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Lars Gustafsson

Der Dekan

Aus Spencer C. Spencers
hinterlassenen Papieren

Gesammelt und herausgegeben
von Dr. Elizabeth Ney, Bibliothekarin
am Humanities Research Center,
The University of Texas at Austin

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel

 

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

Diese Welt, von einer anderen aus gesehen

Ein gelehrter Vietnamveteran

Vom Leben unter der Oberfläche der Seen

Ein Auftrag

Im reifen Alter

Eine exzentrische Radiosendung

Ein Mädchen verschwindet

Die Botschaft des Müllautos

Eine Fußballmannschaft aus einer der unteren Ligen

Der Dekan über die Schweiz

Der Dekan über das Nichts

Aus dem Skizzenbuch eines Wüstenwanderers

Eine nach innen verschrumpelte Rosine

Eine sehr einfache Unterkunft

Wüsten sind nicht immer flach

Ist diese Welt wirklich eine gute Welt?

Der Bund der Hinkenden

Blätter aus demselben Buch

Hochsommerhitze

Der Abgang des Verwaltungsdirektors

Die Karten zerfallen in der Feuchtigkeit

Ein unerwünschter Besucher

In den Vorhöfen des Schamanismus

Der Dekan stellt Fragen

Der Einzug der Götter

Cousin Derek überwindet die Mächte des Chaos und läßt sich auf seinem Berg nieder

Der vollendete Fischer

Seinen eigenen Tod aufsuchen

Cousin Derek: Das Ende dieser Geschichte

Die schamanistische Reise

Kommentar der Herausgeberin

 

 

 

 

 

 

 

 

Diese Welt, von einer anderen aus gesehen

 

 

Die Zeit vergeht. Ja, die Zeit vergeht.

Seit einigen Wochen lebe ich nun hier, gerade wo die Wüste anfängt, außerhalb von Sturdy Batte. Wie viele es schon sind, weiß ich nicht genau. Ich war zu sehr mit Dingen beschäftigt, die wichtiger waren, aber dem Besitzer der Pension, Archibald Primrose, Kunstmaler und Gesamtkünstler, merke ich an, daß er allmählich ein wenig argwöhnisch wird.

Er möchte wissen, ob ich meinen Auftrag ernst genug nehme. Er meint, meine Ausflüge in diese Mondlandschaft seien nicht ausgedehnt genug für einen wirklich effektiven Universitätsgeologen. Und das bin ich ja auch nicht.

Um den Schein zu wahren, habe ich ihm gesagt, meine Arbeit befinde sich gerade in einer theoretischen Phase. Ich würde versuchen, für die synklinalen Bewegungen, aus denen die Chisosberge entstanden sind, einen Algorithmus zu entwickeln, genauer gesagt ein Integral. Ich danke Gott, daß er heute morgen beim Frühstück (das tatsächlich ganz hervorragend ist, das Verdienst seiner Ehefrau) einer ausgiebigen Befragung durch einen anderen Gast ausgesetzt war.

Natürlich könnte das Mißgeschick eintreffen, daß eines Morgens ein echter Geologieprofessor von der University of Texas auftaucht, mit einer Busladung von Doktoranden und Assistenten. Das würde meinen Einfallsreichtum auf eine harte Probe stellen.

An diesem Morgen begnügte sich Mr. Primrose mit meiner Erklärung der synklinalen Entwicklungen und der Möglichkeit, sie in Integralgleichungen höheren Typs wiederzugeben. Aber er bat – im gleichen Atemzug – um die Miete der letzten zwei Wochen plus einer als Vorauszahlung. Hat er einen Verdacht, oder ist er wirklich so knapp bei Kasse?

Aus verschiedenen technischen Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen will, benutze ich immer noch nicht meine Visakarte, ebensowenig wie meine Mastercard. Statt dessen habe ich ein dickes Bündel Banknoten dabei; an jenem hektischen Nachmittag habe ich mein nicht allzu fettes Bankkonto geplündert.

Was für ein hektischer Nachmittag, fragt ihr.

Jener Nachmittag. Als ich beschloß, die Fragen hinter mir zu lassen. Als ich von Austin aufbrach. Als ich die Dinge selbst in die Hand nahm. Als ich den Stier bei den Hörnern packte.

