Cover

Lea Korte

Die Nonne mit dem Schwert

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Lea Korte

Lea Korte lebt schon seit mehr als zehn Jahren in Spanien und hat lange über ihre Hauptfigur, Catalina de Erauso, geforscht, die eine der spannendsten Frauenfiguren der spanischen Geschichte darstellt.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrer außergewöhnlichen Heldin finden Sie im Internet unter www.leakorte.de

Über dieses Buch

Spanien im 17.Jahrhundert: Die 15jährige baskische Adlige Catalina de Erauso wird von ihren Eltern ins Kloster gesteckt, doch kurz vor der Weihe gelingt ihr die Flucht in die Freiheit. Schnell merkt Catalina, dass sie in der Welt als Frau nicht überleben kann. Sie verkleidet sich als Mann - ein unverzeihlicher Frevel im Zeitalter der Inquisition - und lässt sich ein auf ein Leben voller Gefahren, das sie bis nach Südamerika führt. Sie sucht dort ihren Geliebten, der von ihrer wahren Identität selbst dann noch nichts ahnt, als sie Seite an Seite mit ihm in der königlichen Armee kämpft …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2007 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: akg-images, Berlin

ISBN 978-3-426-41820-8

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Für Mama und Alina

Erster Teil San Sebastián 1607

1

Francisco sah die drei Flamen mit den nachtschwarzen Umhängen nicht zum ersten Mal in Enekos Taverne kommen. Auch heute wieder zwang ihn das selbstherrliche Auftreten der Männer, ihnen nachzusehen, bis sie sich an dem hintersten Tisch der Wirtsstube niedergelassen hatten. Der Älteste, ein krummnasiger Koloss mit Augenklappe, winkte das Schankmädchen herbei. Das dünne Ding näherte sich ihm nur zögerlich.

»Muss ich dir erst Beine machen?«

Erschrocken raffte das Mädchen die Röcke und beeilte sich so, dass sie stolperte. Die Flamen johlten. Francisco sah, wie dem Wirt der Hals schwoll. Er trat an den Tresen heran. »Irgendwann jagen wir sie alle davon!« Eneko wandte den Blick zu Francisco und klatschte den Spüllappen auf den Tresen, als wolle er jemanden erschlagen. »Hast du schon gehört, dass das verdammte Flamenpack wieder eine unserer Galeonen versenkt hat?«

Francisco nickte und sah zu den Flamen hinüber, doch die waren so mit dem Schankmädchen beschäftigt, dass sie Enekos Provokation gar nicht gehört hatten.

»Vier ihrer Schiffe gegen ein einziges der unseren!«, fuhr Eneko mit lauter Stimme fort. »Nur wenige Meilen vor dem Hafen! Werden immer dreister, die gottlosen Calvinisten. Und mit so einem Pack lässt sich unser König Philipp auf Friedensverhandlungen ein, flämische Teufelsbrut, die das ist!«

Diesmal hatte zumindest der Krummnasige seine Rede gehört. Mit glühenden Augen drehte er sich zu ihnen um. Eneko hob das Kinn, Francisco straffte sich, doch der Flame blieb auf seinem Platz.

»Los, bring uns Wein, eine Karaffe«, herrschte er das Schankmädchen an. »Und ein bisschen plötzlich!«

Er nippte an dem Wein und spuckte ihn angewidert auf den Kneipenboden. »Wein soll das sein? Baskische Pisse ist das!«

Wutschnaubend wollte sich Eneko auf ihn stürzen, doch seine Frau, eine zierliche Brünette, stellte sich ihm in den Weg.

»Sollen die aus unserer Taverne Kleinholz machen?«

Mit aufreizender Langsamkeit setzte der Flame seinen breitkrempigen Filzhut auf und machte seinen Gefährten mit einer knappen Kopfbewegung klar, dass sie mit ihm das Lokal verlassen sollten. »Hier stinkt’s mir zu sehr nach Basken.«

Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, warfen sich Francisco und Eneko ihre Umhänge über die Schultern und folgten ihnen.

Auf der Straße sahen sie nur noch den Krummnasigen. Er verschwand gerade um die Ecke.

»Ich bleibe an ihm dran, und du versuchst, die beiden anderen aufzustöbern«, zischte Francisco Eneko zu. »Den einen hier schaffe ich allein, und die beiden anderen nehmen wir uns später zusammen vor. Komm an die alte Kirche, wenn du weißt, wo sie hingegangen sind.«

Die Hand am Degenknauf, eilte Francisco dem Krummnasigen nach und geriet dabei mehr und mehr in die dunkleren Viertel der Stadt. Bald half ihm nur noch der durch den spätabendlichen Nebel schimmernde Mond dabei, den Kerl in dem Gassengewirr nicht aus den Augen zu verlieren.

Als sie die fünfte oder sechste Straßenecke hinter sich gelassen hatten, drehte sich der Kerl auf einmal mit gezücktem Degen zu ihm um.

»Ich hoffe, du hast gebeichtet, Bürschchen!«

»Das hättest du tun sollen!« Francisco zog ebenfalls den Degen.

»Deine großen Töne dürften dir gleich vergehen«, prophezeite jemand hinter ihm.

Francisco fuhr herum und sah sich den beiden anderen Flamen gegenüber. Er fluchte und fragte sich, wo Eneko steckte.

»Streckst du den Degen oder müssen wir dir erst Feuer unterm Hintern machen?«

»Passt lieber auf, dass eure Hintern nicht gleich brennen!« Mit dem letzten Wort stach Francisco in den Arm des Krummnasigen, für den der Angriff völlig überraschend kam. Stöhnend griff er sich an die Wunde und ließ den Degen fallen, während Francisco schon herumsprang und die Hiebe der beiden anderen abwehrte. Sie versuchten, ihn an die Wand zu drängen und niederzustechen, doch wann immer sie sich am Ziel wähnten, glitt Francisco unter ihren Degen hindurch und griff sie kurz darauf, freche Scherze rufend, von hinten an. Schließlich packte den Jüngeren die Wut: Er preschte allein vor. Francisco machte einen Ausfall und öffnete dem Mann mit einem einzigen, geraden Schnitt die Kehle. Nun hatte er es nur noch mit dem Wendigsten von ihnen zu tun. Mit ihm, das wurde Francisco angesichts der in schwindelerregendem Tempo geführten Attacken schnell klar, hatte er seinen ärgsten Feind noch vor sich, und schon durchfuhr ihn ein heißer Schmerz im Oberarm. Fluchend wirbelte Francisco herum, übernahm seinen Degen mit der anderen Hand und wollte dem Gegner eben den Todesstoß versetzen, als ihn jemand höchst unsanft von hinten am Kragen packte und regelrecht in die Luft hob.

