Cover

Maggie Shipstead

Dich tanzen zu sehen

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Karen Nölle

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Maggie Shipstead

Maggie Shipstead, geboren 1983 in Mission Viejo, Kalifornien/USA, studierte Literatur in Harvard. Anschließend besuchte sie den berühmten Iowa Writers‘ Workshop und schloss dort 2008 mit einem Master of Fine Arts ab. Von 2009 bis 2011 hatte sie ein Stegner-fellowship in fiction writing an der Stanford University inne. Ihr erster Roman ›Leichte Turbulenzen mit erhöhter Strömungsgeschwindigkeit‹ (dtv 14386) wurde mehrfach ausgezeichnet und in sieben Sprachen übersetzt.

 

Karen Nölle, geboren in Hamburg, dort und in Kalifornien/USA aufgewachsen, studierte Anglistik, Romanistik, Germanistik und Philosophie. Nach mehrjährigen Dozenturen ist sie seit 1984 als literarische, vielfach ausgezeichnete Übersetzerin tätig, u. a. von Alice Munro, Doris Lessing, Tricia Adaobi Nwaubani, Annie Dillard und Andrea Barrett. Sie lebt in Niederkleveez/Schleswig-Holstein.

Über das Buch

Joan weiß, ihr steht ein Abschied bevor, ein Abschied, der sich anfühlt wie ein Urteil und ein bitteres Eingeständnis zugleich: Joan ist schwanger, und ihre Karriere als Tänzerin ist beendet, bevor sie beginnt – falls sie denn jemals begonnen hätte. Überstürzt heiratet sie ihren Schulfreund Jacob, und das Paar zieht von New York nach Kalifornien, in eine einlullende Mittelklasse-Existenz, in der sich beide unausgesprochen nach der Welt des Balletts verzehren: Joan nach dem Tanz, Jacob nach der Tänzerin, die Joan einst war. Jahre später, die große Genugtuung: Harry, der Sohn, zeigt in der Ballettschule seiner Mutter vielversprechendes Talent. Wie sehr er doch an den russischen Ballett-Star Arslan Rusakow erinnert, dem Joan vor Jahren auf seiner Flucht in den Westen half. Arslan, der Unerreichbare, Joans große Liebe. Wehmütige Erinnerungen an Paris verbinden sich mit ihm, aber auch rasende Eifersucht, Demütigung und Verzweiflung. Wie seltsam, dass sich ein ähnliches Liebesdrama im Leben ihres Sohnes Harry wiederholt. Joan lebte ihre Liebe und tanzte um ihr Leben; ihr Sohn Harry setzt, wie sein großes Vorbild Rusakow, beides, Liebe und Leben, in Tanz um.

 

Maggie Shipstead erzählt mit der Anmut und Präzision einer Choreografin aus der rigorosen und zugleich faszinierenden Zauberwelt des Balletts, in der Eleganz und Präzision mit körperlicher Pein, Seelenschmerz und eiserner Disziplin errungen sind. Es ist eine Welt, in der Eros und Tanz eins sind.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2015

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2014 by Maggie Shipstead

Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Astonish Me‹

Erschienen bei Alfred A. Knopf, Borzoi Books, and the colophon are registered trademarks of Random House, LLC

Der Titel der deutschsprachigen Ausgabe wurde in Abstimmung mit der Autorin gewählt.

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von Trevillion Images / Liz Dalziel

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42863-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26089-3

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv/ebooks.de

ISBN (epub) 9783423428637

Zwei geliebten Freunden

 

NICHOLAS,

der weiß, wo sich Kunst und Leben begegnen,

 

und

 

MICHELLE,

die mit mir ins Ballett geht.

I

September 1977

New York

Neben der Bühne, hinter einem Metallgestell mit aufgerollten Kabeln und Seidenblumengirlanden und den saitenlosen Lauten aus dem ersten Akt, liegen zwei schwarze Dackel in einem Korb. Sie sind wach, aber still; ihre kleinen flinken Augen folgen den Tänzerinnen, die lächelnd von der Bühne gehüpft kommen und sich dann jäh ihrer Erschöpfung hingeben, die Hände auf die Hüften stützen und mit gesenkten Köpfen schwer atmen, wie Rennpferde. Sie ziehen Taschentücher aus Schachteln, die an den Lichtgerüsten befestigt sind, und trocknen sich Gesicht und Hals. Schweiß tropft auf den Boden. Ein Gehilfe schiebt einen nach Ammoniak stinkenden Mopp herum. Der Pas de deux beginnt. Draußen im Licht zwei russische Stars, beide Überläufer. Der Bühnenboden schimmert wie schwarzes Eis; er ist mit Kolophonium bestäubt wie mit Schnee.

Normalerweise beachten die Mitglieder der Compagnie die Hunde nicht, doch Joan Joyce hockt sich zu ihnen und streichelt ihre langen Rücken. Sie krault ihre samtigen Ohren und glatten kleinen Schädel. Die Hunde weichen vor ihr zurück, aber sie lässt sich nicht beirren. Hinten im Schatten stehen andere Tänzerinnen dicht gedrängt und warten, die Tutus wie ein großer Teppich aus steifen Lavendelblüten.

