Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Die Berichte zum Kasernendrill im Ersten Weltkrieg in: Bernd Ulrich u. Benjamin Ziemann (Hrsg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, Fischer Tb. 12544, Frankfurt a.M. 1994, S. 42f.

Rede vom 18.2.1943 im Berliner Sportpalast: Helmut Heiber (Hrsg.), Goebbels Reden 1932–1943, Düsseldorf 1971/72, S. 206.

Anordnungen des Reichsforschungsrates zitiert nach: Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen des deutschen Heeres 1933 – 1943, Bd. 2, Koblenz 1987, S. 136.

a.a.O., S. 130–134.

Tagesbefehl von Marschall Schukow in: Raymond Cartier, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 1 u. 2, München 1967, Bd. 2, S. 994.

Himmlers Rede auf der Gauleitertagung in Posen: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Hrsg. u. Bearb.: Herbert Michaelis, Ernst Schraepler, Günter Scheel, Bd. 21.: Das Dritte Reich. Der Sturm auf die Festung Europa II, Berlin o.J., S. 511.

Denkschrift von Alfred Speer in: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Walter Hofer (Hrsg.), Fischer-Bücherei, Frankfurt a.M. 1957, S. 260.

a.a.O., S. 258.

a.a.O., S. 263f.: Goebbels’ »Hitler Porträt« vom 31.12.1944 in: »Das Reich«.

Georges-Arthur Goldschmidt, Die Absonderung, Fischer-Tb. 11867, Frankfurt a.M. 1993, S. 55.

Zitate aus dem Brief des Grafen Helmuth v. Moltke in: Ursachen und Folgen, a.a.O., S. 138f., 139, 139f.

a.a.O., S. 140.

a.a.O., S. 257f. (Rede von General Montgomery).

Hitlers Äußerung nach dem Attentat in: Heinrich Fraenkel u. Roger Manvell, Der 20. Juli. Aus dem Englischen von K.H. Abshagen, F. Violet, G. Bauer, T. Knoth, Berlin – Frankfurt a.M. – Wien 1964, S. 110.

a.a.O., S. in: Göring nach dem Attentat über Hitler.

a.a.O., S. 142: Hitlers Rundfunkansprache.

Görings Ansprache vor der Division H. Göring in: David Irving, Göring. Aus dem Englischen von R. Giese, München – Hamburg 1987, S. 659.

Göring über Dossier Schellenberg zur amerikanischen Rüstungsindustrie in: Walter Schellenberg, Memoiren. Hrsg, von Gita Petersen, Köln 1956, S. 237.

Hitlers Reaktion auf den Bericht von General Gehlen in: Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen, a.a.O., S. 288.

Helmut Heiber, Goebbels Reden, a.a.O., S. 435.

Statistiken über die personelle Stärke des deutschen Ostheeres und die Produktionskapazitäten der deutschen Rüstungsindustrie aus: Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen, a.a.O., S. 262–268.

Bericht von Generalfeldmarschall Kluge an Hitler in: R. Cartier, Der Zweite Weltkrieg, a.a.O., Bd. 2, S. 803.

Bericht des Heereswaffenamtes zum Munitionsmangel in: Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen, a.a.O., S. 262.

Angaben über Truppenstärken und Bewaffnung der in der Ardennenoffensive eingesetzten deutschen Verbände und über die deutschen, britischen und amerikanischen Verluste aus: Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen, a.a.O., S. 272f.

Zur Schilderung des Kampfverlaufes wurde herangezogen: Hermann Jung, Die Ardennenoffensive 1944/45. Ein Beispiel für die Kriegsführung Hitlers, Zürich – Frankfurt a.M. 1971. – R. Cartier, Der Zweite Weltkrieg, a.a.O., Bd. 2, S. 915–926.

Dieses Kapitel ist eine gekürzte und korrigierte Fassung des Textes »Kriegsende« aus: Dieter Wellershoff, Die Arbeit des Lebens, Köln 1985, S. 54–87.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke Bd. V.: Die Phänomenologie des Geistes. Nach dem Texte der Originalausgabe hrsg. von Johannes Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952, S. 418f.

Karl Otto Hondrich, Lehrmeister Krieg, rororo aktuell Essay, Reinbek 1992, S. 40ff.

Hondrich, a.a.O., S. 25.

Hondrich, a.a.O., S. 29.

Die Zahlen der Menschenverluste im Zweiten Weltkrieg differieren wegen der Lückenhaftigkeit der Quellen und unterschiedlichen nationalen Statistiken. Folgende Quellen wurden benutzt:

Lexikon der deutschen Geschichte. Hrsg. Gerhard Taddey, Stuttgart 1977, S. 1277 (ca. 55 Mio. Tote).

Der große Ploetz, 30. Aufl., Freiburg-Würzburg 1986, S. 916 (rund 55 Mio. Tote).

Harenberg, Schlüsseldaten. 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Dortmund 1993 (Schätzungen für Europa und USA).

Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 24, 18. Aufl. 1994, S. 48 (hier: mindestens 62 Mio. Tote).

Verlustliste vom Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (ca. 55 Mio. Tote).

Zu den Problemen der Datenerhebung vergleiche:

Rüdiger Overmans, Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges? Zum Stand der Forschung nach mehr als 40 Jahren: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2,1990, S. 103–121.

Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Hrsg. von Wolfgang Benz, München 1991, bes. S. 15–17.

Meinen Freunden

Gerhard Bauer

und

Gideon Schüler,

den Gefährten jener Jahre

D.W.

1 Rückkehr in die Vergangenheit

Damals, heute. Warum wieder zurückblicken nach fast einem halben Jahrhundert? Was suchte ich? Was erwartete ich zu finden, als ich mich Ende März 1994 auf den Weg nach Bad Reichenhall machte, wo ich den Kriegswinter 1944/45 im Lazarett verbracht hatte? Meine chronisch erkrankten Nasennebenhöhlen zu kurieren, war das praktische Ziel meiner Reise. Doch zugleich und vielleicht sogar vor allem war es für mich eine Reise in die Vergangenheit.

Der von mir gewählte Kurort sei »gut für die Atemwege«, hatte der Angestellte der Krankenkasse gesagt. Ich wusste es, denn ich hatte mit meinem Arzt darüber gesprochen und das Bäderhandbuch studiert. Aber als der Angestellte es noch einmal sagte, so beiläufig, wie man etwas Bekanntes bestätigt, kam die Erinnerung aus dem Körper zurück. Es war wie ein innerer Luftzug. Die Erinnerung an einen tiefen Atemzug.

Sanitäter hatten mich auf einer Bahre aus dem Lazarettzug getragen und in der langen Reihe der Verwundeten auf dem Bahnsteig abgestellt. Und bevor ich von anderen Trägern wieder hochgehoben und zu einem der wartenden Sanitätsautos gebracht wurde, wandte ich den Kopf und sah zum ersten Mal in meinem Leben die verschneiten Alpen. Das war für mich so unerwartet und wunderbar, als seien sie eben aus dem Boden gewachsen, ein mächtiger Schutzwall, hinter dem ich in Sicherheit war. Klare Winterluft, gierig eingesogen, füllte meine Lungen und durchströmte mich mit einem Gefühl von Zuversicht.