 

»Catalina de Erauso! Natürlich«, donnerte die Stimme der Novizinnenmutter und beendete damit Catalinas geistigen Ausflug in die Männerwelt. Von einer Sekunde zur nächsten war sie wieder nur eines der vierunddreißig Mädchen, die hier im Dominikanerkloster Santo Domingo zu San Sebastián auf ein Leben des Gebets und der Besinnung vorbereitet wurden. Ehe sie auch nur eine Silbe zu ihrer Verteidigung hervorbringen konnte, hatte Schwester Asunción ihr auch schon ihren Fechtstock entwunden und drosch damit höchst unchristlich auf ihr Hinterteil ein.

»Nimm das und das!«, rief sie empört. Obwohl der dünne Stoff ihrer Novizinnenkutte die Hiebe kaum milderte, drang kein Laut über Catalinas Lippen. Schließlich war sie eine de Erauso! Trotzdem war sie froh, als der Nonne die Arme erlahmten.

»Das werde ich der Mutter Oberin melden«, drohte ihr jene mit hochrotem Kopf. »Vielleicht glaubt sie mir jetzt endlich, dass du vom Teufel besessen bist. Was sonst sollte eine Novizin dazu bringen, mit Geistern zu fechten?«

»Der Überdruss und das verdammte Einerlei hier!«, presste Catalina tonlos hervor, aber die Schwester hörte es doch und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.

»Widerworte, nichts als freche Widerworte, und das seit dem unseligen Tag, an dem deine Eltern dich unserer Fürsorge anvertraut haben! Aber warte nur: Dir komme ich bei! Ich habe noch alle kleingekriegt.«

Catalina hörte kaum hin. Viel zu heiß brannte die Demütigung der Züchtigung noch in ihrer Seele.

»Das zahlst du mir heim«, schwor sie sich. »Irgendwann zahlst du mir das heim.«

Da hörte sie den dumpfen Widerhall von Schwester Euralias Stock auf dem gepflasterten Gehweg des Klostergartens. Sie wandte den Kopf.

»Catalina, Schwester Asunción!« Mühsam kam die gehbehinderte Schwester auf sie zu. Als junge Frau war sie nur wenige Tage vor ihrer Hochzeit mit dem ältesten Sohn eines Granden, eines Angehörigen des spanischen Hochadels, eine Treppe hinuntergestürzt und hatte sich beide Beine gebrochen. Schon nach der ersten Untersuchung durch den Leibarzt ihrer Eltern war klar gewesen, dass sie nie mehr richtig gehen können würde, worauf ihre Eltern sie im Kloster unterbrachten und Euralias jüngere Schwester mit dem einflussreichen Mann vermählten. Anfangs hatte das abgeschobene Mädchen gegen das Leben hinter den hohen Mauern rebelliert, aber dann hatte sie hier Lesen und Schreiben lernen und schließlich sogar Pharmazie studieren dürfen, und als ihre Schwester kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes im Wochenbett starb, war ihr endgültig klar geworden, dass sie das bessere Los gezogen hatte.

Genau dies versuchte sie schon seit Jahren Catalina zu vermitteln: dass ihr Gott geweihtes Leben durchaus Vorteile hatte – zumindest, wenn man nicht gerade wieder einmal von Schwester Asunción bei einer Missetat erwischt worden war.

»Schwester Asunción, ich bitte Euch: Was auch immer Catalina jetzt wieder angestellt hat – lasst Milde walten!«, bat sie ihre Mitschwester. »Ihr kennt sie doch. Sie ist kein schlechtes Mädchen. Es ist nur ihr Temperament, das immer wieder mit ihr durchgeht!«

»Und eben dieses Temperament werde ich ihr austreiben, und zwar ein für alle Mal!« Sie versetzte Catalina einen Stoß. »Los, zur Mutter Oberin! Wollen wir doch einmal sehen, wie lange sich der Teufel in dir hält, wenn du bei Wasser und Brot darbst!«

Notgedrungen stolperte Catalina vor Schwester Asunción her. Noch war die Stunde ihrer Rache nicht gekommen.

 

Catalina blieb stehen und drückte sich die Hände auf die Ohren. Allmählich hallten ihre Schritte wie Hohnlachen in ihrem Kopf wider, aber jetzt, wo sie stand und nichts weiter als den eigenen Atem hörte, fühlte sie sich auch nicht besser. Diese Stille! Schon seit zehn Tagen drückte sie ihr aufs Gemüt. Zumindest nahm sie an, dass es zehn Tage waren. Tageslicht, mit dessen Hilfe sie das Verstreichen der Stunden hätte abzählen können, drang nicht in ihre Zelle. In das dunkelste und feuchteste Verlies des Klosters hatte man sie gesteckt. In völliger Abgeschiedenheit sollte sie in sich gehen können. Bereuen. Beten. Buße tun. Mit nichts weiter als ihrem Rosenkranz und den Kerzen, die ihr in regelmäßigen Abständen von einer erbarmungslos schweigenden Schwester zusammen mit Brot, Wasser und einem sauberen Latrineneimer gebracht wurden. Catalina vermutete, dass sie immer nach dem ersten Morgengebet kam, doch die Zeit dazwischen erschien ihr so endlos, dass sie möglicherweise auch nur jeden zweiten Tag zu ihr herabstieg. Jedes Mal fragte Catalina sie, wie lange man sie noch hier unten schmoren lassen wolle. Und jedes Mal zog die Schwester stumm die Tür hinter sich zu. Catalina rieb sich die Schläfen, und als auch das nichts half, hämmerte sie dagegen. Die Stille, diese verdammte Stille!

 

Zum Zeitpunkt ihrer Einkerkerung lebte Catalina schon seit über sechs Jahren im Kloster. Zwei Tage nach ihrem neunten Geburtstag hatten ihre Eltern, der Reedereibesitzer Miguel de Erauso und seine Frau María López de Barrena, sie zu den Dominikanerinnen gebracht, wo auch schon ihre beiden älteren Schwestern lebten.

»Deine Schwestern sind dort sehr glücklich«, hatten sie ihr erklärt, und die Mutter hatte ihr vorgeschwärmt, welche Erfüllung sie hinter den heiligen Mauern finden würde.

»Ein Leben nur Gott und dem Gebet geweiht – ein solches Glück hat nicht jede Frau.«

Catalinas Vorstellung von Glück war schon damals anders gewesen, und nachdem sie bereits an ihrem dritten Tag im Kloster zum ersten Mal die harte Hand der Novizinnenmutter zu spüren bekommen hatte, war sie endgültig zu dem Schluss gekommen, dass dies hier kein Leben für sie war. Noch schlimmer aber war, dass man sie im nächsten Frühjahr … Catalina verbot sich weiterzudenken. Es war jetzt kein guter Moment, um sich das Herz schwer zu machen.