»Was machst du da?«, flüstert eine. »Du darfst sie nicht anfassen.«

In der Nähe sitzt Joans Mitbewohnerin, die Solotänzerin Elaine Costas, an der Wand und dehnt sich. Sie hat die Sohlen ihrer Spitzenschuhe aneinandergelegt wie Hände zum Gebet und beugt das Gesicht zu ihnen hinunter. Ihr Kostüm ist gelb, das Mieder goldbestickt. »Wenn Ludmilla vorhätte, Joan zu ermorden«, sagt sie und blickt auf, »hätte sie es längst getan.«

Einer der Hunde stellt eine Pfote auf Joans Handgelenk und stemmt sich dagegen, die harten schwarzen Krallen graben sich tief in ihre Haut. Sie küsst die Luft über seinem Köpfchen. Er hebt die Ohren, besinnt sich und legt sie wieder an, verliert das Interesse. Joan hat noch nie so gut getanzt wie heute Abend. Sie ist mit der Compagnie verschmolzen und war dabei vollkommen sie selbst, zugleich ein Teil und in sich ganz. Der winzige Zellhaufen an ihrer Gebärmutterwand ist ein Geheimnis, aber sie fühlt sich so durchscheinend und licht wie eine Libelle.

In dem hellen Streifen zwischen den schwarzen Vorhängen erscheinen Arslan Rusakov und Ludmilla Yedemskaya und bleiben stehen, im Glanz von Schweiß und weißem Licht. Er dreht ihre Taille zwischen seinen Händen, das Gesicht zu einer Maske der Hingabe erstarrt. Liebe im Ballett ist etwas, das erst nicht da ist und dann plötzlich erblüht, mitten in einem Tanz, pantomimisch markiert durch Glückseligkeit in den Mienen. Danach, wenn sie hinter den Kulissen oder dem Vorhang verborgen sind, ziehen die Tänzer groteske Grimassen und zeigen ihre Schmerzen.

Zu Hause in ihrer Wohnung gibt Elaine manchmal eine wenig schmeichelhafte Imitation von Arslans Liebesmiene zum Besten; sie tanzt stolzgeschwellt, um sich dann um hundertachtzig Grad zu drehen und Ludmillas Lächeln zu parodieren: entblößte Zähne unter kalten, harten Augen. Joan lacht und verlangt nach mehr, aber der Spott tut weh. Arslan war mal ihr Liebhaber. Sie ist diejenige, die ihm zur Flucht verholfen hat.

Mit Ludmilla war er zusammen gewesen, als sie beide noch beim Kirow waren, und jetzt wollen sie heiraten. Sie haben ihre Verlobung nach einer Aufführung von ›Schwanensee‹ bekannt gegeben, mit Champagner für die ganze Compagnie. Auf Ludmillas Haupt schwebte eine Krone aus weißen Federn. Zwischen Joan und Arslan war es schon vor Ludmillas Ankunft aus gewesen, aber dennoch weckt die zierliche Russin mit dem hellen Haar bei Joan noch immer das Gefühl, verhöhnt und bestohlen worden zu sein, beraubt.

Applaus. Ludmilla fegt hinter die Bühne. Die Musik zu Arslans Variation beginnt. Joan streichelt weiter die Dackel, aber die Hunde recken die langen Hälse nach ihrem Frauchen. »Sie sind nicht nett«, sagt Ludmilla nach einem Augenblick, ihr Akzent tonlos und hart, als hätte sie einen Stein im Hals. »Du solltest nicht anfassen.«

Als sich Ludmilla vor der Aufführung warm machte, waren die Dackel traurig um sie herumgestrichen, immer in der Gefahr, getreten zu werden. Sie scheint ihnen niemals Aufmerksamkeit zu schenken, bringt sie aber zu jedem Training, jeder Probe, jeder Anprobe, jeder Aufführung, jeder Gala mit. Arslan hat sie ihr zur Ankunft in New York geschenkt, als Ersatz für die Dackel, die in Leningrad geblieben waren. Sie sind ihr zugewandt wie so viele, mit ihren knochigen, bußfertigen Gesichtern. Sie würden niemals darauf kommen zu bellen, nicht einmal, wenn Zimbeln krachen oder Bühnenarbeiter die Nebelmaschine anwerfen, um Zauberschwaden zu erzeugen oder die Wasseroberfläche eines Sees anzudeuten.

»Sie wirken lieb«, sagt Joan.

Ludmilla, die sich die Wangen mit einem Taschentuch abtupft, schaut sie belustigt und boshaft an. »Sie beißen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Es sind meine Hunde, nicht deine Hunde, aber wenn du willst gebissen werden, mach, wie du denkst.«

»Mach, wie du denkst« hat sie von Arslan; es ist eine Wendung, die Joan benutzt. Sie hat sie Arslan beigebracht, und nun hat er sie an Ludmilla weitergegeben. Joan streicht den Dackeln ein letztes Mal übers Fell – einer entblößt die winzigen scharfen Elfenbeinzähne genauso anmutig und drohend wie sein Frauchen –, dann steht sie auf. Ludmilla wendet sich ab, um Arslan zuzusehen, der in der Mitte der Bühne Pirouetten dreht (Er ist ein Prinz! Heute wird er Hochzeit feiern!), während die Musik schneller wird und Schweiß aus seinen Haaren spritzt. Arslan tanzt mit dem Dirigenten um die Wette, er will möglichst viele Drehungen unterbringen. Wenn er fertig ist, wird das Publikum wie immer rasen und ihm lautstark huldigen. Die Ovation ist selbstverständlich, aber er wird sie sich trotzdem verdient haben. Er ist herausragend. Die Zuschauer lieben ihn, weil er herausragend ist und weil er im Feindesland geboren, aber hierhergekommen ist, um für sie zu tanzen.