Ich war vor zehn Tagen neunzehn Jahre alt geworden und hatte bisher immer in flachen Landschaften gelebt: am Niederrhein, wo ich aufgewachsen, in Holland, Berlin und der Mark Brandenburg, wo ich militärisch ausgebildet worden war, und zuletzt in Litauen und Ostpreußen an der Front, von wo ich im weiten Umweg über Polen und Schlesien gekommen war, verwundet durch einen Granatsplitter, doch inzwischen operiert und wieder transportfähig und zur weiteren Genesung hierher verfrachtet, denn die oberschlesischen Lazarette mussten geräumt werden für die neuen Massenlieferungen verwundeter und verstümmelter Menschen, die dort Tag für Tag von der näher gerückten Ostfront eintrafen.

 

Lazarettzüge fahren langsam, jedenfalls die beiden, in denen ich transportiert worden bin. Der erste brachte mich von einer kleinen Bahnstation in Ostpreußen, deren Namen ich vergessen habe, nach Königshütte in Oberschlesien und durchquerte dabei polnisches Gebiet, das inzwischen zum weiteren Hinterland der Front gehörte. Der Zug brauchte für die Fahrt nach Oberschlesien fast drei Tage, denn es gab mehrere längere Aufenthalte, deren Grund ich nicht erkennen konnte. Vielleicht wurden Proviant und medizinisches Material eingeladen, vielleicht auch neue Verwundete aufgenommen. Oder die Strecke war durch Anschläge von Partisanen oder Luftangriffe unterbrochen und musste erst repariert werden. Zum Schutz gegen Minen, sagte man uns, sei der Lokomotive ein Güterwaggon vorgespannt, um die Explosion auszulösen, bevor der Zug darüber fuhr. Vielleicht war das auch nur ein Gerücht. Da die Abwehrkämpfe in Litauen und an der ostpreußischen Grenze sich zu einer Schlacht ausgeweitet hatten, war der Zug mit Verwundeten überfüllt. Leichtverwundete hatte man zu zweit in ein Bett gelegt.

Ich hatte ein eigenes Bett, lag auf dem Rücken, mein linkes Bein war eingegipst, und der Oberschenkel, in dem der Granatsplitter saß, war geschwollen und fühlte sich heiß an. Man hatte mir verboten aufzustehen, denn der Splitter hatte die Hauptschlagader verletzt, und dort hatte sich ein Aneurysma gebildet. Anschaulich und auf Deutsch hieß das: Die verletzte Gefäßwand hatte sich zu einem Blutsack ausgeweitet, der jederzeit platzen konnte. Aber das hatte man mir nicht erklärt, und so ignorierte ich das Verbot mehrfach, sobald keine Aufsicht da war, und humpelte mit einer geliehenen Krücke zur Toilette. Druck und Schmerzen steigerten sich rasend, wenn das Bein herunterhing, und jedes Mal kam ich schweißgebadet in mein Bett zurück, ahnungslos und zufrieden mit mir selber. Der Schmerz ebbte dann allmählich wieder ab. Obwohl Eile geboten war, konnte man in dem rüttelnden und schaukelnden Zug eine solche Verletzung nicht operieren, und es waren wohl auch keine geeigneten Ärzte da.

Wenn ich mich recht erinnere, brannte auch tagsüber Licht, denn die Fenster waren durch dunkle Sichtblenden gegen den Einblick von außen gesichert, und nachts musste der Zug verdunkelt werden wie das ganze Land, über dem russische Aufklärungsflugzeuge ihre Kreise zogen. Jemand sagte, der Zug führe an seinem Ende eine Vierlingsflak mit. Ein Lazarettzug? War das nach internationalem Kriegsrecht erlaubt? Aber was hieß das schon in diesem Krieg?

Ich hatte Zeit, über alles nachzudenken, aber meine Gedanken glitten überall ab. Vage wunderte ich mich darüber, dass es mir vollkommen gleichgültig war, wie es mit meiner Kompanie weitergegangen war, die ich, Meter für Meter aus dem Feuer kriechend, in einer katastrophalen Situation verlassen hatte. Es war wie ein Filmriss. Sie alle waren im Dunkel verschwunden, ob sie noch lebten oder nicht. Der Krieg dort oben ging jedenfalls weiter. Ich lag hier in einem Feldbett, fuhr einem unbekannten Bestimmungsort entgegen, zusammen mit verwundeten Soldaten anderer Truppenteile, so durcheinandergewürfelt von der Schlacht, dass keiner den anderen kannte. Die Waggons schwankten und schaukelten in den ausgeleierten Gleisen, und das Fahrwerk rollte mit einem gleichmäßigen stoßenden Geräusch über die Schienennähte. Ich hörte es im Einschlafen wie einen fernen, beruhigenden Herzschlag.

 

Im Lazarett in Königshütte dauerte es noch einige Tage, bis man mich morgens in einen notdürftig eingerichteten Operationsraum fuhr. Ich lag präpariert und angeschnallt auf dem Tisch unter der großen Lampe und wartete auf den Arzt, als draußen auf dem Gang Unruhe entstand und die Krankenschwester und der Sanitäter, die bei mir waren, verschwanden. Nach einer Weile kam der Sanitäter zurück und sagte, es dauere noch etwas. Danach geschah nichts mehr. Nach langer Zeit kam eine andere Schwester herein, deckte mich zu und sagte, alle Arzte seien zu einem eben eingetroffenen Transport mit vielen Schwerverwundeten gerufen worden. Da sie keine Anweisung hatte, was mit mir geschehen solle, ließ sie mich angeschnallt auf dem Operationstisch liegen und ging wieder. Aufgebahrt und mir selbst überlassen, versuchte ich, mich auf meine Lage einzustellen, aber als gegen Mittag doch noch die Operation begann, war ich so aufgeregt, dass man mich nur mit einer Überdosis betäuben konnte und erst nach vielen Stunden wieder wach bekam. »Na, Sie alter Säufer«, sagte der Arzt, den ich wie hinter Schleiern erkannte. Ich wusste nicht, was er meinte. Es war mir auch egal.

