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Marta Karlweis (1889–1965), Tochter des Wiener jüdischen Vorstadtdramatikers und Prosaautors Carl Karlweis, Frau von Jakob Wassermann und Mutter des Journalisten Charles Wassermann, besuchte die Schwarzwaldschule in Wien. Nach der Geburt zweier Töchter aus ihrer ersten Ehe mit einem böhmischen Industriellen debütiert sie 1912 mit der Erzählung Der Zauberlehrling. 1934 emigriert sie in die Schweiz und dann 1939 nach Kanada, wo sie bis zu ihrem Tod eine psychiatrische Praxis betreibt.

Ihr 1929 erschienener Roman Ein österreichischer Don Juan zielt auf die gnadenlose Entzauberung derMonarchie und die Rekonstruktion der tiefer liegenden Ursachen ihrer Auflösung ab. Er dekuvriert die moralische Doppelbödigkeit der herrschenden Schichten der ausgehenden Habsburgermonarchie. Der wohlhabende Wiener Baron Erwein von Raidt ist ein Frauenheld, wie er im Buche steht. Sein Verhältnis mit der schönen Witwe Löwenstein lässt er schnell fallen, als er ihrer bezaubernden 21jährigen Tochter Cecile begegnet. Nachdem diese schwanger wird, bricht er auf der Stelle den Kontakt zu ihr ab. Um das Dekorum zu wahren, verkuppelt er sie mit einem nichtsahnenden Industriellen. Als Cecile den wahren Charakter Erweins endlich durchschaut, ist sie bereits unheilbar krank. Für den einstigen skrupellosen Frauenhelden und Bonvivant vergehen die Jahre weiter mit Liebesabenteuern, Verführungen und Eroberungen, bis ihn schließlich seine letzte Geliebte zu ihrem hörigen Sklaven macht.

Johann Sonnleitner, ao. Prof. für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien, ist Herausgeber mehrerer Editionen, u. a. zu Maria Lazar, und hat zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Literatur vorgelegt.

Marta Karlweis
Ein österreichischer
Don Juan
Roman.
Herausgegeben und mit
einem Nachwort von
Johann Sonnleitner

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Die Erstausgabe erschien 1929
im Verlag H. Grethlein, Zürich und Leipzig.

1. Auflage 2015
Das vergessene Buch
DVB Verlag GmbH
www.dvb-verlag.at
© 2015 DVB Verlag GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Leandra Eibl, Eindhoven
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
www.openpublishing.com
ISBN 978-3-9504158-2-7

Inhalt

Als der junge Erwein von Raidt am 30. Januar 1889 aus dem Portal des Jockeyklubs in den eisigen, finsteren Nachmittag hinaustrat, redete ihn ein Mensch mit über dem Kopf gelüpftem Hut so schnell und dringlich an, daß er ein wenig zurückwich und erst im zweiten Augenblick den Kutscher seines eigenen ‚Unnumerierten‘ erkannte, den Fiaker Wodiczka, genannt der Grafen-Toni. Was ihm der Grafen-Toni zuraunte, klang wie ein tolles Gerücht, aber weil es schrecklich war, glaubte es der junge Raidt sofort. Der hübsche Kavalier besaß eine Hinneigung zum Schrecklichen. Er hat nach Jahrzehnten unverbrüchlichen Schweigens und erst nach dem Zusammenbruch der Monarchie zuweilen durchblicken lassen, daß er damals vom Grafen-Toni die Wahrheit erfahren habe: Mord und Selbstmord des Kronprinzen in Mayerling. Der undurchdringliche Nebel von Mutmaßungen, Verdächtigungen, Schauermärchen, Halbwahrheiten und Lügen quoll erst vierundzwanzig Stunden später in dicken Wolken über die Stadt Wien.

Im Salon der Fürstin F., wo er erwartet wurde, erschien er wie ein Betrunkener, aber totenbleich. Die Nachricht bestätigte sich. Die Verwirrung war unbeschreiblich. Raidt blieb die ganze Nacht in der Wohnung eines Freundes wach. Als er am 31., einem Donnerstag, endlich heimfuhr in die Salesianergasse, befahl er dem Grafen-Toni, einen kleinen Umweg zu machen. Er wollte nicht an dem Hause vorüberfahren, in dem die Mary Vetsera gewohnt hatte. Immer sah er den Mund vor sich, die feuchte rote Blüte in dem strahlenden Kinderantlitz. Ihr Gang war ein eigentümliches Schwimmen in zu früh erblühter Sinnlichkeit, in allen zartesten Schatten des üppig-schwärmerischen Gesichtes nistete verliebte Träumerei. Und doch ein Kindergesicht und trotz aller Fülle fast noch der unschuldige Körper eines Kindes. Während Erwein Raidt in seiner Wohnung einen Kognak nach dem anderen hinunterstürzte, lag dieser Körper, in ein schwarzes Kleid und einen Pelz gewickelt, schon in eisiger Gruft draußen in Heiligenkreuz.

Über Wien wälzte sich Bedrückung, fast Entsetzen. Fremde Leute redeten einander auf der Straße an. Kinder, die Rudolfs Leichenzug gesehen hatten, wurden krank und schrien nachts aus dem Fieber. Alle fühlten das Erdbeben, jedoch kaum einer versuchte, es ganz zu verstehen. Ein Dichter schrieb:

Kehrt in euch, des Unheils Waage steigt!

Erwein las diese Worte und schickte dem Dichter Lorbeeren und weiße Rosen. Der Fürstin F., die ihn im diplomatischen Dienst protegieren wollte, schrieb er einen ehrfurchtsvollen Brief und erklärte, es sei sein unumstößlicher Entschluß, überhaupt in keinerlei Dienst zu treten. Ein abgründiger Pessimismus bemächtigte sich des leichtfertigen jungen Menschen. Mit einem verehrten, bedeutend älteren Verwandten, einem berühmten Arzt, hatte er einen argen Auftritt. Er behauptete, die greulichen Doktrinen der Zeit, die preußische Pest des sogenannten Fortschritts habe den Kronprinzen in den Abgrund gestürzt. Als derMann der Wissenschaft hierauf entgegnete, der Erzherzog sei nichts gewesen als ein Degénéré supérieur, zudem den Weibern, dem Alkohol und dem Morphium verfallen, erhob sich Erwein und knallte die Tür des Hauses für immer hinter sich zu.

Er vergaß nichts. Er war überhaupt nicht fähig, irgend etwas zu vergessen.

Im Mai drang eines der hundert Gerüchte von kompromittierenden Briefen des Kronprinzen, die sich in den Händen einer dubiosen Person befänden, auf besonders glaubwürdige Art zu ihm. In der Gesellschaft hatte es im Winter geheißen, der Erwein Raidt besitze mehr Herz, als man vermutet habe. Im Mai war diese Überraschung schon vergessen. Man konnte nicht gedankenloser leben als der junge Raidt. Er war so sehr bekannt als Don Juan, daß sein Diener Merlitschek ganz allgemein der Leporello hieß. Und die Liste dieses Leporello war kaum unbeträchtlicher als die seines spanischen Urbildes. Merlitschek war, ebenso wie der Grafen-Toni, eingeweiht in sämtliche Abenteuer seines Herrn. Im Lauf des Monats Juni machte es ihm daher zu schaffen, daß er von seinem Gebieter mehrere Nächte nacheinander vom Hause fortgeschickt wurde. „Muß das eine Heiklige sein!“ dachte er, und seine Phantasie verstieg sich in die höchsten Regionen.

