Javier Marías
Mein Herz so weiß
Roman
Fischer e-books
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller ›Mein Herz so weiß‹ gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: plainpicture / Millenium
Die Originalausgabe erschien 1992 unter dem Titel
›Corazón tan blanco‹ bei Editorial Anagrama, Barcelona
© 1992 Javier Marías
›Mein Herz so weiß‹ erschien erstmalig auf Deutsch 1996 bei Klett-Cotta, Stuttgart.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401995-6
Für Julia Altares
Julia Altares zum Trotz
und für Lola Manera in Havanna
in memoriam
»My hands are of your colour; but I shame
To wear a heart so white.«
Shakespeare
oder:
»Meine Hände
Sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme
Mich, dass mein Herz so weiß ist.«
Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, dass eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Esszimmer befand, ihr Herz suchte. Als der Knall ertönte, etwa fünf Minuten, nachdem das Mädchen den Tisch verlassen hatte, stand der Vater nicht sofort auf, sondern verharrte ein paar Sekunden lang wie gelähmt mit vollem Mund und wagte nicht zu kauen noch zu schlucken und noch weniger, den Bissen auf den Teller zurückzuspucken; und als er sich endlich erhob und zum Badezimmer lief, sahen jene, die ihm folgten, wie er, als er den blutüberströmten Körper seiner Tochter entdeckte und die Hände an den Kopf hob, den Bissen Fleisch im Mund hin und her bewegte, ohne zu wissen, was er mit ihm anfangen sollte. Er hielt die Serviette in der Hand und ließ sie erst los, als er nach einer Weile den auf das Bidet geworfenen Büstenhalter bemerkte, und dann bedeckte er ihn mit dem Tuch, das er zur Hand hatte oder in der Hand hatte und das die Spuren seiner Lippen trug, als sei ihm der Anblick des intimen Kleidungsstückes peinlicher als der Anblick des halbnackten, am Boden liegenden Körpers, der mit dem Kleidungsstück bis vor ganz kurzer Zeit in Berührung gewesen war: der am Tisch sitzende Körper oder der sich auf dem Flur entfernende Körper oder auch der stehende Körper. Zuvor hatte der Vater mit einer automatischen Handbewegung den Wasserhahn des Waschbeckens zugedreht, den Kaltwasserhahn, aus dem das Wasser unter großem Druck herausschoss. Die Tochter hatte geweint, während sie sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und ihr Herz suchte, denn sie lag mit Tränen in den Augen auf dem kalten Boden des riesigen Badezimmers, die man während des Mittagessens nicht an ihr gesehen hatte und die auch nicht nach dem Augenblick in ihre Augen getreten sein konnten, da sie leblos zu Boden gefallen war. Entgegen ihrer Gewohnheit und der allgemeinen Gewohnheit hatte sie nicht den Riegel vorgelegt, was den Vater auf den Gedanken brachte (aber nur kurz und ohne es wirklich zu denken, während er schluckte), dass seine Tochter vielleicht, während sie weinte, erwartet oder gewünscht hatte, jemand möge die Tür öffnen und sie hindern, das zu tun, was sie getan hatte, nicht mit Gewalt, sondern durch seine bloße Anwesenheit, durch die Betrachtung ihrer Nacktheit zu Lebzeiten oder mit einer Hand auf der Schulter. Aber niemand (außer ihr jetzt und weil sie kein Mädchen mehr war) ging während des Mittagessens ins Badezimmer. Die Brust, die der Schuss nicht getroffen hatte, war deutlich sichtbar, mütterlich und weiß und noch fest, und auf sie richteten sich instinktiv die ersten Blicke, mehr als alles andere, um sich nicht auf die andere richten zu müssen, die nicht mehr existierte oder nur aus Blut bestand. Seit vielen Jahren hatte der Vater diese Brust nicht gesehen, er hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie sich verändert hatte oder mütterlich zu werden begann, und deshalb fühlte er nicht nur Entsetzen, sondern auch Verwirrung. Das andere Mädchen, die Schwester, die im Gegensatz zu ihm die Veränderung der Brust in der Zeit des Heranwachsens und vielleicht später gesehen hatte, war die Erste, die sie berührte, denn sie begann, ihr mit einem Handtuch (ihrem eigenen blassblauen Handtuch, nach dem sie immer als Erstes zu greifen pflegte) die Tränen im Gesicht abzutrocknen, die mit Schweiß und Wasser vermischt waren, denn bevor man den Hahn zugedreht hatte, war der Wasserstrahl vom Becken abgeprallt, und Tropfen waren auf die Wangen, die weiße Brust und den zerknitterten Rock ihrer am Boden liegenden Schwester gespritzt. Sie wollte auch hastig das Blut abwischen, so als könnte sie dadurch geheilt werden, aber das Handtuch sog sich sogleich voll und war nicht mehr verwendbar für seinen Zweck, es verfärbte sich auch. Statt es sich vollsaugen zu lassen und den Brustkorb mit ihm zu bedecken, nahm sie es sofort weg, als sie sah, wie rot es war (es war ihr eigenes Handtuch) und hängte es über den Rand der Badewanne, von dem es auf den Boden tropfte. Sie sprach, aber sie vermochte nur den Namen ihrer Schwester zu sagen und ihn zu wiederholen. Einer der Gäste konnte nicht umhin, sich aus der Entfernung im Spiegel anzusehen und eine Sekunde lang sein Haar glattzustreichen, lange genug, um zu bemerken, dass Blut und Wasser (aber nicht der Schweiß) die Oberfläche bespritzt hatten und damit jedes Spiegelbild, auch das seine, während er sich anschaute. Er stand auf der Türschwelle, nicht drinnen, ebenso wie die beiden anderen Gäste, so als seien sie trotz der in diesem Augenblick vergessenen Anstandsregeln der Ansicht, dass nur die Familienangehörigen das Recht hatten, sie zu überschreiten. Die drei reckten die Köpfe, den Oberkörper vorgeneigt wie Erwachsene, die Kindern zuhören, ohne einen Schritt nach vorne zu tun, aus Ekel oder aus Respekt, vielleicht aus Ekel, obwohl einer von ihnen Arzt war (der, der sich im Spiegel angeschaut hatte) und es normal gewesen wäre, wenn er sich mit Bestimmtheit seinen Weg gebahnt und den Körper der Tochter untersucht oder zumindest, ein Knie auf dem Boden, zwei Finger an ihren Hals gelegt hätte. Er tat es nicht, nicht einmal dann, als der Vater, immer blasser und schwankender, sich zu ihm umwandte und, auf den Körper seiner Tochter weisend, »Doktor« zu ihm sagte, in flehendem Ton, aber ohne jeden Nachdruck, und sich dann sogleich wieder umdrehte, ohne abzuwarten, ob der Arzt auf seinen Ruf reagierte. Nicht nur ihm und den beiden anderen wandte er den Rücken zu, sondern auch seinen Töchtern, der lebendigen und der, die für tot zu halten er noch nicht wagte; dann, die Ellbogen auf das Waschbecken gestützt und mit den Händen die Stirn haltend, begann er alles zu erbrechen, was er gegessen hatte, einschließlich des Fleischstücks, das er gerade ungekaut hinuntergeschluckt hatte. Sein Sohn, der Bruder, der um einiges jünger war als die beiden Mädchen, näherte sich ihm, aber als einzige