Ulli Schubert

Gefoult

Krimi

 

 

 

 

 

Handlung und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder realen Fußballvereinen sind daher rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Aufwärmphase

Wenn mein bisheriges Leben ein Film oder Buch wäre, in dem ich die Hauptrolle spielte, dann würde ich den Autor zwingen, den Anfang komplett neu zu schreiben!

Für mich selbst hätte ich sofort einige Änderungswünsche parat. Es könnte zum Beispiel nicht schaden, ein bisschen mutiger zu sein. Beim Mädchen-Kennenlernen oder bei Interviews mit berühmten Fußballprofis. Zu Hause, bei meinem Vater. Im Fantreff, wenn mal wieder alles drunter und drüber geht. Beim nächsten Telefonat mit meiner Mut … – halt, stopp, ganz falsches Thema!

Ich würde gern etwas besser aussehen. Ein bisschen größer, schlanker, kräftiger und sportlicher. Mit langen, glatten dunklen Haaren, braunen Augen, sonnengebräunter Haut und einem Gewinnerlächeln im Gesicht anstelle der Pickel. Die Mädchen sollen mich sehen und mir hemmungslos verfallen. An jedem Finger könnte ich zehn Mädchen haben, aber ich bleibe meiner Freundin natürlich treu. Sie ist so schön, dass alle anderen Teilnehmerinnen bei «Germany’s next Topmodel» schon in der ersten Runde freiwillig aufgeben.

Mann, was für ein Traum!

Mehr müsste der Autor eigentlich gar nicht an mir ändern.

Oder?

Doch, klar, ich hätte gern Rollos Jobs als Leiter des Fantreffs und Chefredakteur der Fanzeitung. Aber dafür bin ich wahrscheinlich noch zu jung und wohl auch nicht intelligent genug.

Ob ich mir wünschen sollte, älter zu sein?

Sechzehn ist ein Scheißalter, das sagen wirklich alle. Genau wie fünfzehn ein Scheißalter war und siebzehn vermutlich eines werden wird. Aber soll ich mir deswegen wirklich wünschen, in Sekundenbruchteilen freiwillig zwölf oder dreizehn Jahre älter zu werden? Rollo ist Ende zwanzig, also fast dreißig, also alt. Das werde ich doch von ganz allein!

Und was ist mit der Intelligenz?

«Schlau wirst du nicht in der Schule, schlau macht dich das Leben», hat Rollo mal zu mir gesagt, und ich glaube, dass das stimmt. Rollo ist viel gereist. Er hat an Dutzenden Fanturnieren in aller Welt teilgenommen und alle berühmten Fußballstadien gesehen, aber er ist nie an einer Uni gewesen. Trotzdem weiß er auf jede Frage eine Antwort. Oder gerade deswegen!

So schlau wie Rollo wäre ich schon gern. Aber deswegen möchte ich nicht älter sein. Jedenfalls nicht viel. Höchstens zwei oder drei Jahre.

Dafür hätte ich aber gern eine andere Familie. Oder von mir aus auch meine, aber in heil! Ich hasse es, allein mit meinem Vater in Hamburg zu wohnen, während sich meine Mutter in Bremen von dieser Dings … – ach, scheiß drauf! Und auch auf meine Schwester. Wenn ich überhaupt noch etwas mit Julia zu tun haben wollte, würde ich ihr vorher ein «Große-Schwester-Benimm-Buch» schenken.

Und auch der Autor meiner Geschichte bekäme ein Buch von mir – wenn es ihn geben würde! Ein Sachbuch, in dem steht, wie man eine schöne Geschichte schreibt. Eine gute Geschichte, ohne all die Qualen, Ängste und Streitereien, aber dafür mit einem Happy End!

Ob es solche Bücher wohl gibt? Und ob sie wirklich etwas verändern könnten?

Ach, egal. Ein Leben ist nun mal kein Buch oder Kinofilm, bei dem man den Anfang so lange neu schreiben kann, bis er einem gefällt. Es ist verdammt real, und ich muss mein Leben so nehmen, wie es ist.

