquierte »quoth« für »sagte«. Und das Buch endet nicht mit einer, sondern gleich mit zwei Lebensweisheiten. Beide sind in Ringe eingraviert: »Do what you ought, come what may« und »If we would be great, we must first learn to be good« – »Tu was du musst, komm was da will« und »Wer groß sein will, muss erst lernen gut zu sein«.

Dem Buch fehlte der vordere Deckel, der Rücken wurde von mehreren Schichten stark vergilbter, geleimter Papierstreifen gehalten, und die Seiten waren fleckig, verschmutzt und an den Rändern eingerissen. Die grellbunten Bilder hatten sich aus der Bindung gelöst, waren aber aufgehoben und zwischen die Seiten gelegt worden. Schon als argloses Kind hatte ich den Eindruck, es sei das einzige Buch, das mein Vater als kleiner Junge besessen hatte. Er hatte es immer behalten; mit sieben hatte er seine Mutter verloren, und vielleicht war er als Kind auf den nackten Seiten eingeschlafen. Mein Vater hat das Buch uns Kindern gegenüber nie erwähnt, aber er hatte es aus Ohio mitgebracht und in unseren Bücherschrank gestellt.

Meine Mutter hatte aus West Virginia ihre Dickens-Ausgabe mitgebracht. Auch diese Bücher sahen traurig aus – sie hätten vor meiner Geburt Wasser und Feuer überstanden, erzählte sie mir, doch jetzt waren sie hier, sauber aufgereiht – und warteten, wie mir später aufging, auf mich.

Solange ich denken kann, bekam ich eigene Bücher geschenkt, zu allen Geburtstagen und zu Weihnachten. Bücher konnten mir meine Eltern nie genug schenken. Sie müssen auf einiges verzichtet haben, um mir zu meinem sechsten oder siebten Geburtstag – als ich schon selber lesen konnte – das zehnbändige Our Wonder World zu schenken. Es waren schwere Bücher in wunderschöner Ausstattung, mit denen ich mich gern vor dem Kamin im Esszimmer auf den Fußboden legte, am häufigsten mit Band 5, Every Child’s Story Book. Er enthielt Märchen – von Grimm und Andersen, aus England und Frankreich: »Ali Baba und die vierzig Räuber«, die Fabeln von Aesop und Reineke Fuchs, alte Sagen und Legenden, Robin Hood, König Artus, die Legende vom Heiligen Georg als Drachentöter – und sogar die Geschichte der Jungfrau von Orleans, ein kleines Stück aus Pilgrim’s Progress und eine lange Passage aus Gullivers Reisen. Alle klassisch bebildert. Ich kannte mich so gut darin aus, dass ich immer gleich die Bilder und Geschichten aufblättern konnte, die meine liebsten waren; sehr oft war »Der gelbe Zwerg« meine erste Wahl, mit der farbigen Illustration von Walter Crane, in der ein gelber Zwerg mit zwei Truthähnen aus dem Wald trat und schrecklich anzusehen war. Inzwischen ist der Band genauso zerfleddert und deckellos und aufgelöst wie das arme Sandford and Merton meines Vaters. Seit Jahren schon droht die kostbare Seite mit Edward Lears »Jumblies« sich zu lösen. Es zeigt, wie sehr ich Our Wonder World liebte, dass ich mich lange Zeit fragte, ob ich für die Bücher durch Feuer und Wasser gehen würde, so wie meine Mutter es für Charles Dickens getan hatte; aber ich tröstete mich immer mit dem Gedanken, dass ich meine Mutter bitten könnte, es für mich zu tun.

Ich weiß sonst von keinem Kind, das mit diesem Schatz im Haus aufgewachsen ist. Früher habe ich andere oft gefragt: »Hattest du auch Our Wonder World?« Und fühlte mich dann bemüßigt zu erklären, dass The Book of Knowledge damit einfach nicht mithalten konnte.

Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie mich in die Welt der Wörter, ins Lesen und Schreiben, eingeführt haben, indem sie mir das Alphabet beibrachten – so früh, wie ich es wollte, und ohne mich erst zappeln zu lassen. Sie brachten es mir zu Hause bei, so dass ich mit dem Lesen beginnen konnte, bevor ich in die Schule kam. Heute scheint man das Alphabet nicht mehr als wesentliches Rüstzeug für die Reise durchs Leben anzusehen. Zu meiner Zeit galt es als der Grundpfeiler des Wissens. Man lernte das Alphabet wie das Zählen von eins bis zehn, wie das »Müde bin ich« und das Vaterunser und die Namen von Vater und Mutter, ihre Anschrift und Telefonnummer, für den Fall, dass man sich verirrte.

Meine Liebe zum Alphabet, die bis heute anhält, erwuchs aus dem Hersagen und, schon davor, aus der Freude an den Buchstaben auf der Seite. Noch bevor ich meine Kinderbücher selber lesen konnte, verliebte ich mich in die vielen verschnörkelten, zauberhaft anmutenden Initialen, mit denen Walter Crane die Märchenanfänge verziert hatte. In einem O von

»Once upon a time« lief ein Hase wie in einem Laufrad, die Pfoten auf Blumen. Und als ich dann später eines Tages das Book of Kells zu sehen bekam, überwältigte mich tausendfach der Zauber von Buchstabe, Initiale und Wort, und die Verzierung wie das Gold erschienen mir wie etwas, das von Anbeginn zur Schönheit und Heiligkeit des Wortes gehört hatte.

Es sind immer Augenblicke, die das Lernen prägen. Kindliches Lernen geschieht im Augenblick. Es ist nichts Stetiges, es geht wie ein Puls.

In einer Malstunde im Kindergarten saßen wir auf kleinen Stühlen im Kreis und malten drei Osterglocken ab, die eben im Garten gepflückt worden waren; und während ich malte, verströmten mein angespitzter gelber Stift und der gelbe Osterglockenbecher ein und denselben Duft. Dass der Stift, der das Bild malte, genauso roch wie die Blume, die er malte, schien Teil der Lektion zu sein – und warum auch nicht? Wie Tiere erkunden Kinder die Welt mit all ihren Sinnen. Künstler kommen daher und entdecken sie auf die gleiche Weise noch einmal neu. Es ist hier wie dort dieselbe Welt. Und hin und wieder hören wir von einem Künstler, der diesen Zugang nie verloren hat.

Zur Ausbildung meiner Sinne gehört für mich auch das physische Bewusstsein für das Wort. Ein bestimmtes Wort, wohlbemerkt, und seine Verbindung zu dem, wofür es steht. Ich muss ungefähr sechs gewesen sein, als ich allein im Vorgarten stand und auf das Abendessen wartete, gerade zu der Stunde eines Spätsommertags, wenn die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden und der aufgegangene Vollmond am noch hellen Himmel nicht mehr milchig weiß ist, sondern zu leuchten beginnt. Das ist der Moment, und an diesem Abend erwischte ich ihn, wenn der Mond von einer Scheibe zur Kugel wird. Zum ersten Mal stand er mir rund vor Augen. Das Wort »moon« fand in meinen Mund, als wäre es mit einem silbernen Löffel hineingelegt worden. Der Mond lag in meinem Mund und wurde ein Wort. Es war so rund wie die Concord-Trauben, die mein Großvater in Ohio von der Rebe pflückte und mir gab, worauf ich sie mit der Zunge aus der Haut löste und ohne zu kauen hinunterschluckte.