Catalina nahm ihre Wanderung wieder auf. Drei-, viermal mochte sie hin- und hergelaufen sein, als sie plötzlich Schritte hörte. Sie waren schwerer als die der Schwester, die ihr das Essen brachte, und jeder zweite Schritt wurde von einem dumpfen Schlag begleitet …

»O bitte, lass sie es sein!«, flehte Catalina. »Und lass sie kommen, um mich hier rauszuholen!«

Tatsächlich wurde ein Schlüssel in das Schloss ihrer Zellentür geschoben und kurz darauf lächelte Schwester Euralia Catalina wohlwollend entgegen. Catalina lief auf sie zu. »Ich wusste, dass Ihr mich nicht vergessen würdet.«

»Erinnere dich deiner Pflicht, nicht, dass ich meinen Einsatz für dich schon jetzt bereue!« Die Schwester sah sie mahnend an, worauf Catalina pflichtschuldig »Gelobt sei Jesus Christus« herunterschnurrte und einen tiefen Knicks machte. Schwester Euralia nickte und deutete ein Kreuz auf ihrer Stirn an.

»In Ewigkeit, Amen.« Nach einem Moment des Schweigens fuhr sie fort. »Ich konnte die Mutter Oberin dazu überreden, dich ins Dormitorium zurückkehren zu lassen. Allerdings wirst du dich noch eine weitere Woche mit Brot und Wasser begnügen müssen.«

Catalina atmete auf. »Um aus diesem Loch zu kommen, würde ich sogar zwei Wochen ganz aufs Essen verzichten.«

Seufzend schüttelte Schwester Euralia den Kopf. »Für den Moment würde es ausreichen, dass du aufhörst, ständig neue Dummheiten zu machen. Wie eine Besessene durch den Klostergarten zu springen – das kann Schwester Asunción doch nicht durchgehen lassen!«

Catalina dachte an ihre Brüder, von denen zwei bei den königlichen Tercios kämpften – unter ihnen ihr Lieblingsbruder Miguel, den man wegen seiner großen Verdienste sogar nach Peru schicken wollte. Und auch ihre beiden anderen Brüder führten ein aufregendes Leben: Der eine schipperte auf einem der Walfangschiffe der Familie über die Meere, der andere begleitete derzeit eine Galeone des Vaters nach Sevilla, um dort das Eintreffen der Silberflotte des Königs und damit die Bezahlung der von ihnen gelieferten Waren abzuwarten. Und sie?

»Die Mutter Oberin hofft, dass dich die Besinnung der letzten Wochen dafür bereit gemacht hat, dich endlich ernsthaft mit unseren Aufgaben zu beschäftigen«, fuhr Schwester Euralia fort. Sie sah Catalina einen Moment lang an und murmelte wie zu sich selbst: »Ich hoffe, die Mutter hat mit ihrer Entscheidung Recht, aber so oder so blieb ihr nach alldem wohl keine andere Wahl …«

»Entscheidung?« Catalina sah auf. »Welche Entscheidung?«

»Nun, die Weihen in zwei Monaten …«

»Weihen? In zwei Monaten?« Erschrocken riss Catalina die Augen auf. »Aber doch nicht für mich! Ich meine, ich soll … Aber ich dachte, ich müsste erst nächstes Jahr …«

»Beruhige dich, Catalina, bitte, so beruhige dich doch! Und auch wenn du es jetzt nicht erkennst – es ist das Beste für dich, schon jetzt das Gelübde abzulegen. Das Bewusstsein, für immer zu uns zu gehören, wird dir Kraft geben.« Nach einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Außerdem entkommst du damit den Fittichen von Schwester Asunción – und erhältst eine eigene Zelle.«

»Aber ich will keine eigene Zelle! Ich will hier raus!«, begehrte Catalina auf. »Ich will mich frei bewegen können und selbst entscheiden, wann ich was tue, und ich will …«

Schwester Euralia legte ihr die Hand auf den Arm. Sie überragte das dünne, hoch aufgeschossene Mädchen mit den feurigen Augen nur um wenige Zentimeter. »Glaube mir, du wirst dich hineinfinden in dein Schicksal. Das tun alle. Gott wird dir beistehen, wie er auch uns beigestanden hat.«

»Beistehen, beistehen …« Catalinas Wangen glühten vor Zorn und Empörung, aber unter Schwester Euralias gütigem Blick fiel beides wieder in sich zusammen.

»Schwester, bitte.« Sie faltete die Hände. »Ihr müsst mir helfen! Ihr seid doch die Einzige …«

Schwester Euralia nickte ihr beruhigend zu. »Natürlich werde ich dir helfen. Und auch Gott wird dir helfen. Sprich mit ihm. Er wird dir einen Weg weisen. Den Weg zu deinem Herzen – und zu uns.«

»Schwester, Ihr versteht mich nicht.«

»Doch, mein Kind, ich verstehe dich sehr wohl. Aber das ist die einzige Hilfe, die ich dir anbieten kann. Und jetzt lass uns zu den anderen gehen.«

Sanft schob sie Catalina aus der Zelle. Als ihre Hand von Catalinas Arm glitt, überlief das junge Mädchen ein Schaudern.

 

Sie waren die Letzten, die die kleine Kapelle für die Abendmesse betraten. Während Schwester Euralia in den hinteren Bänken bei ihren Mitschwestern Platz nahm, musste Catalina nach vorn zu den anderen Novizinnen gehen. Sie rutschte in die erstbeste Bank. Als sie sah, dass sie einen Platz neben Ainoa erwischt hatte, fühlte sie sich ein bisschen besser. Da es ihnen streng untersagt war, in der Kapelle auch nur miteinander zu flüstern, begrüßte Ainoa sie lediglich mit einem Lächeln und benutzte dann die Zeichensprache, die Catalina und sie sich schon vor geraumer Zeit ausgedacht hatten.

»Doch nicht von den Ratten gefressen worden?«, formte sie mit ihren langen, flinken Fingern und grinste die so lange verschollene Freundin an. Auch Ainoa war fünfzehn Jahre alt, aber anders als Catalina sollte sie keineswegs ihr ganzes Leben, sondern nur die Zeit bis zu ihrer Hochzeit hinter diesen Mauern verbringen und Lesen, Schreiben, Latein, Musik und Geschichte lernen. Ainoas Familie hielt nichts von der landläufigen Meinung, ein Mädchen solle ungebildet bleiben, und machte sich auch keine Gedanken darüber, dass Ainoa ihr Wissen auf dem Heiratsmarkt schaden könne – schließlich verfügten sie über die größte Schiffsflotte der Stadt und weitreichende Besitzungen, und Ainoa war ihr einziges Kind …

Ainoa war erst vor drei Jahren ins Kloster gekommen und hatte sich Schwester Asunción schon am Tag ihrer Ankunft widersetzt, was ihr sofort Catalinas Sympathie eingebracht hatte. Ainoa war das einzige Mädchen, zu dem Catalina je Kontakt gesucht hatte. Die anderen waren ihr immer zu brav, zu sittsam, zu ängstlich gewesen.