Also wird Mr. Primrose mit Banknoten bezahlt. Das ist ja heutzutage etwas ungewöhnlich. Aber anscheinend findet auch mein Wirt, daß es so am sichersten ist. Er hat sich nicht beklagt. Er wirkte nicht einmal erstaunt. Vielleicht kommt das hier draußen öfter vor, am Rand der Wüste? Vielleicht ist er Gäste wie mich gewöhnt? Nein, das ist nicht wahr. Die allermeisten sind Touristen, hauptsächlich ältere Paare, Pensionäre, die hierherkommen, um, bevor sie sterben, die exklusiveren, die freieren, die einsameren und größeren Teile des Kontinents zu sehen, auf dem sie in Büros und Werkstätten gelebt haben. Ich bin wohl doch der einzige meiner Art. Ich habe angedeutet, daß ich noch für eine kürzere Zeit bleiben werde. Mr. Primrose hat das zur Kenntnis genommen.

Ich möchte wissen, ob er mir meine geologischen Erklärungen für meine Vorhaben an diesem Ort wirklich abnimmt, oder ob er nur so tut.

Mein Gebiet war die sogenannte Philosophie der Neuzeit. Beginnend mit Descartes also, und meine Dissertation beschäftigte sich mit Condillac. Abbé Etienne Bonnot de Condillac. Ich bin ziemlich früh an die Philosophen der französischen Aufklärung geraten, diese Atheisten und Libertins. Das erschien mir als geeigneter Kompromiß zwischen der Antike und der allermodernsten Philosophie, die mich abstieß, entweder durch ihre pedantische Weigerung, sich mit Fragen der Moral und Politik zu befassen, wie der angelsächsische Empirismus, oder durch ihre totale Unbegreiflichkeit wie bei Sartre, Deleuze, Derrida und wie sie nun alle heißen.

Ja, gibt es eigentlich einen Grund dafür, daß ein so bleicher und magerer rothaariger Typ wie Doktor Spencer sich seit Wochen in dieser bescheidenen Wüstenpension aufhält?

Mr. Primrose war anscheinend, nach den unzusammenhängenden Geschichten, die er gern erzählt, während er das Frühstück serviert (nachlässig und ohne darauf zu achten, wie viel Kaffee er jedesmal aufs Tischtuch verschüttet – das jedoch aus billigem Plastik besteht und keinen größeren Schaden nimmt), eine Art Künstler an der San Francisco Bay.

Wo genau, daran kann er sich offenbar nicht so recht erinnern. An einem Tag sagt er Fisherman’s Wharf, und am andern San Salito, aber das läuft vielleicht auf eins hinaus. Ich habe da so meine Zweifel. Wie es sich damit eigentlich verhält. Und warum er sich hier niedergelassen hat, kann man sich natürlich auch fragen. Hier in der großen Leere. Unter dem bösen Mond der Komantschen und Kojoten.

Es ist nicht ganz leicht. Zu erzählen. Es ist nicht mein Metier. Aber wenn ihr Geduld habt, ihr vermutlich einzigen Zeugen, die ihr vielleicht eines Tages diese Papiere finden werdet, welche ich Tag für Tag in einer Schublade ganz unten in dem kampferduftenden Sekretär anhäufe, werde ich erzählen, was ich kann.

Aber alles läßt sich sowieso nicht erzählen. Soviel ist sicher.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein gelehrter Vietnamveteran

 

 

Der Dekan?

Freilich. Von ihm erzähle ich gern. Ich will nicht behaupten, ich hätte ihn näher kennengelernt in den Jahren, in denen ich als außerordentlicher Dekan bei ihm tätig war, aber das eine oder andere habe ich doch gelernt.

Ich wurde zum Dekan gerufen.

Das verhieß natürlich nichts Gutes. Selbstverständlich hatte ich Angst. Vom allerersten Anfang an. Ich war ihm noch nie persönlich begegnet. Er zeigt sich bei offiziellen Gelegenheiten nicht so oft wie andere Dekane, da er an den Rollstuhl gefesselt ist. Ich war ziemlich nervös, als ich da im Vorzimmer im West Mall Building wartete.

Pünktlich auf die Minute ertönte das Klingelzeichen des eleganten Telefons im Vorzimmer. Susan, die rotblonde, fröhliche Sekretärin, die auch als Empfangsdame fungierte und sich offensichtlich bemühte, mir die Nervosität zu nehmen, öffnete die Tür, und ich betrat das überraschend große, gediegene Amtszimmer.