Diese Liebe hinderte mich nicht daran, mich jahrelang einem törichten Irrtum hinzugeben, was den Mond betraf. Ich hielt den neuen Mond, der schmal im Westen stand, für den aufgehenden Mond. Das Neue sollte aufsteigen. Und so bildete ich mir von Kind an schlicht und einfach ein, dass die Sonne und der Mond, diese beiden entgegengesetzten Mächte, jeweils an entgegengesetzten Seiten des Himmels aufgingen und sich wie Partner im Tanz auf ihrer Bahn bewegten, die Sonne von Osten, der Mond von Westen, bis sie aneinander vorbeizogen (während ich nicht hinsah) und auf der anderen Seite untergingen. Mein Vater, der sich am Teleskop in unserem Vorgarten von hinten über mich beugte, um mich an der Schulter in die richtige Position zu lenken, das Okular sorgfältig einzustellen und mir den Mond heranzuholen, kann von meinem Irrtum nichts gewusst haben.

Der Nachthimmel über dem Jackson meiner Kindheit war samtig schwarz. Darin konnte ich die Sternbilder vollständig erkennen und benennen. Als ich lesen konnte, lernte ich auch die alten Sagen kennen, die zu ihnen gehörten. Doch obgleich ich zu jeder Mondfinsternis geweckt wurde und sogar schon als kleines Kind ans Fenster getragen wurde, um nächtens den Halleyschen Komet gezeigt zu bekommen, und obgleich man mir an unserem Esszimmertisch das Sonnensystem erklärt hatte und ich wusste, dass sich die Erde um die Sonne drehte und der Mond um uns, ist mir nie aufgefallen, dass der Mond nicht im Westen aufging, bis ich Schriftstellerin war, und der Literaturkritiker Herschel Brickell mich darüber aufklärte, dass ich ihn in einer Geschichte falsch aufgehängt hatte. Er sagte mir wertvolle Worte über meinen neuen Beruf: »Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Mond am Himmel immer an die richtige Stelle setzen.« Meine Mutter sang uns Kindern immer etwas vor. Dabei rutschte ihre Stimme stets ein bisschen nach Moll. Wenn sie uns abends Gutenachtlieder vorsang, klang das Lied von »Wee Willie Winkie« wunderbar traurig.

»Oh, aber jetzt gibt es eine Schallplatte. Sie könnte eine eigene Schallplatte bekommen«, muss wohl mein Vater gesagt haben. Denn bald hatten wir eine Victrola-Platte mit »Bobby Shafftoe« und »Rock-a-Bye Baby« und all unseren Schlafliedern, die nun als Ersatz für Mutter gespielt werden konnte. Es dauerte nicht lange, bis ich gelernt hatte, meine Gutenachtlieder ab- und ihr den ganzen Tag lang vorzuspielen.

Unser Grammophon stand im Esszimmer. Ich durfte auf einen Esszimmerstuhl klettern, um es aufzuziehen, die Schallplatte in Gang zu bringen und die Nadel aufzusetzen. Im Nu war ich wieder heruntergesprungen und drehte mich im Kreis oder marschierte um den Tisch, je nachdem, wie es die Musik verlangte – denn nun durfte ich auch die vielen anderen Platten abspielen. Am Ende kletterte ich gerade rechtzeitig wieder auf den Stuhl, um die Nadel abzuheben, die Platte anzuhalten und umzudrehen und dann die Nadel zu wechseln. Das Messinggefäß mit dem Loch im Deckel, in das die heißen Nadeln geworfen wurden, verströmte einen metallischen Geruch, ein bisschen nach Schweiß. Aufziehen, tanzen, aufpassen, dass ich die Platte im richtigen Moment an- und wieder ausstellte, natürlich machte das alles zusammen den Akt des Hörens aus – ob ich der Ouverture zu La Fille du Régiment lauschte oder der Auswahl aus der Operette The Fortune Teller, »Kiss Me Again«, dem Zigeunertanz aus Carmen, »Unter dem Sternenbanner« oder »When the Midnight Choo-Choo Leaves for Alabama« und allem, was danach kam. Bewegung, scheint mir, muss mit im Kern des Hörens liegen.

Genau wie beim ersten Vorlesen gab es auch später beim Selberlesen niemals eine Zeile, die ich nicht hörte