Schutzlos

Wie ich das Jahr 1945 überlebte

Von Greta Graumenz / Claudia J. Schulze

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Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen.

Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich.

Schon darum sollten wir Menschen vor einander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle ...

(Aus einem Brief Franz Kafkas an Oskar Pollak, 08.11.1903)

Meinen Nachkommen und den Flüchtlingen dieser Welt gewidmet

(Greta Graumenz)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Ich hatte Glück im Unglück, wenn man so will. Glück und Unglück liegen häufig nahe beieinander; manchmal bedingen sie sich gegenseitig und manchmal schließen sie einander rigoros aus.

Als großes Unglück, ja als größtes Unglück meines Lebens, ist mir bis heute mein vierzehntes Lebensjahr in Erinnerung geblieben. Dieses furchtbare Jahr, in dem eine nicht enden wollende Ansammlung von Bedrohungen anwuchs, die gegen mein Leben, meine Integrität, meine Würde gerichtet waren. Das Glück war, im Nachhinein betrachtet, dass ich überlebt hatte. Doch die Bedrohung und das ständige Gefühl des Ausgeliefert-Seins habe ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen können.

Ich kann wohl sagen, dass dies mein Leben geprägt hat, und dass es grundsätzlich mein Bewusstsein hierfür geschärft hat, wie Recht und Würde, wie die innere und die äußere Heimat eines Menschen angegriffen werden können.

Unabhängig von Nationalitäten - in einem alles übergreifenden Sinn.

Als für „vogelfrei“ erklärte Angehörige des weiblichen Geschlechts befand ich mich in einem rechtsfreien Raum; auch das Recht auf Würde war mir und so vielen anderen abgesprochen worden.

Dies geschah auf vielerlei Arten, mit voller Absicht oder auch, sozusagen nebenbei, als Nebenprodukt einer - auch heute noch so verbreiteten gänzlichen Gedankenlosigkeit.

Der Dichter Hermann Hesse sagte einmal: „Heimat ist nicht da oder dort. Heimat ist in dir drinnen, oder nirgends“.

Ich weiß nicht, ob ich ihm recht geben würde, oder ob überhaupt nur einer, der gewaltsam aus seiner Heimat vertrieben wurde, ihm recht geben würde oder könnte. Doch zumindest ist es das Letzte, das einem bleibt. Die Heimat in einem drin. Vielleicht auch noch die Heimat als das, was vom Vertrauen in die Welt übrig geblieben ist.

Die Heimat als eine Erinnerung an die in ihr so fraglos scheinende Selbstverständlichkeit der eigenen Existenz.

Die Heimat als ein Weg aus der Realität, die nun ausschließlich aus Fragen, aus Ungewissheit und aus Bedrohung zu bestehen schien.

Aus Zweifeln, Angst und der Orientierungslosigkeit, die einen tagtäglich zu verschlingen drohte, flüchtete ich mich in mich selbst, in meinen Körper, in mein kleines Ich, in meine Erinnerung.

Daher trafen mich die Versuche dieser Männer sich meines Körpers zu bemächtigen in vielerlei Hinsicht. Vor allem trafen sie mich im Zentrum meines Menschseins.

Sie drohten die letzte, ohnehin brüchige Bastion zu vernichten, die mich noch am Leben hielt - mich selbst in unversehrter Einheit. Von all dem wusste ich noch nichts, als meine Familie und ich im Dezember 1944 unser letztes gemeinsames Weihnachtsfest in Julienfelde feierten. Doch schon bald darauf sollte sich alles für immer ändern.

Das letzte Weihnachtsfest

Am 28. Juni 1919 hatte Deutschland mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags den Kreis Wirsitz offiziell an die neu gegründete Polnische Republik abgegeben. Aus dem Kreis Wirsitz war der polnische Powiat Wyrzysk geworden.1930 wurde ich als Volksdeutsche in Birkenbruch, im Powiat Wyrzysk geboren.

Wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs war es von deutschen Truppen besetzt worden. Damals war ich acht Jahre alt. Mit dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 endete die deutsche Besetzung und das Kreisgebiet Wirsitz wurde in polnische Verwaltung zurückgegeben.

Das Weihnachtsfest 1944 feierten wir noch gemeinsam in Julienfelde. Mein Vater hatte, traditionsgemäß, die Kirchenglocken geläutet. Es schien mir, als läutete er sie diesmal besonders ausgiebig. Er ahnte wohl, dass diese Glocken bald für immer verstummen würden.

