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Edmund White
DER FLANEUR

EDMUND
WHITE

DER FLANEUR

Streifzüge durch das andere Paris

Aus dem Amerikanischen
von Heinz Vrchota

1. Auflage
© 2015 Albino Verlag, Berlin
in der Bruno Gmünder GmbH
Kleiststraße 23-26, D -10787 Berlin

Für Marilyn Schaefer,
meine liebste Flaneurin

Wenn ich sagen sollte, was ich glaube, dass nämlich Freundlichkeit das charakteristische Kennzeichen der Pariser ist, dann sollte ich die Pariser wohl besser kränken. »Ich will nicht freundlich sein!«

Stendhal, Über die Liebe

»Ich habe oft gedacht, ich hätte mit dir nach Kanada zurückkehren sollen, wie es so viele Kanadier voller Betrübnis tun.«

»Aber du hättest das nie getan. Du warst verliebt in Paris. Du dachtest, es sei der ›Great Good Place‹. Nur stimmt das nicht. Du warst verliebt in einen Traum.«

Ich sehe ein, dass er recht hatte. Ich habe damals von etwas so Besonderem und Schönem geträumt, wie es im wirklichen Leben nicht vorkommt. Montparnasse und seine Menschen reichten allerdings sehr nah daran heran. Doch keine Stadt und keine Gesellschaft auf der Welt, nicht einmal das Paris unserer Tage, kann den unerreichbaren Traum, den ich damals geträumt habe, Realität werden lassen.

John Glassco, Memoirs of Montparnasse

Hat man in Paris gelebt, ist man für ein Leben anderswo verdorben – aber auch für ein Leben in Paris.

John Ashbery
(zitiert in The Last Avant-Garde von David Lehman)

1

Paris ist eine Großstadt in dem Sinn, wie London und New York Großstädte sind, wie Rom ein Dorf ist, Los Angeles eine Ansammlung von Dörfern und Zürich ein Notstandsgebiet.

Ein unbekümmerter Freund von mir definiert eine Großstadt als Ort, an dem es sowohl Schwarze als auch Hochhäuser gibt und wo sich die Nacht zum Tag machen lässt. Geht man von dieser Definition aus, mangelt es Paris an Hochhäusern. Zwar verfolgte Präsident Pompidou in den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren das Projekt, Paris mit Wolkenkratzern zu spicken, eine Verschandelung der historischen Stadtgestalt gelang ihm jedoch nur an drei Stellen: mit den fehlkonstruierten Türmen der Zweiguniversität Paris VII an der Rue Jussieu (sie wurde kürzlich geschlossen, weil man zur Isolierung große Mengen Asbest benutzt hatte), mit dem entsetzlichen Tour Montparnasse – und mit der zugigen Ödnis des Büroviertels La Défense.

In La Défense wohnen fast nur Afrikaner und Entwurzelte, während die junge weiße Mittelschicht, für die der neue Stadtteil gedacht war, im restaurierten Viertel Marais lebt – zwischen freigelegten Holzbalken und historischen Kaminen. La Défense erlebte einen nahtlosen Übergang vom Futuristischsein zum Passésein und wurde wohl nie als normaler Bestandteil der Gegenwart wahrgenommen.

Ehrlich gesagt hätte ich statt »normaler Bestandteil der Gegenwart« beinahe etwas anderes formuliert: »dem Inventar der Gegenwart eingeschrieben« – dermaßen tief bin ich schon eingetaucht in den zeitgenössischen französischen Sprachgebrauch in Sachtexten. Ich muss häufig innehalten und mich fragen, wie ein Wesen aus Fleisch und Blut denselben Gedanken formulieren würde. Als ich jung war, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, begaben sich amerikanische Studenten mit intellektuellen Ambitionen auf Pilgerfahrt nach Saint-Germain, an die Sorbonne und in Rive-Gauche-Nachtclubs wie La Rose Rouge (junge Schwule zogen eine andere Farbe vor: La Reine Blanche). Der schnelle Pariser Geist und besonders sein gebieterischer Ton verängstigte damals junge Ausländer jeder Nationalität – zu denen auch ich zählte. Amerikaner erfuhren den zusätzlichen Kitzel, dass man sie verachtete, denn fast vierzig Prozent der französischen Bevölkerung (und nahezu alle Intellektuellen) wählten damals noch kommunistisch. Dieser Abscheu fand jedoch keine Erwiderung. Amerikaner hatten Paris immer schon toll gefunden. Eine französische Studie – Paris dans la littérature américaine von Jean Meral – nennt zweihundert amerikanische Romane über Paris, die zwischen 1824 und 1978 entstanden.