Ich muss damit klarkommen, dass ich einen Vater habe, der mich mit seiner ständigen Sorge, mir könnte etwas passieren, wahnsinnig macht. Dass ich eine Mutter habe, die uns verlassen hat, um in Bremen ein ganz anderes Leben zu beginnen, und eine Schwester, die nicht begreift, wie schrecklich das ist, sondern unsere Mutter für ihren Mut auch noch bewundert.

Seit wann ist es mutig, eine Familie zu zerstören, und das auch noch wegen einer anderen Frau?! Das werde ich wohl nie verstehen. Aber ich muss damit leben, so schwer es mir auch fällt.

Manchmal fühle ich mich allerdings ziemlich allein, auch wenn das keiner merkt. Natürlich habe ich Freunde, und irgendwann werde ich auch eine Freundin haben. Aber bestimmt nicht zehn an jedem Finger und mit Sicherheit kein Topmodel! Ich bin zwar nicht gerade hässlich, aber bislang hat sich auch noch kein Mädchen auf der Straße nach mir umgedreht. Und erst recht ist auch noch keines wegen meines tollen Aussehens in Ohnmacht gefallen. Ich bin eben weder besonders groß noch schlank, kräftig oder sportlich, und das wird wahrscheinlich mein Leben lang so bleiben.

Ich bin kein Held in einem Buch oder Film.

Ich bin echt.

Leider 

Eins

He, Mike, was ist los? Träumst du schon wieder?»

Ich zuckte erschrocken zusammen, als ich die Hand auf meinem Arm spürte, öffnete die Augen und schaute irritiert in die Runde. Rollo sah mich grinsend an und zwinkerte mir zu.

Lukas war nicht so gnädig.

«Träumst du schon wieder?», äffte er Rollo nach und lachte höhnisch. «Blöde Frage. Natürlich hat dein kleiner Liebling geträumt. Was anderes kann der doch gar nicht!»

«Lukas!», rief Sarah empört, während Nicole mir den Kopf tätschelte. Wie einem kleinen Hund, der aus Versehen getreten worden war.

«Hör einfach nicht hin», sagte sie, und es hätte mich nicht gewundert, wenn sie mir dabei auch noch die Ohren zugehalten hätte.

Aber dafür wäre es sowieso zu spät gewesen. Natürlich hatte ich gehört, was Lukas gesagt hatte. Laut und deutlich. Aber es störte mich nicht. Jedenfalls nicht sehr. Mir war klar, dass er mit seinen Sprüchen gar nicht mich treffen wollte, sondern Rollo. Die beiden hatten schon seit Wochen Zoff miteinander. Lukas behauptete, dass Rollo ihm einen Artikel geklaut und als seinen eigenen ausgegeben hatte. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Rollo hatte viel mehr drauf als Lukas. Er hatte so etwas gar nicht nötig.

Auch die Reaktionen der anderen auf Lukas’ Spruch waren kaum überraschend. Simon sagte gar nichts. Er saß einfach nur da, betrachtete mit seinen großen rehbraunen Augen die Welt und erweckte den Eindruck, dass er nichts von alldem begriff, was gerade um ihn herum passierte. Aber das war nur Tarnung. Simon war schon seit ein paar Wochen auf diesem Trip. Warum, wusste ich nicht. Aber ich hatte so ein merkwürdiges Gefühl, dass er ein dunkles Geheimnis mit sich herumschleppte.

«Können wir langsam mal weitermachen?», sagte Sarah mit ihrer wie immer leicht genervt klingenden Stimme. «Ich muss bald nach Hause.»

Lukas lachte laut auf, und auch wir anderen konnten uns ein Grinsen nicht verkneifen. Seit ein paar Wochen verkündete Sarah auf wirklich jeder Redaktionssitzung, dass sie bald nach Hause gehen müsse. Meistens um kurz vor halb zehn. Ich schaute auf die Uhr, die über der Eingangstür hing – sie zeigte 21 : 27 Uhr!