Ende der Musik. Seine letzte Drehung wird einen Schlag zu spät vollendet. Das Gebrüll bricht aus dem Bauch des Theaters hervor und schallt bis in den letzten Winkel des Hauses. Arslan verbeugt sich, verbeugt sich ein zweites Mal, macht eine kleine Kopfbewegung. Ludmilla steht auf, hebt die Arme über den Kopf und schreitet geschwind auf die Bühne hinaus. Ihre Variation beginnt, aber Joan sieht nicht zu.

Joan kennt viele Tänzerinnen, die schwanger waren, aber nur wenige, die es geblieben sind, und nur eine, die hinterher wieder in die Compagnie zurückgekehrt ist – eine Primaballerina, die so berühmt war, dass man ihr die Monate der Abwesenheit und ihren langen Kampf um die alte Form verzieh. Für die meisten Frauen, die Joan kennt, ist ein Kind undenkbar. Der Körper ist bereits versprochen; der Körper ist vergeben. Sie selbst ist erst ungefähr in der achten Woche, und es ist noch nichts zu sehen, aber sie findet es überraschend, dass bisher niemand etwas gemerkt hat. Die Tänzerinnen beobachten einander genau und melden jeden Verdacht von Schwäche. Joan meint, dass Elaine etwas vermuten könnte, aber es liegt nicht in ihrer Natur, zu fragen oder Dinge auszuplaudern. Normalerweise teilen sie sich morgens vor dem Training eine Banane, aber weil ihr übel ist und sie Hunger hat, toastet Joan sich neuerdings mit Vorliebe Waffeln und isst sie mit Erdnussbutter. Elaine vertilgt ihre halbe Banane, sieht zu, wie das klebrige Messer die Masse verstreicht, und sagt nichts. Zum Glück vergeht Joans Übelkeit fast immer während des Morgentrainings. Sie hat sich noch nicht durch Erbrechen verraten.

Im Juli, nach dem Stromausfall, hatte sie eine leichte Verstauchung vorgetäuscht und war nach Chicago geflogen, um Jacob zu besuchen. Sie ist nicht mit ihm zusammen. Auf der Highschool hatten sie sich als beste Freunde präsentiert, voll Stolz auf ihren Status als treues, aber platonisches Paar, eine Beziehung, die ihnen modern und abgeklärt erschien, Welten entfernt von den kurzlebigen, schweißfeuchten, hormongesteuerten Paarungen, die um sie herum stattfanden. Doch Joan hatte gewusst, dass Jacob mehr wollte. Er war sehr lange zu schüchtern gewesen – und zu stolz –, um sich zu erkennen zu geben.

Einmal, kurz bevor er zum Studium fortging, hatte er sie geküsst. Es war ein Kuss gewesen, der nach etwas Ungeheurem verlangte. Als sie ihn wegstieß, war er wütend geworden, und sie hatte diese Wut gegen ihn verwendet, ihn damit bestraft und sich dahinter versteckt. Dann war er aufs College gegangen, und sie hatten sich Briefe geschrieben, das schien sicherer.

Sie vermutet, dass Jacob noch immer ihr bester Freund ist, obwohl sie in der Zeit mit Arslan und danach, als sie sich von der Beziehung mit Arslan erholte, zugelassen hat, dass ihre Freundschaft brachlag und von Unkraut überwuchert wurde. So legt sie sich das gern zurecht – ihre Verbindung mit Jacob hat geruht und sich nun erneuert; das ist besser, als sich einzugestehen, dass sie ihn vernachlässigt hat. Aber Jacob ist ein Mensch, der vergibt, der tröstet, der geduldig ist.

In Chicago hatte er zunächst so getan, als wollte er ihre Highschool-Freundschaft fortsetzen. Er hatte sie in eine laute Bar geschleppt, in der es abgestanden roch, Anspielungen auf die neueste Frau in seinem Leben gemacht, sich von Joan die Getränke bezahlen lassen und im Tonfall eines Bruders gefragt: »Was gibt’s Neues von Arslan dem Schrecklichen?« Doch es war nicht schwer gewesen, die Sache umzupolen. Sie hatte in der Bar seinen Arm berührt, sich an ihn gelehnt, ihn auf dem Heimweg zu seiner Wohnung sanft angerempelt und ihm beim Absacker gestanden, ihn vermisst zu haben. »Ich hab’s mir überlegt«, sagte sie. »So wie du mich damals gebeten hast.«

»Ja?«, sagte er vorsichtig. Sie saßen auf seinem Schaukelsofa.

»Ich denke, vielleicht.«

»Vielleicht was?«

Sie hatte Angst ihn anzusehen. »Einfach, weißt du, vielleicht.«

Joan hatte mit einem langen nächtlichen Gespräch gerechnet, voller Zögern, Hin und Her, Erinnern und Abwägen. Doch er hatte bloß die Brille abgesetzt und sie vorsichtig auf seinen vollgemüllten Couchtisch gelegt, um sich dann auf sie zu stürzen wie dereinst, als sie Teenager waren. Sie musste unwillkürlich lachen.

»Was ist?«, fragte er.