»Ich habe einen Apfel für dich aufgehoben«, redeten Ainoas Hände nun weiter. »Ich bringe ihn nachher mit zu den Latrinen.«

Der Pfarrer trat aus der Sakristei. Die Schola sang den Introitus vor, die anderen Nonnen wiederholten den Kehrvers. Auch Catalina und Ainoa mussten sich erheben, mitsingen und die Hände falten, und deswegen war ihr Fingergespräch beendet.

 

Catalina war kaum bei den Latrinen angekommen, als Ainoa auch schon mit geraffter Kutte auf sie zugelaufen kam. Sie fiel ihr um den Hals. »Ich dachte schon, die lassen dich da nie mehr raus!«

Catalina erwiderte ihre Umarmung. Anschließend zauberte Ainoa den Apfel aus ihrer Brusttasche hervor und reichte ihn ihr. Heißhungrig biss Catalina hinein. »Mm, schmeckt der gut – nach all dem trockenen Brot!«

Ainoa sah ihr beim Essen zu, doch dann wurde sie unruhig. »Du, sag mal, ich … Ich habe gehört, dass du bei den nächsten Weihen dabei sein sollst …«

Catalina umfasste den Apfel fester, erwiderte aber nichts.

»Und was willst du jetzt tun?«, setzte Ainoa nach einer Weile nach.

»Gar nichts«, knurrte Catalina. »Ich lege das Gelübde einfach nicht ab.«

»Aber musst du denn nicht?«

»Ich tu’s einfach nicht.«

»Und wenn sie dich zwingen?«

»Wie denn? Mit vorgehaltener Pistole?« Catalina lachte auf. Es klang rau.

»Aber sie werden dich zwingen«, erwiderte Ainoa mitfühlend und fügte nach einer Pause nachdenklich hinzu: »Sicher wird dein Leben hier nach den Weihen angenehmer werden. Immerhin hast du dann mehr Freiheiten, und wenn du endlich dein störrisches Verhalten aufgibst, lassen sie dich vielleicht sogar mit Schwester Euralia in der Apotheke und im Kräutergarten arbeiten.«

»Ich will aber nicht im Kräutergarten und auch nicht in der Apotheke arbeiten. Ich will hier raus!« Catalina biss dreimal rasch hintereinander in den Apfel.

»Aber deine Eltern werden dich nicht heiraten lassen. Schließlich sind auch deine älteren Schwestern im Kloster. Wenn, dann hätten sie eher Mari-Juan mit einer Mitgift …«

»Ich brauche keine verdammte Mitgift. Und ich brauche auch keinen Mann! Ich brauche nur meine Freiheit!«

»Und wovon willst du leben?« Ainoa schüttelte den Kopf.

»Ich schlage mich schon durch! Immerhin kann ich schreiben. Schreiber werden immer gesucht.«

»Aber doch nur männliche!«

»Dann arbeite ich eben als Küchen- oder Schankmädchen. Alles ist besser, als hier zu verrotten.«

»Catalina, der Dienst an Gott …«

»Ja, ja, ja, ich nehme meine Lästerung ja schon zurück.« Catalina schleuderte das Kerngehäuse ihres Apfels auf den Misthaufen. »Aber hier bleibe ich trotzdem nicht!«

Ainoa strich ihr über den Arm, denn einen Ausweg für Catalina, das wusste sie, gab es nicht.

2

In den nächsten Tagen kam Catalina ihren Aufgaben so still und folgsam nach, dass Schwester Asunción lautstark die Wirksamkeit ihrer Strafmaßnahmen pries – und Catalina wusste, dass sie gut daran tat, sie in dem Glauben an ihre Läuterung zu lassen. Sollte Schwester Asunción, ach, sollten sie doch alle denken, dass sie ihren Willen endlich gebrochen hätten, und in der Wachsamkeit nachlassen und ihr damit die Möglichkeit geben, ihrem Schicksal vielleicht doch noch zu entgehen.

Seit sie Ainoa so großspurig erklärt hatte, dass sie nicht länger hier bleiben würde, war Catalina fest dazu entschlossen, aus dem Kloster zu fliehen. Lange genug hatten andere über ihr Leben bestimmt; damit sollte jetzt Schluss sein. Wie sie draußen in der Welt allein als Frau überleben sollte, wusste sie zwar noch nicht, aber für den Moment zählte nur, aus dem Kloster hinauszukommen.

Nachdem Catalina Schwester Euralias Reaktion erlebt hatte, war ihr endgültig bewusst geworden, dass ihr hier im Kloster niemand helfen würde. Und auch Ainoa würde nichts für sie tun können. Selbst mithilfe einer Räuberleiter waren die hohen Klostermauern nicht zu überwinden, und außerdem wollte sie Ainoa nicht in Gefahr bringen. Am einfachsten wäre die Flucht mit dem Schlüssel des Haupttors zu bewerkstelligen, aber den hatten nur die Mutter Oberin und die Messnerin, und die hüteten ihn mindestens so gut wie ihre Jungfernschaft.

Nacht für Nacht grübelte Catalina über andere Fluchtwege nach. Neben anderen tollkühnen Plänen erwog sie, sich unter eine der Kutschen zu hängen, die regelmäßig in den Klosterhof einfuhren, um Reis, Wein und andere Nahrungsmittel zu bringen, die sie im Kloster nicht selbst herstellten, aber tatsächlich gelang es ihr noch nicht einmal, auch nur hinter die Tür des Wirtschaftsbereichs des Klosters zu gelangen. Auch an ein Gespräch mit ihrer Mutter dachte sie, die angesichts der Weihen einen Besuch angekündigt hatte, doch letztlich überwog ihre Angst, dass sie die Schwestern warnen und diese wieder ein strengeres Auge auf sie haben würden.

Je näher die Weihen rückten, desto größer wurde Catalinas Verzweiflung. Als Novizin aus dem Kloster zu fliehen war schon verwerflich genug, aber würde sie das Gleiche als eingekleidete Nonne tun, war ihr die ewige Verdammnis sicher.

»Was soll ich nur tun, mein Gott? So hilf mir doch hier heraus!«, betete und flehte sie ohne Unterlass und war einmal sogar kurz davor, der Nonne, die im Speisesaal das Brot in Scheiben schnitt, ihr langes, gezacktes Messer zu entreißen und sich damit ihren Weg in die Freiheit zu erkämpfen – aber im letzten Moment wurde ihr klar, dass sich nicht nur Schwester Asunción eher in das Messer geworfen hätte, als ihr diesen Ausweg zu lassen. Und so trottete Catalina auch an diesem Morgen wieder brav hinter den anderen Novizinnen zum Gebet in die Kapelle, tauchte die Finger der rechten Hand ins Weihwasser und bekreuzigte sich. Da hielt Schwester Juana sie an.