Peinvolle Tage und Nächte im Krankensaal folgten. Das ehemalige Waisenhaus, das jetzt als Lazarett diente, war mit Verwundeten überbelegt. Man hatte so viele Betten wie eben möglich in die Zimmer gestellt und jeweils zwei Betten wie Ehebetten aneinandergerückt. Neben mir lag ein älterer Feldwebel mit einem Bauchschuss, bei dem man einen künstlichen Darmausgang gelegt hatte. Hygienisch schien nicht alles in Ordnung zu sein, denn es ging ein ständiger Kotgeruch von ihm aus und mischte sich mit dem schweren, süßlichen Gestank der vielen eiternden Wunden, der vollen Bettpfannen und Urinflaschen, der Desinfektionsmittel und des Mittagessens. Ein- oder zweimal am Tag kam dazu der scharfe Geraniengeruch des Äthers, den man uns durch kleine Sichtfenster in die Gipsverbände sprühte, um vorübergehend die Läuse und Wanzen zu betäuben, die sich dort eingenistet hatten und besonders nachts, wenn sie sich wieder erholt hatten, zu einer unerträglichen Qual wurden. Der Arzt, der befürchtete, ich könne nach der schweren Narkose eine Lungenentzündung bekommen, hielt mich an, tief durchzuatmen. Wäre mir der Begriff damals geläufig gewesen, dann hätte ich diese therapeutische Anweisung für schwarzen Humor halten können. Ausatmen war zu empfehlen, aber einatmen? Die Luft hier war selbst eine Krankheit. Und da auch unter der Fensterreihe Betten mit Schwerverwundeten standen, konnten nur ab und zu einige Oberlichter geöffnet werden. Draußen herrschte trübes Novemberwetter, verdunkelt durch den Smog des oberschlesischen Industriegebietes, der letzten, noch intakten Waffenschmiede des Deutschen Reiches, dem die Front in diesem Jahr mehrere Hundert Kilometer näher gerückt war. Hier, im Krankensaal, zeigte sich in einem kleinen Ausschnitt das menschliche Desaster. Doch einen Gang weiter gab es einen Raum, den niemand betreten durfte. Dort lagen die Verbrannten mit ihren zu rotem gummiartigem Narbengewebe zerflossenen Gesichtern, andere, denen der Unterkiefer oder andere Teile des Gesichtes weggeschossen worden waren. Blinde und Augenlose, Menschen ohne Beine und andere unausdenkbare Schreckgestalten, wie ich sie viele Jahre später einmal in einem medizinischen Lehrbuch gesehen habe. Die Tür des verbotenen Raumes war die Tür eines Tresors, in dem eines der furchtbarsten Geheimnisse des Krieges unter Verschluss lag.

Am 3. November wurde ich neunzehn Jahre alt und bekam bei der morgendlichen Visite einen ärztlichen Glückwunsch, den ich vor allem auch rückwirkend als berechtigt empfand. Denn ich wusste, welcher Situation ich entronnen war und dass ich nur durch die vielfache Gunst des Zufalls noch lebte. Auch das verwundete Bein hatte ich nicht verloren.

Zehn Tage nach der Operation war ich transportfähig und wurde wieder in einen Lazarettzug geladen. Wohin wir verfrachtet wurden, war unbekannt, aber es konnte ja wohl nur weiter nach Westen gehen. Sehen konnte ich so gut wie nichts, denn auch dieser Zug, oder jedenfalls mein Waggon, hatte Sichtblenden. Ich bekam nur mit, dass wir durch Schlesien und Sachsen fuhren, und sah im Abendlicht durch einen schmalen Spalt der zur Seite gezogenen Verdunkelung Dresden vorbeigleiten. Elbbrücken, Brühlsche Terrasse, das Schloss waren noch unzerstört. Aber ich sah alles nur wie ein vorbeiwanderndes Bild, zu dem ich keine Verbindung hatte. Ich wusste nur, dass es die letzte unzerstörte deutsche Großstadt war. Am nächsten Morgen, noch in der Dämmerung, hielt der Zug lange auf einer kleineren Bahnstation. Der vordere Zugteil wurde abgekoppelt, um in einer anderen Richtung weiterzufahren. Die Verwundeten des sehr langen Transportes wurden auf verschiedene Lazarettstädte verteilt. Wir bekamen eine neue Lokomotive. Die Krankenschwester sagte mir, die Station hieße Mühldorf am Inn. Das rief mir einen gereimten Merkvers aus der Geografiestunde – noch nicht so lange her und doch unendlich weit weg – wieder in Erinnerung: Iller Lech, Isar Inn, fließen all zur Donau hin. Wir waren also in Bayern, südlich der Donau. Etwas Besseres hätte uns nach Lage der Dinge kaum passieren können.

 

Der nächste Halt hieß Traunstein. Auch hier wurden Verwundete ausgeladen, ich hörte es an den Geräuschen und Stimmen, die ich von den Verladungen kannte. Es dauerte eine Weile, bis wir weiterfuhren. Je weiter, umso besser, dachte ich. Aber es war nicht mehr weit. Was ich sah, als man mich auslud, war zweifellos die Außenwelt, doch zugleich der magische Schutzort der Märchen und Träume, an dem man unauffindbar war. Berge, die mich verbargen in Geborgenheit. So etwa hätte ich es sagen können. Hohe, bisher nie gesehene Berge mit bewaldeten Flanken in sonnenbeglänzter Schneepracht.

Im Pendelverkehr brachten uns die Sanitätswagen in den Festsaal einer großen Brauerei, in dem lauter zweistöckige Betten bereitstanden. Das war nicht das Lazarett, das anscheinend noch nicht fertig eingerichtet war, sondern ein provisorisches Zwischenlager, in dem wir einige Tage bleiben sollten. Ich hatte inzwischen einen leichteren Gipsverband bekommen und konnte mithilfe einer Leiter in eins der oberen Betten klettern. Als Begrüßungsessen gab es Ente mit Klößen, und Klöße konnte man so viele bekommen, wie man wollte. Um diesen Empfang zu würdigen, musste man fernerliegende Vergleiche wählen: Es war wie Weihnachten, und es war wie im Frieden.

 

»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Kuraufenthalt«, sagte der Angestellte der Krankenkasse zum Abschied, und einen Augenblick überlegte ich, ob ich ihm sagen solle, dass ich während des Kriegswinters 1944/45 in Bad Reichenhall im Lazarett gewesen sei und mich deshalb für diesen Kurort entschieden habe. Doch dann sah ich, dass er schätzungsweise vierzig Jahre jünger war als ich, und verkniff mir die Bemerkung. Sie wäre ihm gewiss befremdlich erschienen, völlig außerhalb seiner eigenen Lebensinteressen. Da er meinen Kurantrag bearbeitet hatte, kannte er mein Geburtsdatum. Aber das waren für ihn neutrale Zahlen auf einem Bildschirm geblieben. Sie muteten ihm nicht zu, sich für die Erinnerungen eines älteren Mannes an längst vergangene, finstere Zeiten zu interessieren. Schließlich war der Krieg, den offenbar manche ältere Kunden immer noch im Hintergrund der Gegenwart sahen, zwanzig Jahre, bevor er geboren wurde, zu Ende gegangen. Und wie man darüber dachte, zu denken hatte, das lag ohnehin fest. Er hatte keine Probleme damit, außer seinem Befremden gegenüber älteren Menschen, die »diesen ganzen Wahnsinn« miterlebt und auf irgendeine Weise auch mitgemacht hatten. Aber gut, sie waren inzwischen alt und kamen zu ihm mit ihren Kuranträgen. Da er ein freundlicher Mensch war, billigte er ihnen ein altersbedingtes Recht auf verminderte Zuständigkeit für die aktuellen Belange des Lebens zu. Für ihn stellte ja schon die sogenannte 68er Generation eine Riege von Veteranen dar, mit der ihn nichts mehr verband. Falls er nicht aus der zusammengebrochenen DDR kam, und das war nach seinem Tonfall nicht anzunehmen, dann hatte es in seinem Leben keine geschichtlichen Umbrüche und Einschnitte gegeben, keine geistige und moralische Grundlagenkrise, keine Notwendigkeit zu einer Neuinterpretation. Und er brauchte sich auch nicht mit der Erfahrung auseinanderzusetzen, dass er nur noch zufällig am Leben war. Nicht der Abstand mehrerer Jahrzehnte, sondern dies vor allem trennte uns.