»Nichts«, sagte sie. »Entschuldige. Nur nervös.«

Sie hatten überhaupt nicht über Pillen oder Kondome gesprochen. Offenbar hatte er alles vermeiden wollen, was das nun endlich Bevorstehende behindern konnte.

Ludmilla tanzt mit schnellen Drehungen diagonal über die Bühne, während die Musik sich zum Ende ihrer Variation hin steigert. Die Corps-Tänzerinnen in ihren lavendelblauen Tutus schütteln die Beine aus, machen sich bereit. Joan spürt, wie ungeduldig das Publikum darauf wartet, zu applaudieren. Die Hände werden wie gegen eine Magnetkraft auseinandergehalten. In diese Spannung wickelt sich Ludmilla mit ihren Drehungen ein.

Joan weiß, wenn ihr Bauch sichtbar wird, wenn man ihr Geheimnis entdeckt, werden sich Reue, Trauer, Panik melden – doch jetzt durchströmt sie Zielstrebigkeit wie der Klang des Jagdhorns aus dem zweiten Akt. Joan ist überrascht von der Stärke dieses Gefühls, von der Art, wie es sich in ihr ausbreitet.

Applaus. Sie reiht sich zwischen den anderen ein und wird ins Licht hinausgezogen.

 

Hinter ihnen liegt ein langer, heißer, chaotischer Sommer. Die Zivilisation wirkt brüchig. Als in einer Julinacht der Strom ausfiel, zogen Tausende plündernd durch Manhattan und zündeten Geschäfte an. David Berkowitz wurde mittlerweile verhaftet, doch das Gespenst der Willkürmorde geht weiter um. Elaine kennt sämtliche Türsteher in der City und hat Joan zu Partys gelockt und in Nachtklubs voll Rauch und pulsierendem Licht, in denen plötzlich schillernde Gestalten vor einem stehen, manche in Verkleidung – Kleopatra, Einhorn, Dionysos –, Wesen, die slippen und sliden, sich wie Kreisel drehen und nichts darauf geben, wie sie tanzen, sondern nur, dass sie tanzen. Hotspots. Joan muss dabei an Geysire, Vulkanausbrüche denken. Sie mag weder Menschenmassen noch Gedränge, aber sie hat die grinsende Koksermondsichel im ›Studio 54‹ gesehen und von der Tür aus in den Orgienraum von ›Plato’s Retreat‹ gelugt und sich von mehr als einem Bekannten, der jemanden kannte, der wieder jemanden kannte, durch kaputte Stadtteile und versteckte Treppenhäuser zu illegalen Partys in gigantischen Lofts entführen lassen. Elaine sieht nicht wie eine Ballerina aus, wenn sie nachts unterwegs ist – sie wird auf der Tanzfläche geschmeidig und locker und passt sich den Schritten jedes Mannes an, der vor ihr auftaucht –, doch Joan ist zu präzise, zu reserviert, zu bieder. Sie hat Drogen probiert, aber die haben auf sie nur den Effekt, dass sie sich auf einer Bank festklammert oder in einer Toilettenkabine versteckt, weil sie sich vor Angst nicht mehr rühren kann.

Elaine führt sich regelmäßig begrenzte Mengen von Kokain zu, ohne dass es sichtbare Folgen hätte. Der Schlüssel, so hat sie Joan verraten, ist Kontrolle. Kontrolle ist der Schlüssel zu allem. Bei Kokain hält Elaine strikt Maß, ein strenges Reglement wie bei Medizin. Sie gestattet sich eine Prise vor der Aufführung für ihr Selbstvertrauen und vielleicht eine zweite in der Pause, wenn sie durchhängt. Sie zieht ein- oder zweimal (nie mehr als zweimal) die Woche eine oder zwei – nie mehr als zwei – Lines, wenn sie ausgeht, und sie ersetzt das Mittagessen durch Koks, wenn sie ein paar Pfund abnehmen will. Sie giert nicht nach dem High, braucht es nicht ständig, will nur den Schub, den das Zeug ihr gibt. Wenn ihr das Geld fehlt und sie keinen Mann hat, der sie damit versorgt, lässt sie es einfach sein. Kein Problem. Auf die Art ist die Droge in den Alltag integriert, von vornherein streng geregelt, und bleibt ohne Einfluss auf das, was wichtig ist: das Tanzen.

Elaine hat immer Männer, aber sie ist nie verliebt, außer in Mister K., den künstlerischen Leiter, der ebenfalls an Reglements glaubt. Ihre Liebe kann und muss sich an Regeln halten. Deshalb war Joan erstaunt, wie viel Verständnis Elaine während der stürmischen, aussichtslosen Affäre mit Arslan für sie gezeigt, wie geduldig sie ihr zugehört hatte, wenn sie sich mit dem Eifer einer Verschwörerin die hypothetischen Ereignisse, Einsichten und Erklärungen ausmalte, die ihr, sobald sie Wirklichkeit würden, Arslans dauerhafte Zuneigung garantieren würden. Arslan! Ein Mann, der nie treu gewesen war und der sie nicht zu lieben schien. Vielleicht hatte Elaine die Nähe zu einer Liebe genossen, die sich keinen Regeln unterwarf, die Brise der Leidenschaft, von der sie gestreift wurde, das Schauspiel einer anderen, der die Kontrolle entglitt. Sie muss eine Sehnsucht danach verspüren, sonst würde sie sich nicht dermaßen ins Nachtleben stürzen. Joan fragt sich, was sie über ihre Schwangerschaft denken wird – oder vermutlich schon denkt.