In den Fünfzigerjahren bewunderten und lasen amerikanische und britische Studenten Sartre und Camus und – falls sie religiös waren – Merleau-Ponty, denn ihre eigenen Philosophen hatten alle metaphysischen und die meisten moralischen Fragestellungen abgetan – entweder als Unsinn oder als irrelevant für die wahren Belange der Philosophie. Doch romantische junge Menschen wenden sich der Philosophie natürlich nur zu, weil sie einen metaphysischen Schauder oder ein moralisches Entflammtsein spüren wollen. Die in der englischsprachigen Welt vorherrschende Schule der Sprachphilosophie bot nur wenig, mit dem sich die Seele junger Romantiker aufwühlen oder ihre Fantasie befeuern ließ. Im Gegensatz dazu hatte die französische Philosophie etwas Berührendes, denn sie argumentierte streng ethisch: Das Individuum war für jede seiner Handlungen verantwortlich und lief ständig Gefahr, durch das geringste Zugeständnis an Bequemlichkeit oder Selbstgefälligkeit eine Lüge zu leben und in die gefürchtete Fallgrube des mauvaise foi, der Unredlichkeit, zu tappen. Und noch dazu waren alle Dichter und Denker überall auf der Welt dazu aufgerufen, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen, engagé zu sein.

Die Rolle von Paris als Generator für Ideen genauso wie für Sitten und Gebräuche oder Moden und Mode trägt ebenfalls zu seinem Status als Großstadt bei. Kleinere Städte setzen keine Standards für eine internationale Ethik – ganz anders, als Paris es seit dem 18. Jahrhundert getan hat. Damals definierten les philosophes den Gesellschaftsvertrag neu, und Voltaire verteidigte einen verurteilten Kriminellen namens Jean Calas, der seiner Überzeugung nach unschuldig war. Voltaire hatte recht, und es gelang ihm, sowohl Calas’ Namen reinzuwaschen als auch Paris weltweit Reputation zu verschaffen als Ort, an dem die Gerechtigkeit siegt – wenigstens dann, wenn man einen berühmten Schriftsteller dafür gewinnen konnte, sich des Falls anzunehmen. Ein Jahrhundert später bestätigte der Romancier Émile Zola die Gültigkeit dieser Regel, indem er das in den Schmutz getretene Banner von Alfred Dreyfus aufnahm, einem jüdischen Offizier der französischen Armee, den ein antisemitisches Militärgericht wegen des Verkaufs von Militärgeheimnissen an die Deutschen verurteilt hatte. 1894 wurde Dreyfus auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana deportiert. Erst Jahre später kam er frei und wurde schließlich auch rehabilitiert – nachdem Zola den Fall in der Presse wieder aufgenommen hatte. (Eine Reproduktion seines berühmten Leitartikels »J’Accuse!«, eines offenen Briefs an den Präsidenten der Republik, wurde am Abend des 13. Januar 1998 auf die Fassade der Nationalversammlung projiziert, um so an das hundertjährige Jubiläum dieses historischen Ereignisses zu erinnern.)

Vermutlich lassen sich diese beiden Geschichten eher als Beleg für die Bedeutung von Schriftstellern in der französischen Kultur interpretieren denn als Beweismittel zugunsten der französischen Rechtsprechung. Zweifellos hat nämlich die englischsprachige Welt nie etwas gesehen wie das Gerichtsverfahren, das 1943 aufgrund wiederholter Vorstrafen wegen Diebstahls gegen den Schriftsteller Jean Genet angestrengt wurde. Genet stand als Strafe für seine Rückfälligkeit eine Verurteilung zu »lebenslänglich« bevor, doch Jean Cocteau, der Genet entdeckt und für die Veröffentlichung seines ersten Romans Notre-Dame-des-fleurs gesorgt hatte, unterbreitete eine Erklärung, die vor Gericht verlesen wurde: »Er ist Rimbaud, und einen Rimbaud verurteilt man nicht.« Cocteau hob darauf ab, dass der Richter Gefahr lief, als Banause in die Geschichte einzugehen, sollte er die falsche Entscheidung treffen. Nicht einmal ansatzweise argumentierte Cocteau damit, dass Genet unschuldig, sondern schlicht damit, dass er ein Genie sei. Genet kam dank dieser Fürsprache ungeschoren davon.