»Catalina«, rief die vom Alter gebeugte Schwester, die seit über zehn Jahren die Messnerin des Klosters war. »Warte, mein Kind, ich brauche deine Hilfe.«

Sie griff in den Brustbeutel ihres Ordenskleids und zog ihren Zellenschlüssel heraus. »Sei so gut und lauf in mein Zimmer, ich habe mein Gebetbuch vergessen.«

Verwirrt blickte Catalina zwischen dem Schlüssel und der betagten Schwester hin und her.

»So lauf doch, Kind, lauf! In wenigen Minuten läuten die Glocken! Ja, hörst du denn nicht? Catalina!«

Ihr Name riss sie aus ihrer Starre. Hastig nickte Catalina, drückte den Schlüssel an ihre Brust, lief durch den Kreuzgang, am Refektorium vorbei zu den Räumen der Nonnen und stand kurz darauf mit klopfendem Herzen vor der Zelle der Schwester. Ihre Finger zitterten, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, ihn herumdrehte und die Tür öffnete. Sie sah das Gebetbuch sofort. Es lag auf dem Kopfkissen der Schwester. Sie nahm es an sich, wollte gleich wieder zurücklaufen, aber dann fiel ihr Blick auf den Schlüsselkasten.

Er hing hinter der Tür. Er war viel kleiner und schlichter, als Catalina ihn sich vorgestellt hatte. Sie spürte das Gebetbuch in ihrer Hand, mahnte sich, dass sie auf schnellstem Weg zurückerwartet wurde und dass ein Zuspätkommen der Novizinnen zur Messe schwer bestraft wurde, konnte den Blick aber nicht von dem Schlüsselkasten wenden. Catalina versuchte, ihn aufzumachen, aber er war abgeschlossen. Einen winzigen Moment zögerte sie noch, dann nahm sie den Zellenschlüssel, bohrte ihn in das Astloch, das sich in der Höhe des Schlosses befand, brach damit ein Stück Holz heraus, bohrte ihn dann tiefer in den Spalt, bis das Holz nachgab – und die Tür aufsprang.

An die dreißig messingfarbene Schlüssel leuchteten Catalina entgegen. Fein säuberlich aufgereiht hingen sie da, Schlüssel neben Schlüssel, und einer von ihnen führte in die Freiheit. Aber welcher?

Die Glocken läuteten. Catalina spürte wieder das Gebetbuch in ihrer Hand. Was, wenn Schwester Juana ungeduldig wurde und ihr jemanden nachschickte? Wenn man sie vor dem aufgebrochenen Schränkchen erwischen würde, nein, dafür würde sie nicht nur einfach drei Wochen im Kerker schmoren. Dafür würden die Nonnen sie für immer wegsperren.

 

Catalina entschied, dass sie zunächst das Gebetbuch wegbringen musste. Laut hallten ihre Schritte durch die leeren Gänge des Klosters; erst als sie die Kapelle erreicht hatte, mäßigte sie ihr Tempo. Bevor sie die schwere Tür aufzog, strich sie sich über ihre feuchte Stirn. Catalina hoffte, dass man ihr ihre Erregung nicht ansah, und schritt, so ruhig sie konnte, zu Schwester Juana, die ihr dankend zunickte. »Und jetzt geh, Kind, geh rasch auf deinen Platz!«

Catalina nickte und ging langsam weiter, obwohl sich alles in ihr dagegen aufbäumte. Der Schlüsselkasten … Sie musste zurück! Vor Aufregung schoss Catalina das Blut in den Kopf. Als sie an Schwester Euralia vorbeikam, ergriff diese sie am Arm und flüsterte: »Aber Kind, wie siehst du denn aus? Ist dir nicht gut?«

Catalina witterte ihre Chance. Ihre erste, wohl auch einzige, die sie je haben würde!

»Ich … ich fühle mich tatsächlich nicht wohl …«

Schwester Euralia legte ihr die Hand auf die Stirn. »Mein Gott, du glühst ja! Los, geh zurück ins Dormitorium und leg dich hin! Gleich nach dem Gebet schaue ich nach dir. Soll dich jemand begleiten?«

Hastig schüttelte Catalina den Kopf und verließ die Kapelle. Kaum war die hohe Tür hinter ihr zugefallen, raffte sie ihre Kutte und rannte zurück zu Schwester Juanas Zelle. Sie stieß die angelehnte Tür auf, sammelte sämtliche Schlüssel in ihrer Schürze, hastete zurück in den Kreuzgang, von dort hinaus in den Garten, immer weiter und weiter, bis sie endlich vor dem großen Haupttor stand. Sie nahm den ersten Schlüssel und konnte ihn vor lauter Aufregung kaum ins Schloss stecken. Als es ihr endlich gelungen war, ließ er sich nicht drehen. Schnell warf sie ihn weg, nahm den nächsten, der auch nicht passte. Sie sah sich um, betete, dass niemand kam, probierte den nächsten Schlüssel – und dieser glitt weich wie ein Messer in die Butter ins Schloss hinein, drehte sich fast von allein, und schon konnte Catalina die Klinke herunterdrücken und das schwere Tor aufziehen. Ein frischer Morgenwind wehte ihr entgegen. Ein frischer Morgenwind – und die Freiheit!

3

Da vorn, das Tor! Seht ihr denn nicht, dass das Tor aufsteht? Nun beeilt euch doch! Sie darf nicht entkommen.«

Catalina schrak zusammen. Schwester Asunción! Wieso war sie nicht mehr beim Morgengebet? Zu Catalinas Leidwesen hatte die Nonne schon immer unglaublichen Instinkt bewiesen, wenn es darum ging, sie bei irgendetwas zu erwischen. Catalina ließ die Schlüssel fallen und rannte die Klosterzufahrt hinunter. Wie ein in Panik geratenes Pferd lief sie über das Pflaster, rutschte mit ihren Ledersandalen auf den blanken Steinen immer wieder aus und fluchte über jede Sekunde, die sie eben am Klostertor vergeudet hatte. Sie erreichte die erste Abzweigung und warf einen Blick zurück: Die beiden Schwestern, die die Novizinnenmutter ihr nachgeschickt hatte, waren nicht weit hinter ihr. Entschlossen packte Catalina den knorrigen Ast einer alten Kastanie, zog sich den steinigen Hang hinauf und rannte in das Wäldchen hinein. Wenn überhaupt, sagte sie sich, hatte sie nur dort eine Chance, die Schwestern abzuhängen.

Zweige klatschten ihr gegen den Leib, Dornen zerkratzten ihr die Hände und das Gesicht. Und dann verfing sich auch noch ihr Ärmel im Geäst eines Busches. Verzweifelt zerrte Catalina an dem Stoff und sah, wie ihre Verfolgerinnen immer näher kamen. Endlich riss der Stoff, und sie konnte weiterlaufen. Schneller, schneller, schneller!, trieb sie sich an.