 

Nach Tagen konnten wir, oder jedenfalls ein Teil unseres Transportes, in ein neu eingerichtetes Lazarett einziehen. Es war ein großes wilhelminisches Schulgebäude, zu Beginn des Ersten Weltkrieges errichtet, über dessen Eingang als steinerne Inschrift der Name »Knabenschule« stand. Das war auch damals in unseren Ohren ein Wort aus einem altväterischen Lesebuch, und das hinderte uns vermutlich daran, seine aktuelle Anzüglichkeit zu erkennen. Zwar lagen Verwundete aller Jahrgänge im Lazarett, aber besonders hoch war der Anteil der Neunzehn- und auch der Achtzehnjährigen, also der Geburtsjahrgänge 1925 und 1926, die man als letzte noch einigermaßen regulär einberufene und ausgebildete Reserve in diesem Jahr an die zurückweichenden und zusammenbrechenden Fronten in Ost und West geworfen hatte. Überall waren sie wegen der überwältigenden militärischen Übermacht des Gegners und der zunehmenden Kopflosigkeit der eigenen Führung in die katastrophalen Situationen einer unaufhaltsamen Niederlage geraten, in der, selbst wenn es noch zu kleinen vorübergehenden Teilerfolgen kommt, die Verluste stets um ein Vielfaches höher sind als beim siegreichen Vormarsch und bei materieller und zahlenmäßiger Überlegenheit. Der 13. Oktober, der Tag, an dem ich verwundet wurde, war eine solche Katastrophe gewesen. Man sieht nicht viel, wenn man in kurzen Sprüngen einen Sperrfeuergürtel zu durchlaufen versucht und dann verwundet zurück in eine Deckung kriecht. Trotzdem bekam ich mit, was geschah, und sah es, als man mich zurückbrachte zu den Sammelstellen der Verwundeten. Doch das ganze Ausmaß der Katastrophe habe ich erst viele Jahre nach dem Kriegsende erfahren. Ungefähr zur selben Zeit hörte ich auch von einer Rede, mit der Himmler, der auch Befehlshaber des Ersatzheeres war, vor Kommandeuren der Wehrmacht und der Waffen-SS das massenhafte Menschenopfer der jüngsten Jahrgänge gerechtfertigt hat. Wenn die Wikinger in Seenot gerieten, sagte er, dann ertönte der Ruf: »Knaben über Bord!« Nach diesem Vorbild sollte in den letzten Monaten des Krieges das untergehende Dritte Reich gerettet werden. Wir, die Insassen der Knabenschule, waren dem großen Schiffbruch vorübergehend entgangen.

2 Freiwillig in einen verlorenen Krieg

Heute und damals – fast ein halbes Jahrhundert lag dazwischen. Das Wort »damals«, mit dem man als Erzähler über weite Lebenszeiträume hinweg an eine versunkene Vergangenheit anknüpft, war in sein Recht getreten. Allen Sätzen, denen es vorangestellt wurde, verlieh es einen raunenden Sagenton: »Damals im Krieg.« »Damals, als unsere Kompanie in Ostpreußen ausgeladen wurde.« »Damals, als das Attentat auf Hitler fehlschlug.« »Damals, als zum ersten Mal scharf auf uns geschossen wurde.« »Damals in der Waldstellung am Ostfluss.« »Damals, als wir achtzehn Jahre alt waren und viele von uns keinen weiteren Geburtstag mehr erlebten.« »Damals, als die Russen zur Ostsee durchstießen.« »Damals, beim Gegenangriff, als ich verwundet wurde.« »Damals, als ich nachts in das Ärztezelt getragen wurde, aus dem furchterregendes Stöhnen zu hören war.«

Diese teils grellen, teils verschatteten Szenen stehen für mich in einem seltsamen Zwielicht. Sie sind ein unverlierbarer Bestandteil meines Bewusstseins. Sie haben meine Sicht des Lebens mitgeprägt. Doch zugleich wundere ich mich manchmal, dass es sich bei dem Achtzehn- und Neunzehnjährigen, den ich in den längst vergangenen Situationen mit wechselnder Deutlichkeit sehe, um mich selbst handelt oder dass ich, der inzwischen Neunundsechzigjährige, er gewesen bin.

Noch schwerer, dies glaubhaft zu machen für die nächste Generation, selbst wenn es die eigenen Kinder waren. Natürlich wussten sie, dass ihre Eltern den Krieg erlebt hatten, aber ein anschauliches Wissen war das nicht. Es war ein Wissen gegen die ganz andere Erfahrung vieler friedlicher Jahre, die sie zusammen mit den Eltern erlebt hatten. Als meine Frau einige Studienfreundinnen zu Gast hatte, die sich zum ersten Mal nach dem Krieg wiedersahen und darüber austauschten, wie sie Flucht, Vertreibung, die Bomben und die einrückenden fremden Soldaten erlebt hatten, saß unsere älteste Tochter, damals noch Studentin, dabei und hörte zu. Nachher sagte sie, nie hätte sie sich vorstellen können, dass diese freundlichen Damen so schreckliche Dinge erlebt haben.