Allerdings sollten diese exemplarischen – und auch bestürzenden – Fälle abgewogen werden gegen die herrische und oft sogar arrogante Art, mit der die Justiz Durchschnittsbürgern begegnet. Es gibt in Frankreich keine Habeas-Corpus-Akte, und bis vor Kurzem konnten völlig unschuldige Menschen für Monate, ja selbst Jahre in Sicherungsverwahrung genommen werden, wenn ein Richter der Ansicht war, sie wüssten mehr, als sie preisgaben. Mavis Gallant hat über den Richter in Frankreich geschrieben: »Es steht ihm frei, einen in Haft zu halten, bis man seine Meinung ändert. Wenn man sich als unschuldig erweist, hat man kein Regressrecht gegenüber dem Gesetz. Nicht einmal auf den symbolischen einen Franc Schadenersatz kann man klagen, obwohl die Sicherungsverwahrung einen vielleicht um den Job, das häusliche Gleichgewicht und die Reputation gebracht hat.« In den Sechzigerjahren schmachteten im Gefolge des Algerienkriegs Hunderte von Arabern für lange Zeit im Gefängnis, ohne dass man Anklage gegen sie erhoben oder sie gar erst verurteilt hätte.

Jetzt habe ich aber genügend ernsthafte, intellektuelle (und sogar negative) Gründe für eine Definition von Paris als Großstadt angeführt. Es gibt dann noch etliche weniger bedeutende Gründe – etwa dass Paris ein Ort ist, wo man den ganzen Tag verschlafen kann, wenn man das möchte, wo man an Heroin herankommt oder wo man absurde Theorien aufschnappen kann, die schlüssig dargelegt und mit Verve diskutiert werden (besonders in den »philosophischen Cafés«, in denen regelmäßig Diskussionsveranstaltungen zu Fragen der Ethik stattfinden). In Paris kann man ungekünstelter Toleranz gegenüber anderen Rassen und Religionen begegnen – und gegenüber dem Atheismus. Es ist eine Stadt, in der man dem Partnertausch frönen kann, wenn einem danach ist – in der Geborgenheit eines speziellen Clubs namens Chris &Manu oder nahe der Porte Dauphine im eigenen Auto (wo man den zusätzlichen Kitzel des Exhibitionismus genießen kann, da männliche Voyeure um die geparkten, meist abgeschlossenen Autos herumschleichen und durch die beschlagenen Scheiben spähen). Paris ist eine Stadt, in der die Menschen selbst dem gräulichsten Bericht über Inzest und Mord mit einem verbalen Schulterzucken begegnen: »Mais c’est normal!«

Es stimmt zwar, dass Paris je zur Hälfte aus gesellschaftlichem Konservativismus und aus anarchischer Experimentierfreude besteht, doch Ausländer wissen nie so recht, worauf sie den moralischen Akzent setzen sollen. Denn eines ist gewiss: Wir liegen immer falsch, wenn wir versuchen, die Reaktion von le français moyen vorauszusagen – des Durchschnittsfranzosen, sofern ein solches Wesen überhaupt existiert. Die Franzosen können auf Berichte über Männer, die Kinderpornografie kaufen, genauso aufgebracht reagieren wie ein texanischer Baptist. Zu Anfang der Neunzigerjahre druckten die überregionalen Blätter die Namen eines ganzen Rings solcher Männer ab, was zu mehreren Selbstmorden führte. Die Öffentlichkeit machte damals weder einen Unterschied zwischen denen, die das pornografische Material herstellten, und denen, die es kauften, noch zwischen Filmen mit vorpubertären Kindern und solchen mit Jugendlichen.