Erst eine ganze Weile später, als Catalina das Wäldchen längst hinter sich gelassen hatte und auch noch über eine lange Wiese gestürmt war, wagte sie es, erneut kurz innezuhalten und zurückzublicken. Sie konnte niemanden mehr entdecken. Keuchend griff sie sich in die Seite und sank auf die Knie.

 

Sobald Catalina wieder zu Atem gekommen war, rappelte sie sich hoch und rannte weiter. Die Nonnen würden nicht untätig bleiben: In wenigen Stunden würden sie das ganze Umland in Alarmbereitschaft versetzt haben. Ob Händler, Fischer, Bauer, Page oder Edelmann, jeder würde von ihrem Ausbruch erfahren und wissen, dass ihm die Exkommunizierung drohte, wenn er das junge Mädchen in der Novizinnenkutte entkommen ließ.

»Kleider!«, kam es Catalina in den Sinn. »Ich brauche dringend etwas anderes zum Anziehen.«

Sie wusste, dass nicht weit von hier ein kleines Gehöft lag. Es gehörte einem Hidalgo, einem Edelmann, verarmt wie die meisten seines Geschlechts, seit es mit der Wirtschaft der Weltmacht Spanien unter König Philipp III. immer weiter bergab ging, aber ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln würden sich sicher auch in seinem Haus finden lassen.

Entschlossen zog sich Catalina den Novizinnenschleier vom Kopf. Wild und ungezähmt fiel ihr dickes, tiefschwarzes Haar über die Schultern. Der Wind wehte es hoch, und im gleichen Moment kam in Catalina dieses Gefühl von unbändiger Freiheit auf, das sie auch schon am Klostertor erfüllt hatte. Sie hatte den ersten Schritt getan; sie würde auch alle weiteren Schritte tun. Und niemand sollte sie aufhalten!

Um von dem schützenden Wald zu dem Gehöft zu gelangen, musste Catalina eine offene Wiese überqueren. Nachdem sie den Hof kurze Zeit beobachtet und festgestellt hatte, wie wenig Rauch aus dem Kamin kam, hielt sie es für wahrscheinlich, dass der Bewohner das Haus verlassen hatte. Sicher war er in einer der Tavernen des nahen Ortes beim Kartenspielen. Die meisten Hidalgos schlugen so ihre Zeit tot. Ein letztes Mal überblickte Catalina die Umgebung, dann rannte sie los und blieb erst wieder stehen, als sie das kleine Wohnhaus erreicht hatte.

Sie lauschte, blickte sich um, huschte an der Hauswand entlang zu dem ersten der beiden kleinen, mit geöltem Pergament bespannten Fenster und spähte hinein. Sie sah einen Tisch, zwei Holzbänke, den Kamin, weiter hinten zwei Alkoven, in dem der Schlafplatz untergebracht war. Zentimeter um Zentimeter öffnete Catalina die Tür, fuhr zusammen, als sie plötzlich quietschte, lauschte und quetschte sich durch den schmalen Spalt ins Haus. Im Kamin knackten zwei fast verglühte Stücke Pinienholz, ansonsten war nichts zu hören. Auf Zehenspitzen schlich Catalina zu dem Alkoven, schaute hinter die Vorhänge und atmete auf: Es war wirklich niemand da. Erst jetzt nahm sie sich die Zeit, sich in dem Raum umzusehen. Auf der Ablage des Küchenschranks entdeckte sie einen Kanten alten Brots. Sie nahm es und riss mit ihren kräftigen Zähnen ein großes Stück ab. Das Kauen beruhigte ihre Nerven. Sie entdeckte einen Krug mit Wasser, trank einen großen Schluck, blickte in den großen Kessel über der Feuerstelle, er war leer. Auch in den Tontöpfen, die auf dem Schrank standen, fand sie nichts weiter als ein paar Trockenerbsen und in den Schubladen nicht viel mehr als Messer, Löffel, eine Schere und Nähzeug.

Armer Hidalgo, dachte Catalina und bekam wegen des entwendeten Brots ein schlechtes Gewissen. Da hörte sie das Schnauben eines Pferdes. Mit zwei Sätzen flüchtete sie in den Alkoven und versteckte sich unter der Bettdecke. Einen Moment lang hörte sie nur ihr wild klopfendes Herz, dann Hufschlag, der sich allmählich entfernte. Erst eine gute Weile später wagte sie sich wieder unter der Decke hervor.

Vom Alkoven aus fiel Catalinas Blick auf ein paar Kleider, die an der gegenüberliegenden Wand hingen: eine Hose, ein Hemd und ein Wams. Besser hätte sie es kaum treffen können: Als Junge verkleidet würde sie ganz sicher niemand erkennen! Sie besah sich die Sachen von allen Seiten, fand sie schmutzig und zerschlissen, aber in ihrer Lage konnte sie nicht wählerisch sein. Sie steckte auch noch die Schere und das Nähzeug ein und verließ das Haus ebenso leise, wie sie es betreten hatte.

 

Die Hose war Catalina viel zu lang und flatterte um ihre mageren Beine; um das rahmfarbene Hemd und das Wams stand es nicht besser, doch das konnte sie nicht entmutigen. So sehr sie in ihren Jahren im Kloster die Arbeit in der Gewandschneiderei gehasst hatte, so eifrig machte sie sich jetzt daran, die Kleider enger zu machen, und noch ehe die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand, hatte sie die neuen Sachen bereits angezogen. Es war ein seltsames Gefühl, statt ihres rauen, körperlosen Gewands eine direkt an der Haut anliegende Hose zu spüren. Und wie leicht das Hemd und der Wams gegen den schweren Stoff der Kutte wogen! Catalina wirbelte im Kreis herum, genoss die ungewohnte Beinfreiheit, machte ein paar ausgelassene Sprünge, riss vom nächsten Baum einen Zweig ab und focht damit übermütig auf eine Hecke ein, bis ihr eine Strähne ihres Haares vor die Augen fiel. Erschrocken hielt sie inne. Jungs hatten doch keine langen Haare! Ohne mit der Wimper zu zucken holte Catalina wieder die Schere hervor und schnitt sich ihr Haar ringsum fingerlang ab. Danach hob sie die Hand, befühlte die stachelig hochstehenden Haare und fand, dass sie sich seltsam anfühlten, aber doch auch irgendwie mehr zu ihr zu gehören schienen denn je. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht.

4

Bilbao, Santander, Burgos, Vitoria, Pamplona … Süßer als die köstlichsten hojaldres und vasquitos der Köchin ihrer Eltern zergingen Catalina die Namen der San Sebastián umgebenden Städte auf der Zunge. Sie brauchte nur loszulaufen. Es war unglaublich, wie frei sie war. Sie entschied sich für die Stadt Vitoria, von der ihr großer Bruder Miguel manchmal erzählt hatte. Sie hoffte, dort als Page unterkommen zu können, wagte aber noch nicht, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Zu groß war ihre Angst, dass andere sie trotz ihrer Jungenkleider sofort als Mädchen entlarven könnten. Catalina sah sich um. Sie wusste, dass Vitoria südlich von hier, im Landesinneren lag. Aber in welcher Richtung war Süden? Catalina sah nach rechts und links und fühlte sich verloren. Da erinnerte sie sich daran, dass Miguel ihr einmal etwas über den Zusammenhang von Tageszeit, Sonnenstand und Himmelsrichtung erklärt hatte. »Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehn, im Norden ist sie nie zu sehen.« Es musste jetzt kurz nach Mittag sein. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, unsicher schritt Catalina ihr entgegen.