In der Tat empfing Erwein nächtlichen Besuch. Allein Merlitschek wäre von Entsetzen befallen worden, hätte er die Schöne erblickt. Denn der nächtliche Besuch war ein jüdisch aussehender Mann, er redete mit ungarischem Akzent.

Niemand erfuhr damals, niemand erfuhr jahrzehntelang, daß der junge Raidt einen Teil seines Vermögens opferte, um jene Briefe aus der Welt zu schaffen. Zwar redete er von da an düster und sorgenvoll vom Stand seiner Finanzen, aber da die Erbschaft ungefähr bekannt war, die ihm nach dem frühen Tode seiner beiden Eltern als einzigem Kinde zugefallen war, hielt niemand diese Redereien für etwas anderes als Affektation. Höchstens vermutete man, er habe das Geld mit Weibern durchgebracht. Kam die Rede darauf, dann hüllte er sich in Schweigen, seine großen blauen Augen verschleierten sich wie bei einem Katzentier. Eigentlich bleibt diese Seelenstärke unerklärlich. Er ist eitel; kennt einen einzigen Ehrgeiz: in der Gesellschaft zu glänzen. Er ist gern wichtig und fürs Leben gern in alles ‚eingeweiht‘. Dennoch versagt er sich diesen Glorienschein! Versagt es sich, allerhöchsten Ortes bemerkt und günstig angeschrieben zu werden. Wäre er ein Schwärmer! Aber nein, er ist nüchtern wie Wasser, rechnerisch wie ein Kanzleibeamter, durchaus Mensch des Lebens, wie es ist, und dennoch schweigt er, oder besser, er verschweigt.

Ich kann nur vermuten, daß in dem jungen Menschen Brocken eines früh zerstörten Ehrgeizes eine eigentümliche, schwankende Beklommenheit der Seele hervorriefen. Warum wurde dieser Ehrgeiz, wenn er vorhanden war, zerstört? Auch darüber lassen sich nur Annahmen aussprechen, aber es werden schwerlich andere Gründe zu finden sein, als die mit dem Jahrhundert unheimlich wachsende Unlust des Österreichers an seinem Reich. Wenn ein so gewaltiges uraltes Gebilde zerstört werden soll, mögen seine Teile Generationen vorher eine kreatürliche Angst empfinden, die der Verstand nicht zu deuten vermag. Nun, die Kreaturenangst war so groß in Erwein von Raidt, daß er den Selbstmord des Kronprinzen ohne weiteres begriff und ebenso den Mord, der ihm vorangegangen war. Während er die Briefe, die ihm der jüdisch aussehende Ungar gebracht hatte, Stück für Stück in seiner leeren, nächtlich dunklen Wohnung sorgfältig verbrannte, kräuselte sich ihm unaufhörlich das Fleisch bis in die blutleer gewordenen Lippen. Es war mehr als das Grauen, das sich im Winter aller Gemüter bemächtigt hatte: in dieser Nachtstunde öffneten sich ihm Abgründe des Schicksals, Abgründe seiner eigenen Natur, und sie waren in angsteinjagender Weise eins. Er glaubte nicht an den Himmel, aber er fürchtete sich entsetzlich vor Gottes Hölle. Davon durfte jedoch nichts ruchbar werden, denn nur das Ruchbare besitzt Macht in der Welt. Von den inneren Gewalten wußte er nichts. Er glaubte, daß alles Unheimliche in Bann gehalten werden könne durch ehernes Schweigen. Böse Dinge konnten verschwiegen werden, und dann waren sie nicht da. Am besten war es, man dehnte den Umkreis des Verschweigens soweit wie möglich aus. Verschwiegenheit war wie ein festes, dauerndes Gewölbe. Darauf ließ sich lustig weiter bauen. Und nichts lenkte so gut den Verdacht von etwaigen Gräbern und Grüften ab, als wenn man ein rechtes Tingel-Tangel an Ort und Stelle aufführte. Nun, dieses Tingel-Tangel entsprach ohnedies der Lebensführung jener Gesellschaft, der sich Erwein Raidt von ganzem Herzen ergeben hatte. Hier durch Geburt zu glänzen war ihm nicht möglich; durch Reichtum ebensowenig. Geist ohne diese beiden Voraussetzungen hätte ihn nur verdächtig gemacht. Aber von der Natur war er mit vielen äußeren Vorzügen ausgestattet worden, und sie hatte ihm verliehen, was nach Grillparzers Ausspruch vor Gefahren sichert und zugleich gefährlich macht: ein kaltes, treuloses Herz und eine warme Phantasie.

Frauen hatten ihn in die eleganteste Gesellschaft gebracht, als er, der Schule noch nicht entwachsen, in der hübschen offiziersähnlichen Uniform des Theresianisten seine ersten schüchternen Eroberungen machte. An Frauen hielt er sich fortan. Seine sinnliche Anlage führte ihn knapp an die Grenze des Genialen, die freilich nur der echte Liebende überschreitet. Die Verquickung war unvermeidlich: Liebe wurde für ihn der Gegenstand seines Ehrgeizes. Liebe trieb ihn an, Liebe stillte ihn, Liebe machte ihn berühmt, Liebe hob ihn unter den elegantesten jungen Leuten hervor und umwitterte ihn mit einem Schimmer von Macht, sie legte unter seine Füße die tragende Wolke von Neid und jener primitiven Reverenz, welche Ausgezeichneten dieser Art von alten und jungen Männern nie ganz verweigert wird.

Das große Geheimnis der Generationen bleibt undurchdringlich auch dem rückschauenden Blick. Dennoch scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen, daß ein Engländer, ein Franzose oder ein Italiener der gleichen Epoche, der in einer ebenso bevorzugten Situation, in einer ähnlichen bedeutsamen Affäre wie die des kronprinzlichen Briefpakets ebensoviel Großmut, Uneigennützigkeit und Charakterstärke bewiesen hätte, über kurz oder lang im öffentlichen Leben seines Staates hervorgetreten wäre, nicht durch Protektion, denn seine Handlungsweise blieb ja unbekannt, sondern durch die dynamischen Kräfte seines Charakters und seiner Gaben. Durchaus möglich bleibt, daß sich zwischen Tat und Wirksamkeit noch eine längere Periode leichtfertigen Lebens, eine Art von Prinz-Heinz-Periode eingeschoben hätte, allein sie wäre eben nur Füllsel geblieben oder verdeckte Vorbereitung. Dem Österreicher, dessen künftiger Kaiser als Liebesmörder und Selbstzerstörer ins Jenseits geflohen war, wurde seine Tat durch Schweigen nicht geadelt, sondern durch Verschweigen in die Tiefe gebannt, ohne den Segen der Fruchtbarkeit.