Hilfe vermochte er nur die Schöße seines Jacketts zu fassen, so als wollte er ihn halten, damit er durch das Würgen nicht ins Wanken geriete, aber in den Augen derer, die es sahen, war es eher eine Bewegung, die Schutz suchte in einem Augenblick, in dem der Vater ihm keinen geben konnte. Man hörte ein kurzes Pfeifen. Der Ladenjunge, der sich manchmal bis zur Mittagessenszeit mit der Bestellung verspätete und gerade seine Kisten ablud, als der Schuss ertönte, reckte ebenfalls den Kopf, noch immer pfeifend, so wie Jungen es beim Gehen oft tun, aber er verstummte sofort (er war im gleichen Alter wie der jüngere Sohn), als er ein Paar Schuhe mit halbhohem Absatz sah, die sich jemand ausgezogen hatte oder die sich nur von den Fersen gelöst hatten, und einen leicht hochgerutschten und befleckten Rock – befleckte Oberschenkel –, denn das war es, was er aus seiner Position von der gefallenen Tochter sehen konnte. Da er weder fragen noch hineingehen konnte und niemand ihm Beachtung schenkte und er nicht wusste, ob er leere Flaschen mitnehmen sollte, kehrte er in die Küche zurück, abermals pfeifend (aber dieses Mal, um die Angst zu vertreiben oder den Eindruck zu überspielen), in der Annahme, dass früher oder später das Dienstmädchen dort wieder auftauchen würde, das ihm normalerweise die Anweisungen gab und das sich jetzt weder in seinem Bereich noch bei den anderen im Flur befand, im Unterschied zur Köchin, die als zusätzliches Familienmitglied mit einem Fuß im Badezimmer und einem draußen stand und sich die Hände an der Schürze abwischte oder sich vielleicht mit ihr bekreuzigte. Das Dienstmädchen, das im Augenblick des Schusses die eben abgeräumten leeren Schüsseln auf dem Marmortisch des Küchenvorraums abgesetzt hatte, weshalb sie den Knall mit dem eigenen, gleichzeitig veranstalteten Getöse verwechselte, war danach damit beschäftigt gewesen – während der Junge ebenfalls lärmend seine Kisten leerte –, mit großer Vorsicht und wenig Geschick die Eistorte, die zu kaufen man ihr heute Vormittag aufgetragen hatte, weil es Gäste gab, auf eine Servierplatte zu platzieren; und als die Torte bereit und auf ihrem Platz war und sie kalkuliert hatte, dass man im Esszimmer mit dem zweiten Gang fertig sein dürfte, hatte sie sie dorthin getragen und auf dem Tisch abgestellt, wo sie zu ihrer Verwirrung noch Fleischreste und achtlos auf das Tischtuch geworfenes Besteck und Servietten vorfand, aber keinen Tischgast (nur ein Teller war vollkommen sauber, so als hätte einer von ihnen, die ältere Tochter, rascher gegessen und ihn überdies mit Brot abgewischt oder aber überhaupt kein Fleisch genommen). In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie, wie so oft, den Fehler begangen hatte, den Nachtisch zu servieren, ohne die Teller abzuräumen und neue zu bringen, aber sie wagte nicht, jene Teller einzusammeln und übereinanderzustapeln, für den Fall, dass die abwesenden Tischgäste noch nicht fertig waren und weiteressen wollten (vielleicht hätte sie auch Obst bringen sollen). Da sie angewiesen war, während der Mahlzeit nicht in der Wohnung herumzugehen und sich auf ihre Gänge zwischen Küche und Esszimmer zu beschränken, um nicht zu stören oder die Aufmerksamkeit abzulenken, wagte sie auch nicht, sich dem Gemurmel der aus irgendeinem ihr noch unbekannten Grund an der Badezimmertür gruppierten Gruppe anzuschließen, sondern verharrte abwartend, die Hände auf dem Rücken und mit dem Rücken zur Anrichte, während sie ängstlich auf die Torte schaute, die sie soeben in die Mitte des verlassenen Tisches gestellt hatte, und sich fragte, ob sie nicht besser daran täte, sie angesichts der Hitze sofort wieder in den Kühlschrank zu befördern. Sie trällerte ein wenig vor sich hin, stellte ein umgefallenes Salzgefäß auf, füllte Wein in ein leeres Glas, das der Frau des Arztes, die schnell trank. Nachdem sie einige Minuten lang zugesehen hatte, wie die Torte an Konsistenz zu verlieren begann, unfähig, eine Entscheidung zu treffen, hörte sie die Klingel der Wohnungstür, und da es zu ihren Aufgaben gehörte, die Tür zu öffnen, richtete sie sich die Haube, zog die Schürze gerade, stellte fest, dass ihre Strümpfe nicht schief saßen, und trat in den Flur hinaus. Sie warf einen flüchtigen Blick nach links, dorthin, wo die Gruppe stand, deren Gemurmel und Ausrufe sie voll Neugierde vernommen hatte, aber sie hielt nicht inne und trat nicht näher, sondern wandte sich nach rechts, wie es ihrer Pflicht entsprach. Beim Öffnen wehte ihr Lachen entgegen, das verstummte, und ein starker Geruch nach Kölnisch Wasser (der Treppenabsatz im Dunkeln), der vom ältesten Sohn der Familie ausging oder von seinem frischgebackenen Schwager, der vor kurzem von seiner Hochzeitsreise zurückgekehrt war, denn beide kamen gleichzeitig an, vielleicht weil sie auf der Straße oder am Portal zusammengetroffen waren (bestimmt kamen sie, um Kaffee zu trinken, aber noch hatte niemand Kaffee gemacht). Das Dienstmädchen stimmte fast in ihr Lachen ein, wich zur Seite und ließ sie eintreten und konnte gerade noch sehen, wie sich sofort der Ausdruck ihrer Gesichter veränderte und sie den Flur entlang zu dem umlagerten Badezimmer hasteten. Der Ehemann, der Schwager lief sehr blass hinterher, eine Hand auf die Schulter des Bruders gelegt, als wollte er ihn zurückhalten, damit er nicht zu sehen bekäme, was er sehen konnte, oder als wollte er sich an ihm festhalten. Das Dienstmädchen ging nicht mehr ins Esszimmer zurück, sondern folgte ihnen, wobei sie aus Gründen der Angleichung ebenfalls ihre Schritte beschleunigte, und als sie an die Tür des Badezimmers gelangte, bemerkte sie abermals, stärker noch, den Geruch nach gutem Kölnisch Wasser, der einem der Herren oder allen beiden entströmte, als wäre eine ganze Flasche ausgelaufen oder als hätte sich der Geruch durch einen plötzlichen Schweißausbruch intensiviert. Sie blieb dort stehen, neben der Köchin und den Gästen, und sah aus dem Augenwinkel, dass der Ladenjunge jetzt pfeifend aus der Küche ins Esszimmer ging, sicher auf der Suche nach ihr; aber sie war zu verängstigt, um ihn zu rufen oder ihn auszuzanken oder auf ihn zu achten. Der Junge, der zuvor genug gesehen hatte, blieb wahrscheinlich eine gute Weile im Esszimmer und ging dann, ohne sich zu verabschieden und ohne die leeren Flaschen mitzunehmen, denn als Stunden später die zerflossene Torte endlich abgeräumt und in Papier gewickelt in den Abfall geworfen wurde, fehlte ihr ein beträchtliches Stück, das keiner der Tischgäste verzehrt hatte, und das Glas der Frau des Arztes war abermals ohne Wein. Alle sagten, Ranz, der Schwager, der Ehemann, mein Vater, habe großes Pech gehabt, da er zum zweiten Male Witwer geworden sei.