Andererseits würde sich in Paris niemand über Sexaffären eines Präsidenten erregen, und der einzige Zweifel, der die meisten in Bezug auf Lionel Jospin beschleicht, ist der, dass er zu sehr Protestant sein könnte, um eine Geliebte zu haben. Mitterrands uneheliche Tochter Mazarine erfreute sich nach dem Tod ihres Vaters einer kurzen Phase allgemeiner Popularität – bis sie etwas wahrhaft Fragwürdiges tat, indem sie einen mittelmäßigen Roman veröffentlichte. Angesichts der Aufregung, die Monica Lewinskys »White House knee pads«, wie sie das selbst nannte, in den Vereinigten Staaten hervorriefen, schüttelten sich die Franzosen im Vollgefühl ihrer europäischen Leichtlebigkeit und ihres überlegenen erotischen Raffinements vor Lachen.

Politische Korruption der nicht sexuellen Art wurde meist mit ähnlicher Nonchalance abgetan, doch inzwischen hat sich die gesamte romanische Welt am Riemen gerissen, will sie doch gemeinsam mit Deutschland, den Niederlanden und Skandinavien das »neue Europa« schaffen. Und trotzdem enden die meisten Verfahren gegen hohe Regierungsbeamte in Frankreich keineswegs mit einem lauten Knall, sondern mit einem leisen »Plop!« – egal, ob sie im Krieg Juden deportiert haben; ob sie der eigenen Frau den Gegenwert von etwa 45.000 Euro für die Erstellung eines zehnseitigen Berichts bezahlt haben; oder ob sie es unterlassen haben, die Bestände von Blutbanken auf HIV untersuchen zu lassen. Eines Tages fällt einem dann auf, dass man von einem bestimmten Skandal schon lange nichts mehr gehört hat. Da die Presse nicht in der Tradition des hart zupackenden investigativen Journalismus steht, erlaubt es die damit einhergehende Trägheit, selbst die heißeste Geschichte aus dem Vorjahr auf jenem großen Komposthaufen abzulegen, den die Franzosen le non-dit nennen – das »Unausgesprochene«.

Das eigentliche Maß für das Großstädtische an einer Stadt ist aber wohl, was sich in ihr alles finden lässt. In Paris kann man zum Beispiel die Tex-Mex-Küche entdecken, serviert in einem Innenhof, den ein Trainingszentrum für Tänzer umschließt (Le Studio): Der Gast isst in aller Ruhe seine Tamales und sieht unterdessen zu, wie hinter beschlagenen Scheiben Tänzer in Trainingsklamotten herumspringen und herumwirbeln. Man kann aber auch ein ganzes Schloss für eine Halloween-Party im amerikanischen Stil mieten (zumindest haben wir einmal das Schloss in Château Maisons-Laffitte gemietet, allerdings mit desaströsem Ergebnis, denn die Franzosen erschienen nicht als Monster und Hexen, sondern als Marquis und Marquises). Seit damals hat sich »Hallowe’en« allerdings zum letzten Schrei unter den landesweiten Festivitäten entwickelt. Außerdem kann man nicht nur eine, sondern gleich zwei Kopien der Freiheitsstatue besichtigen – die erste in einem schattigen Winkel des Jardin du Luxembourg, die zweite in der Mitte der Seine zwischen dem 15. und 16. Arrondissement, auf der Pont de Grenelle. Man kann zahlreiche vegetarische Restaurants besuchen, und das, obwohl die Pariser die Augen verdrehen, sobald ihnen Amerikaner mit ihren verrückten Ernährungsfetischen kommen, mit ihrem Kult um das ganze Korn und fermentierte Meeresalgen oder mit ihrer Abneigung gegen Zucker und Butter. Es stehen gleich mehrere Lokale zur Auswahl, wo man sich etwa an einem Dienstagnachmittag um fünf in Gesellschaftstänzen üben kann. Ich selbst war schon im Balajo in der Rue de Lapp und im Java in der Rue Faubourg du Temple. Ich habe noch vor Augen, wie im Java kernige pensionierte Kellnerinnen mit wasserstoffblonden Haaren von kleinen schwarzafrikanischen Verkäufern eines bestimmten Alters umgarnt und umtänzelt wurden – mit was für einem Geschick! Ein leicht verrückter, noch keine dreißig Jahre zählender Freund von mir behauptete, er ginge jeden Nachmittag zum thé dansant in ein größeres Restaurant am Boulevard du Montparnasse, wo ältere Damen jungen Gigolos Drinks servieren ließen und in der Folge von ihnen zum Tanzen aufgefordert würden. Während einer Runde auf dem Tanzparkett im Untergeschoss verabredete man dann interessante Arrangements. Mein Freund ging zum Beispiel mit einer dieser älteren Damen nach Hause und säuberte, mit nichts als einem gestärkten Schürzchen am Leib, ihre Wohnung – er verdiente sich so umgerechnet 150 Euro.