«Du kannst gern gehen, wenn du keine Zeit mehr hast», sagte Rollo. «Du weißt ja: Jeder darf, keiner muss!»

Das war das Motto der «Viererkette», der Fanzeitung des FC Hamburg, seit Rollo sie zusammen mit ein paar Freunden vor einigen Jahren gegründet hatte. Er war als Einziger übrig geblieben – er und das Motto. Jeder darf mitmachen, aber keiner muss.

Eigentlich war damit gemeint, dass jeder Fan des FC Hamburg Artikel für die Zeitung schreiben durfte – natürlich ohne Garantie, dass sie auch wirklich gedruckt wurden –, aber niemand zu regelmäßiger Mitarbeit gezwungen wurde. Bei den festen Mitgliedern der Redaktion sah das jedoch anders aus. Wer an einem Treffen nicht teilnehmen konnte, musste sich abmelden. Wer mehrmals unentschuldigt fehlte, dem drohte ein ernstes Gespräch mit Rollo. Und wer die Mitarbeit danach immer noch nicht ernst nahm, flog aus der Redaktion. Das war für den Betreffenden dann zwar hart, aber anders war es nicht möglich, alle zwei bis drei Heimspiele in der Freizeit eine neue Ausgabe zu produzieren, die mehr zu bieten hatte als das übliche Blabla aus dem Verein.

Das behauptete Rollo jedenfalls, und der Erfolg gab ihm recht. Seit ich im vergangenen Herbst die Schule abgebrochen hatte, jobbte ich regelmäßig ein paar Stunden in der Woche im Fantreff, und seit Januar arbeitete ich auch noch in der Redaktion der «Viererkette» mit. In der ganzen Zeit hatte kein Einziger unentschuldigt gefehlt!

Das Durchhaltevermögen während der Redaktionssitzungen war dagegen sehr unterschiedlich. Sarah ging immer als Erste, seit sie vor ein paar Wochen bei ihrem Freund eingezogen war. Ich war mit Sicherheit der Letzte, dem sie etwas Persönliches erzählen würde, aber durch einen Zufall hatte ich mitbekommen, dass die Idee mit dem Zusammenziehen wohl nicht besonders schlau gewesen war. Tom hatte sich nämlich schon sehr bald als hochgradig eifersüchtiger Kontroll-Zombie entpuppt! So hatte jedenfalls Nicole Sarahs Freund in einem Frauengespräch in der Küche des Fantreffs bezeichnet, das ich – gefangen in der Abstellkammer und deshalb unfreiwillig – mitbekommen hatte. Sarah durfte nichts mehr alleine entscheiden! Tom wollte wissen, wohin sie ging, mit wem sie sich traf, warum und wann sie wieder nach Hause kam. Genau wie mein Vater. Schrecklich. Selbst Nicole, eigentlich die Harmoniesucht in Person, riet Sarah, sich sofort von Tom zu trennen!

Ich wusste sowieso nicht, warum Sarah überhaupt mit dem Typen zusammengezogen war. Okay, vielleicht waren ihre Eltern genauso anstrengend wie mein Vater, und sie wollte nur noch weg. Das könnte ich verstehen, immerhin war sie schon 23. Aus Liebe hatte sie es jedenfalls nicht getan. Jeder wusste, dass Sarah schon seit Ewigkeiten in Rollo verliebt war. Insofern war die Eifersucht ihres Freundes noch nicht einmal unbegründet!

Andererseits wusste ebenfalls jeder, dass ihre Chancen bei Rollo gleich null waren. Er fand sie als Frau ganz einfach uninteressant, und das zeigte er ihr auch bei jedem ihrer Annäherungsversuche mehr als deutlich. Sarah litt natürlich unter den Abfuhren, die Rollo ihr in schöner Regelmäßigkeit erteilte, aber an ihren Gefühlen für ihn änderte das trotzdem nichts. Sie war ihm verfallen, eindeutig!