Die Reinigungskräfte bewegen sich durch das Theater, klappern mit den Kehrblechen. Die Zuschauer sind voll schwärmender Begeisterung auf die Columbus Avenue hinausgeströmt. Arslan und Ludmilla haben sich durch den Künstlereingang davongemacht. Der morgige Tag wird mit der Trainingsstunde für die Compagnie beginnen. Fast jeder Tag beginnt mit Training, und die übrigen sind formlos und schwierig. Nur die Stunden, die von der Nacht noch übrig sind, trennen Joan von weiterem Dehnen, weiterem Tanzen, vom Klimpern und Hämmern des Klaviers, während sie alle an der Stange stehen und Mister K., den Pullover um die Schultern geschlungen, im Auf- und Abgehen sagt: Und öffnen, und zwei, und noch einmal, das Bein lang und HOCH, halten, halten, halten. Nein, Mädel. So.

Joan sollte zusehen, dass sie Schlaf bekommt, aber sie hat noch keine Lust, in ihr Apartment zurückzukehren. Dort schläft sie in einem Einzelbett hinten im kleinen Wohnzimmer. Zum Schutz ihrer Privatsphäre hat sie hoch an der Wand einen bunten indischen Stoff befestigt und schräg über das Bett drapiert wie ein Zelt, aber das Zimmer wirkt dadurch ärmlich und ungemütlich. Das ist es auch. Das Apartment ist bloß ein Landeplatz für die Zeit zwischen Übungsstunden und Aufführungen, zwischen Männern und zur Erholung von den Hotspots.

Sie findet Elaine in der Garderobe der Solotänzer.

»Willst du noch irgendwo hingehen?«, fragt sie an der Tür.

Elaine steht in ein Handtuch gewickelt da, bürstet ihren glatten schwarzen Vorhang aus Haar und betrachtet sich dabei im Spiegel über dem langen Schminktisch. Auf der Platte steht ein Plastikbecher mit Wein, umringt von bunten Lidschattenpfännchen, Rougetiegeln, Puderdosen, falschen Wimpern in kleinen Plastikbehältern. Der Wein hilft ihr, abends runterzukommen. Zwei Gläser sind das Limit. »Klar. Wohin?«

»Keine Ahnung. Ich dachte, du wüsstest was.«

Elaine winkt ihr. »Komm schon rein.«

Ein paar andere Solotänzerinnen sind auch noch da. Eine reinigt sich die Augenlider mit einem Wattebausch. Eine föhnt sich nackt die Haare. Eine Dritte hängt sich die Tanztasche über die Schulter, verlässt den Raum und klopft Joan zum Abschied freundlich auf die Schulter. Eine Ankleiderin läuft durch den Raum, sammelt Strumpfhosen zum Waschen ein, rückt Kostüme auf Bügeln zurecht, hängt die Bügel auf einen Rollständer. Joan schlüpft in die Garderobe und lehnt sich an den Rand eines Tischs.

»Hast du was anderes anzuziehen?«, fragt Elaine.

Joan schaut an sich hinunter auf ihre Jeans und Plateausandalen, das gestreifte Trägertop. »Nein.«

»Dann sollten wir vorher nach Hause gehen.«

»Nein, Elaine, bitte, dann verliere ich meinen Schwung. Lass uns irgendwo hingehen, wo’s nicht drauf ankommt. Es muss nichts Dolles sein. Nur ein Drink irgendwo. Ich will nicht gleich nach Hause.«

»Na, okay.« Elaine zieht ihre Tanztasche unter dem Tisch hervor und wühlt darin herum. Sie wirft Joan ein lila Stoffbündel zu. »Hier.« Joan entfaltet eine lockere, duftige Bluse mit einem tiefen Ausschnitt. Sie schlüpft aus ihrem Top und zieht sich die Bluse über den nackten Oberkörper.

»Sieht man meine Brustwarzen durch den Stoff?« Sofort tut es ihr leid, Aufmerksamkeit auf ihre Brüste gezogen zu haben, die schon geschwollen sind.

Elaines Augen sind wach und grün und sitzen so dicht neben ihrer langen schmalen Nase, als hielten sie diese an ihrem Platz. Ihr Ausdruck verändert sich nicht. »Nein, kaum«, sagt sie. Sie dreht sich zu der nackten Tänzerin mit dem Föhn um. »Yvette, hast du was, das ich mir zum Ausgehen leihen könnte?«

»Ich habe ein kleines Gelbes«, sagt Yvette.

Es ist ein sehr kleines Gelbes, aber es steht Elaine, so wie ihr fast alles steht. »Willst du mit auf eine Party?«, fragt Elaine.

Yvette, die gerade den Reißverschluss eines anderen knappen Kleides zuzieht, klappert langsam und mechanisch mit den Wimpern wie eine Puppe. »Ja«, sagt sie schließlich. »Das wäre sehr nett.« Joan ist enttäuscht, obwohl sie Yvette mag und sie für harmlos und unbedarft hält. Yvette ist in Frankreich geboren und hat noch Spuren eines Akzents und europäischer Zurückhaltung behalten, obwohl sie seit dem Kindergarten in New York lebt. Doch Joan ist wehmütig, weil das Ende ihres Ballettlebens naht, und hat sich einen Abend allein mit Elaine vorgestellt, als Erinnerung nur für sie beide, obwohl Elaine vermutlich ohnehin verschwinden wird, sobald sie irgendwo ankommen. Sie hat eine Art, sich auf Partys in Luft aufzulösen, und wird immer gleich vom Trubel verschluckt.