Das geschah vor langer Zeit, als ich noch nicht geboren war und auch gar keine Möglichkeit für mich bestand, geboren zu werden, mehr noch, erst von jenem Augenblick an gab es für mich die Möglichkeit, geboren zu werden. Jetzt bin ich selbst verheiratet, und es ist noch kein Jahr her, dass ich von meiner Hochzeitsreise mit Luisa, meiner Frau, zurückgekehrt bin, die ich erst seit zweiundzwanzig Monaten kenne, eine rasche Heirat, ziemlich rasch, wenn man bedenkt, wie lange man sich das angeblich überlegen soll, selbst in diesen schnelllebigen Zeiten, die nichts zu tun haben mit jenen anderen, obwohl sie ihnen nicht so fern sind (es trennt sie zum Beispiel ein einziges unvollständiges oder vielleicht bereits zur Hälfte abgelaufenes Leben, mein eigenes Leben oder das Luisas), in denen alles bedächtig und langsam war und alles Gewicht besaß, sogar die Dummheiten, ganz zu schweigen vom Tod, dem Tod von eigener Hand, wie der Tod jener Person, die meine Tante Teresa gewesen sein muss und es doch niemals gewesen sein konnte und nur Teresa Aguilera war, von der ich nach und nach erfahren habe, niemals durch ihre jüngere Schwester, meine Mutter, die fast immer schwieg während meiner Kindheit und Jugend und dann ebenfalls starb und für immer verstummte, sondern durch entfernte oder zufällige Personen und schließlich durch Ranz, den Ehemann der beiden und auch einer anderen ausländischen Frau, mit der ich nicht verwandt bin.
Wenn ich seit kurzem habe wissen wollen, was vor langer Zeit geschah, dann war der eigentliche Grund dafür meine Heirat (aber ich habe eher nicht wissen wollen und es doch erfahren). Seit ich den Bund fürs Leben geschlossen habe (ein veralteter, aber sehr anschaulicher und nützlicher Ausdruck), habe ich begonnen, im Vorgefühl aller möglichen Katastrophen zu leben, ähnlich wie jemand, der sich eine jener Krankheiten zuzieht, von denen man nicht mit Sicherheit weiß, wann man von ihnen geheilt werden kann. Der Ausdruck den Personenstand ändern, den man normalerweise leichthin verwendet und der deshalb sehr wenig bedeutet, scheint mir in meinem Fall angemessener und genauer zu sein, und ich verleihe ihm, anders als üblich, einen ernsten Gehalt. Genau wie eine Krankheit unseren Zustand so sehr verändert, dass sie uns bisweilen zwingt, alles zu unterbrechen und für unabsehbare Zeit das Bett zu hüten und die Welt nur noch von unserem Kopfkissen aus zu betrachten, setzte meine Heirat meine Gewohnheiten und sogar meine Überzeugungen außer Kraft, und, was noch entscheidender ist, meine Weltsicht. Vielleicht weil es eine eher späte Ehe war, ich war vierunddreißig Jahre alt, als ich sie schloss.
Das größte und häufigste Problem zu Beginn einer annehmbar konventionellen Ehe besteht darin, dass trotz ihrer Anfälligkeit in den heutigen Zeiten und trotz der Möglichkeiten, welche den Eheschließenden gegeben sind, ihre Bindung zu lösen, es traditionsgemäß unvermeidlich ist, das unangenehme Gefühl zu empfinden, an ein Ziel und damit an einen Endpunkt gelangt zu sein, oder, besser gesagt (da die Tage gleichmütig aufeinanderfolgen und es kein Ende gibt), dass der Augenblick gekommen ist, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich weiß wohl, dass dieses Gefühl schädlich und falsch ist und dass zahlreiche vielversprechende Ehen, kaum dass sie als solche zu existieren beginnen, scheitern, weil man ihm nachgibt oder es für wahr hält. Ich weiß wohl, dass man dieses unmittelbare Gefühl vermeiden und sich eben nicht etwas anderem, sondern genau ihr, der Ehe, widmen muss, als wäre sie das wichtigste Gebäude und die wichtigste Aufgabe, die man vor sich hat, selbst wenn man glaubt, die Aufgabe sei bereits bewältigt und das Gebäude errichtet. Ich weiß das alles sehr wohl, und doch, als ich heiratete, wurde ich noch während der Hochzeitsreise (wir fuhren nach Miami, New Orleans und Mexiko, danach nach Havanna) von zwei unangenehmen Empfindungen heimgesucht, und ich frage mich immer noch, ob die zweite ein bloßes Hirngespinst war und ist, erfunden oder gefunden, um die erste abzumildern oder sie zu bekämpfen. Das erste Unbehagen ist das bereits erwähnte, ein Unbehagen, das nach dem, was man hört, nach der Art von Witzen, die auf Kosten der Heiratswilligen gemacht werden, und nach den vielen destruktiven Sprichwörtern, die es dazu in meiner Sprache gibt, offenbar sämtliche Neuvermählten (vor allem die Männer) an diesem Beginn von etwas empfinden, das man unbegreiflicherweise als das Ende davon sieht und erlebt. Dieses Unbehagen lässt sich in einem erschreckenden Satz zusammenfassen, und ich weiß nicht, was die anderen tun, um sich über ihn hinwegzusetzen: »Und was jetzt?«
Diese Personenstandsänderung ist ebenso unberechenbar wie eine mögliche Krankheit und unterbricht alles oder erlaubt zumindest nicht, dass alles wie bisher weitergeht: sie erlaubt zum Beispiel nicht, dass nach dem Abendessen im Restaurant oder nach dem Kino jeder zu sich nach Hause geht und wir uns trennen und ich Luisa mit dem Wagen oder mit einem Taxi vor ihre Haustür bringe und dann allein durch die halbleeren und stets gesprengten Straßen fahre, allein zu mir nach Hause, während ich sicher an sie denke und an die Zukunft. Ist man verheiratet, dann wenden sich die Schritte nach dem Kino gemeinsam demselben Ort zu (und erklingen zur Unzeit, denn es sind jetzt vier Füße, die gehen), aber nicht, weil ich beschlossen hätte, sie zu begleiten, nicht einmal, weil es meiner Gewohnheit entspräche, es zu tun und ich es für richtig und höflich hielte, sondern weil jetzt die Füße nicht zögern auf dem nassen Pflaster, noch überlegen, noch ihre Meinung ändern, noch Reue empfinden oder überhaupt eine Wahl treffen können: jetzt besteht kein Zweifel daran, dass wir uns an denselben Ort begeben, ob wir es heute Abend wollen oder nicht, oder vielleicht war es gestern Nacht, als ich es nicht wollte.