Man kann in Paris die Katakomben besichtigen, aber auch die Kanalisation. Man kann sich mit Sammlern von Barbie-Puppen treffen. Man kann ein buddhistisches Zentrum im Bois de Vincennes besichtigen (irritierenderweise wurden die Gebäude ursprünglich für die Kolonialausstellung von 1931 entworfen – als Pavillons von Togo und Kamerun). Man kann in ein Wachsfigurenmuseum gehen, das Musée Grevin, in dessen Theater en miniature schicke Menschen manchmal zwischen all den Nachbildungen von Rudolf Nurejew, Pavarotti &Co. Privatpartys feiern. Man kann ein Restaurant aufsuchen, das einzig und allein Kaviar serviert, oder ein anderes, in dem es nur Käse gibt. Man kann russische Blockhäuser, so genannte izbas, besichtigen, die Mitte des 19. Jahrhunderts anlässlich einer internationalen Ausstellung entstanden. Später wurden sie in ein ruhiges Viertel umgesetzt, in dem sie noch heute weitgehend unbeachtet stehen.

Als ich in den frühen Achtzigerjahren zum ersten Mal in Paris lebte, zogen noch Messerschleifer, Glaser und Schornsteinfeger durch die Straßen – jeder mit seinem bestimmten Ruf. Die Schornsteinfeger gibt es immer noch, doch es sind größtenteils Betrüger, die falsche Papiere vorweisen und für eine wenig wirkungsvolle Reinigung des häuslichen Kamins eine Unsumme verlangen. Le petit ramoneur, der kleine Schornsteinfeger, mag in der erotischen Vorstellungswelt von Paris eine klassische Figur sein, doch heute ist leider kein Verlass mehr auf ihn, wenn man darauf aus ist, sich von ihm etwas intimere Röhren durchputzen zu lassen.

Man kann in Paris sonntags einen großen Vogelmarkt auf der Île de la Cité entdecken. Aber man kann unweit des Place Maubert auch an der lateinischen Messe einer recht unheimlichen rechtslastigen Kirchengemeinde teilnehmen, deren Priester exkommuniziert wurden, weil sie sich nicht an die Reformen des Vatikans halten, und deren Mitglieder alle aussehen und sich benehmen, als wären sie dem Film Die Frauen von Stepford entsprungen. Man kann einen Markt für gebrauchte und seltene Bücher ausfindig machen, der sich in dem etwas abseits gelegenen Viertel Vanves unter einem großen, seitlich offenen Baldachin aus Glas und Stahl erstreckt. Der Markt bietet dem Sammler eine Büchermenge, mit der sich ein städtischer Häuserblock vollständig füllen ließe. Man kann aber auch stundenlang über den üppigsten Flohmarkt der Welt bummeln, der auf der genau entgegengesetzten Seite von Paris in Clignancourt liegt. Inmitten des riesigen Budenlabyrinths dort steht ein Restaurant, in dem es Würstchen und fettige Pommes gibt und wo alle Kellner und Kellnerinnen der Reihe nach singen – und zwar wie die französischen Varietégrößen vergangener Zeiten. Die Besitzerin nimmt für sich selbst ein Exklusivrecht auf die Piaf in Anspruch. Mit ihren grell lackierten, perfekt manikürten roten Fingernägeln vollführt sie streichende Bewegungen ihren Körper hinauf und hinunter, selbstbewusste, stilisierte Gesten, die eine ganz andere Sprache sprechen als ihr Gesicht mit den Ringen unter den geplagten Augen.