Draußen steigen die drei in ein Taxi nach Downtown. Durch die Fenster bläst mächtig der sommerliche Atem der Stadt; er riecht nach Müll und Benzin, und sie lehnen sich in der warmen Luft zurück, fast ohne zu reden, erschöpft und aufgeputscht zugleich. Ihr Blut durchströmt sie, als hätte das Tanzen ihre Adern geputzt. Joan wird es in ihren Jeans und der geborgten Bluse bereits zu warm. Sie beneidet die beiden anderen um ihre Kleidchen, auch wenn ihre Beine bestimmt an dem schmutzigen Kunststoffbezug der Sitze festkleben. Der Fahrer schaut in den Spiegel, auf seinen silbernen Brillenrändern funkeln die roten und grünen Lichter der Ampeln. Er lenkt sanft und sorgsam mit seinen plumpen Händen. Die meisten Taxifahrer flirten ein bisschen, wenn Tänzerinnen zusammen unterwegs sind. Sie schlagen ihnen vor, wohin sie gehen sollten, sagen ihnen, wie hübsch sie alle aussehen, aber das tut dieser nicht. Er begnügt sich mit Blicken in den Spiegel wie einer, der über einen Zaun späht.

Die Party findet in der Nähe des Astor Place statt, in einem Backsteingebäude, von dem die gelbe Farbe abblättert, mit einer rostigen Feuerleiter. Anders als sonst bei Elaine ist es keine schicke, schrille Pillenschluckerparty, sondern einfach eine Party, eine Zusammenkunft von verschwitzten, trägen Menschen in einer verrauchten Wohnung. Aus den Stereolautsprechern ertönt Edith Piaf. Joans Sorgen wegen Yvette erweisen sich als unbegründet, denn sie wertet die französische Musik als Willkommenszeichen, steuert auf den Tisch voller Flaschen am anderen Ende des Zimmers zu und grüßt auf dem Weg dahin zu beiden Seiten Fremde mit kleinen Bonjours.

»Ein Drink?«, fragt Elaine.

»Nein, ich muss abnehmen.«

Elaine angelt eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Handtasche. »Willst du?«

»Nein, danke.«

Als Elaine sich ihre Zigarette anzündet, umspielt ein wissender Ausdruck die geschürzten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen.

Joan sagt: »Ich weiß nicht, warum Yvette noch immer diese Franzosennummer abzieht.«

»Sie ist gerade noch französisch genug, um so zu tun, als wäre sie Französin. Ich weiß nicht – guck sie dir an. Es funktioniert. Ich sollte es eigentlich dämlich finden, aber es stört mich nicht.«

Zusammen schauen sie zwischen den Leuten hindurch. An dem Tisch, der als Bar dient, lächelt Yvette zu einem großen, gut aussehenden Schwarzen empor. Sie senkt den Blick seitlich, murmelt etwas, sodass er sich zu ihr hinunterbeugen muss.

»Ich hol mir was zu trinken«, sagt Elaine. »Und hoffentlich einen sehr langen Mann.«

Joan hält sie am Arm fest. »Nein, mach das nicht. Sonst sehe ich dich nie wieder. Weil du verschwindest.«

»Die Wohnung ist winzig.«

»Du schaffst es immer.«

»Dann komm mit. Fünf Schritte. Wir können uns aneinanderbinden, wenn du willst.«

Joan folgt ihr. »Woher wusstest du von dieser Party?«

»Ich bin vor ein paar Monaten mit dem Typ, der hier wohnt, nach Hause gegangen, und dann habe ich ihn neulich getroffen. Er hat mir erzählt, dass er heute feiert. Ich wollte eigentlich gar nicht kommen, aber dann hast du … Er ist – wo ist er? – oh, da, das ist er.« Sie deutet durch die Menge auf ein blasses Gesicht mit vollen blassen Lippen und kleinen blassen Augen. Es ist von den roten Locken einer Frau halb verdeckt, nickt höflich, lächelt listig. Das Lächeln eines Mannes, der weiß, dass Frauen gerne glauben, sie wären witzig.

»Er sieht gut aus.«

»Nicht wahr? Fand ich auch.« Elaine schenkt Bourbon in einen Becher und hält Joan die Flasche hin. »Wirklich nicht?«

Joan schüttelt den Kopf. »Deine Männer sehen immer gut aus.«

»Ich würde den nicht als einen meiner Männer bezeichnen. Wie heißt er noch … Christopher? Ich bin nicht sicher. Ich hätte ihn fragen sollen, als ich ihn wiedergetroffen habe, aber das kam mir unhöflich vor. Vielleicht können wir es geschickt von jemandem hier erfahren.«

»Außer Mister K. … Der sieht nicht gut aus.«

»Mister K. muss nicht gut aussehen. Er ist ein Genie. Das müsstest du doch wissen. Arslan muss auch nicht gut aussehen.«

»Arslan sieht gut aus.«

»Nein, Arslan ist sexy. Aber er ist kein Genie so wie Mister K. … Mister K. … ist ein Schöpfer. Mister K. … hat alles verändert.«