Ich muss gestehen, dass es mir bei ähnlichen Situationen genauso geht. Der Augenschein verdeckt die inneren Bilder, und die Erinnerungen an den Krieg verwandeln sich in Bücherwissen, nicht anders als frühere Geschichtsepochen. Kaum einer der Reisenden, die heute aus der Vorhalle des Kölner Hauptbahnhofs treten, hat noch ein inneres Bild der mit Weidenröschen überwachsenen, von Trampelpfaden und Gleisspuren durchzogenen Steinwüste, zu der die Kölner Innenstadt 1945 geworden war. Auch ich, der ich darin herumgegangen bin, sehe heute die dokumentarischen Fotos dieser Zeit mit dem schwer zu beschreibenden Gefühlsgemisch einer ungläubigen Erinnerung. Kriege sind heute auch für mich Fernsehberichte, eingebettet in Talkshows, Quizsendungen und Sportberichte. Man könnte meinen, sie seien Ereignisse einer fiktiven Welt, nicht ganz wirklich und zusammengesetzt aus einem beschränkten Vorrat sich wiederholender Bildzitate und phrasenhafter Kommentare. Darf man sich wundern über den jungen Mann, der, auf der Straße von einem Fernsehreporter nach seiner Meinung über den Krieg in Bosnien befragt, die lakonische Antwort gab: »Bosnien geht mir am Arsch vorbei.« Damit unser Bewusstsein nicht überfüllt wird mit Vorgängen und Zuständen, auf die wir keinen Einfluss haben, gibt es den selbstverständlichen Vorrang der Nähe und der Gegenwart. Nur die Zeugen sehen das anders. Nicht alles, was uns täglich überflutet, kann man wissen und zur Kenntnis nehmen. Aber die grundsätzlichen und grundstürzenden Erfahrungen, die die Menschen mit sich und ihrer Geschichte machen, müssen festgehalten und erzählt werden.

 

Vieles, was heute schwer verständlich ist und deshalb oft rasche, schematische Urteile herausfordert, bedarf genauerer Beschreibung. Zum Beispiel die Tatsache, dass ich, wie die meisten meiner Klassenkameraden, mit siebzehn Jahren als Freiwilliger in den Krieg zog, obwohl, trotz der Schönfärberei der Wehrmachtsberichte, sich seit Stalingrad immer deutlicher abzeichnete, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Kriegsbegeisterung, wie ich sie noch in den ersten Kriegsjahren als Schüler empfunden hatte, war das nicht, auch keine fanatische Opferbereitschaft, sondern eher eine noch fortbestehende patriotische Konvention, gegen die man, da das zu gefährlich war, auch im Gespräch unter Freunden keine Argumente entwickelt hatte. Man tat es, weil es üblich war, konnte aber die heimlichen Befürchtungen und fatalistischen Perspektiven vor sich selbst nicht mehr dauerhaft verdecken. Ich zog in diesen Krieg mangels einer Alternative und ohne Illusionen, aber mit einem vagen Pflichtgefühl, das im Grunde eine Solidarität gegenüber all jenen war, die es auch getan hatten, und gegenüber den vielen, die gefallen waren. Dieses Zugehörigkeitsgefühl war brüchig. Aber es war noch nicht ganz aufgelöst. Beigemischt war dieser Haltung auch ein jugendliches Bedürfnis nach Bewährung und ein wachsender Überdruss an der Schule, die uns vor dem Hintergrund des Krieges als ein unauthentischer Ort erschien, an dem man nicht erwachsen werden konnte. Die Reifeprüfung, so dachten viele, konnte man jetzt nur da bestehen, wo der Ernstfall herrschte. Dazu musste man Soldat werden.

Vielleicht erscheint dieses Motiv, das eher unausdrücklich im Hintergrund mancher Entscheidungen stand, heute als das unreifste. Doch sollte man nicht verkennen, dass es verändert fortlebt in den künstlichen Risiken und Abenteuern, mit denen heute viele junge Menschen der Ereignislosigkeit ihres Alltagslebens zu entkommen suchen und erproben wollen, wozu sie fähig sind. Allerdings sind die heutigen Abenteuer kalkulierbare und begrenzte Risiken. Vom Krieg kann man das nicht sagen, schon gar nicht mehr vom Krieg mit modernen Waffen. Tüchtigkeit und Tapferkeit sind mitten im Sperrfeuer keine Überlebensvorteile. Leben und Tod und die Zwischenstufen der schweren und leichteren Verwundungen werden zufällig verteilt, wie bei einer Lotterie. Und beim Lotteriespiel kann man sich nicht bewähren.

In den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges war das bereits so gewesen. Doch in den Blitzkriegen des Zweiten Weltkrieges war es für die Deutschen zunächst anders gelaufen. Bis zum Beginn des Russlandfeldzuges waren die Verluste der Wehrmacht vergleichsweise niedrig geblieben: Beim Polenfeldzug waren es 10 572 Tote, 30 322 Verwundete und 3409 Vermisste, beim Frankreichfeldzug 27 074 Tote, 111 034 Verwundete und 18 384 Vermisste. Von jetzt ab ging es mit ständig steigender Tendenz in die Millionenverluste. Obwohl die Wehrmachtsberichte immer nur von den schweren Verlusten des Gegners sprachen, blieben die eigenen nicht verborgen. Immer mehr Familien hatten Tote zu beklagen, immer mehr Verwundete tauchten beim Genesungsurlaub in der Heimat auf und erzählten die Dinge, die sie der Feldpost nie anvertrauten. Das waren ganz andere Berichte, als wir sie in den beiden ersten Kriegsjahren von ehemaligen Schülern gehört hatten, die nach den Siegen über Polen und Frankreich, dekoriert mit Auszeichnungen, auf Urlaub nach Hause kamen und in der Aula den versammelten Schülern und Lehrern von ihren Erlebnissen erzählten. Nun, da es nichts mehr zu berichten gab, das euphorische Gemeinschaftsgefühle auslösen und verstärken konnte, fanden solche Veranstaltungen nicht mehr statt. Die Verständigung über den Verlauf des Krieges wurde vorsichtig und wortkarg, geschah fast nur noch in privaten Situationen.

Ich selbst war beim neugierigen Herumspielen mit dem Schaltknopf des Radios auf ferne deutsche Stimmen gestoßen. Sie kamen aus London von der BBC, und ihnen zuzuhören wurde schwer bestraft; wenn man die Feindnachrichten weitergab, sogar mit dem Tode. Ich hatte gehört, der Abwehrdienst könne Radiogeräte anpeilen, die auf die Frequenz eines Feindsenders eingestellt waren. Aber ich schaltete nicht ab, sondern legte mein Ohr an das Gehäuse und drehte das Gerät so leise, dass ich die Nachrichten und Kommentare gerade noch verstehen konnte. Es ist eine Art des Zuhörens, das die Wirkung der Worte unheimlich verstärkt. Der Sprecher berichtete mit niederschmetternden Details über die Kapitulation der Reste des berühmten deutschen Afrikakorps, legte zum Hohn noch einmal das deutsche Afrikalied auf, das in der Vergangenheit immer mit Siegesmeldungen verbunden gewesen war, und sagte zum Schluss, der Krieg sei für Deutschland verloren und trete nun in seine letzte Phase ein. Während ich gebannt der verbotenen Wahrheit lauschte, fühlte ich eine äußerste Einsamkeit. Ich wusste, was ich nicht wissen durfte, und konnte mit niemandem darüber sprechen.