Natürlich ist Paris die Einkaufsstadt par excellence. Frauen, die sich von Couturiers einkleiden lassen wollen, werden in Paris auch heute noch fündig, wenn sie bereit sind, für ein Kleid bis zu 40.000 Euro auszugeben. Obwohl sich fast die Hälfte aller Pariser damit zufriedengibt, hübsch und unauffällig auszusehen, betreibt der Rest einigen Aufwand, um den verschiedenen Moden zu folgen. Zum Beispiel wirft sich in dem einen Jahr jeder Mann in ein Jackett aus Seide, im nächsten Jahr in ein solches aus pastellfarbenem Sommerleinen. In den Achtzigerjahren trugen viele Frauen die knalligen, provenzalisch inspirierten Muster von Christian Lacroix. Miniröcke waren in, und Frauen jeden Alters waren dabei zu beobachten, wie sie an ihrem Rock zogen, wenn sie in einen Wagen stiegen, oder wie sie die Knie zusammenpressten und zur Seite klappten, wenn sie während einer Fernsehübertragung oder einer Konferenz auf der Bühne saßen. (Die Avenue Foch ist sowohl die Heimat der Pariser Millionäre, die dort in stadiongroßen Wohnungen leben, als auch die der poules de luxe, jener hochpreisigen Huren, die dort in den Hauseingängen stehen. Als Lacroix seine erste Saison als angesagter Designer erlebte, kam eine reiche Freundin von mir eines Tages in so einem knalligen Minirock aus ihrem Wohnhaus in der Avenue Foch gesegelt. Die ortsansässige pute fragte schüchtern: »Entschuldigen Sie, Madame. Das ist so ein tolles Stück. Von welchem Designer ist es?« Meine Freundin antwortete würdevoll: »Von Lacroix. Haute couture natürlich.« Schon am nächsten Abend tauchte die Prostituierte in demselben Rock in ihrem Revier auf.)

Die Franzosen haben die Kategorie des luxe erfunden und waren immer bereit, für dergleichen zu bezahlen oder billige, gut gemachte Kopien ausfindig zu machen. Zu den Ritualen des Pariser Alltags gehört der Austausch von les bonnes adresses – das sind Name und Arbeitsort etwa eines begabten Polsterers, einer Modistin, eines Handwerkers, der Flechtstühle aufzuarbeiten versteht, oder einer liebenswürdigen kleinen Näherin im eigenen Viertel. Oder es sind die besten Läden, in denen man genau jene Dekorationsstücke für die eigene Wohnung finden kann, mit denen sich beweisen lässt, wie à la page man ist – der Alabasterobelisk für den Schreibtisch, die Straußeneier für den Wohnzimmertisch, die Miniatursphinx aus Lapislazuli oder die gelben Bären-Lampen, die von innen heraus leuchten, für das Kinderzimmer.

Ab einem bestimmten Einkommensniveau und gesellschaftlichen Rang unterliegt jedes Detail einer Mode. Eine Zeit lang gehörte es sich, das Abendessen in der Küche zu servieren, was bedeutete, dass dieser Raum von Grund auf neu gestaltet werden musste, um Philippe-Starck-Glätte zu erreichen, und dass nur kalte Speisen zubereitet werden konnten. Die Franzosen ekeln sich nämlich vor Kochgerüchen, während die Amerikaner sie appetitanregend finden. Im 19. Jahrhundert ging der erste französische Rothschild in seiner Abneigung sogar so weit, dass die Gerichte den Weg zwischen Küche und Speisezimmer auf einem unterirdisch fahrenden und damit keine Gerüche verbreitenden Zug absolvieren mussten.

Moden zu folgen heißt natürlich auch, dass man jene unter ihnen meidet, die schon allzu sehr reüssiert haben. Vor gar nicht langer Zeit war ich zu einem Essen geladen, bei dem sich die Gäste, fünf kultivierte schwule Männer (ein Möbeldesigner, ein rechtsgerichteter Journalist, ein Manager einer Baufirma, ein Veranstalter von Handelsmessen und ein Bildhauer), über l’air du temps unterhielten. Mir war unklar, wofür dieser Begriff stand, allerdings wusste ich, dass nicht das Parfum von Nina Ricci gemeint war. Schließlich dämmerte es mir, dass l’air du temps wohl so etwas wie »Zeitgeist« meinte, jene Ideen und Moden, die in der Luft liegen und stärker sind als der Geschmack jedes Einzelnen. Die Herren beklagten einmütig, dass l’air du temps trotz ihrer heftigen Gegenwehr auch ihre eigenen ästhetischen Entscheidungen beeinflusste. Gemünzt auf einen Laden in der Rue du Faubourg Saint-Honoré, der Objekte aller Art ausstellt und sie kontinuierlich wechselt, sagte der Bildhauer: »Ich schaue regelmäßig bei Colette vorbei, um rauszufinden, wofür l’air du temps gerade steht – und kann dem Ganzen so am besten ausweichen.« Der Möbeldesigner ergänzte: »Geschmack ist eine Sache des Willens und der eigenen Entscheidung, l’air du temps ist hingegen völlig unwillkürlich.«