Rollos Hinweis auf das Motto der Fanzeitung ließ Sarah zusammensacken. Sie hatte wohl gehofft, dass er sie überreden würde, noch etwas zu bleiben, oder zumindest von uns dafür bedauert zu werden, dass sie schon gehen musste. Aber niemand sagte etwas.

Sarah rührte sich nicht. Minutenlang starrte sie zu Boden, mit Tränen in den Augen, und rang mit sich selber. Doch der Kampf, den sie führte, war nicht zu gewinnen. Mit Rollo konnte sie nicht zusammen sein, weil der sie nicht liebte. Mit Tom wollte sie nicht mehr zusammen sein, weil der sie vielleicht viel zu sehr liebte. Und allein sein wollte sie erst recht nicht!

Rollo unterbrach die nachdenkliche Stille.

«Wenn ich mit dir zusammen wäre, würde ich mir langsam Sorgen machen, wo du bleibst», sagte er mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr, die inzwischen zehn Minuten vor zehn zeigte, und versetzte Sarah damit den endgültigen K.-o.-Schlag! Äußerlich kühl, aber mit einem Blick, der deutlicher als tausend Worte zeigte, wie sehr sie getroffen war, erhob sie sich, packte ihre Sachen zusammen – und ging.

«He, falsche Richtung!», rief Rollo, der wie wir alle Sarahs Abgang verfolgte, ihr noch nach. Tatsächlich war sie vor dem Fantreff nach rechts gegangen und nicht etwa nach links, wo sie wohnte.

«Mann, ist die blöd», sagte Rollo und lachte.

«Blöd ist hier ja wohl nur einer!», schnaubte Lukas verächtlich.

«Musste das unbedingt sein?», fragte Nicole leise und sah Rollo vorwurfsvoll an.

Simon sagte wie immer nichts, und auch ich hielt lieber meinen Mund. Ich wollte Rollo nicht in den Rücken fallen.

«Eure Probleme möchte ich haben!» Rollo lachte immer noch. «Geht euch Sarah etwa nicht auf den Keks mit ihren ewigen Beziehungsproblemen?»

«Du bist der Einzige, der sie lösen könnte», sagte Nicole.

«Nein, danke!» Rollo machte ein Gesicht, als hätte er den abgestandenen Rest aus einer Bierflasche getrunken, die jemand als Aschenbecher missbraucht hatte.

«Übertreib nicht», sagte Nicole. «Sarah ist weder hässlich noch dumm. Und dass sie Beziehungsprobleme hat, ist nicht ihre Schuld, sondern Toms!»

«Dann geh du doch mit ihr, wenn du so begeistert von ihr bist», schlug Rollo vor.

«Tut mir leid, ich stehe nicht auf Frauen», antwortete Nicole.

«Ich schon», sagte Rollo. «Allerdings nicht auf so anstrengende Exemplare wie Sarah. Ich kann ihre leidende Miene schon lange nicht mehr ertragen, ganz zu schweigen von dieser furchtbaren Stimme!»

«Vielleicht können wir sie mit deiner Hilfskraft verkuppeln», überlegte Lukas laut und bedachte mich mit einem herablassenden Blick.

In dem Moment begriff ich, dass er nicht nur auf Rollo wütend war, sondern auch auf mich. Warum auch immer. Ich konnte mich nicht erinnern, ihm jemals etwas getan zu haben.

«Sippenhaft ist das Stichwort», sagte Simon, als ob er meine Gedanken lesen könnte. Er sprach leise und ohne jemanden anzuschauen, beinahe so wie Horatio Caine, dieser merkwürdige Polizist aus «CSI: Miami». «Lukas hasst Rollo – übrigens zu Recht, wenn ihr mich fragt –, und da du Rollos Zögling bist, Mike, hasst er dich eben auch. Das ist sehr einfach gedacht, meistens unberechtigt und in Deutschland übrigens verboten – trotzdem ist es in aller Regel verständlich, wenn jemand so reagiert wie Lukas.»