Es ist bemerkenswert, wie viel man auf einmal wahrnehmen kann, wenn man in dem aufmerksamen, ja wachsamen Sinneszustand ist, in dem ich mich befand. Die Teppiche, die Radierungen, die Gemälde. Ich schaffte es sogar zu bemerken, daß die Wände mit ziemlich guten Drucken aus Piranesis Carceri d’Invenzione geschmückt waren. Die eingebildeten Gefängnisse. Man findet sie öfter bei gewissen anspruchsvollen Menschen, aber selten in einem so klaren und guten Druck. Seit Piranesis Zeit müssen die Druckstöcke schon stark verschlissen worden sein.

Der Mann im Rollstuhl hinter dem großen Eichentisch, auf dem sich Papiere und Mappen in perfektester Ordnung stapelten, war eher von kleiner Statur als groß.

Über den Knien des Dekans lag eine tiefgrüne Decke, welche die Beine verbarg. Im übrigen trug er einen sehr korrekten grauen Anzug, mit einer schwarzweiß gestreiften Krawatte, die ich sofort lokalisieren konnte: King’s College, Cambridge. Das erschien mir stilgerecht.

Er war völlig kahl, mit einem kurzen, gepflegten grauen Bart, in dem noch einige Schattierungen von Schwarz zurückgeblieben waren, und die Augen waren von einem sehr kühlen Blau. Das sind die Art von Augen, die das Schlimmste gesehen und doch irgendwie ertragen haben, war mein erster Gedanke. Sie würden beliebig viele Greuel sehen können, und sie würden sie mit derselben ruhigen, leicht amüsierten Neugier betrachten.

Ich machte den Anfang, indem ich mich vorstellte, vielleicht ein wenig zeremoniell und langatmig. So ist nun einmal mein Auftreten. Ich bin ein langatmiger Mensch. Ich kam nicht weit, als mich der Dekan mit einer leisen und auffallend melodischen Stimme unterbrach.

– Spencer. Da ich Sie herbestellt habe, muß ich vielleicht nicht unbedingt über Ihren Namen informiert werden. Ich bin nicht senil. Noch nicht.

Mir blieb natürlich nicht viel zu erwidern. Er hatte das Spiel eröffnet.

– Kürzlich las ich Ihre Arbeit über Condillac. Sehr interessant. Ein feines kleines Buch über einen vernachlässigten Philosophen. Oder vielleicht nur von mir vernachlässigt. Diese Statue ist wirklich eine phantastische Idee, nicht wahr?

(Es geht darum, daß Condillac sich eines eigentümlichen Gedankenexperiments bedient. Er stellt sich eine Statue vor. Eine ganz regungslose, kalte und harte Statue. Und dann verleiht er dieser Statue den Geruchssinn. Für den Anfang.

Die Statue nimmt Düfte wahr.

Aber sie kann ja keinen Unterschied zwischen sich selber und dem Duft empfinden. Die Statue ist dieser Duft, aber sie ist auch die Welt.

Die Statue ist, könnte man sagen, in diesem Stadium allmächtig. Oder zumindest sich selbst genug. Das ist phantastisch.)

– Ja, gewiß ist sie das! Hume hatte viel zuwenig Phantasie, um sich so etwas auszudenken. Sie erinnern sich sicher, wie das Ganze weitergeht. Condillacs Statue wird mit einer Fähigkeit nach der anderen ausgestattet. Im letzten Kapitel geistert sie sogar herum und betastet die Dinge, eins nach dem andern, und untersucht, was sie selbst ist und was Außenwelt. Sie läuft herum und wird müde, sehr müde, bis sie einschläft. Aber bald ist sie wieder zugange.

– Als ich Ihr Buch las, begann ich mich mit einer merkwürdigen Idee zu befassen. Könnte man diesen Verlauf umkehren? So daß die Statue eine Fähigkeit nach der anderen verliert, bis sie gewissermaßen nackt dasteht, ganz still und kalt, und ein Duft ist, ein einziger Duft, der dann die Welt wäre?

– Ein melancholischer Gedanke!

– Ja. Vermutlich.

Mit einer plötzlichen Veränderung des Tonfalls schlug er die Mappe auf, welche die Sekretärin wohl auf seinem Tisch bereitgelegt hatte.