Schon auf der Hochzeitsreise, als diese Personenstandsänderung wirksam zu werden begann (und es trifft es nicht ganz, zu sagen, dass sie begann, es ist eine heftige Änderung, die nicht zur Ruhe kommen lässt), wurde mir klar, dass es mir sehr schwer fiel, an Luisa zu denken, und völlig unmöglich war, an die Zukunft zu denken, was eines der größten vorstellbaren Vergnügen für jeden, wenn nicht die tägliche Rettung für alle ist: vage zu denken, die Gedanken zu dem schweifen zu lassen, was kommen wird oder kommen kann, sich ohne allzu viel Bestimmtheit noch Interesse Fragen über das zu stellen, was morgen oder in fünf Jahren aus uns werden mag, über das, was wir nicht voraussehen können. Schon auf der Hochzeitsreise war es, als wäre sie verlorengegangen und als gäbe es keine abstrakte Zukunft, die als einzige zählt, weil die Gegenwart sie nicht zu färben oder sich anzugleichen vermag. Diese Änderung führt also zwingend dazu, dass nichts weitergeht wie bisher, umso mehr, wenn die Änderung, wie allgemein üblich, durch eine gemeinsame Anstrengung eingeleitet und angekündigt wurde, deren hauptsächliche sichtbare Äußerung die künstliche Vorbereitung einer gemeinsamen Wohnung ist, einer Wohnung, die weder für den einen noch für den anderen existierte, sondern von beiden in künstlicher Weise eingeweiht werden muss. Eben diese meines Wissens sehr verbreitete Gewohnheit oder Praxis liefert den Beweis, dass die beiden Eheschließenden bei ihrem Zusammenschluss in Wirklichkeit eine gegenseitige Aufhebung oder Vernichtung voneinander fordern, nämlich die Aufhebung der Person, die jeder war und in die jeder sich verliebt oder deren Vorteile er gesehen hatte, denn nicht immer existiert ein vorheriges Verliebtsein, manchmal existiert es erst im Nachhinein, und manchmal findet es weder vorher noch nachher statt. Kann es nicht stattfinden. Die Vernichtung des anderen, die Vernichtung dessen, den man kennengelernt und mit dem man sich getroffen und den man geliebt hat, geht mit dem Verschwinden der jeweiligen Wohnungen einher oder wird dadurch symbolisiert. So dass also zwei Personen, die gewohnt waren, jeweils für sich zu sein und sich jeweils an einem Ort zu befinden und allein aufzuwachen und oft auch allein ins Bett zu gehen, sich plötzlich künstlich vereint finden in ihrem Schlaf und ihrem Erwachen und ihren Schritten durch die halbleeren Straßen in ein und dieselbe Richtung oder beim gemeinsamen Betreten des Fahrstuhls, wobei der eine nicht mehr Besuch und der andere Gastgeber ist, der eine nicht mehr den anderen abholt oder dieser zu jenem herunterkommt, der im Wagen oder in einem Taxi auf ihn wartet, sondern beide keine Wahl haben, mit Zimmern und einem Fahrstuhl und einer Haustür, die keinem gehörten und nun beiden gehören, mit einem gemeinsamen Kopfkissen, um das sie im Schlaf werden kämpfen müssen und von dem aus sie, genau wie der Kranke, am Ende die Welt sehen werden.