Erwein von Raidt ist heute ein Mann von achtundsechzig Jahren und noch nicht ganz verarmt trotz Krieg und Inflation. Ich sah ihn nach langer Pause vor wenigen Jahren in Karlsbad, eine auffallende Erscheinung trotz des leicht gebeugten Rückens, die großen blauen Augen auch jetzt noch scheinbar schwärmerisch verträumt, der Mund, obgleich verwelkt, noch immer an den des Apoll vom Belvedere erinnernd. Oder mehr an den der Venus von Milo? Jedenfalls ist dieser Mund zu klein, das ganze frauenhaft volle, bartlose Gesicht aber expressiv bis zum Komödiantischen. Raidt war in einem Gespräch mit mir begriffen, als eine abgetakelte alte Operettendiva vorüberging. Beim Anblick der geschminkten und geschnürten ehemaligen Schönheit wurde mein Gegenüber wie vom Blitz durchzuckt. Sonst die Artigkeit in Person, beantwortete er meine letzte Frage nicht mehr, ja kehrte mir beinahe den Rücken. Mit ersterbender Stimme hauchte er den Namen der Vorbeitrippelnden, und während er sich mit ehrfürchtigem Ernst verneigte, hielt er die Augen hypnotisiert auf die blondlockige Alte geheftet, so daß er vom tiefsten Punkt ferner Verbeugung geradezu heraufschielen mußte vor Ergebenheit. Ich glaube nicht, daß Raidt sich jemals das geringste aus dieser Person gemacht hat. Daß er sie begrüßte wie ein glühend Verliebter seine hoch über ihm in Lüften schwebende Geliebte, ist teilweise zu erklären aus einer in seiner Herkunft begründeten Falschheit und Lust an der Komödie, teilweise aber aus seiner besonderen Beziehung zum anderen Geschlecht.

Erscheint mir eine Figur wie Erwein Raidt so völlig umgeben von der Lebensform der österreichischen Monarchie wie der Kern vom Fruchtfleisch, so mag das daher rühren, daß meine hauptsächliche Kenntnis seines Charakters und beinahe alle Details der ihn betreffenden Ereignisse aus Gesprächen und Erzählungen meiner Eltern, vor allem aber aus umfangreichen hinterlassenen Notizen meines Vaters stammen. Mein Vater betrachtete Erwein Raidt als ein Exemplar, das ihn zur Satire reizte. Ein ausführlicher satirischer Roman findet sich vorbereitet mit vielen Episoden, deren jede einzelne bestimmt ist, irgendeinen Charakterzug des Mannes zu illustrieren, und der wichtigste unter ihnen ist eine kaum greifbare, eben darum aber unendliche Hypokrisie. Unmittelbar daneben aber Beweise von außerordentlicher Freundestreue. Zur Hypokrisie gesellt sich anfallsweise geradezu krankhafter Geiz; die erwähnte Freundestreue erhebt sich ihrerseits das eine oder andere Mal zu echter Hingabe. Im Falle seines Freundes Sillian etwa, obzwar ein gewisses junges Mädchen damals nichts Geringeres behauptete, als daß Sillians früher Tod durch Raidt wenn nicht verschuldet so doch beschleunigt worden sei. Eine unhaltbare Behauptung, wenn man bedenkt, daß Sillian an einem angeborenen Herzleiden gestorben ist. Freilich ist es eine Frau, die derart das Unheimliche in Erwein von Raidt gesehen hat. Mein Vater hingegen behandelt in seinen Notizen vorzugsweise den Charakter als etwas Gegebenes, er umreißt ihn, blättert ihn sorgfältig auf. Ihn beschäftigt Erweins Verhältnis zu den Frauen in gleicher Ordnung etwa wie dessen Beziehungen zur Kirche, zur Religion, zum Kaiserhaus und zum Theater. Den Snobismus, der diesen Mann durchsetzt wie ein alles fingierender Farbstoff, nennt mein Vater noch, vielleicht mit einer Art von Eigensinn an der Terminologie des gebildeten Bürgertums seiner Zeit festhaltend, ganz einfach: gesellschaftliche Streberei. Erwein von Raidts Snobismus – dies sei gleich vorweggenommen – wird übrigens in diesen Blättern nicht mehr ausdrücklich erwähnt werden. Wer über diese seelische Verfassung im Augenblick nach Marcel Proust etwas Neues oder Bedeutendes berichten zu können glaubt, befindet sich ohne jeden sonstigen Vergleich in der Lage Heinrich Heines, als er Goethen die Mitteilung machte, er, Heine, dichte soeben einen Faust.