Über zwei Stunden lief Catalina durch Wiesen, Felder und Wälder, ängstlich darauf bedacht, keiner Menschenseele zu begegnen. Längst taten ihr die Füße weh, aber sie zwang sich, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als sie auf eine Wiese mit Apfelbäumen kam, hatte sie das Gefühl, die gleiche Wiese vor einer Weile schon einmal überquert zu haben, und fragte sich, ob sie im Kreis gelaufen war. Erschrocken ging sie weiter. Auch der Wald dahinter kam ihr bekannt vor. Als Catalina kurze Zeit später auf einen Weg stieß, beschloss sie, erst einmal auf ihm zu bleiben. Auch wenn sie weiter Angst davor hatte, dass sie jemandem begegnen könnte, der in ihr trotz ihrer Verkleidung die entflohene Novizin erkennen würde, musste sie jemanden nach dem Weg fragen.

Kurze Zeit später kam ihr ein Heuwagen entgegen. Catalina versteckte sich hinter einem Baum. Als der Wagen näher kam, sah sie, dass darauf ein müder, alter Mann saß. Selbst wenn der Bauer wusste, dass man eine entflohene Novizin suchte – die Gefahr, dass er sich von seinem Kutschbock quälen und versuchen würde, sie einzufangen, schätzte Catalina als gering ein. Außerdem musste sie es irgendwann wagen, ihre Verkleidung zu testen. Sie strich über ihr Hemd und ihre Hose, glättete ihre Haare, die sich um einen besonders hartnäckigen Wirbel an ihrem Hinterkopf schon wieder hochgestellt hatten, trat hinter dem Baum hervor und lief dem Wagen entgegen. Sie winkte dem Bauern zu.

»Guten Abend! Darf ich …« Sie räusperte sich und versuchte, ihrer Stimme einen tieferen Klang zu verleihen. »Darf ich Euch etwas fragen?«

Der alte Mann blickte unwillig von seinem Kutschbock herab. »Was willste? Nach was zu essen brauchste mich nicht zu fragen. Hab selbst kaum genug!«

Catalina hörte kaum, was er sagte, so konzentriert war sie darauf, ob er sie wirklich für einen Jungen hielt.

»Ich … ich bin auf dem Weg nach Vitoria und weiß nicht, ob ich mich noch auf dem rechten Weg befinde …«

Der Bauer machte eine gleichgültige Handbewegung hinter sich. »Nur immer weiter, immer weiter …«

Dann berührte er mit der Peitsche die Flanke des Maultiers. Augenblicklich zog das Tier wieder an. Catalina sah ihm nach. Erst als er um die nächste Kurve verschwunden war, wagte sie aufzuatmen und machte vor lauter Freude, dass sie wirklich als Junge durchgegangen war, einen ordentlichen Sprung in die Höhe.

Die nächsten beiden Stunden kam Catalina gut voran, doch als die Sonne hinter den Bergen unterzugehen begann, wurde ihr mulmig. Wo sollte sie schlafen? Sie schaute sich nach einem Heuschober um, konnte auf den umliegenden Wiesen und Feldern aber keinen entdecken. Die Sonne verschwand, es dämmerte. Ein Käuzchen rief, es knackte im Gebüsch … Verzagt sah sich Catalina um. Ob es hier wohl wilde Tiere gab? Hätte sie nicht doch besser im Kloster bleiben sollen? Dort hatte sie immerhin ein Bett und einen Kanten Brot zum Abendessen gehabt. Das Brot des Hidalgos hatte sie schon am Nachmittag bis auf den letzten Krumen verspeist. Catalina beschloss, sich zwischen ein paar Büsche zu legen. Sie rollte sich unter die Zweige und hoffte, dass sie niemand entdecken würde. Der Boden war steinig, ihr Magen knurrte, trotzdem schlief sie schnell ein. Die Aufregungen des Tages und der lange Marsch hatten sie erschöpft.

 

Am nächsten Morgen erwachte Catalina vom Zwitschern der Vögel. Sie öffnete die Augen und entdeckte nicht weit von sich einen Weinberg, der ihr am Tag zuvor nicht aufgefallen war. Die Trauben waren noch recht sauer, aber sie füllten ihr den Magen und die Sonne wärmte ihre von der Nacht noch unterkühlten Glieder. Sie räkelte sich. Neuer Mut kam in ihr auf. So schwer war es also doch nicht, sich allein durchzuschlagen, sagte sie sich, und dass ihre Freiheit den Versuch allemal wert war. Sie nahm noch ein paar Trauben als Wegzehrung mit und setzte ihren Marsch fort.

Legua um Legua ließ Catalina in den nächsten Tagen hinter sich. Aus Angst, sich wieder zu verlaufen, blieb sie in der Nähe der Straße und fragte noch einige Male ältere Bauern nach dem Weg. Keiner schien ihre Verkleidung zu durchschauen. Drei Tage später erreichte Catalina um die Mittagszeit ihr Ziel: Vitoria. Hohe Stadtmauern umgaben die Kleinstadt, aus deren Mitte der Turm der Kathedrale emporragte. Catalina ließ den Anblick auf sich wirken. Wenn sie dort durch das Tor ging, begann ihr neues Leben. Sie war dann nicht mehr Catalina de Erauso, sondern ein Junge, noch dazu einer von der Straße, ohne Familie, ohne Schutz. Sie hoffte, dass sie ihre Rolle überzeugend spielen würde, holte tief Luft und marschierte die letzten Meter auf die Stadt zu.

Geschickt mogelte sie sich hinter einer Kutsche an den beiden Stadtwächtern vorbei und lief durch die belebten Gassen. Händler mit Hand- und Ochsenkarren zogen an ihr vorbei, feine Herren mit blasiert dreinschauenden Pagen standen im Gespräch zusammen, eine Dame wurde in einer Sänfte an ihr vorübergetragen, in ihrem Gefolge zwei echte Mohren, deren Gesichter über ihren granatroten Damastanzügen mit den goldenen Litzen schwärzer als Kohle wirkten. Noch aufregender fand sie die Gerüche, die aus den Küchen der Häuser strömten. Ihr wurde bewusst, dass sie seit Tagen nichts Richtiges gegessen hatte. Sie machte den Duft eines sofrito aus Petersilie, Knoblauch und geriebenen Tomaten aus, im nächsten Haus kochte man ein feinwürziges Ragout, selbst den Thymian roch sie heraus, und hier wurde eindeutig eine olla podrida zubereitet, ein deftiger Eintopf aus Schweinefleisch … Catalina musste sich die Hand auf den Magen drücken, so sehr begehrte er auf.