Wie gesagt, dieses erste Unbehagen erfasste mich bereits auf der ersten Etappe unserer Hochzeitsreise, in Miami, einer widerlichen Stadt, die jedoch sehr schöne Strände für Frischverheiratete besitzt, und verstärkte sich in New Orleans und in Mexiko und noch mehr in Havanna, und seit bald einem Jahr, seitdem wir von dieser Reise zurückgekehrt sind und in so künstlicher Weise unsere Wohnung eingeweiht haben, ist es weiter gewachsen oder hat sich in mir, vielleicht in uns, festgesetzt. Das zweite Unbehagen erschien hingegen mit Macht gegen Ende der Reise, das heißt, nur in Havanna, eine Stadt, aus der ich in gewissem Sinne stamme, genauer gesagt, zu einem Viertel, denn meine Großmutter, die Mutter von Teresa und Juana Aguilera, wurde dort geboren und kam von dorther als kleines Mädchen nach Madrid. Es geschah in dem Hotel, in dem wir drei Nächte verbrachten (wir hatten nicht so viel Geld, die Aufenthalte in jeder Stadt waren kurz), an einem Nachmittag, an dem Luisa sich schlecht gefühlt hatte, während wir spazieren gingen, so schlecht plötzlich, dass wir unseren Spaziergang abbrachen und sogleich ins Hotel zurückkehrten, damit sie sich hinlegen konnte. Sie hatte Schüttelfrost, und ihr war ein wenig übel. Sie konnte sich buchstäblich nicht auf den Beinen halten. Bestimmt war ihr irgendetwas, das sie gegessen hatte, schlecht bekommen, aber in jenem Augenblick wussten wir das nicht mit ausreichender Gewissheit, und ich fragte mich, ob sie sich nicht in Mexiko eine dieser Krankheiten zugezogen hatte, welche die Europäer dort so leicht anfallen, etwas so Schlimmes wie die Amöbenkrankheit. Das Vorgefühl der Katastrophe, das mich seit der Hochzeitszeremonie stillschweigend begleitet hatte, nahm im Lauf der Zeit verschiedene Formen an, und eine davon war diese (die am wenigsten stumme, oder sie war nicht stillschweigend), die Gefahr der Krankheit oder des plötzlichen Todes der Person, die mit mir das Leben und die konkrete Zukunft und die abstrakte Zukunft teilen sollte, obwohl ich den Eindruck hatte, dass Letztere beendet und mein Leben bereits zur Hälfte abgelaufen war; vielleicht unser beider Leben, die wir vereint waren. Wir wollten nicht gleich einen Arzt rufen, vielleicht ginge es ja vorüber, und ich brachte sie ins Bett (unser Hotelbett und unser Ehebett) und ließ sie schlafen, als könnte sie dadurch geheilt werden. Sie schien einzuschlafen, und ich verharrte still, damit sie sich ausruhen konnte, und die beste Art, still zu sein, ohne mich zu langweilen oder versucht zu fühlen, Lärm zu machen oder mit ihr zu sprechen, war, auf den Balkon hinauszutreten und nach draußen zu sehen, die Leute aus Havanna vorbeigehen zu sehen, zu beobachten, wie sie sich bewegten und wie sie gekleidet waren, und ihre Stimmen, ein Gemurmel, aus der Ferne zu hören. Ich schaute hinaus, aber ich war mit den Gedanken drinnen, bei dem Bett in meinem Rücken, in dem Luisa diagonal, quer lag, weshalb nichts Äußeres wirklich meine Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte. Ich schaute nach draußen wie jemand, der zu einem Fest kommt und weiß, dass die einzige Person, die ihn interessiert, nicht dort sein wird, dass sie zu Hause bei ihrem Mann geblieben ist. Diese einzige Person lag auf dem Bett, krank, bewacht von ihrem Ehemann und in meinem Rücken.
Nach einigen Minuten, in denen ich schaute, ohne zu sehen, machte ich jedoch eine einzelne Person aus. Ich machte sie aus, weil sie sich im Unterschied zu den anderen während dieser ganzen Minuten nicht bewegt hatte, weil sie nicht aus meinem Gesichtsfeld geraten oder verschwunden, sondern die ganze Zeit ruhig am selben Ort geblieben war, eine Frau von etwa dreißig Jahren, aus der Ferne gesehen, mit einer gelben, rund ausgeschnittenen Bluse und einem weißen Rock und hohen, ebenfalls weißen Schuhen, über dem Arm eine große schwarze Tasche, wie sie in Madrid die Frauen in meiner Kindheit trugen, große Taschen, die über dem Arm getragen wurden und nicht über der Schulter, wie jetzt. Sie wartete auf jemanden, ihre Haltung drückte eindeutig Warten aus, denn ab und zu tat sie zwei oder drei Schritte in die eine oder andere Richtung und ließ beim letzten Schritt leicht und rasch den Absatz über den Boden schleifen, eine Bewegung verhaltener Ungeduld. Sie hielt sich nicht an der Häusermauer, wie es Wartende gewöhnlich tun, um die nicht Wartenden und Vorbeigehenden nicht zu stören; sie blieb in der Mitte des Bürgersteigs, ohne sich über die drei abgemessenen Schritte hinauszubewegen, die sie immer wieder an dieselbe Stelle zurückbrachten, und deshalb hatte sie Schwierigkeiten, den Passanten auszuweichen, jemand sagte etwas zu ihr, und sie antwortete zornig und drohte mit der auffälligen Tasche. Ab und zu blickte sie hinten an sich herunter, ein Bein angewinkelt, und strich mit der Hand den engen Rock glatt, als fürchtete sie eine Falte, die ihren Hintern entstellen könnte, oder vielleicht zupfte sie durch den Stoff hindurch, der ihn bedeckte, ihren rebellischen Slip zurecht. Sie schaute nicht auf die Uhr, sie trug keine Uhr, vielleicht orientierte sie sich mit raschen Blicken, die ich nicht gewahrte, an der des Hotels, die sich, unsichtbar für mich, über meinem Kopf befinden musste. Möglicherweise bot das Hotel aber der Straße keine Uhr, und sie wusste in keinem Augenblick, wie spät es war. Ich hielt sie für eine Mulattin, aber ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen von der Stelle aus, an der ich mich befand.
Plötzlich brach die Dunkelheit herein, fast ohne sich anzukündigen, wie immer in den Tropen, und obwohl die Zahl der Passanten sich nicht sogleich verringerte, erschien mir ihre Gestalt im schwindenden Licht einsamer, isolierter, noch mehr dazu verurteilt, vergeblich zu warten. Ihre Verabredung würde nicht kommen. Sie hatte die Arme verschränkt und stützte die Ellenbogen in die Hände, als würden die Arme ihr schwerer in jeder Sekunde, die verging, oder vielleicht war es die Tasche, deren Gewicht zunahm. Sie hatte kräftige, zum Warten geeignete Beine, die sich auf ihren dünnen und hohen Absätzen oder Stöckelschuhen in das Pflaster rammten, aber die Beine waren so kraftvoll und auffallend, dass sie sich diese Absätze einverleibten und sich gleichsam selbst fest in den Boden rammten – wie ein Messer in nasses Holz –, wenn sie nach der winzigen Entfernung nach rechts oder links wieder an dem erwählten Punkt stehenblieben. Ihre Fersen ragten über die Schuhe hinaus. Ich vernahm ein leises Murmeln, oder war es ein Klagen, das von dem Bett in meinem Rücken kam, von der kranken Luisa, von meiner frisch angetrauten Frau, die mich so sehr interessierte, sie war meine Aufgabe. Aber ich wandte den Kopf nicht, denn es war ein