Erweins Beziehung zur Kirche ist gleichbedeutend mit der zur Religion überhaupt, das heißt, er ist denkbar nur als Katholik. Protestant kann Don Juan nicht sein, denn eher ist er dem einsam glühenden Mönch verwandt als dem sittenstrengen Bürger und Hausvater der menschenwimmelnden Mitte. Auch stieße ihn das ungestufte demokratische Wesen der protestantischen Gemeinschaft ab. Ihm ist wohl im Vielräumigen, da kann man sich verstecken. Ihn verlangt, wie nach einem irdischen, so nach dem himmlischen Kaiserhaus mit seinen zahllosen Hofdiensten, Würdenträgern, geheiligten Handlungen, Gnaden und Gnadenmitteln. Er bedarf, ohne sich etwa je in die Weisheit und Größe seiner Baugesetze zu vertiefen, jenes ungeheuren Palastes, der prunkt und beschützt, denn auch Prunk ist ja nichts anderes als Gewähr der Macht und des Schutzes. Don Juan ist, wie der Mönch, nur auf der entgegengesetzten Seite, so weit von der Mitte des Lebens fort bis an den Rand menschlichen Seins geschoben, daß jeder Schritt gefährlich und von Finsternis bedroht ist. Dort, wo der lustige Kavalier sich tummelt, kriecht hier und da bei unbedachter Wendung ein eisiger Schauer des Nichts über Rücken und Genick. Er fürchtet das Nichts in vielgestufter Rangordnung zunächst als Langeweile in der Zeit. Wir sehen ihn in jungen Jahren unablässig in Bewegung, auf der Jagd, auf Reisen, als Gast in Schlössern oder unermüdlich hinter berühmten Schauspielern und Tänzerinnen von Stadt zu Stadt fahrend. Weit schärfer, beißender schon verfolgt ihn ferner Angst vor dem Nichts gleichsam im Raum, Angst vor Mangel oder Not. Trotzdem er im behaglichen Wohlstand aufwächst und, beinahe noch als Knabe, durch Erbschaft zu Reichtum gelangt, scheinen ihm Dürftigkeit und Bedrängnis so furchtbar wie sonst nur Geprüften, die ihre Jugend im äußersten Elend verbracht und sich endlich in eine angstvoll bezweifelte Sicherheit gerettet haben. Menschen, die in diesen höchlichst zu vermeidenden Zustand geraten oder sich darin befinden, sind ihm wie von einem Ausschlag Befallene, er macht die äußersten Anstrengungen, sie durch Ratschläge, Empfehlungen, Beziehungen vor solchem Übel zu bewahren, verzeiht jedoch nie, wenn sie trotzdem, am Ende gar infolge von sogenannten Gefühlen und Herzensregungen, in Armut sinken. Nicht ohne Grund, denn er betrachtet Armut als eine ansteckende Krankheit, und was Krankheiten anbelangt, versteht er nicht den geringsten Spaß. Eine Halsentzündung ist gleichbedeutend mit der Pest; er weiß, daß aus einem Schnupfen Rotlauf entstehen kann; ein guter Bekannter, Mitglied des Jockeyklubs, ist daran zugrundegegangen und wer auf solche Art dem Tode in den Rachen läuft, ist nichts Besseres als ein Narr. Zu den Ängsten in Zeit und Raum gesellt sich die beklemmendste: die Angst in Ewigkeit, die Angst vor dem Tode, vor dem absoluten Nichts. Aber Erwein von Raidt gehört zu jenen starken Wesen, bei denen Furcht sich unmittelbar in Haß verwandelt. Langweilige, arme oder bresthafte Leute kann er hassen bis zur Bosheit. Aus dem Charmeur entpuppt sich dann mit unheimlicher Geschwindigkeit ein Teufel, der ebenso blitzhaft wiederum verschwindet, meist hinter jenem Lächeln mit gesenkten Lidern, das ihn einem schönen, schelmischen Kinde ähnlich macht. Sein tiefster Haß und seine tiefste Angst gilt dem Tod, sind ja doch Krankheit, Langweile, Not nur dessen Vermummungen im Komödienspiel. Mit des Todes Majestät, wo sie sich der Verkleidung entschlägt, hat Erwein sich auf einen sonderbaren Fuß gestellt. Als er etwa sechsundfünfzig Jahre zählte, sah ich ihn den Leichenzug einer nahen Freundin und jüngeren Verwandten ordnen. Damals begriff ich, was für ein guter Tänzer er gewesen sein mußte. Während sein Antlitz eine würdige Trauer zur Schau trug, wie eine heilige Reliquie zur Schau getragen wird, waren seine Hände, seine eleganten Füße in unablässiger, fast zappelnder Bewegung. Der hochaufgerichtete Rumpf folgte mit federnder Geschwindigkeit den Impulsen dieser Hände und Füße, ausdrucksvolle Gesten unterstützten halblaut gehauchte, wiederholte Anweisungen, mit lebhaftem, wenn auch kummervollem Schwingen des florumhüllten Zylinderhutes brachte er Vereinzelte sowie Gruppen an gehörige Plätze, das Ganze glich einer Quadrille mehr als einer Begräbnisprozession. Raidt schien um Jahrzehnte verjüngt, ganz Nerv, ganz Umsicht und der ehrlich schmerzgebeugten Familie in der Tat eine Stütze. Derselbe Mann, der um nichts in der Welt auch nur ein Haus betreten hätte, in dem ein Kind an harmlosen Schafblattern krank lag, derselbe Mann fühlte sich im Leichenpomp, im Schutze des Ceremoniells vollkommen in seinem Element. Er hat sogar eine gewisse Vorliebe für Leichenfeierlichkeiten und heilige Seelenmessen, er fehlt bei keiner, die für einen befreundeten oder geehrten Verstorbenen gelesen wird, dazu ist man ja ein Christ, daß einem das Undenkbare durch die Formen und Regeln tolerabel gemacht werde. Der Instinkt dafür liegt ihm im Blut, und das ist bei zunehmenden Jahren ein Segen, denn in der Heftigkeit seiner Natur lauern bedenkliche Finsternisse. Der Instinkt und das Talent für das Ceremoniell sind bei diesem ungebrochenen Typus des Egoisten wie alle seine Talente zu einem hohen Grade der Vollkommenheit entwickelt. Hier wäre manches zu sagen über Raidts vorzügliche Eigenschaften als Spieler, über den Ernst, mit dem er Spielregeln handhabt, als wären es die zehn Gebote Gottes, über die unerbittliche Strenge, mit der er die Gebräuche des Anstands und der Moral bei sich selbst und allen ihm erreichbaren Personen beobachtet. Liebesverhältnisse verheirateter Männer oder gar Frauen sind ihm ein Greuel, wenn sie ruchbar werden, überhaupt gibt es keinen erbitterteren Feind aller Unordnung als ihn. Seine Dienstboten hängen trotzdem an ihm, er ist ein geborener Herr, auch wenn er dem Kutscher eines befreundeten Ehepaares die Hand schüttelt und unter Fiakern, Lohndienern, Oberkellnern und Logenschließern eine ausgebreitete Freundschaft hat. Es ist in der Tat nicht Trinkgeldsucht allein – er ist äußerst sparsam mit Trinkgeldern –, die jene Leute zu ihm in Beziehung setzt, sondern eine naive Dankbarkeit dafür, daß Raidt sie nie verlegen macht. Das ‚Volk‘ ist à son aise mit ihm, genau wie jene jungen Erzherzoge und Erzherzoginnen, denen sonst das Blut im Gehirn einfriert vor Verlegenheit, wenn ihnen jemand vorgestellt wird, der nicht zur Hofgesellschaft gehört. In Erweins Gegenwart sind weder Hoheiten noch Söhne von Portiersfrauen linkisch, und daß er diese Freiheit um sich zu verbreiten versteht, beweist nur, mit welcher Akkuratesse er selbst sich an die verwickelten Spielregeln gesellschaftlichen Umgangs hält. Er hat seine natürlichen Gaben als verwöhnter Cherubin adeliger Damen höheren Jahrgangs ausgebildet. Von ihren Händen geformt, beginnter das Spiel, das ihm, dem künftigen Mann ‚des Lebens, wie es ist‘, als das Erstrebenswerteste von Anfang an erscheint: das Weltspiel der Gesellschaft.