 

In dieser sich ständig verdüsternden Situation habe ich mich trotzdem wie viele andere Klassenkameraden freiwillig gemeldet. Aber den Ausschlag gaben nicht die Motive, die ich schon beschrieben habe – die patriotische Konvention und jugendlicher Erfahrungshunger –, denn es gab auch überlebenspraktische Gründe, die dafür sprachen. Wer sich freiwillig meldete, musste inzwischen nicht mehr damit rechnen, ein halbes Jahr früher an die Front zu kommen als die regulär eingezogenen jungen Männer seines Jahrgangs, denn wegen des großen Nachschubbedarfs der Front war alles beschleunigt worden und der zeitliche Unterschied nahezu auf null geschrumpft. Gleichwohl hatte man einen nicht unwesentlichen Vorteil, wenn man sich freiwillig meldete: Man konnte angeben, zu welcher Truppe und Waffengattung man wollte, und hatte Chancen, dass die Wahl berücksichtigt wurde. Es musste allerdings in der Regel eine Truppe sein, die als Eliteeinheit galt. Die Waffen-SS, die starke Werbung an den Schulen machte und vor allem die Schüler ansprach, die eine Funktion bei der HJ hatten oder, wie ich, Jungvolkführer waren, stand dabei an erster Stelle. Wenn man sich diesem Druck entziehen wollte, musste man sich zu einer ähnlich privilegierten Truppe melden, zum Beispiel zum fliegenden Personal der Luftwaffe oder zu den U-Booten, zu den Fallschirmjägern oder einer Elitedivision unter den Erdkampftruppen. Auch dafür gab es praktische Gründe, denn es war nicht unrealistisch anzunehmen, dass man in einer gut ausgebildeten und gut bewaffneten Truppe, trotz der zu erwartenden Feuerwehreinsätze an der Front, bessere Überlebenschancen hatte als in einem der eilig aufgestellten und schlecht ausgerüsteten Haufen aus demotivierten alten Landsern, zur Front kommandiertem Kasernenpersonal und unzulänglich ausgebildeten Rekruten, wie es sie inzwischen immer häufiger gab.

Ich besprach dieses Problem mit meinem Vater, der als Major der Reserve bei einem Luftwaffenstab in Münster in Westfalen diente und gelegentlich zu einem Wochenendurlaub nach Hause kam. Er riet mir, mich für die Division Hermann Göring zu melden. Das war eine Einheit der Luftwaffe, aber eine motorisierte Panzergrenadierdivision, und wenn sie auch den Namen eines Nazibonzen trug, der mir wegen seines großmäuligen Gehabes und der weißen Operettenuniform, die seine popanzhafte Leibesfülle umspannte, ganz besonders zuwider war – es war jedenfalls nicht die Waffen-SS, die von einer Aura finsterer Gerüchte umgeben war.

Ich musste eine nicht besonders schwierige Prüfung ablegen, die aus einem Intelligenz- und Reaktionstest und einigen körperlichen Kraftübungen und Belastungsproben bestand, und wurde angenommen. Und um die Zeit bis zur Einberufung noch mit etwas Angenehmem auszufüllen, meldete ich mich zusammen mit einigen Klassenkameraden zu einem Tanzkursus an, dem letzten übrigens, der während des Krieges stattfand. Die Kommandos, die es hier gab, waren anderer Art als die, mit denen wir schon in der vormilitärischen Ausbildung aufgewachsen waren, und sie hatten manchmal etwas Lächerliches: »Eins zwei Wechselschritt, halbe Drehung und zurück.« Aber man hatte dabei ein Mädchen im Arm, und beim langsamen Walzer, der innigsten Umarmungsgelegenheit, lief immer wieder die Platte mit der schmalzigen Männerstimme: »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Die Erde versinkt, und wir zwei sind allein …« und so weiter in der Seligpreisung des Augenblicks in weichen, schwingenden Bögen, die die Illusion eines Lebens ohne Härte und Widerstand erzeugten, der man sich gerne ergab. Wenn man nach dem Kurs seine Tanzpartnerin nach Hause begleitete und zu einem Umweg überredete, der an einer einsamen Bank vorbeiführte, konnte es allerdings geschehen, dass auf einmal nah und fern die Sirenen aufheulten und uns daran erinnerten, dass der Himmel über unseren Köpfen ein Kriegsschauplatz war.

 

Im Frühjahr 1943 wurde ich für ein Vierteljahr zum Arbeitsdienst einberufen, was die übliche Vorstufe zum Wehrdienst war. Am ersten Besuchstag, nach vier Wochen Ausbildung, sah ich zum letzten Mal meine Mutter. Sie kam zwischen anderen Frauen, die auch ihre Söhne besuchen wollten, den Bergweg zum Barackenlager hoch, während die Abteilung zu einem kurzen Ausmarsch talwärts marschierte. Ich sah sie zuerst, aber nur aus dem Augenwinkel, da der Blick in der marschierenden Kolonne geradeaus gerichtet sein musste. Sie entdeckte mich, an der Kolonne entlangspähend, eine Sekunde später und stieß einen erschrockenen Schrei aus, den sie sogleich mit der Hand zu ersticken suchte. Was hatte sie gesehen? War ich ihr in der olivbraunen Uniform wie ein Todeskandidat erschienen?

Ich hasste ihre hysterischen Anfälle. Während der Bombennächte im ausgebauten Luftschutzkeller unseres Hauses, wo auch die Nachbarn Schutz suchten, begann sie zu meiner Beschämung, sobald die Bomben fielen oder auch nur die Flak feuerte, am ganzen Leib zu zittern, sodass ich gegen ihren Einspruch den Schutzraum verließ und mir das Flakfeuer am Himmel vom Kellerfenster aus ansah. Es war Krieg. Begriff sie das nicht? Musste sie alles nur aus ihrem kleinen ängstlichen Winkel sehen? An dem Sonntagmorgen, als die Sondermeldung vom Einmarsch in Russland im Radio kam, begann sie sofort zu weinen und erweckte in mir den Argwohn, sie weine, weil sie fürchtete, der Krieg dauere nun schon so lange, dass sie auch mich, ihren ältesten Sohn, schließlich noch ziehen lassen müsse, nachdem ihr Mann schon 1938, beim Einmarsch in die Tschechoslowakei, das Haus verlassen hatte.

Sie hatte das nicht verkraften können. Die anfangs wohl gute Ehe hatte einen Riss bekommen. Vermutlich befürchtete sie, dass ihr Mann dort, wo er stationiert war, eine andere Frau hatte. Er war in seiner Majorsuniform eine auffallende Erscheinung, während sie krank und depressiv und immer dicker wurde, nur noch schlechte Romane aus der Leihbücherei las und endlos Patiencen legte, die selten aufgingen und für mich – obwohl ich das so nicht hätte sagen können – ein Bild ihrer geistigen und moralischen Verwahrlosung waren. Ich musste ihre klammernde Umarmung abstreifen und meinem Vater folgen. Und dazu brauchte ich den Krieg. Geblieben ist mir ihr Aufschrei, als ich, ohne den Blick zu wenden, an ihr vorbeimarschierte. Bald darauf fuhr sie mit meinem jüngeren Bruder, auf der Flucht vor den Bomben, nach Oberschlesien, wo sie auf dem großen Gutshof, den der Bruder meines Vaters verwaltete, Unterschlupf suchte. Während der Fahrt bekam sie so schwere Gallenkoliken, dass sie sofort in ein Krankenhaus eingeliefert wurde und wenige Tage später an einer Operation verstarb. Sie war erst sechsundvierzig Jahre alt, aber sie hatte sich aufgegeben. Die in der deutschen Propaganda immer wieder gefeierte Heldenfrau und Heldenmutter war sie nicht.