– Nun, Spencer, ich habe Sie also hergebeten, um zu hören, was Sie von der Möglichkeit halten, in meinem Büro zu arbeiten, vor allem mit Entwicklungsfragen. Was, wie Sie wissen, hauptsächlich darauf hinausläuft, daß man um Geld bettelt. Ich brauche einen außerordentlichen Dekan, und ich glaube, Sie wären geeignet für den Job.

Ich war kurz davor, ihn zu fragen »warum?«, erkannte aber in letzter Sekunde, daß das vielleicht nicht so gut gewesen wäre. Ich hätte ja auch fragen können, wie er auf diesen Gedanken gekommen war, aber auch das tat ich nicht.

Ich war ganz einfach von der Idee so bestürzt, daß ich wie ein Trottel dasaß und dankend akzeptierte.

– Dann sind wir uns einig, wie mir scheint.

Ich nickte meinen feigen Beifall.

Überraschend hatte er noch eine Frage.

– Sind Sie selbst Atheist, Dr. Spencer? Wie Condillac und Baron d’Holbach?

Er stellte die Frage, als wäre sie eine Art Frage. Aber tatsächlich war sie vielleicht eine andere. Aus einem Grund, den ich nicht verstand, war es für ihn offenbar eine wichtige Frage. Ich wußte nicht einmal, ob ich die Pflicht hatte, darauf zu antworten; wir befanden uns immerhin an einer staatlichen Universität, wo es nicht üblich ist, über die Ansichten von Leuten in solchen Dingen Bescheid zu wissen. Wäre ich ein paar Jahre jünger gewesen, hätte ich vielleicht protestiert. Aber es war ganz offensichtlich, daß er aus echtem Interesse fragte.

– Ich bin wohl Atheist.

– Wie interessant! Sehr interessant!

Mit dem Ende seines Bleistifts klopfte er einmal leicht auf den Tisch. Ich deutete das so, daß die Diskussion beendet war.

Drei Wochen später wurde ich, zur Überraschung und, wie ich glaube, in gewissen Fällen auch zur Eifersucht meiner Kollegen, unter Übergehung einer langen Reihe viel verdienterer Anwärter, zum Associate Dean of Research and Development in The College of Liberal Arts befördert. Auf den ausdrücklichen Wunsch des Dekans.

Das klingt feiner, als es ist. Der Job ist eigentlich ein Laufburschenjob. Ich hätte vielleicht bleiben sollen, wo ich war, zwischen Teetassen und unkorrigierten Aufsätzen mit schlecht formulierten Fußnoten in den stets von Studenten überfüllten Korridoren der Waggener Hall. Es war jener Frühling, in dem im dritten Stock Regenwasser durch das undichte Dach zu tropfen begann und ich also mein Büro ohnehin nicht hätte behalten können. Also zog ich von meinem schmalen alten Zimmer – mit seinen Blechschränken und seit Generationen verschlissenen alten Stühlen und Tischen und lebensgefährlich instabilen Bücherregalen – in ein elegantes Verwaltungszimmer im West Mall Building.

 

 

 

 

 

 

 

 

Vom Leben unter der Oberfläche der Seen

 

 

Der Dekan, und die meisten seiner Freunde, hatten ein sonderbar inniges Verhältnis zum Coloradofluß, dem Texas-Coloradofluß meine ich natürlich; nicht den anderen, großen weit drüben im Westen. Der in Texas ist imponierend genug. Sie alle haben ihn offenbar in ihrer Jugend mit dem Kanu befahren. Sie sind in den akademischen Rudermannschaften angetreten. Sie sitzen gern in einem Café unten am Fluß und reden von den großen, schrecklichen Frühjahrsüberschwemmungen, ehe alles reguliert wurde. Es gibt ja Fotos, aus der Zeit vor den dreißiger Jahren also, auf denen man ganze Häuser sehen kann, pathetisch schwankend und schon mit dem Erdgeschoß unter Wasser, die von den wilden braunen Fluten mitgerissen werden. Aufgedunsene Kühe, zerschlagene Boote, Anlegebrücken, alles flußabwärts unterwegs.