Der Mann ‚des Lebens, wie es ist‘, der Mann, dem Tatsachen so unbedingte Faktoren sind, daß sich ihnen unterwerfen ihm schon als groteske Selbstüberhebung erscheint, so etwa, als beschließe einer, sich fortan dem Gesetz der Schwere zu unterwerfen, dieser Mann hält, wenn ihm das Geschick so hold gewesen ist wie dem Erwein Raidt, um dreißig alle seine Talente wie Trümpfe in der Hand. Er spielt sie mit Freiheit aus und der Ausgang der Partie ist jeden Tag gewiß und günstig. Er ist hübsch, elegant, gesucht, er besitzt zwar keinen hohen Geist, aber ungewöhnlich viel Witz, Kraft, Verve, Klugheit und eine reizvolle Bösartigkeit in der Konversation. Schon als Knabe galt er als Theaternarr. Hier findet er im Spiegel wieder, was er einzig liebt: Könige, schöne Frauen, große Herren. Er begnügt sich nicht mit seinen Stammsitzen in beiden Hoftheatern – in die Oper geht er nur zum Ballett –, sondern läuft in alle Vorstadttheater, hat seinen besonderen Platz überall, wird von allen Dienern mit Kompliment, von allen Garderobefrauen mit Knicks begrüßt. Diese Reverenz des Personals gehört unbedingt dazu, das ist gewissermaßen seine Komparserie und er unterscheidet sie so genau wie die einzelnen Gerüche in den Foyers, in den Treppenhäusern und in den Zuschauerräumen der Theater. Er hat den Geruchssinn eines Jagdhundes, das Auge eines Falken, Ohren, die das feinste Zischeln vernehmen, aber von Melodien nur Walzer und Couplets behalten können. Darf er hinter die Bühne kommen, so wird ihm buchstäblich schwindelig vor Vergnügen. Aber er ist, wie immer, mit tiefer Sammlung bei der Sache und bewegt sich hinter den Kulissen wie in Audienz beim Kaiser. Anbetend sieht man ihn im Parkett geduckten Kopfes mit emporgedrehten Augen an den Lippen eines berühmten Schauspielers hängen; wenn er applaudiert, fährt er aus einer Entrücktheit, und sein Enthusiasmus kennt keine Grenzen. Dann strahlt sein sonst oft sorgenvolles hübsches Gesicht, die halbgeöffneten Lippen drücken das kindlichste und sinnlichste Entzücken aus, auf einmal ist das Leben nicht, wie es ist, Tatsachen lösen sich auf in Spiel von göttlicher Folgenlosigkeit, und wo keine Folge ist, da ist auch kein Tod. O ja, auf dem Theater gibt es auch Sterbeszenen, aber da wird es ja am wunderbarsten, die Toten stehen wieder auf, man jubelt sie hervor und sie verneigen sich mit lächelnden Gesichtern. Dieses Quasi des Gestorbenseins beseligt ihn ganz und gar. Wenn die Maria im ‚Clavigo‘ stirbt, sieht man große runde Tränen über Erweins Wangen laufen. Er schluchzt hellauf, wenn der Meister von Palmyra endlich Ruhe findet. Er wankt aus dem Theater, wenn die Wolter die Lady Macbeth gespielt hat. Von den Burgschauspielern – er nennt sie nie anders als mit ihren vollen Titeln – spricht er, nach einem gewissen vorsichtigen Blick in die Runde, in demselben behutsam raunenden Ton, in dem er die Namen von Mitgliedern des allerhöchsten Kaiserhauses, delikate Familienaffären oder Krankheitsfälle bekannter Persönlichkeiten erwähnt.

Zwischen vierzig und fünfzig setzt er ein wenig Fett an, seine Genüsse werden derber, seine Angaben darüber zynischer, die Falten zwischen Mund und Nase finsterer und tiefer. Die Erregungen im Theater erzeugen Beschwerden des Nervus simpathicus, die Sache wird in ihrer Weise ernst.

Die Sache des ganzen Lebens wird in ihrer Weise ernster, des Morgendufts entkleidet, rücken die Gebirge des nackten Daseins, ‚wie es ist‘, bedrohlich näher und näher. Eine Abmagerungskur verschlimmert die Beschwerden, Raidt hält sich eine Zeitlang für bedeutend krank. Er befindet sich häufig auf einem oberösterreichischen Landgut, man sieht ihn im Kirchdorf regelmäßig in der Landestracht mit der Kerze in der Hand dicht hinter dem Baldachin des Hochwürdigsten in der Fronleichnamsprozession einherwallen. Nur erscheint er nie vor der österlichen Kommunion, dem Dorfpfarrer zu beichten dünkt ihm nicht ratsam.

Aber es bleibt beim freilich feierlich genommenen Spiel der Bigotterie; vor dem profunderen Ernst der Kirche schreckt er zurück, wie sein sonst so untrügliches Gehör vor gehaltvolleren Melodien. Überdies verzieht sich das vermeinte Leiden wie verfrühte Herbstnebel. In die Stadt zurückkehrend eilt er ins Schauspiel. Im Carltheater gibt die Sarah Bernhardt mit ihrer Truppe: ‚La Dame aux Camélias‘.

Raidt erlebt eine ungeheure Erschütterung. In den Pausen umringen ihn seine Freunde. Nach dem Ende sieht man ihn mit vorgehaltenem Taschentuch in seinen Monatswagen steigen, der, einer der ersten dieser Art, statt auf Gummi auf Pneumatikrädern läuft. Er fährt freilich nicht nach Hause, sondern ins Hotel Sacher. Dort, Zimmer Nummer soundsoviel, wohnt augenblicklich, Star des Ronachertheaters, der schönste Frauenkörper der Stadt, vielleicht Europas. Zum erstenmal nach niederdrückenden Schwierigkeiten ist Raidt in diesem Zimmer glücklich.

In derselben Epoche wird, wie es diesem vielschichtigen Charakter entspricht, eine tiefere Unterlage seiner Theaternarrheit sichtbar. Zur trockenen Beschaffenheit der Seele gehört ein hitziges Temperament. Wo keinerlei Verstrickungen des Herzens drohten, hatte er sich von jeher eine Wildheit erlaubt, die für die Dauer eines Rausches seine Tage und Nächte ganz und gar verschluckte. Diese bei seiner Weltklugheit und Vorsicht um so verblüffendere Unbedingtheit des Moments hat ihn berühmt gemacht. Damen vom Theater rissen sich um ihn. Aber in der Schule aristokratischer Frauen, die schon den jungen Knaben in ihre Kreise zogen, hatte er gelernt, daß Diskretion auf wunderbare Art die gleichsam subkutane Wirkung steigert. Sein