 

Ihr Tod hatte für meinen fünf Jahre jüngeren Bruder einschneidendere Folgen als für mich. Ich hatte das Elternhaus schon verlassen. Er, der Zwölfjährige, wurde von heute auf morgen in ein billiges und schlecht geführtes Internat gesteckt. Dort blieb er bis zum Kriegsende sich selbst überlassen, zusammen mit anderen Jungen, die zu einem großen Teil auch aus vom Krieg zerstörten oder auseinandergerissenen Familien stammten und einen ständigen Kampf um das knappe und miserable Essen und die soziale Rangordnung untereinander führten.

 

Ich war krank, als ich vom Arbeitsdienst entlassen wurde. Wochenlang hatte ich in den Wasser- und Schlammfluten der Möhnetalsperre gearbeitet, deren Damm von einem britischen Lufttorpedo zerstört worden war. Mehrfach war ich wegen vereiterter Mandeln mit großen Dosen von Sulfonamiden verarztet worden. Um den künftigen Strapazen besser gewachsen zu sein, ließ ich mir gleich nach der Entlassung die Mandeln herausoperieren. Danach verbrachte ich noch einige Wochen im Haus einer Tante in Bad Honnef, machte lange Spaziergänge im Siebengebirge und versuchte, mich zu erholen. Meine Mutter war auf eigenen Wunsch auf dem dortigen Friedhof neben dem Grab ihrer Mutter begraben worden, und natürlich machte ich dort einen pflichtschuldigen Besuch, ohne dass sich viel in mir regte. Ich fühlte mich dumpf und benommen, abgeschnitten von meiner ganzen Vergangenheit und einer sich ständig verdüsternden Zukunft gegenübergestellt.

In diesem Frühjahr hatten die Russen im Norden, in der Mitte und besonders im Süden der Front große Gebiete zurückerobert, und im Juli war der deutsche Versuch, im Frontbogen von Kursk mit einer neuen Offensive die Initiative wieder an sich zu reißen, nach zwei Wochen unter schweren Verlusten zum Stillstand gekommen und hatte sich nach massiven Gegenangriffen weit überlegener russischer Kräfte in eine erneute Niederlage verwandelt. Nur an den Namen viel weiter westlich gelegener Städte, die nun in den Wehrmachtsberichten auftauchten, und an den pathetischen Floskeln vom tapferen Widerstand unserer Truppen konnte man ungefähr erkennen, was sich ereignet hatte, seit das Triumphgeschmetter der Sondermeldungsfanfaren im Rundfunk verstummt war. Aber es war gerade dieses undurchsichtige Dunkel, aus dem der kalte Hauch des Schreckens herüberwehte.

 

Die Nacht, bevor ich mich beim Wehrbezirkskommando in Düsseldorf melden musste, verbrachte ich im Elternhaus in Grevenbroich. Das war keine Sentimentalität, sondern hatte einen praktischen Grund. Von dort aus war es einfacher, morgens pünktlich in Düsseldorf zu sein. Beklommen sah ich die große Veränderung durch den Tod meiner Mutter. Alle Möbel waren in zwei Zimmern zusammengestellt, um die anderen Räume für eine ausgebombte Familie freizumachen, die zwei Tage später hier einziehen sollte. Immerhin, es gab den Garten, die Terrasse, auf der die Familie im Sommer bei schönem Wetter Kaffee getrunken hatte, das kleine runde Planschbecken unserer Kindertage, die drei großen Bäume hinter dem Zaun von Ackermanns Park, auf die ich, wenn ich auf dem Tisch am Fenster meine Schularbeiten machte, zu allen Jahreszeiten immer wieder geblickt hatte, es gab den Zusammenhang der Räume und der Stockwerke und über allem dieses Fluidum von Abschied und beginnender Unwirklichkeit. Ich war erleichtert, als ich am frühen Morgen das Haus verließ, um zum Bahnhof zu gehen.

Wir – ein ganzer Zug voller junger Männer meines Jahrgangs – siebzehn oder achtzehn Jahre alt – wurden nach Holland verfrachtet. Für mich und die meisten anderen war das die erste Fahrt ins Ausland. Ich hatte mich immer nur in der Reichweite einer längeren Fahrradtour von zu Hause entfernt, und auch in den Ferien war die Familie nie weiter als bis in den Westerwald gefahren. Das Zeitalter der weiten Reisen und des Massentourismus hatte noch nicht begonnen. Aber es hatte sein Vorspiel im Krieg, der die deutschen Soldaten in den ersten Jahren in einem immer weiter ausgedehnten Raum zwischen der Biskaya und der Wolga und dem Polarkreis und Nordafrika hin- und herbewegte, damit sie die größenwahnsinnige Drohung eines alten Nazikampfliedes wahr machten, das vor allem Jungvolk und HJ beim Marschieren gesungen hatten: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.« Ursprünglich hatte es »hört« geheißen. Beim Singen hatten wir »gehört« daraus gemacht. Nun waren wir also in Holland, einem besetzten Land.

In der Kaserne in Utrecht wurden wir eingekleidet. Auf dem Kasernenhof zeigte mir ein anderer Rekrut, den ich im Zug kennengelernt hatte, einen älteren Soldaten in Drillichzeug und sagte, das sei Gustaf Gründgens. Aus irgendeinem Grund war er bei Goebbels in Ungnade gefallen, und Göring hatte ihn aus dem Verkehr gezogen und hier bei der Truppe einstweilen in Sicherheit gebracht. Der bedeutende Mephistodarsteller sah jetzt merkwürdig banal und unauffällig aus.

Am nächsten Tag ging es weiter nach Alkmaar. Und dort wäre für mich die Reise beinahe für immer zu Ende gewesen. Wir befanden uns im Feindesland, und um Anschläge auf die Kaserne zu verhindern oder abzuschrecken, mussten nachts Streifenposten mit Gewehr und Handgranaten die umliegenden Straßen sichern, obwohl noch keiner von uns an der Waffe ausgebildet war. Als ich zur Wachstube ging, um meinen Dienst anzutreten, kam ein anderer Rekrut aus der Tür heraus, fummelte an seinem Karabiner und schoss knapp über meinem Kopf in die Wand. Der Schuss hallte durch die Gänge als dröhnender Beweis, dass die Waffen scharf geladen waren. In der Wand klaffte ein trichterförmiges Loch, und der Gang lag voller weit verstreuter Putzbrocken.