Dann kam Präsident Roosevelts Aufbauprogramm, als die großen Kraftwerksdämme emporwuchsen. An Stelle des unruhigen Flusses entstanden große, ruhige Seen, Buchanan, Travis. Einige davon so groß, daß sie einen Meereshorizont besitzen; nur Himmel und Wasser. Durch diese großen Seen geriet vieles unter Wasser, nicht nur eine ganze Menge Zedernwald und die übrige Vegetation. In Buchanan soll eine komplette Tankstelle mit einem Feinkostladen untergegangen sein. Aber der letzte Besitzer soll alle seine Regale und Benzinpumpen geleert haben, bevor er sich mit seinen staatlichen Entschädigungsgeldern nach Seattle zurückzog. Unter der von Kalksedimenten tiefgrünen Oberfläche des Lake Travis verbergen sich nicht weniger als zwei kleine Kirchen, eine baptistische und eine methodistische.

Und es gibt noch mehr da unten in der Tiefe, die in gewissen Fällen hundert Meter überschreitet. Da schlängeln sich die alten Wege, von Algen bedeckt, zwischen seit Jahrzehnten nackten Bäumen hindurch, die jedoch nicht modern (denn Holz modert nicht in Süßwasser). Vielleicht gibt es dort alte geparkte Autos, Schmieden, in denen Katzenfische ein und aus schwimmen, grüne Räume tief unter der Oberfläche, in denen sich die Konturen einer vergessenen Wiege und einer langsam zerfallenden Kommode abzeichnen.

In einer Küche stehen noch grüne Flaschen im Regal. Und die kleinen Fische schwimmen durch die Augenhöhlen eines ermordeten Mannes ein und aus, der einst hinter einer Tapetentür versteckt wurde.

(Mitunter, wenn ein Anker sich in der Tiefe verhakt hat, kann er seltsame Dinge an das rücksichtslose Tageslicht befördern, das über diesen Seen herrscht.)

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Auftrag

 

[Schaden im Manuskript]

 

 

Es gebe, sagte der Dekan, nur einen Buchladen in der ganzen Stadt, der es haben könnte.

Ich verstand sofort, welchen er meinte. Es war natürlich jener Buchladen. Ich fragte höflich, wann er es bräuchte, und bekam eine ziemlich überraschende Antwort:

– O nein. Ich brauche es überhaupt nicht. Ich habe es gelesen. Sie brauchen es.

Gegen fünf machte ich mich also mit meinem alten Mazda Pick-up im zunehmenden Verkehr ins südliche Austin auf. Vorbei an mexikanischen Läden von der Sorte, die magische Salben verkaufen, piñatas für die Geburtstagsfeste der Kinder, Traumdeutungsbücher, Anleitungen in der Liebeskunst und eigenartig gewürzte Bonbons, in buntes Papier aus Yucatan gewickelt, vorbei an lustigen kleinen Restaurants mit echter mexikanischer Küche, gebratenem Zicklein und all den anderen Köstlichkeiten, vorbei an Autowerkstätten, die fast in rostigen alten Karosserien, Ölfässern und Autoreifen zu ertrinken scheinen, Herbergen für illegale Arbeitskräfte, individuell oder in Gruppen von bis zu dreißig Mann zu mieten, alle im Schatten sitzend und rauchend, in der Hoffnung auf Jobs, ja, an all dem vorbei und hinein in Viertel mit zunehmend kleineren, kastenartigen Häusern unter einem dichter werdenden Dach von immer tieferem Grün.

Der Buchladen hatte nicht viel, was ihn nach außen hin als Buchladen kenntlich machte. Es war ein kleines Haus unter hohen Pecanbäumen wie die anderen. Ein Haufen von großen, leeren Kartons in der Garageneinfahrt. Dort dürfte schon lange niemand mehr ein Auto abgestellt haben.

Ich öffnete die Außentür, die nur die Mücken abhalten sollte, und fand die richtige Tür offen. Es gab so viele Bücher da drinnen, daß man sich in schmalen Gängen zwischen Regalen und Stapeln bewegen mußte. Der Bücherstaub ließ mich niesen. Ich hatte immer schon ein kräftiges Niesen, und das Geräusch brachte jemanden in einem Hinterzimmer in Bewegung.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber aus dem Hinterzimmer kam Mary Elizabeth, gerade so selbstverständlich, als hätte sie immer da gesteckt.

 

 

[Feuchtigkeitsschaden im Manuskript, Textverlust]

 

 

– Anthony T. Winnicott?

– Ein interessanter Schriftsteller.

– Haben Sie schon was von ihm gelesen?