Klagen, das aus dem Schlaf kam, man lernt sofort, den Schlafton der Person zu erkennen, mit der man das Bett teilt. In diesem Augenblick hob die Frau auf der Straße die Augen zum dritten Stock, wo ich mich befand, und ich glaubte, dass sie zum ersten Mal den Blick auf mich richtete. Sie blickte angestrengt, als wäre sie kurzsichtig oder trüge schmutzige Haftschalen, und schaute verwirrt, sie richtete den Blick auf mich und wandte ihn leicht ab und blinzelte, um besser sehen zu können, und richtete ihn abermals auf mich und wandte ihn ab. Dann hob sie einen Arm, den Arm ohne Tasche, in einer Gebärde, die weder Gruß noch Annäherung war, ich meine Annäherung an einen Fremden, sondern Aneignung und Erkennen, gekrönt von einem raschen Wirbeln der Finger: es war, als wollte sie mich packen mit dieser Armbewegung und dem Geflatter der schnellen Finger, es war mehr ein Packen als ein zu sich Heranziehen. Sie rief etwas, das ich aufgrund der Entfernung nicht verstehen konnte, und ich war sicher, dass sie es mir zurief. Anhand der Bewegung ihrer erahnten Lippen konnte ich nur das erste Wort verstehen, und dieses Wort war »He!«, mit Empörung ausgesprochen, wie der Rest des Satzes, der mich nicht erreichte. Noch während sie sprach, ging sie los, um näher heranzukommen, sie musste die Straße überqueren und über die weite Esplanade gehen, die auf unserer Seite das Hotel von der Straße trennte, so dass es ein wenig vom Verkehr entfernt und geschützt lag. Jetzt, da sie mehr Schritte tat als die wenigen, die sie immer wieder während ihres Wartens getan hatte, sah ich, dass sie mühsam und langsam ging, als wäre sie nicht an die Absätze gewöhnt oder als wären ihre kräftigen Beine nicht dafür gemacht oder als brächte die Tasche sie aus dem Gleichgewicht oder als wäre ihr schwindlig. Sie ging ein wenig so, wie Luisa gegangen war, nachdem ihr schlecht geworden war, als sie ins Zimmer trat, um sich auf das Bett fallen zu lassen, wo ich sie halb entkleidet und dann hineingelegt hatte (ich hatte sie trotz der Hitze zugedeckt). Aber in dieser verdrießlichen Art zu gehen ließ sich auch eine Anmut erahnen, die ihr in diesem Augenblick genommen war: wäre sie barfuß, dann würde diese Mulattin mit Anmut gehen, ihr Rock würde Wellen schlagen und sich rhythmisch an ihren Schenkeln brechen. Mein Zimmer lag im Dunkeln, niemand hatte bei Einbruch der Nacht das Licht angemacht, Luisa schlief unwohl, ich hatte mich nicht von jenem Balkon fortgerührt, schaute auf die Bewohner Havannas und dann auf jene Frau, die weiter mit stolpernden Schritten näher kam und mir weiter etwas zurief, was ich jetzt verstehen konnte:
»He! Du, was machst du denn da?«
Ich erschrak, als ich hörte, was sie sagte, aber nicht so sehr, weil sie es zu mir sagte, sondern wegen der Art, in der sie es tat, vertraulich, wütend, wie jemand, der sich anschickt, eine Rechnung mit der Person zu begleichen, die ihm am nächsten steht oder die er liebt und die ihn ständig ärgert. Es war nicht so, dass sie sich von einem Unbekannten beobachtet gefühlt hätte, der auf dem Balkon eines für Ausländer reservierten Hotels stand, und nun gekommen wäre, um mir meine straflose Betrachtung ihrer Gestalt und ihres linkischen Wartens vorzuwerfen, sondern dass sie plötzlich, als sie den Blick hob, in mir die Person erkannt hatte, auf die sie seit wer weiß wie langer Zeit wartete, bestimmt sehr viel länger als seit dem Augenblick, da ich sie ausgemacht hatte. Sie befand sich noch in einiger Entfernung, sie hatte die Straße überquert, wobei sie keine Ampel gesucht hatte, sondern den wenigen Autos ausgewichen war, sie befand sich am Anfang der Esplanade, wo sie stehengeblieben war, vielleicht, um die Füße und die so außergewöhnlichen Beine auszuruhen oder um sich abermals den Rock glattzustreichen, jetzt mit größerem Eifer, da sie sich endlich dem gegenübersah, der den Fall, den des Rockes, bewerten oder schätzen sollte. Noch immer schaute sie mich an und wandte ein wenig den Blick ab, als machte ihr ein leichtes Schielen zu schaffen, ihr verrutschten einen Moment lang die Augen zu meiner Linken hin. Vielleicht war sie in einiger Entfernung stehengeblieben, um ihren Ärger zu zeigen und dass sie nicht bereit war, ohne weiteres die Verabredung einzuhalten, nachdem sie mich erblickt hatte, so als hätte sie bis vor zwei Minuten nicht gelitten oder keine Beleidigung erfahren. In diesem Augenblick sagte sie weitere Sätze, alle begleitet von der anfänglichen Bewegung des Armes und der gelenkigen Finger, der Gebärde des Packens, als wollte sie damit sagen: »Du, komm her« oder »Du gehörst mir«. Aber mit der Stimme, einer vibrierenden, verstellten und unangenehmen Stimme, wie ein Fernsehansager oder ein Politiker bei einer Rede oder ein Lehrer im Unterricht (aber sie wirkte ungebildet), sagte sie:
»Du, was machst du denn da? Hast denn du nicht gesehen, dass ich seit einer Stunde auf dich warte? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du schon raufgegangen bist?«
Ich glaube, dass sie es so sagte, mit dieser leichten Veränderung in der Reihenfolge der Wörter und der übermäßigen Verwendung der Pronomen verglichen mit dem, was ich oder jeder andere aus meinem Land gesagt hätte, nehme ich an. Obwohl ich noch immer erschrocken war und außerdem zu fürchten begann, das Geschrei dieser Mulattin könnte Luisa in meinem Rücken aufwecken, konnte ich genauer auf das Gesicht achten, das in der Tat das einer sehr hellen Mulattin war, vielleicht war sie zu einem Viertel schwarz, sichtbarer in den dicken Lippen und in der leicht stumpfen Nase als in der Farbe, die nicht sehr verschieden war von der Farbe der im Bett liegenden Luisa, welche sich seit mehreren Tagen an den Stränden für Frischverheiratete bräunte. Die blinzelnden Augen der Frau erschienen mir hell, grau oder grün oder zumindest pflaumenfarben, aber vielleicht, dachte ich, hatte sie sich gefärbte Haftschalen schenken lassen, ihres mangelhaften Sehvermögens wegen. Ihre Nasenflügel bebten heftig, sie waren geweitet vor Zorn (deshalb lag fliegende Eile in ihrem Gesicht), und sie bewegte übertrieben den Mund (jetzt hätte ich ohne Schwierigkeit von ihren Lippen ablesen können), verzog ihn ähnlich wie die Frauen meines Landes, das heißt, in angeborener Verachtung. Sie kam noch immer auf mich zu, mit wachsender Empörung, da sie keine Antwort erhielt, während sie ständig die gleiche Armbewegung wiederholte, als stünde ihr kein anderes Ausdrucksmittel zur Verfügung, ein langer nackter Arm, der einen raschen, heftigen Schlag in die Luft tat, während gleichzeitig die Finger einen Augenblick lang tänzelten, als wollten sie mich greifen und dann fortschleppen, eine Klaue. »Du gehörst mir« oder »Ich bring dich um«.