 

Unheimlich wirkte auf mich die völlige Stille der nächtlichen Straßen, durch die wir patrouillierten, entlang der Grachten und der langen Reihen kleiner Einfamilienhäuser aus Backsteinen, deren weißgekalkte Fensterumrahmungen sich auch in der Dunkelheit deutlich vom Mauerwerk abhoben. Ich betrachtete die vorgezogenen Erker neben den Haustüren, an denen meistens ein Türklopfer aus Messing blinkte, und empfand zugleich Fremdheit und Nähe dieser anderen Welt, deren Bewohner erst am Morgen wieder aus ihren Häusern hervorkommen durften und jetzt schliefen oder vielleicht, verborgen durch eine Gardine, die fremden Soldaten beobachteten, die ihr Land besetzt hatten und nachts die Straßen kontrollierten. Und versuchsweise sah ich mich mit ihren Augen, um mich dann selbst wie einen Darsteller in einem Film zu sehen, der durch eine Kulissenstadt wandert. Es gab fest stationierte Doppelposten und Patrouillen, die die einzelnen Postenstellungen abschritten. Aber das war kein lückenloses Sicherungssystem. Es wäre leicht gewesen, eine Patrouille aus dem Hinterhalt abzuschießen, denn wir gingen ohne jede Deckung zu zweit durch die leeren nächtlichen Straßen, in denen wir nur unsere eigenen Stiefelschritte hörten. Ein solcher Überfall hätte fürchterliche Folgen für die Bevölkerung dieser kleinen Stadt gehabt. Ich weiß nicht, welches Verhältnis für Vergeltungsaktionen nach bewaffneten Angriffen auf die deutschen Besatzungstruppen festgeschrieben und wohl auch bekannt gegeben worden war, aber ich denke, mindestens zehn zufällig herausgegriffene Holländer hätten für einen erschossenen deutschen Soldaten ihr Leben lassen müssen.

So umgab uns kriegsgemäß ausgerüstete Dreitagesoldaten, die wir mit einem Gefühl von Beklommenheit in der scheinbar friedlichen Nachtstille der verdunkelten Stadt unseren Rundgang machten, eine doppelte Angst. Dass sich nach der Sperrstunde kein Holländer mehr auf die Straße wagte, war Ausdruck der unmittelbaren Angst, von den Soldaten der Besatzungsarmee verhaftet zu werden. Unvergleichlich viel größer war sicher die Angst, Hitzköpfe aus den eigenen Reihen könnten unbedacht oder vielleicht sogar bewusst durch einen Überfall auf die deutschen Patrouillen eine schreckliche Vergeltungsaktion heraufbeschwören. Diese Angst war gelähmter Hass gegen die Besatzer, die die schöne moderne Schule mitten in der Stadt als Kaserne benutzten, überall im Land knappe Lebensmittel für die eigene Verpflegung beschlagnahmten und der Bevölkerung die harten Einschränkungen und Strafen einer Kriegsordnung aufzwangen.

Tagsüber war die unterdrückte Spannung zwischen der holländischen Bevölkerung und den deutschen Besatzungstruppen auch zu spüren, obwohl sie sich nur darin ausdrückte, dass die Leute auf der Straße an uns vorbeiblickten und uns nach Möglichkeit aus dem Weg gingen. Wir dagegen machten uns durch lauten Gesang bemerkbar, wenn wir morgens und mittags, am frühen Nachmittag und gegen Abend zwischen unserer im Stadtzentrum gelegenen Unterkunft und den außerhalb der Stadt gelegenen Übungs- und Exerzierplätzen hin- und hermarschierten. Nazilieder wurden nicht gesungen, sondern abgedroschene Soldaten- und Seemannsballaden wie »Die blauen Dragoner, sie reiten mit klingendem Spiel vor das Tor« oder »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord«. Von einer dieser romantischen Schmonzetten habe ich nur den Refrain in Erinnerung, der besonders inbrünstig gesungen wurde, vermutlich weil einige unter uns damit ihr uneingestandenes Heimweh beschwichtigten. Der Refrain, vom Marschtritt in kurze Segmente zerlegt, hatte seinen Höhepunkt in der kurzen Überdehnung der ersten Silbe des Wortes »Liebe«, der die zweite Silbe wie der trockene Knall eines Sektkorkens folgte. Der Refrain lautete: »Frag/ doch das Meer/ ob’s/ die Liiie-be/ kann schei-den. Frag/ doch das Herz/ ob’s/ die Treu-e brechen kann.«

Bei diesen täglichen Märschen richtete ich es immer so ein, dass ich mich in einem der äußeren Glieder der Kolonne befand und aus dem Augenwinkel die Straßen, die Häuser mit ihren Vorgärten und die Leute betrachten konnte. Ich war in einem fremden Land, das mir außerordentlich gut gefiel und mir mitten im Krieg als Inbegriff von Wohlstand und Frieden erschien. Nebenbei dachte ich auch über die beiden Fragen des Refrains nach und fand, dass man sie beide mit Ja beantworten musste.

Drei Wochen später wurden wir nach Bergen versetzt, wo in einem ausgedehnten Dünengelände die infanteristische Ausbildung begann. Obwohl wir oft nahe am Meer waren, sah ich es immer nur für Sekunden, wenn wir, gehetzt von der Kommandostimme eines Ausbilders, keuchend und durch den tiefen, rutschenden Sand watend, einen Dünenkamm überquerten. Manchmal kamen britische Spitfires über den Kanal, beschossen uns mit ihren Bordwaffen, ohne uns in den Dünenmulden zu treffen. Immerhin lieferten sie den Beweis, dass wir im Krieg waren. Anfang November erschien dann eine Offizierskommission aus Berlin und wählte aus dem angetretenen Bataillon eine Anzahl von Leuten für das sogenannte »Begleitregiment Hermann Göring« aus, das in Berlin-Reinickendorf stationiert war. Ich stand im dritten Glied während dieser Musterung, aber einer der Offiziere winkte mich heraus. Ich wusste nicht, ob das gut oder schlecht war, doch da ich keine andere Wahl hatte, war es ja auch egal.

3 Kasernenleben

Die in Holland Zurückgebliebenen waren, so hörten wir später, nach vierteljähriger Ausbildung nach Italien verlegt und dort Ende Januar gegen die südlich von Rom, bei Anzio und Nettuno gelandeten Amerikaner eingesetzt worden. Das waren erbitterte und wegen des massiven Einsatzes schwerer Waffen auch sehr verlustreiche Kämpfe, die vier Monate später mit dem Durchbruch der Amerikaner endeten. Wir dagegen waren in Berlin in einen vergleichsweise stillen Winkel des Krieges geraten, denn außer der Tatsache, dass die Bombenangriffe auf Berlin zunahmen und die Kompanie nächtliche Brandwachen in der Staatsoper Unter den Linden und im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt stellte, fand der Krieg für uns nur als tägliche Simulation auf dem weiten Übungsgelände der Jungfernheide statt, das heute zum größeren Teil vom Flughafen Tegel bedeckt ist.