– Ja, unter anderem Geh leise! Sprich nicht mit den Fliegen! Das ist schon ein sehr ungewöhnliches Buch. Diese Idee, daß die materielle Welt wirklich nur eine Illusion sei. Eine Illusion, die nur dazu diene, uns gefangenzuhalten.

– Die haben andere auch schon gehabt.

– Aber keiner hat sie richtig konsequent verfolgt. Außerdem muß man sagen, daß er unglaublich misanthropisch und pessimistisch ist. Er hält die Menschheit für einen Fehlschlag.

– Sie haben nicht zufällig seinen Band mit Kurzgeschichten gelesen?

– Nein.

– Den habe ich hier. Aber er ist ziemlich teuer. Er ist nur in einer einzigen Auflage erschienen, in einem kleinen Verlag in San Francisco. Die Karten zerfallen in der Feuchtigkeit heißt er. Soll ich ihn heraussuchen?

– Gern.

Ich war immer noch leicht benommen von dem Wiedersehen mit Mary Elizabeth. Ich hatte vergessen, wie interessant sie war.

– Eigentlich hatte ich ein anderes Anliegen. Unser Dekan Professor Paul Chapman meint, ich solle unbedingt ein Buch mit dem Titel Die Pilzgöttin und ihre Söhne lesen. Es geht offenbar um Fliegenpilze. Und um Schamanismus. Ich habe keine Ahnung, warum er will, daß ich es lese. Vielleicht will er mich loswerden. Aber das wäre doch überraschend.

– Mal sehen, ob ich es finde, sagte Mary Elizabeth.

Als sie sich über die Kästen mit den vergilbten und abgegriffenen Karteikärtchen beugte, konnte ich nicht umhin, ihre schmale elegante Hüftlinie zu beobachten, die sich unter den verschlissenen Jeans abzeichnete.

Zwischen den Brüsten – klein und fest unter einem ausgewaschenen hellblauen Pulli – hing ein kleiner Fisch aus Gold an einer sehr dünnen Kette aus demselben Material.

– Da! Phantastisch – wir haben es! Wie konnte Professor Chapman das wissen? 1913 in Leipzig gedruckt, mit gut erhaltenem Einband. Hier steht es.

– Ich nehme es. Ich freue mich über dieses Wiedersehen, Mary Elizabeth.

– Ich auch. Deswegen bin ich heute auch hier. Sonst wäre der Laden geschlossen.

In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich dieses Mädchen wirklich haben wollte.

Aber auch, daß es nicht ganz leicht sein würde.

– Was tun Sie da in Ihrem Hinterzimmer? Gibt es irgendwas Spannendes?

– Eine Menge. Zum Beispiel die Science-fiction-Romane von Anthony Travis Winnicott.

Ich hatte von ihnen gehört. Winnicott war hier in der Stadt ziemlich bekannt gewesen, besonders in den achtziger Jahren. Er besaß ein Antiquariat, und man sah ihn oft auf dem Campus, vor allem in der Bibliothek. Es wurde viel über ihn geredet. Es hieß, er hätte eine Art mystisches Erlebnis gehabt, mit dem er zurechtzukommen versuchte. Ein regelrechter Kreis hatte sich um ihn gebildet, hippieartige Typen, die Haare im Stil der Sechziger zu einem Pferdeschwanz gebunden. Vermutlich mit einigen recht exklusiven Drogengewohnheiten. Und alle stark mit religiösen Problemen beschäftigt. Menschen, die an Utopien geglaubt haben und aufhören daran zu glauben, werden ja leicht fromm.

Später verschwand er und hinterließ eine Dame, die wahrscheinlich seine Ehefrau war. Ein schweigsames Mädchen von kleiner Statur. Vermutlich sehr intelligent, aber nicht gesprächig. So hieß es jedenfalls.

Es muß irgendwann Anfang der neunziger Jahre gewesen sein.

Ich hatte das Barabbastheorem gelesen, eins von diesen Büchern, die eine alternative Weltgeschichte entwerfen und in denen Hitler und anderen Größen der Weltgeschichte ganz andere und unbedeutende Rollen zugeteilt werden, während unbekannte Personen die Welt beherrschen und sie in noch seltsamere Richtungen lenken. Wenn der letzte Mensch gestorben ist, wird das ganze Sonnensystem ein sehr viel sichereres Versteck sein ist ja in seiner unwahrscheinlichen Länge ein faszinierender Romantitel. Aber ich muß gestehen, daß ich es nicht einmal geschafft habe, mich durch die Einleitung hindurchzukämpfen. Sie war so eigentümlich philosophisch und entwickelte auf so sonderbare Weise die Theorie von Parallelwelten, daß ich das Buch zur Seite legte, ehe ich überhaupt zur eigentlichen Handlung gelangt war.