»Bist du blöd oder was? Hast du auch noch die Stimme verloren? Du, warum antwortest du mir denn nicht?«
Sie war schon recht nahe, sie war zehn oder zwölf Schritte über die Esplanade gegangen, weit genug, dass ihre schrille Stimme jetzt nicht nur zu hören war, sondern auch das Zimmer auszufüllen begann; weit genug auch, glaubte ich, dass sie mich mit Bestimmtheit sehen konnte, so kurzsichtig sie auch sein mochte, und deshalb schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass ich die Person war, mit der sie eine wichtige Verabredung getroffen hatte, dass ich sie mit meiner Verspätung verängstigt und mit meiner stummen Beobachtung vom Balkon aus beleidigt hatte, noch immer beleidigte. Aber ich kannte niemanden in Havanna, mehr noch, es war das erste Mal, dass ich mich in Havanna befand, auf meiner Hochzeitsreise mit der, die erst so kurze Zeit meine Frau war. Ich wandte mich schließlich um und sah Luisa, die sich im Bett aufgerichtet hatte, die Augen starr auf mich geheftet, aber noch ohne mich zu erkennen oder wiederzuerkennen, wo sie sich befand, die fiebrigen Augen des Kranken, der erschrocken aufwacht, ohne dass ihm im Schlaf zuvor sein Erwachen angekündigt worden wäre. Sie saß aufrecht, ihr Büstenhalter hatte sich verschoben, während sie schlief, oder bei der heftigen Bewegung, mit der sie sich soeben aufgerichtet hatte: er saß schief, eine Schulter und fast eine Brust waren entblößt, er musste in ihre Haut schneiden, sie hatte ihn wohl durch die Bewegungen des eigenen, des im schläfrigen Unwohlsein vergessenen Körpers hinuntergestreift.
»Was ist?«, sagte sie furchtsam.
»Nichts«, sagte ich. »Schlaf weiter.«
Ich wagte jedoch nicht, zu ihr zu gehen und ihr über das Haar zu streichen, um sie wirklich zu beruhigen und damit sie in ihren tiefen Schlaf zurückfände, wie ich es in jeder anderen Situation getan hätte, denn ich wagte in jenem Augenblick nicht, meinen Posten auf dem Balkon zu verlassen, noch den Blick auch nur kurz von jener Frau zu wenden, die überzeugt war, sich mit mir verabredet zu haben, noch länger dem unvermittelten Dialog auszuweichen, der mir von der Straße her aufgezwungen wurde. Es war schade, dass wir dieselbe Sprache sprachen und dass ich sie verstand, denn das, was noch nicht Dialog war, wurde bereits heftig, vielleicht weil es keiner war, weil es kein Dialog war.
»Ich bring dich um, du Mistkerl! Ich schwör dir, ich bring dich an Ort und Stelle um!«, rief die Frau von der Straße.
Sie rief es vom Erdboden aus und ohne mich ansehen zu können, denn genau in dem Augenblick, da ich mich umgewandt hatte, um ein paar Worte zu Luisa zu sagen, hatte die Mulattin einen Schuh verloren und war hingefallen, wobei sie zwar keinen Schaden nahm, sich aber sogleich den weißen Rock beschmutzte. Sie rief »Ich bring dich um«, und als sie sich aufrichten wollte, rutschte sie aus, die Tasche stets am Arm, sie hatte sie nicht losgelassen, diese Tasche würde sie nicht loslassen, auch wenn man ihr das Fell gerben würde, sie versuchte, mit einer Hand den Rock abzuklopfen oder zu säubern, und ein Fuß, ohne Schuh, schwebte in der Luft, als wollte sie ihn auf keinen Fall auf den Boden setzen und sich auch noch die Sohle oder auch nur die Spitzen der Fußzehen beflecken, der Fuß, den der Mann sehen könnte, den sie bereits gefunden hatte, aus der Nähe sehen würde, oben, und anfassen, später. Ich fühlte mich schuldig ihr gegenüber, für das Warten und für ihren Sturz und für mein Schweigen, und auch schuldig Luisa gegenüber, meiner frisch angetrauten Frau, die mich zum ersten Mal seit der Zeremonie brauchte, und sei es auch nur eine Sekunde, genug, um ihr den Schweiß abzuwischen, der ihre Stirn und ihre Schultern bedeckte, und ihr den Büstenhalter geradezurichten oder auszuziehen, damit er nicht in ihre Haut schnitt, und sie mit Worten wieder in den Schlaf zu wiegen, der sie heilen würde. Diese Sekunde konnte ich ihr in diesem Augenblick nicht geben, wie war das möglich, ich spürte mit Macht beider Anwesenheit, die mich beinahe lähmte und zum Verstummen brachte, die eine draußen und die andere drinnen, vor meinen Augen und in meinem Rücken, wie war das möglich, ich fühlte mich beiden gegenüber verpflichtet, da musste ein Irrtum vorliegen, ich konnte mich meiner Frau gegenüber doch nicht wegen einer Nichtigkeit schuldig fühlen, wegen einer minimalen Verzögerung in einem Augenblick, da es galt, ihr zu helfen und sie zu beruhigen, und weniger noch gegenüber einer beleidigten Unbekannten, sosehr sie auch glauben mochte, dass sie mich kannte und dass ich es war, der sie beleidigte. Sie balancierte, um sich den Schuh wieder anzuziehen, ohne mit dem bloßen Fuß den Boden zu berühren. Der Rock war ein wenig zu eng, um diese Prozedur erfolgreich durchführen zu können, ihre Füße hatten zu lange Knochen, und während sie es versuchte, rief sie nicht, sondern murmelte vor sich hin, wir können den anderen nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken, während wir versuchen, die Haltung zurückzugewinnen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Fuß aufzusetzen, der sofort schmutzig wurde. Sie hob ihn wieder hoch, als hätte der Boden sie besudelt oder verbrannt, schüttelte den Staub ab, wie Luisa sich den trockenen Sand abschüttelte an den Stränden, kurz bevor sie ging, bisweilen bei Einbruch der Dunkelheit; sie schlüpfte mit den Zehen in den Schuh, mit dem Spann; dann rückte sie mit dem Zeigefinger einer Hand (der Hand ohne Tasche) den Riemen der Ferse zurecht, die unter jenem Riemen herausragte (der Träger von Luisas Büstenhalter dürfte noch immer heruntergerutscht sein, aber ich sah ihn jetzt nicht). Ihre kräftigen Beine traten abermals fest auf, stampften auf das Pflaster, als wären sie Hufe. Sie machte drei Schritte, noch ohne den Blick zu heben, und als sie ihn hob, als sie den Mund öffnete, um mich zu beschimpfen oder zu bedrohen und zum x-ten Male zu der Gebärde des Greifens, der Löwenkralle ansetzte, der Gebärde, die zupackte und bedeutete »Du entkommst mir nicht« oder »Du gehörst mir« oder »Mit mir in die Hölle«, hielt sie inne, den nackten Arm starr in die Luft gestreckt, wie ein Athlet. Ich sah ihre frisch rasierte Achselhöhle, sie hatte sich von Kopf bis Fuß verschönert für ihre Verabredung. Sie schaute abermals links neben mich und schaute mich an und schaute links neben mich und auf mich.