Ich überlegte, ob ich sauer werden sollte, weil er mich «Rollos Zögling» genannt hatte. Das klang genauso abwertend wie «Rollos Hilfskraft». Aber für eine spontane Reaktion war es schon zu spät, und außerdem begann in diesem Moment mein Handy zu klingeln. Ich hatte vergessen, es auszuschalten, und damit eine der heiligsten Redaktionssitzungsregeln verletzt. Rollo streckte mir stumm die Hand entgegen, wie ein Lehrer, der einen Schüler beim Abschreiben erwischt hatte und nun die Arbeit einkassieren wollte. Bevor ich ihm mein Handy gab, warf ich noch schnell einen Blick auf das Display. Natürlich, mein Vater! Wer sonst. Wahrscheinlich saß er allein zu Hause und hatte nichts Besseres zu tun, als alle fünf Sekunden auf die Uhr zu sehen und sich Sorgen um mich zu machen.

«Hast du auch einen eifersüchtigen Freund, der dir die Hölle heiß macht, wenn du nicht gleich kommst?», fragte Lukas, und zum dritten Mal an diesem Abend fiel mir leider keine passende Antwort ein.

Zum Glück rettete mich Rollo, indem er ganz ernst blieb und so die anderen von mir ablenkte.

«Gutes Thema», sagte er zu Lukas. «Darauf kommen wir gleich noch einmal zurück. Aber jetzt …»

«Was ist ein gutes Thema?», unterbrach ihn Simon.

«Wart’s ab», machte Rollo es spannend. «Lasst uns erst einmal die Tagesordnungspunkte abhaken. Wo waren wir stehen geblieben?»

Nicole, die an der Reihe war, das Protokoll zu schreiben, überflog die Stichworte, die sie notiert hatte.

«Die News aus den Fanclubs, das Auswärtsspiel am Wochenende in Dortmund und das Pokalspiel nächste Woche in Berlin haben wir besprochen. Noch offen sind das Heimspiel gegen die Bayern, die Titelstory für die nächste Ausgabe und die Leserbriefe, die wir bekommen haben. Außerdem hat Alfred einen Artikel über die letzte Vorstandssitzung geschrieben, den Rollo gleich vorlesen wird. Über das Layout müssen wir diesmal nicht reden, weil Toto und Mac nicht da sind.»

«Diesmal ist gut», sagte Lukas verärgert. «Mir sind in der letzten Ausgabe einige Fehler aufgefallen, über die ich sehr gern mit den beiden geredet hätte! – Wo sind die denn schon wieder?»

Rollo zuckte mit den Schultern.

«Verschollen im World Wide Web?»

Lukas lachte laut über den Spruch, und Nicole lächelte. Sie hoffte wohl, dass damit der Streit zwischen den beiden beendet war. Aber da konnte sie lange warten!

Die nächsten Minuten verliefen trotzdem ruhig, beinahe entspannt. Rollo las den Artikel von Alfred vor, der eigentlich gar nicht zu uns passte. Angeblich war er im selben Jahr auf die Welt gekommen, in dem der FC Hamburg gegründet worden war. Alt genug sah er jedenfalls aus. Mit uns «jungen Leuten», wie er uns immer nannte, hatte er nicht viel am Hut. Er nahm an keiner Redaktionssitzung teil, und ich glaube sogar, dass er die «Viererkette» inhaltlich nicht besonders gut fand. Wenn er sie überhaupt las! Aber Alfred hatte einen Vorteil, der ihn für uns unverzichtbar machte: Als ehemaliges Mitglied des Vorstands hatte er immer noch gute Kontakte zum Präsidenten und den anderen Damen und Herren aus der Chefetage des Vereins, und die nutzte er. Außerdem konnte er als ehemaliger Sportreporter richtig gut schreiben.

«Einverstanden?», fragte Rollo, nachdem er Alfreds Artikel vorgelesen hatte, und wie jedes Mal wurde er ohne große Diskussion oder Änderungsvorschläge durchgewinkt.

Nicole machte einen Haken hinter den Tagesordnungspunkt «Artikel von Alfred».

«Nächstes Thema: das Spiel gegen die Bayern!»