Immerhin verstand ich, daß eine der Hauptpersonen ein ostsibirischer Schamane war, der vor ein, zwei Jahrtausenden lebte. Wie alle wirklich großen Schamanen mußte er drei Tage lang kopfüber in einem Baum hängen, um anschließend in die Unterwelt hinabzusteigen. Was ihm dort begegnete, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich, daß ich den Eindruck hatte, das Ganze sei vermutlich eine Spur zu intellektuell für mich.

Jetzt nahm ich aufs Geratewohl ein paar von seinen Romanen aus dem Regal. Winnicott ist aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Es ist immer ein sonderbares Gefühl, wenn man ein Buch von jemandem in der Hand hält, der tot ist. Nicht ein Buch von Goethe oder Aristoteles. Ich meine ein Buch von jemandem, den man kannte und der jetzt tot ist.

Was sind sie?

Die Bücher: so etwas wie Fußabdrücke im Sand? Oder Wiedergänger? Eine Art von altertümlichen, verschwommenen Fotografien?

– Eins von Winnicotts Büchern handelt von einem Geheimagenten, sagte Mary Elizabeth. Er hat den Auftrag, ins Zentrum einer nicht näher bezeichneten islamischen Militärdiktatur vorzudringen und dem Diktator so nahe wie irgend möglich zu kommen, um ihn dann zu ermorden. Er muß die Sprache perfekt beherrschen – Arabisch oder etwas Ähnliches –, und er muß dem Diktator eine selbstmörderische Ergebenheit und eine totale Identifikation mit all seinen Idealen erweisen. Während er die ganze Zeit gegen ihn arbeitet. Auf äußerst diskrete Weise. Aber du solltest es selber lesen. Hier ist das erste Kapitel. »In der Bibliothek« heißt es. Es handelt davon, wie der Geheimagent seinen Auftrag erhält.

Eigentlich habe ich keine Zeit, sagte ich. Aber laß mich jedenfalls einen Blick hineinwerfen.

– Es ist nicht sicher, daß Sie heute abend noch zu etwas anderem kommen, wenn Sie mit diesem Buch anfangen. Setzen Sie sich her zu mir, da haben Sie besseres Licht.

– Und was tun Sie unterdessen?

– Rechnungen schreiben.

– Nichts Schlimmeres?

– Nein, was sollte übrigens schlimmer sein?

– Was weiß ich!

– Wissen Sie, was ich glaube? Es hat nie einen Winnicott gegeben!

– Und wer hat seine Bücher geschrieben?

– Raten Sie mal!

Was meinen wir damit, daß etwas natürlich ist? Mir ist einmal eine Öko-Fanatikerin begegnet, die hartnäckig behauptete, Kernreaktionen seien so unnatürlich. Ich möchte wissen, ob sie irgendwann ihre grünen Jalousien hochgezogen und für einen Augenblick zum nächtlichen Sternenhimmel aufgeschaut hat. Ich frage mich, ob es überhaupt etwas Unnatürliches geben kann? Ist die Natur nicht insgesamt im Grunde genommen äußerst unnatürlich? Eine Ausnahme von dem einzig Natürlichen, dem einzig wirklich Wahrscheinlichen, das selbstverständlich die Leere ist.

Es ist schrecklich: In meinem Kopf herrscht seine Art zu denken. Ich versuche mit allen Mitteln, zu mir selbst zurückzufinden, aber es ist die Stimme des Dekans, die ich höre. Ein wenig nasal überheblich, mitunter ironisch, und manchmal mit einer Art von trockener Kälte, die einem durch Mark und Bein geht, wenn man erst einmal gelernt hat, was sie bedeutet.

Wie kann er so viel reden, wenn er nicht mehr da ist!

Diese Stimme, die mich bis hierher in die Wüste zu verfolgen scheint, macht den Eindruck, aus der großen Leere zu kommen. Es ist eine Stimme, die sagt, daß es keinen Sinn gibt. Oder möglicherweise, daß du selbst den Sinn finden mußt.