»Aber was ist denn los?«, fragte Luisa erneut von ihrem Bett her. Ihre Stimme war furchtsam, sie drückte eine halb innere, halb äußere Furcht aus, sie hatte Angst vor dem, was in ihrem Körper geschah, so weit von zu Hause entfernt, und vor dem, was sie nicht wusste und was hier auf dem Balkon und auf der Straße geschah, oder mir geschah und nicht ihr, Ehepaare gewöhnen sich sofort daran, dass alles beiden widerfährt. Es war Nacht, und unser Zimmer lag noch immer im Dunkeln, sie musste sich so benommen fühlen, dass sie nicht einmal die Lampe auf dem Nachttisch neben ihr einschaltete. Wir befanden uns auf einer Insel.
Die Frau auf der Straße stand mit offenem Mund da, ohne etwas zu sagen, und legte die Hand an die Wange, die Hand, die enttäuscht und beschämt und zahm aus der Höhe herabsank. Es gab kein Missverständnis mehr.
»Oh, entschuldigen Sie«, sagte sie nach einigen Sekunden zu mir. »Ich habe Sie verwechselt.«
In Sekundenschnelle war ihre Wut verraucht, und sie hatte begriffen – das war das Schlimmste –, dass sie weiter warten musste, vielleicht dort, wo sie zu Beginn gestanden hatte, und nicht unter den Balkonen, sie würde an die ursprünglich gewählte Stelle zurückkehren müssen, auf die andere Seite der Straße, jenseits der Esplanade, um dort schnell und voll Groll ihren spitzen Absatz bei ihren zwei oder drei Schritten schleifen zu lassen, drei Hiebe mit der Axt und dem Sporn oder erst Sporn, dann Axt. Sie war plötzlich wehrlos geworden, fügsam, sie hatte all ihren Zorn und ihre Energie verloren, und ich glaube, es machte ihr weniger aus, was ich – letztlich ein Unbekannter in ihren grünen Augen – von ihrem Irrtum und ihrem Jähzorn halten mochte, als zu begreifen, dass noch immer die Gefahr bestand, ihre Verabredung könnte nicht stattfinden. Sie schaute mich mit ihrem plötzlich abwesenden grauen Blick an, in dem eine Spur von Entschuldigung und eine Spur von Gleichgültigkeit lag, an Entschuldigung gerade so viel wie nötig, denn die Bitterkeit überwog. Gehen oder abermals warten, nachdem das Warten ein Ende gefunden hatte.
»Macht nichts«, sagte ich.
»Mit wem sprichst du?«, fragte Luisa, die ohne meine Hilfe allmählich aus ihrer Benommenheit auftauchte, wenn auch nicht aus der Dunkelheit (die Stimme war etwas weniger rau und ihre Frage konkreter; vielleicht konnte sie sich nicht erklären, weshalb es Nacht war).
Aber ich antwortete ihr noch immer nicht und trat auch nicht an das Bett, um sie zu besänftigen und die Laken glatt zu ziehen, denn in diesem Augenblick gingen geräuschvoll die Türflügel des Balkons zu meiner Linken auf, und ich sah zwei Männerarme auftauchen, die sich auf das eiserne Geländer stützten oder nach ihm griffen, als wäre es eine bewegliche Stange, und dann riefen:
»Miriam!«
Die Mulattin, unschlüssig und verwirrt, schaute erneut nach oben, jetzt ohne Zweifel links neben mich, ohne Zweifel zu der Balkontür, die aufgegangen war, und zu den starken Armen, die alles waren, was ich sah, die langen Arme des Mannes in Hemdsärmeln, mit hochgekrempelten weißen Ärmeln, die Arme behaart, genau wie meine oder stärker als meine. Ich hatte aufgehört zu existieren, ich war verschwunden, auch meine Ärmel waren hochgekrempelt, ich hatte sie zurückgeschoben, als ich auf den Balkon hinausgetreten war, um mich, vor einer Weile, mit den Ellenbogen aufzustützen, aber jetzt war ich verschwunden, weil ich abermals ich war, das heißt, weil ich für sie niemand war. Am Ringfinger seiner rechten Hand trug der Mann einen Ehering wie den meinen, nur dass ich ihn an der linken Hand trug, seit zwei Wochen, kurze Zeit, ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt. Auch die Uhr, schwarz und groß, trug dieser Mann am Handgelenk desselben Armes, ich hingegen am anderen. Vermutlich war er Linkshänder. Die Mulattin trug weder eine Uhr noch Ringe. Ich dachte, dass die Gestalt dieser Person ihr während dieser ganzen Minuten halbwegs sichtbar gewesen sein musste, im Unterschied zu meiner, die voll und ganz sichtbar war, weil sie auf dem Balkon stand und die Ellbogen auf das unbewegliche Geländer gestützt hatte. Jetzt verhielt es sich umgekehrt, meine war plötzlich ausgelöscht und unsichtbar, wohingegen ich den Mann nicht sah, ebenso wenig wie Luisa, ich wandte ihr noch immer den Rücken zu. Vielleicht war dieser Mensch die ganze Zeit vor- und zurückgetreten, ohne die Türflügel zu öffnen, je nachdem, ob er sich im Visier der pflaumenfarbenen Augen der Frau auf der Straße, ihres kurzsichtigen und unschuldigen Blickes, gesehen hatte oder nicht. Er hatte, im Vorteil, wie er war, den Sichtbaren und den Unsichtbaren gespielt, beides nicht ganz, und deshalb hatte sie recht, ihre Verabredung hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr Bescheid zu sagen, und war bereits ins Hotel gegangen, um sie gegenüber und in der Entfernung warten zu lassen, um ihr zuzusehen bei ihrem kurzen, beleidigten Hin und Her und dann bei ihrem stolpernden Näherkommen und ihrem Sturz und wie sie sich den Schuh anzog, so wie auch ich die Gelegenheit gehabt hatte, sie zu beobachten.