In Paris kann man wirklich alles kaufen. Bei Izrael’s Le Monde des Epices gibt es Tequila und Tacos, Kuhbohnen und Backmischungen für Pfannkuchen, Popcorn zum Selbermachen, das man gleich in der Verpackung aus Alufolie auf den Herd stellt, und allerbesten Slivovitz. Es gibt größere englische Buchhandlungen, deutsche, katalanische und spanische – und französische Buchhandlungen, die nur alte Ausgaben von Jules-Verne-Titeln im Originaleinband verkaufen. Fauchon, der berühmte Delikatessenladen und Caterer am Place Madeleine, hat Erdnussbutter von Skippy’s im Sortiment, gar nicht zu sprechen von all den anderen essbaren Genüssen, die man sich vorstellen oder an die man sich erinnern kann, etwa auch eine hellgrüne Pistazientorte. In einem japanischen Geschäft für Frauen gleich um die Ecke von Village Voice lassen sich all die Seifen und Parfums finden, die in Florenz von jener farmacia hergestellt werden, die sich an die Kirche Santa Maria Novella anschmiegt. Die farmacia betreibt ihr Geschäft seit dem 17. Jahrhundert. Das schönste Silber (Puiforcat), die edelste Bettwäsche (Noël und Porthault), der beste Blumenladen (Lachaume, der bereits zu Prousts Zeiten existierte, oder Christian Tortu nahe dem Odéon, wenn es etwas moderner sein soll) … Ach, man kann einfach alles haben – außer einem wirklich raffinierten und eleganten italienischen Essen (den Franzosen zufolge essen die Italiener nichts als Pizza). Das andere, was fehlt, ist ein anständiges öffentliches Bibliothekssystem. Für Leute, die schmökern wollen, gibt es keine einzige Freihandbibliothek – keines dieser Paradiese für den intellektuellen Spürsinn.

Die Vielfalt von Paris findet ihre Entsprechung in der Energie, der Unersättlichkeit und der Leidenschaft seiner Bewohner. Balzac machte die Beobachtung, dass die Gier nach Gold und Vergnügungen in Paris so heftig war, dass sich seine Bürger rasch selbst verbrauchten. »Paris kennt nur zwei Alter«, schrieb er, »die Jugend und das Greisentum; eine greisenfahle Jugend und ein jugendlich geschminktes Greisentum.« Balzac nahm aber auch Notiz von der Liebe der Pariser zu allem Neuen – und von ihrer Hingabe an Nichtiges. Oder, wie er es formulierte:

Unter dem Zwange, sich für alles interessieren zu müssen, interessiert sich der Pariser am Ende für gar nichts … Heute völlig gleichgültig dem gegenüber, woran er sich morgen berauscht, lebt der Pariser, wie alt er auch sein mag, in der Tat wie ein Kind. Er murrt über alles, tröstet sich über alles, spottet über alles, vergisst alles, will alles, versucht alles, fängt alles mit Feuereifer an und gibt alles sorglos auf – seine Könige, seine Eroberungen, seinen Ruhm, seine Ideale wirft er fort wie seine Strümpfe, seinen Hut, sein Vermögen.

Seit Balzacs Zeiten hat Paris sich natürlich gewandelt. Niemand ist mehr besonders ehrgeizig, denn die Pariser sind inzwischen verwöhnt durch die kärglichen, aber verlässlichen Segnungen des Sozialstaats, und die Glanzzeiten der Stadt liegen weit in der Vergangenheit. Doch die Leidenschaft für Neues regiert noch immer. Vielleicht ist Paris ja die letzte Stadt, wo die Tyrannei der Pariser Mode die Frauen noch in ihren Bann schlägt. Ein großartiger Theaterregisseur, ein Parfum, eine neue Mode – alles wird eine Saison lang gefeiert und ist in der nächsten vergessen. Es gibt nichts Endgültigeres oder Beängstigenderes als die Art, wie Pariser die Worte »C’est fini, ça! C’est dépassé, c’est démodé.« hervorstoßen. Selbst Kinder sagen dergleichen mit grausamer Entschiedenheit.