Es sollte auch für lange Zeit das letzte Fest im Kreis meiner Familie sein. Mein mit 16 Jahren verstorbener Bruder Arnold war in unseren Erinnerungen und Gebeten bei uns.

(Mein Bruder Arnold)

Er war unter mysteriösen Umständen zwei Jahre zuvor im Krankenhaus verstorben. Man erzählte sich, dass er dort von polnischen Ärzten getötet worden sei, um ihn als zukünftigen deutschen Soldaten bereits im Vorfeld unschädlich zu machen.

Wir gedachten seiner häufig und noch heute hoffe ich, dass es sich bei den Umständen seines Todes lediglich um ein furchtbares Gerücht handeln möge. Auch der anderen drei bereits vor meiner Geburt verstorbenen Geschwister gedachten wir. Besonders an den heiligen Feiertagen zur Weihnachtszeit. Viele fehlten, zu viele. Wie wohl in jeder einzelnen europäischen Familie zu jener Zeit.

Mein Bruder Karl war ebenfalls nicht dabei, bei unserem letzten Weihnachtsfest in Lilienfelde. Im vergangenen Sommer, nach seinem letzten Fronturlaub, hatten wir ihn zum letzten Mal gesehen. Doch in Gedanken war auch er während dieses Weihnachtsfests bei uns. Wir sprachen davon wie wir uns auf der Straße von ihm verabschiedet hatten.

Sehr schwermütig ist er damals von uns weg gegangen. Bevor er den Zug bestiegen hatte kam er noch einmal zurück, um uns zu umarmen. An diesem Weihnachtsfest waren unsere Gedanken und Gebete also bei ihm und auch bei den Geschwistern, die der Tod uns bereits in ihrer Kindheit genommen hatte.

Wir versuchten den Gedanken, ob wir Karl jemals wieder sehen würden, in diesen Tagen zu vermeiden. Man dachte nur noch an das unmittelbare Morgen.

Schon länger lag es wie eine Drohung in der Luft:

Die Russen, die Rote Armee, würde kommen. Alles war nur noch eine Frage der Zeit. Tag und Nacht hatten die Pferdewagen der jetzt schon Flüchtigen geklappert, welche ohne jegliche Unterbrechung an uns vorbeizuziehen schienen. Mein Bruder Karl hatte Pferde so geliebt. Er war vor dem Krieg in Danzig bei der berittenen Polizei gewesen.

Über sein Pferd hatte er gesagt, dass es einen Menschenverstand hätte. Wann immer ich nun Pferde sah, musste ich an Karl denken. Es war sehr glatt auf unseren Straßen, und viele der Pferdewagen verunglückten. Sie lagen im Straßengraben, neben ihnen die toten Pferde im Schnee. Erfrorene, Verunglückte, Erschossene. Der Schnee war überall. Er legte sich wie eine kalte weiße Decke über die erstarrten Leiber der Toten.

Wenn die Russen kommen, so hatte ich noch wenige Wochen zuvor voller Optimismus im Kreis meiner Familie verlauten lassen, dann gehen wir wieder nach Birkenbruch zurück. In Birkenbruch kannte ich jeden Baum und jede Höhle.

Von meiner Geburt im Jahre 1930 bis zu meinem zehnten Lebensjahr hatten wir alle dort gelebt. Wir, meine Geschwister, die Nachbarskinder und ich, sind täglich in der Natur um Birkenbruch zum Spielen gegangen. Jeder Tag glich einem wunderbaren Abenteuer.

Das Spielen verbanden wir häufig auch mit Arbeiten, die wir zu verrichten hatten.

Dort haben wir Schilf geholt und daraus Gestelle gemacht, die wie kleine Häuser aussahen. Diese Häuschen wiederum kleideten wir mit Pflanzen aus.

Wir schaukelten auf einer selbstgebauten Schaukel, die an einem Schuppen befestigt war, oder wir gingen zum Fluss Netze gegangen wo wir Krebse gefangen und Dampfer beobachtet haben, die ab und zu vorbeikamen.

Oft liefen wir über die dicht mit Kräutern bewachsenen Wege, schauten nach Fasanen und Rebhühnern und beobachteten ihre Nester.

Birkenbruch war mein erklärtes Paradies und mein treuster Zufluchtsort in Kindertagen.

Es gab unzählige Möglichkeiten sich zu verstecken. Zumindest kam mir das zu jener Zeit so vor.

Doch solcherlei Vorstellungen vertragen sich nicht mit der Realität, die mich, uns alle, mit einer Wucht überrollte, welche einer Naturkatastrophe gleichkam.