»Na komm, erzähl mir mehr von deinem Freund, von deinem alten, schwulen Freund.«

Ungerührt klopft Elaine ihre Asche in eine leere Weinflasche. »Etiketten sind Zeitverschwendung. Jemanden besitzen zu wollen auch. Ich weiß über ihn Bescheid.«

»Gott«, sagt Joan, »es ist unglaublich, wie befreiend das ist, sich nichts mehr aus ihm zu machen. Ich habe heute Abend zugesehen, wie er mit Ludmilla durch den Bühneneingang rausgegangen ist, und hatte nicht das Gefühl, mich umbringen zu wollen. Endlich. Ich bin geheilt. Es ist himmlisch.«

»Hmm.« Elaine zieht an ihrer Zigarette und wirft sie in die Weinflasche. »Ich glaube, du bist schwanger.«

Joan lächelt zum Boden hinunter und zieht ihren großen Zeh in einem Bogen über das Linoleum. »Wegen der Waffeln?«

»Du machst in letzter Zeit ständig den Eindruck, du wärst dabei, dich zu verabschieden, so als wolltest du gleich in einen Bus steigen.« Elaine sieht sie prüfend an. »Hast du es Jacob schon gesagt?«

»Nein.« Joan beobachtet den hilfsweise als Christopher bezeichneten Mann, wie er mit einem Krug Rotwein durch den Raum geht und Gläser und Becher füllt. Dies ist das erste Mal, dass sie mit jemandem über die Schwangerschaft spricht, außer der Ärztin, die ihr zur Vorsorge Vitamine verschrieben hat. Und Jacobs Name ist mit einer schwierigen, sehr plötzlich eingetretenen Zukunft belastet.

Auf der Highschool war sie zu dem Schluss gelangt, dass ihr leises sexuelles Interesse an Jacob nichts weiter war als ein natürlicher Ableger ihres allgemeinen sexuellen Erwachens. Jacob war jünger, was nicht sexy war, und trug eine kleine Nickelbrille, die damals ein wichtiges Zeichen für irgendwas zu sein schien. Er hatte sie offensichtlich gern, was nicht sexy war, er hatte wahnsinnig gute Noten, und er war ein bisschen unsicher (nicht sexy, gar nicht sexy). Joan hingegen hatte einiges, aus dem sie Kapital schlagen konnte: den Nimbus des Balletts, ihre Zierlichkeit, ihre Gelenkigkeit und die Anmut, die ihr antrainiert worden war, bis sie schlicht außerstande war, sich unbeholfen zu bewegen. Viele Jungs wollten mit ihr ausgehen, und es war einfach mit ihnen auszugehen, während es mit Jacob anders gewesen wäre.

Aber immer wenn sie nebeneinander im Kino saßen oder allein zu Hause zusammen fernsahen und dabei ohne zu reden oder sich anzusehen auf dem Sofa saßen, verhielt er sich so still, dass sie spürte, wie er sich zurücknahm und jede Bewegung vermied, die verraten könnte, was er wollte. Und dann wendete sich ein verborgenes Sinnesorgan in ihrem Innern ihm zu und tastete seine Qualitäten ab.

»War es Absicht?«, fragt Elaine.

»Natürlich nicht.«

»Tu dir das nicht an, wenn es nur darum geht, vor Arslan wegzulaufen.«

Seit sie schwanger ist, hat sich der Stromschlag, der sie bei jeder Erwähnung von Arslans Namen durchfuhr, zu einem kleinen Stich abgeschwächt, wie von zwei kaum geladenen Drähten, die sich berühren. »Darum geht’s nicht. Wirklich nicht. Es mag sein, dass ich vor allem anderen weglaufe, aber ich muss weg. Ich muss was anderes finden. Für dich ist Ballett das Leben. Du wirst es schaffen. Bei mir war das immer aussichtslos.«

»Also war es doch Absicht.«

»Nein!«

»Egal. Jetzt ist es passiert. Aber du musst nicht … du könntest, weißt du, du könntest einfach bei der Compagnie aufhören. Ohne ein Kind zu kriegen. Dir eine Arbeit suchen. Was anderes machen.«

Joan schüttelt ernst den Kopf. »Ich könnte nicht einfach aufhören. Ich habe darüber nachgedacht. Aber ich bin zu feige. Ich kann nicht in New York bleiben, wenn ich nicht tanze, und ich wüsste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Und auch nicht, was ich machen will.«

»Und jetzt zählst du darauf, dass Jacob das alles für dich erledigt. Das klingt wirklich total durchdacht, Joan. Jacob tut mir leid, er läuft durch Chicago und hat keine Ahnung, dass sein Schicksal besiegelt ist.«

»Er kriegt, was er will.«

»Ach ja?« Elaine nimmt eine neue Zigarette aus ihrer Schachtel. »Na dann. Du hast eine gute Tat vollbracht.«

»Gib mir bitte eine Zigarette.«

»Du solltest nicht rauchen.«

»Ich weiß. Diese eine noch, dann höre ich auf. Ich höre mit allem auf. Alles wird anders werden.«

»Zwangsläufig.«

Da sie nichts weiter zu sagen finden, tun sie so, als wendeten sie ihre Aufmerksamkeit der Party zu, die um sie herum driftet, leicht wie ein Nebel. Joan nimmt Blickkontakt mit einigen Männern auf. Es ist die Sorte Männer, die beim Plaudern ihrem Gegenüber über die Schultern gucken und sich aussuchen, wen sie als Nächstes anquatschen. Die Menge verschiebt sich und gibt den Blick auf das bleiche Haupt des Gastgebers frei, der sich aufmerksam dem flinken Mundwerk einer blonden Frau in einem Jumpsuit mit Paisleymuster zuneigt.