Es überrascht auch nicht, dass Paris, das Reich des Neuen und der Ablenkung, die große Stadt des Flaneurs ist – jenes absichtslos Umherstreifenden, der sich in der Menge verliert, der kein Ziel hat und dahin geht, wohin eine Laune oder die Neugierde seine – respektive ihre – Schritte lenkt. In New York kann sich ein Flaneur von der Gegend um die Wall Street nach Norden treiben lassen durch SoHo, East Village, West Village und Chelsea, doch dann muss er unweigerlich in ein Taxi steigen und zur Amsterdam oder Columbus Avenue in der Upper West Side hochfahren. Der Rest der Stadt ist eine Ödnis.

In Paris ist nahezu jedes Stadtviertel schön, verführerisch und voll unerwarteter Freuden. Besonders gilt das aber für jene, die sich zu beiden Seiten der Seine vom 1. bis zum 8. Arrondissement auffächern. Das ist das klassische Paris, dessen Orientierungspunkte im Westen der Arc de Triomphe und der Eiffelturm sowie im Osten die Bastille und das Panthéon sind. Alles, was innerhalb dieses magischen Parallelogramms liegt, lohnt eine Besichtigung zu Fuß, angefangen bei den zwei Flussinseln, der Île de la Cité und der Île Saint-Louis. Von letzterer begibt man sich auf dem Boulevard Saint-Germain ins Herz von Saint-Germain-des-Prés mit seinem Trio aus berühmten Lokalen: dem Restaurant Lipp und den beiden eng verbundenen Cafés, dem Flore und dem Les Deux Magots.

1939 konnte Léon-Paul Fargue ohne jeden Anflug von Ironie schreiben:

Egal, ob es an einem Tag eine Sitzung des englischen Kabinetts, einen Boxkampf in New Jersey, einen Großen Preis für Konformismus, einen literarischen Disput, einen Wettbewerb für Tenöre auf der Rive Droite oder eine böse Kabbelei gegeben hat, die Stammgäste der Cafés am Place Saint-Germain-des-Prés gehörten zu den ersten, die die Auswirkungen dieser Treffen oder Wettbewerbe zu spüren bekommen sollten. Der Platz lebt, atmet, pocht und schläft nämlich kraft dreier Cafés, die heute genauso berühmt sind wie staatliche Institutionen.

Für Fargue war das dritte Café das Royal Saint-Germain, doch ebenso hätte er die Brasserie Lipp direkt gegenüber dem Flore hinzuzählen können, in der in den Dreißigerjahren le Tout-Paris politique zu Mittag oder zu Abend aß.

Inzwischen hat der Place Saint-Germain-des-Prés zweifellos einiges von seinem intellektuellen Glanz verloren. Jedermann lamentiert über die Boutiquisierung von Saint-Germain-des-Prés, und es stimmt, dass den Platz von Le Divan, einer der besten Buchhandlungen, Dior eingenommen hat, dass einer der wenigen Plattenläden in der Gegend von Cartier kannibalisiert wurde und dass Le Drugstore – ein bis spät abends geöffnetes Konglomerat aus Tabakstand, Restaurant und Drogerie – von Armani verdrängt wurde. Louis Vuitton hat einen schicken Laden gleich neben das Les Deux Magots platziert.

Es stimmt schon, der Umzug von Le Divan, der Buchhandlung, die seit ihrer Eröffnung 1921 am selben Ort existiert hatte, in das hinterste Sibirien des petit-bourgeois 15. Arrondissement bedeutet wirklich einen großen Verlust für Saint-Germain-des-Prés und gefährdet ernsthaft die intellektuellen Ambitionen des Viertels. Le Divan war ein Laden (gegründet von Henri Martineau, einem Verleger, der über seiner Wirkungsstätte wohnte), in dem die Angestellten unglaublicherweise freundlich timide