Instinkt für Wirkung ist so groß, daß sie das Künstlerische streift. Früh wird er der Amant du coeur einer erstaunlichen Anzahl von bekannten und begehrten Schönheiten. Bei ihm ist das fiktive Geheimnis der Kokotte genau so wohl verwahrt wie das wirkliche der verheirateten Novize, die sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Fast zwei Jahrzehnte wird um ihn nur vermutet, behauptet und gemunkelt, und die Wirkung einer solchen Aureole muß nicht erst beschrieben werden. Unversehens aber wird es anders. Intime Freunde entdecken zuerst Photographien schöner Frauen auf dem Kamin seines Schlafzimmers, später werden solcher Bildnisse mehr, sie klettern die Wand empor wie üppig wuchernder wilder Wein; auf dem Kamin, als Nachschub gleichsam, stehen nun solche mit entschieden zärtlichen Widmungen, und das wuchernde schöne Schlinggewächs findet seinen Weg behutsam tastend in das anstoßende Schreib- und Lesezimmer. Damit ist der Schritt in die Öffentlichkeit getan. Auf dem Kamin im Schlafzimmer tauchen nun Photographien sehr wenig bekleideter Schönheiten auf, während jene in einwandfreier Umhüllung nun schon am Paravent des Schreibzimmers zu bewundern sind. Die Wände des Schlafzimmers sind jetzt völlig übersät mit leuchtenden Augen, schön gestraffter Haut, Haarkronen, Chignons, aufgelösten Locken, lächelnden oder schmollenden Lippen. Im nächsten Zimmer bevölkern sie auch den Schreibtisch. Raidt macht den Cicerone, in untadeliger Ehrerbietung, der kenntnisreiche Custos einer Sammlung von Meisterwerken. Allein es tritt zutage zwar trotz seiner Diskretion, aber jedenfalls nicht gegen seinen Willen, daß ihm das Theater von Jahr zu Jahr immer mehr auch dies bedeutet: ein unüberschaubares, des reichen Nachwuchses von selbst versichertes Serail. Von selbst trifft sich hier auch die Auslese des Schönen – das Charakteristische ist um diese Zeit noch nicht erfunden und besitzt keinen Kurs –, und wenn ein Zug seines Wesens unbedingt wahr genannt werden darf, so ist es Erwein von Raidts Verlangen nach Schönheit, ja Verehrung der Schönheit, wenn auch ganz ausschließlich jener der weiblichen Form. Landschaft, Frucht, Gemälde, Schmuckstücke, plastisches Gebilde, Blüte, Baum, was ihn hinreißt, muß immer Botschaft von Frau Venus sein. Freilich darf ein so undurchsichtiges Lebewesen auch hierin nicht im entferntesten auf eine Formel gebracht werden. Völlig in die Irre würden wir geraten, wollten wir zum Beispiel seine Theaternarrheit endgültig als unwiderstehlichen Zug zum Serail betrachten, verdeckt durch Neigung und Talent zu Spiel und Ceremoniell. Vielmehr ist das Theater Erwein von Raidts, eines vollkommen fleischlichen Geschöpfes, Anteil am Höheren, am Jenseitigen, am Geist. Denn eben, daß er nicht ganz ohne Organ dafür geschaffen wurde, das macht ihn ruhelos, treibt ihn in schrullenhaft aufbrechende Wut oft im unerwarteten Augenblick, an der Wiege eines kleinen Kindes etwa oder wenn einer ein Gedicht zitiert. Gedichte hat er überhaupt nur in englischer Sprache gelesen. Warum nur englisch? Kaum zu ergründen und auch wohl nicht wesentlich, allein je näher wir den Mann betrachten, desto krauser dreht sich Zug auf Zug um das Geheimnis, das ja zuletzt in jedes Menschen Herz beschlossen und verborgen ist. Mit der Geschichte seiner Herkunft ist uns nicht viel geholfen; mein Vater hat festgestellt, daß ein direkter Urahn seines Namens als Sekretär des Fürsten Kaunitz unter Joseph des Zweiten nobilitiert worden ist. Eine ununterbrochene Reihe österreichischer Beamten führt bis zum Hofrat von Raidt, Erweins Vater. Das Vermögen stammt von einer Großmutter, der schönen Tochter eines reichgewordenen Seidenhändlers aus Mariahilf. Die Mütter, schreibt mein Vater, kommen zum Teil aus dem Volk, es sind sogar geheiratete Domestiken, einmal ist eine auffallend schöne Böhmin unter ihnen.

Dieser Umstand scheint darauf hinzudeuten, daß die Raidts im Mannesstamm sehr häufig von ihren Leidenschaften regiert worden sind. Schön waren sie alle, die schönste, Erweins Mutter, blond und mit den blauen Augen voller Licht wie er, Tochter einer schönen und munteren Frau, die nicht ausschließlich ihren biederen bürgerlichen Gatten zum Vater ihrer Kinder haben wollte. Da reichen denn verborgene Wurzeln ins Slawische, ins Italienische, nachweisbar vielleicht zur Freude des Genealogen oder des österreichischen Volkstumforschers, uns aber nicht zu wesentlichem Nutzen. Sind wir neugierig genug und wollen wir den Punkt erforschen, aus dem das Wesen unseres Sonderlings und Don Juans bewegt wird, dann müssen wir ihn fortab in der Mitte gewisser Ereignisse betrachten.

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Es war ausgemacht worden, daß Erwein den Grafen-Toni schicken werde, der Cecile zur Premiere der neuen Operette ins Theater an der Wien bringen sollte. Er selbst wollte vom Klub direkt hinkommen. Dort hatte ihn am Tage vorher irgend jemand um einen der beiden Orchestersitze angegangen, die ihm in diesem Theater ein für allemal reserviert wurden. Aber Erwein, mit hochgezogenen Augenbrauen und Schultern: „Tut mir unendlich leid, aber ich muß, verstehen Sie, muß! – heute Abend eine Art Mündel von mir ins Theater führen.“

Mündel; immerhin war Cecile Löwenstein damals einundzwanzig Jahre alt. Sie war die Tochter der verwitweten Hofrätin Löwenstein und erst vor ein paar Monaten aus dem Dresdner Pensionat nach Wien zurückgekommen. Ihre Situation war in Kürze die:

Der Vater, protestantisch, getaufter jüdischer Staatsbeamter der liberalen Ära, hatte es als Direktor einer Eisenbahngesellschaft in verhältnismäßig jungen Jahren zum Titel eines Hofrates gebracht, war gestorben und hinterließ eine gleichfalls noch junge, außerordentlich schöne und sehr lebenshungrige Witwe, Tochter einer gewissen Frau Jerabek, die ehemals im Torbogen der Alleegassenvolksschule Papierwaren, Schinkensemmeln, Äpfel, Seidenbonbons und Pischingerschnitten verkauft hatte. In der keineswegs glücklichen, ungleichen Ehe war Cecile, das einzige Kind, das nun etwa sechzehn Jahre zählte, nach dem Vater geraten und hatte von ganzem Herzen zu ihm gehalten. Die Hofrätin, bei scharfem Temperament nach dem Tode des Gatten endlich vom Druck seines geistigen und moralischen Übergewichtes befreit, entledigte sich alsbald der unbequemen Tochter, die sie in Gesprächen mit ihrer Schwester Melanie, der Industrielehrerin, nicht selten das ‚Judenmädl‘ nannte. Sie schickte Cecile nach Dresden in ein Töchterpensionat. Der Hofrat hatte etwas Vermögen hinterlassen und außerdem zahlte ihr die Eisenbahngesellschaft ein ansehnliches Witwengehalt. Sie nahm die Melanie als Gesellschafterin zu sich und begann unter diesem Ehrenschutz erst eigentlich die Erfolge ihrer präzis geschnittenen Schönheit und einer zum äußersten entschlossenen Ichsucht zu genießen. Dabei besaß sie den unbeirrbaren common sense und derben Witz der unteren Volksschichten und machte sich, da sie ihr Temperament bei völlig kaltem Herzen zu zügeln gelernt hatte, bei Männern rar. Nicht daß sie etwa der einen oder anderen Eskapade abhold gewesen wäre, allein sie besaß eine nicht unbeträchtliche Kraft der Verstellung, ihr Ruf wurde nicht eben schlecht und festigte sich insbesondere, als ihr beinahe zwei Jahre auch nicht die kleinste Affäre nachgesagt werden konnte. Josefine Löwenstein spannte ihre Ansprüche hoch. Damals hatte sie längere Zeit schon Erwein Raidt ins Auge gefaßt, der jünger war als sie, selbst glänzend und einer der ihrigen weit überlegenen glänzenden Gesellschaft angehörte, war ihm auf einer Opernredoute nach langen schwierigen Intrigen, die alle fehlschlugen, in den Weg gekommen, und endlich, im glücklichen Moment, wurde sie tatsächlich seine Geliebte. Raidt schätzte Witwen, wenn sie auch sonst seinen Anforderungen entsprachen. Der Stand als solcher sagte ihm zu. Sein Herz, wenn wir es so nennen wollen, war gerade unbeschäftigt. Zuerst interessierte ihn ihre Haut, die in gewissen Lichtreflexen schimmerte wie mit feinstem Edelsteinstaub bestreut. Ihre tiefe Stimme, die Aussprache, ihr frecherWitz verrieten ihm die Wienerin aus dem Volk. Daß er zu ihr zurückkehrte, als er das Rätsel gelöst, hing mit seinem Sinn für Ergebenheit zusammen. Er hatte sofort gewittert, daß er, und nur er, aus diesem steintrockenen Gemüt herausschlagen konnte, was niemand herauszuschlagen vermocht hatte: Dienstwilligkeit. Als er sie eine Weile bevorzugte, bekam sie eine rasende Angst, ihn zu verlieren. Er dachte nicht im entferntesten daran, sich fesseln zu lassen, nannte, was er unbekümmert tat, nicht einmal Untreue, kam aber, als ihm zufällig der Sinn danach stand, zu ihr zurück und wurde stutzig. Sie machte ihm nicht die Spur von einer Szene, tat, als sei er gestern dagewesen, aber er sah, daß sie vor Qual beinahe verrückt geworden wäre. Ihre Gefaßtheit erweckte seine Anerkennung, als er bei ihr blieb, fühlte er sich als königlich Belohnender, und so dauerte das Verhältnis fort, das nie ganz bestand, und darum auch keinen Bruch mit Tränen und Erregung fürchten ließ. Er wahrte sich das Recht, nicht zu bemerken, was die Frau dabei litt, stand ihr im übrigen mit seinem Weltverstand zur Seite, brachte sie behutsam in den einen oder anderen aristokratischen Salon, verschaffte ihr Zutritt zu eleganten Wohltätigkeitskomitees und versprach ihr schließlich, als Cecile, die er nicht kannte, unter keinerlei Vorwand mehr in Dresden verbannt bleiben konnte, das störende Mädchen schnell und günstig ohne Mitgift zu verheiraten.