Der Hunger vertrieb ihr die Lust, sich weiter umzusehen. Sie wollte zum Markt, um etwas Essbares zu ergattern. Als sie den Marktplatz auch nach längerem Suchen noch nicht gefunden hatte, hielt sie einen Straßenjungen an und fragte ihn nach dem Weg. Statt ihr zu antworten, blickte der Kerl, der einen guten Kopf größer und doppelt so breit wie sie war, nur geringschätzig an ihr herab.

»Habt ihr hier alle solche Manieren?«, fuhr Catalina ihn an, woraufhin der Kerl ein schmieriges Lächeln um die Lippen bekam und seinen mächtigen Brustkasten auf sie zuschob.

»Ist ja schon gut, ist ja schon gut.« Beschwichtigend hob Catalina die Hände und wollte ihm seitlich entwischen, doch der Kerl sprang ihr nach und packte sie mit beiden Händen an den Haaren, als wolle er sie daran in die Höhe heben.

»Verdammt, was tust du? Das tut doch weh!«, schrie Catalina und boxte und trat nach ihm, traf ihn jedoch nicht. Er lachte und ließ sie los. Catalina landete im Dreck. Achtlos schlurfte der Kerl weiter. Catalina rieb sich die schmerzende Kopfhaut und sah ihm fassungslos nach.

Gedrängt von ihrem immer heftiger knurrenden Magen lief Catalina auf gut Glück weiter und kam kurz darauf auf die Plaza de la Virgen Blanca, der der Marktplatz des Städtchens zu sein schien – allerdings war der Markt für heute schon zu Ende. Nur direkt vor der Kirche San Miguel stand noch ein Händler. Er fuhr seinen Sohn an, endlich auch noch die letzten Obstkörbe auf die Ochsenkarren zu verladen. Müde kam der Junge der Aufforderung nach.

Als Catalina sah, wie er anschließend eine dicke Plane über die vielen leckeren Sachen zog, wurde ihr vor Enttäuschung ganz schwarz vor Augen. Dann fiel ihr Blick auf etwas Gelbes. Es lag auf dem gestampften Lehmboden des Platzes, direkt neben dem hinteren Holzrad des Karrens. Ein Apfel war es, oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war, nachdem der Karren darüber gefahren war. Hastig bückte sich Catalina und hob die Reste auf. Sie wollte das Apfelmus gerade von ihrer Hand schlecken, als ein Mann hinter ihr halb entsetzt, halb mitleidig rief: »Aber Junge, was tust du denn da?«

Catalina hielt in ihrer Bewegung inne. Der Mann drückte ihre Hand nach unten, schob ihr einen Finger seiner behandschuhten Hand unter das Kinn und hob ihr Gesicht an.

»Hast du wirklich solchen Hunger?«

Catalina senkte den Blick. Zugleich spürte sie, wie das kostbare Mus zwischen ihren Fingern zu Boden tropfte. Sie kämpfte gegen die Tränen an.

»Wie heißt du?«

Catalina biss die Zähne zusammen.

»Nun red doch schon, Junge! Ich will dir doch nichts tun. Nur deinen Namen! Den wirst du mir doch nennen können!«

Auf einmal kroch Trotz in Catalina hoch. Sie blickte ihn an, sah milde, graue Augen und erkannte, dass er ein Herr war, ein Herr mit Kleidern aus bestem Tuch.

Was schert es dich, was ich esse, fuhr sie ihn in Gedanken wütend an.

»Deinen Namen!«, beharrte er noch einmal, milde, nachsichtig, deswegen aber nicht weniger nachdrücklich.

Catalina gab nach. Inzwischen war ohnehin alles egal. »Ca…«, setzte sie an, verbesserte sich dann aber schnell. »Francisco!«

Der Mann lächelte sie an. »Francisco, na also, geht doch. Und stell dir vor: So heiß ich auch!«

Catalina sah ihn unsicher an. Hieß er tatsächlich so oder wollte er ihr damit zu verstehen geben, dass er ihr nicht glaubte, dass sie Francisco hieß, weil er ahnte, dass sie kein Junge war? Sie forschte in seinem Blick, sah dort aber weder Spott noch Zweifel.

»Und wie heißt du weiter?«

Catalina presste die Lippen zusammen.

»Nun gut«, murmelte er und schüttelte leicht ihren Arm, woraufhin auch noch der letzte Rest Apfelmus von ihrer Hand tropfte. »Sieht so aus, als müsse ich dir dein Mahl ersetzen.«

Catalina wagte kaum zu atmen. Mahl? Hatte er wirklich Mahl gesagt?

»Eltern hast du wohl keine mehr?«

Nun traten Catalina Tränen in die Augen. Mitfühlend strich er ihr übers Haar. »Na, komm. Lass uns sehen, was meine Juana heute gekocht hat.«

Er lief voran, und Catalina war zu hungrig, um zurückbleiben zu können.

 

Eine halbe Stunde später saß Catalina mit frisch gewaschenen Händen in der Küche des Doktor Don Francisco de Geralta vor einem Teller heiß dampfenden Erbseneintopfs und löffelte die dicke Suppe so gierig in sich hinein, dass die Köchin ihr immer wieder den Arm festhielt.

»Wirst dich noch verbrühen, Junge. So schling doch nicht so. Nimmt dir ja niemand was weg!«

Die Köchin erzählte ihr, in welch vornehmes Haus sie geraten war. Ihr Herr sei Professor, berichtete sie ihr, und dass er an der Hochschule unterrichte. Als Catalina sich nicht gebührend beeindruckt zeigte, krauste sie die Stirn. »Weißt wohl gar nicht, was das ist, eine Hochschule, was? Aber woher soll so ein dahergelaufener Nichtsnutz wie du das auch wissen!«

Nach dem Essen führte ein livrierter Diener Catalina in das Arbeitszimmer seines Herrn. Es war dem ihres Vaters sehr ähnlich. Ein breiter, schwerer Nussbaumschreibtisch stand darin, der hohe Herr saß dahinter, auf die fleischige Nase dicke Augengläser geklemmt. Er forderte sie auf, Platz zu nehmen, und schickte den Diener hinaus. Catalina spürte das kalte Leder des Stuhls durch ihren dünnen Hosenboden und fühlte sich kleiner und verlorener als jemals zuvor in ihrem Leben.

»Eigentlich ist es nicht meine Art, Jungs von der Straße aufzulesen«, erklärte er ihr, »aber nachdem ich dich gewissermaßen um dein Essen gebracht hatte …« Er schwieg einen Moment. »Du hast wohl auch keinen Schlafplatz, wie?«