«Dafür wird von den Fanclubs eine super Performance im Stadion vorbereitet», sagte Lukas. «Aber darüber haben wir ja vorhin schon gesprochen. Ich schreibe dazu auf alle Fälle noch einen Artikel. Über die Geschichte des Vereins, die höchsten Niederlagen, die peinlichsten Auftritte und so weiter. Ende der Woche ist er fertig.»

«Spätestens», mahnte Rollo. «Wir gehen nächsten Dienstag in Druck.»

«Soll ich mir auch noch etwas für die Titelseite einfallen lassen?», fragte Lukas.

Rollo schüttelte den Kopf. «Der Bayern-Artikel wird nicht die Titelstory.»

«Nicht?» Lukas lachte ungläubig. «Aber … das Spiel ist das Highlight der Saison!»

«Stimmt», gab Rollo zu. «Und trotzdem ist es nur ein lauer Furz gegen das, was ich euch gleich erzählen werde.»

«Und was soll das sein?» Lukas’ Lachen klang jetzt anders, kalt und verächtlich. «Dass Mike schwul ist und einen eifersüchtigen Lover hat?»

Ich zuckte zusammen, als hätte ich gegen einen stromführenden Zaun um eine Kuhweide gepinkelt. Nicole rief empört: «Lukas!», Simon schwieg. Nur Rollo blieb ganz entspannt.

«Mike nicht …», sagte er mit einer Betonung, die viel Spielraum für Spekulationen offenließ.

«Wer denn?» Lukas sprang sofort auf die Anspielung an.

«Gleich», sagte Rollo genüsslich. «Nachdem wir die Leserbriefe abgearbeitet haben.»

Er reichte mir einen Stapel Post, der in den vergangenen Tagen für die Redaktion im Fantreff angekommen war.

«Gibst du mir mal den Brieföffner», bat ich Simon, der gedankenverloren mit der Nachbildung eines schmalen Dolches herumspielte.

Er reagierte nicht.

«Simon!», rief ich etwas lauter. «Den Brieföffner, bitte!»

Wieder rührte er sich nicht, sodass Nicole ihm schließlich den Brieföffner aus der Hand nahm und an mich weiterreichte.

Ich öffnete den ersten Umschlag, nahm den Brief heraus und las die Zeilen vor. Doch niemand hörte mir zu, noch nicht einmal ich mir selbst. Die Worte rauschten an mir vorbei. Kein Wunder, denn in Gedanken war ich ganz woanders, genau wie die anderen.

«Das hat doch keinen Sinn!» Ich legte den Brief, den ich mittlerweile schon zum dritten Mal vorgelesen hatte, auf den Tisch und gab auf.

Lukas schien auf diesen Moment nur gewartet zu haben. Er fuhr sofort herum und sah Rollo auffordernd an.

«Okay, und jetzt erzähl: Wer ist schwul?!»

Rollo grinste – und schwieg. Er genoss sichtlich diesen Augenblick und wollte ihn offenbar bis zur allerletzten Sekunde auskosten.

«Na gut», gab er schließlich nach, kurz bevor Lukas vor Neugier zu platzen drohte. «Ihr kennt ihn alle, diesen – Fußballprofi!»

Der Schock, der mich erfasste, saß viel tiefer als bei dem Abstieg in die 2. Bundesliga vor ein paar Jahren. Ein Fußballprofi und schwul?!

«Wer ist es?», fragte ich tonlos. «Woher weißt du …?»

«Dass der Typ schwul ist?», fragte Rollo. «Kein Kommentar. Ich weiß es eben. In einer Stunde treffe ich mich übrigens mit ihm und werde ihn damit konfrontieren. Auf seine Reaktion bin ich jetzt schon gespannt.»

«Du triffst dich mit ihm?», wiederholte ich. «Heißt das etwa, dass der Typ in Hamburg wohnt?»

«Nicht nur das», sagte Rollo. «Die schwule Sau spielt bei unserem FC Hamburg!»

«Oh nein, bitte nicht!», sagte Simon. Er war vor Entsetzen ganz blass geworden.