Nun war sie also da, das ‚Judenmädl‘, grauäugig, hoch und voll, der Chignon der schmalgedrechselten Mutter reichte ihr bis zum Kinn. Als Erwein sie zum erstenmal begrüßte, war sie seit ein paarWochen schon im Haus. Eigentlich tat sie ihm leid, sie kam in eine unmögliche Position; der Vater hatte die Mutter zur Erbin eingesetzt, und daß die ihr keinen Kreuzer mitgeben würde, wußte Erwein. Darum hatte er sofort einen schonungsvollen, leisen, fast traurigen Ton, als er mit ihr sprach, und damit überraschte er Cecile. Sie hatte sich in den wenigen Wochen seit ihrer Rückkehr an eine scharfe und harte Luft gewöhnen müssen, und sie teilte das Schlafzimmer, ein einfenstriges Hofkabinett, mit der alten Handarbeitslehrerin, genannt Tant‘ Melanie.

Es war kein Raum für sie im Hause ihrer Mutter, das fühlte sie sofort. Nichts war für sie bereitgestellt als das Bett in eben jener lichtarmen Kammer. Man heizte schlecht und aß an gästelosen Tagen schlecht, denn die Hofrätin brauchte sehr viel Geld für ihre eigene Person. Cecile kam aus einem Kreise von Pensionsfreundinnen, die ihr schwärmerisch anhingen; meist waren diese jünger als sie und blickten zu ihr auf. Als sie einige Geschenke und gerahmte Photographien auspackte, die ihr von jenen Mädchen als Andenken verehrt worden waren, stand die Hofrätin mit meergrünen Augen dabei und fragte spitz: „Wo soll der Krempel hin?“ Sie ihrerseits hatte nie Freundinnen besessen. Den Anzug der Tochter kritisierte sie unaufhörlich. Zehnmal am Tage hieß es: „Eine Riesenperson wie du –“ Cecile war keineswegs eine Riesin. Sie hatte die stattliche Figur des Vaters geerbt, der Kopf mit dem kastanienbraunen Haar saß schmal und edel auf dem kräftig modellierten Hals. Die Abneigung der flinken kleinen Frau gegen eine gewisse – freilich täuschende – Ruhe der starkgliedrigen, vollen und großen Figur nährte sich wohl unbewußt aus größerer Tiefe. Sehr bald tadelte sie die ‚Einbildung‘, die ‚Arroganz‘, die ‚Affektation‘ der Tochter. „Weil ich sie für mein teures Geld was lernen lassen hab, kommt sie daher und glaubt weiß Gott was sie ist.“ Das war wie eine tiefwurzelnde wuchernde Giftpflanze in ihr. „Von der Wirtschaft versteht sie nichts, wird nie was verstehen, aber Geld ausgeben, noble Passionen, Bücher kaufen, das versteht sie.“ Die Schwester und Gesellschafterin, ein unseliges, hageres, schiefes kleines Geschöpf in einem flitterbenähten Mantillchen, nickte unermüdlich dazu und sog den Speichel aus ihren Mundwinkeln ein. Ohne Auftrag übernahm sie es, die Nichte zu überwachen. Cecile sollte nicht lesen. „Geh lieber in die Küche und schau dich um. Dienstboten wirst du dir einmal nicht leisten können.“ Auch Briefe schreiben sollte sie nicht. Freundschaft war ‚Exaltiertheit‘ und ‚jüdische Affektation‘. Schließlich fiel alles Geistige unter die Rubrik ‚jüdische Affektation‘. Aber auch als Cecile ein Bad verlangte, hieß es: „Wozu brauchst du ein Bad? Wasch dich sauber. Schau mich an.“ In der Tat war die Hofrätin imstande, ein Huhn auszunehmen und dabei auszusehen, als hantiere sie mit einer Puderquaste. „Bei uns gibts kein Badezimmer. Die Pichlers haben keins, die Baronin Hochbruck hat keins. Baden tun nur die Juden.“

Cecile verfiel nach kurzer Zeit in apathische Erschlaffung. Sie war tagelang sich selbst überlassen, während man in Dresden von ihr behauptet hatte, daß sie nie allein sei. Man erblickte sie dort nie ohne eine, meist aber in Gesellschaft vieler Freundinnen. Sie hatte Umgang in den besten Familien der Stadt gehabt, auf Bällen war sie stets umringt. Wie von der Mutter jene scharfe Kühle, ging von der Tochter Wärme aus, leidenschaftliche blinde Wärme, die um so mehr entzücken mußte, als niemand je ihren außerordentlichen Verstand in Zweifel zog. Cecile war verwöhnt, vor allem durch Mädchenliebe verwöhnt, der Kontrast war so heftig, daß er zunächst einen Erstarrungsprozeß hervorrief. Ihre Umgangsformen wurden steif genug, daß sämtliche Bekannte ihrer Mutter sie für ‚hochnasig‘ oder für ‚blöd‘ erklärten. Die Hofrätin überschüttete sie mit Vorwürfen. Cecile, die im Pensionat die zarte Empfindlichkeit einer lebhaften Einbildungskraft und echten Stolzes bewiesen hatte, blieb stumpf und kalt wie eine Holzfigur. „Ein Bild ohne Gnad“, sagte die Hofrätin verächtlich, „aber leider kein schönes.“

Eines Tages erschien Erwein, der ziemlich lange Zeit verreist gewesen war, und bat um eine Tasse Tee. Er sah Cecile und verfiel in jenen früher erwähnten, mildbekümmerten Ton, der in der Tat seinem Mitleid mit Ceciles Situation entsprach. In einem Anfall von nervöser Laune – Erwein vernachlässigte sie um diese Zeit schon so systematisch, daß von einem wirklichen Verhältnis nicht mehr die Rede sein konnte – befahl die Hofrätin ihrer Tochter, Erwein zu duzen, wie ein Kind einen älteren Verwandten duzt, ein lächerliches Ansinnen, denn Erwein war höchstens um zwölf Jahre älter als Cecile. Sicherlich erfolgte der Befehl, um Cecile zu demütigen. Erwein half mit einem leichten Scherz, die Hofrätin wandte sich zufällig ab, Cecile reichte Erwein die Teetasse, dabei bemerkte er ihre Hände und daß sie zitterten. Um eine Spur interessierter – sie war in keiner Weise sein Genre – wollte er ihre Augen sehen und erblickte zwei breite schwarze Wimpernbogen, unter denen winzige Tränenperlen hervordrangen. Ernstlich, sie dauerte ihn. Er stellte sich ein bißchen zur Verfügung. Das entsprach der Zusage, die er der Hofrätin gegeben hatte, sie faßte es als ihr geleisteten Dienst auf und gewährte Freiheit. Im Weggehen stand er einen Augenblick allein vor Cecile. Plötzlich sagte er: „Jetzt tuts mir leid, daß ich den Herrn Papa nicht gekannt hab.“ Er küßte ihr die Hand und fügte hinzu: „Aber man kennt ja immer die falschen Leute!“ Cecile antwortete, das heißt, eine Cecile, die es seit Wochen nicht gegeben hatte, antwortete: „Vielleicht treffen wir miteinander die richtigen.“

Sie sagte es lächelnd, ganz leicht, mit einer Spur von Ironie sogar. Aber gerade das Schwebende, Spöttische des kleinen Wortes nahm Erwein in der Erinnerung mit. Er sagte zu mehreren Damen: „Ich hab da ein nettes Mädl kennengelernt“, und bat sie, Cecile zu chaperonieren. Cecile bekam Einladungen, sie gefiel. Sofort bildete sich wieder ein Rahmen von entzückten jungen Mädchen um sie. Zwei oder drei ihrer Pensionsfreundinnen kamen zufällig auf Verwandtenbesuch nach Wien und brachten die Mode mit, für Cecile zu schwärmen. Die jungen Dinger schrieben einander erbitterte Briefchen um Ceciles willen, als wäre sie ein vielgesuchter Kavalier. Allmählich wurden die unterschiedlichen Brüder neugierig samt ihren Freunden und männlichen Verwandten. So geriet Cecile in einen Herzpunkt von Beziehungen, in einen Kreis voll Vettern- und Cousinenwesen, in den einzudringen ihrer Mutter nur am äußersten Rande geglückt war. Bald hier bald da begegnete ihr Erwein Raidt; er grüßte sie von ferne mit den Augen, redete auch ein paar Worte mit ihr, hielt sich aber nie lange auf, unsäglich beschäftigt, wie er immer war. Seine Zeit gehörte nicht ihm; sie gehörte seinen Geliebten und seinen Freunden, deren Intrigen, Passionen und Vergnügungen; ein Dossier seiner diplomatischen Missionen zwischen Familien der ‚Gesellschaft‘, seiner Ehestiftungen, seiner Vermittlungen zwischen großen Herren und Journalisten, zwischen Journalisten und schönen Balletteusen, zwischen Schauspielern und Theaterdirektoren, zwischen Sammlern, die Doubletten auszutauschen wünschten, hätte schon damals einen erstaunlichen Umfang aufgewiesen. Häufig verschwand er, tauchte wieder auf. Einmal begegnete ihm Cecile im oberen Belvederegarten, sie gefiel ihm, er gab ihr Ratschläge. Sie schaute ihn erschrocken an, dann verzog sich ihr üppiger kleiner Mund zu einem ganz kleinen Lächeln. Sie war von ebenso hohem Wuchs wie er, er blickte gerade auf ihre kleinen schimmernden Zähne und lächelte gleichfalls. Plötzlich fragte er: „Kokettierst du viel?“ und duzte sie trotz der Aufforderung der Hofrätin zum erstenmal. Sie antwortete nicht und schaute über Wien hinaus, als suche sie die Antwort auf dem Kahlenberg. Und so, mit abgewendeten Augen, sagte sie: „Wie sonderbar Sie leben, Herr von Raidt!“

Er war dergleichen nicht gewöhnt, es war ihm auch, wenn schon nur halb, zuwider. Im Tonfall eines populären Komikers erwiderte er: „Ja, die hohen Ideale sind gestorben und verdorben.“ Dann summte er: „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.“ Im Sprechton weiter: „Wollen wir Samstag miteinander zur Premiere ins Theater an der Wien gehen? Die Frau von Lania wird neben uns sitzen.“ Dies erwähnte er wegen der Anstandsregeln. Cecile sagte zu. Die Vereinbarung mit dem Wagen wurde abgemacht, Erwein wollte Cecile im Foyer des Theaters treffen.

Er war stolz auf ihren Succès. „Ah, reizende Person, nicht wahr?“ pflegte er zu sagen, wenn man sie lobte. „Eine trouvaille, finden Sie nicht? Und soviel Verstand!“ Aber als der junge Logothetti sich heftig in Cecile verliebte, beschied er ihn zu sich.

Er hatte den Tee im sogenannten Uhrenzimmer servieren lassen, empfing dort den aufgeregten jungen Baron und schickte Merlitschek, seinen Diener, mit vielem Winken, Hochziehen der Augenbrauen und Heben des Kinns hinaus. Dem jungen Menschen wurde derart die Wichtigkeit der Unterredung klar. Nach langen Umschweifen brachte Raidt die Rede endlich auf Cecile. Er lobte sie, pries ihre Vorzüge, geriet in Feuer. Der Verliebte strahlte dumm. Raidt ging im Zimmer auf und ab, die Hände in den Hosentaschen. „Ein charmantes Geschöpf“, sagte er mit einem Kopfschütteln des Staunens über Gottes Geberlaune. Plötzlich blieb er stehen, schaute dem Entzückten steif ins Gesicht und raunte mit erschrocken aufgerissenen Augen: „Aber mein guter Luigi, um Gottes willen: hands off! – dieses außerordentliche Mädchen hat,“ – Kummer war über seine Miene gebreitet – „diese Vereinigung von Geist, Herz, Gemüt und Charakter hat keinen Kreuzer Geld!“