Joan sagt: »Magst du mir Christopher vorstellen?«

 

Joan liegt wach. Der Mann neben ihr schläft, selbst sein Schnarchen ist höflich und wohldosiert. Sein Name ist Tom, nicht Christopher. Wahrscheinlich war irgendein anderer Christopher durch Elaines nächtliche Welt getrieben und hatte die Erinnerung an diesen gutaussehenden Tom verwischt, der Assistenzprofessor für Alt- und Mittelenglisch an der NYU ist. Sein Bett ist überraschend sauber und wohlriechend für einen alleinstehenden Mann mit einem Hang zur Boheme. Joan fragt sich, ob er der zweitletzte Mann ist, mit dem sie je schlafen wird.

Die gelbe Nacht wirft ein Fensterviereck auf das bleiche Laken. Tom macht im Schlaf ein kehliges Geräusch, das Alt- oder Mittelenglisch sein könnte. Die Zellen vermehren sich weiter. Joan legt die Hand auf den Bauch und versucht den genauen Fleck zu erahnen, in den Leben eingepflanzt worden ist wie eine Tulpenzwiebel. Meistens schläft sie schlecht, wenn sie mit einem fremden Mann im Bett liegt – sehr viele waren es bisher nicht –, weil die Nähe des unvertrauten Körpers, eben noch liebevoll erkundet und jetzt weit weg, eingesponnen in den Schlaf, ihr die Ruhe raubt. Doch Tom interessiert sie nicht. Sie streichelt die eigene Haut, fragt sich, wie spät es ist. Sein Handgelenk mit der Armbanduhr liegt unter seinem Kissen, und im Zimmer ist keine Uhr zu sehen. Wenn der Morgen graut, wird sie nach Hause aufbrechen und dann später zum Training. Sie überlegt, wie oft sie noch dabei sein wird. Wenn sie mit dem Tanzen aufhört, wird das Training ohne sie weitergehen, jeden Tag außer Sonntag, so sicher, wie sich die Erde dreht. Das Klavier wird klimpern und hämmern, und Mister K. wird Nein, Mädel, so nicht zu Tänzerinnen sagen, die nicht sie sind. Ihr leerer Platz an der Stange wird im Nu besetzt sein. Aber sie will noch ein paar Tage mehr, noch eine Woche oder zwei. Sie will, dass die Zellen im Takt zum Klavier wachsen, zu Mister K.s klatschenden Händen, seinem eins pa pa pa und hoch pa pa pa, zum Rhythmus ihrer Battements. Bisher hat sie sich, selbst von zwanzig Frauen umgeben, die genauso gekleidet waren wie sie und sich im Einklang mit ihr bewegten, immer einsam gefühlt, aber die Zellen vermitteln ihr ein Gefühl von Gemeinschaft. Zum ersten Mal, seit sie sich erinnern kann, hat sie keine Angst zu versagen, und die Erleichterung fühlt sich an wie Freude.

November 1978

Chicago

Auf seinem Heimweg über den Campus durch frisch gefallenen Schnee verspürt Jacob das rebellische Verlangen, noch kurz in eine Kneipe zu gehen. Dabei freut er sich natürlich auf Joan und das Baby, und es ist auch kein Verbrechen, in Ruhe allein ein Bier zu trinken. Das Maß an Verantwortung, die auf einmal (und, wie man meinen könnte, verfrüht) mit seinem neuen Status als Familienvater einhergeht, hat jedoch sein Selbstgefühl verschoben, sodass er sich jeder Anwandlung von Egoismus schämt und jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn sich in ihm auch nur leiser Unmut rührt. Er wünscht sich so sehr, Joan auf jede erdenkliche Weise glücklich zu machen und Harry ein guter Vater zu sein, dass er sich nicht sicher ist, ob ihm überhaupt noch Platz für Lust auf ein Bier bleiben darf. Oder auf Alleinsein. Oder auf Freiheit, die eindeutig ein Ding der Vergangenheit ist.

Allerdings ist er nie besonders auf Freiheit aus gewesen. Solange er denken kann, hat er nach Verantwortung und Verlässlichkeit gestrebt, woraus sich unter anderem erklärt, dass er mit vierundzwanzig bereits kurz vor dem Abschluss seiner Promotion steht. Dass er mit vierundzwanzig bereits Vater eines kleinen Sohnes und mit einer Frau verheiratet sein würde, die er begehrt, seit er zum ersten Mal darauf verfallen ist, Frauen zu begehren, entspricht zwar vielleicht nicht seinem ursprünglichen Plan, aber er kann weder behaupten, ungern an Harrys Zeugung beteiligt gewesen zu sein, noch dass er Joan nicht hatte heiraten wollen, jedenfalls soweit er sich das Heiraten überhaupt hatte vorstellen können, damals als Schüler, der sich verzweifelt bemühte, cool zu erscheinen.

Es ist der erste richtige Schnee in diesem Winter. Er legt sich in Streifen auf kahle Äste, errichtet weiße Zierleisten auf dem Maßwerk gotischer Fenster. Im Sommer ist die Fassade der Green Hall mit Wildem Wein bewachsen, und Jacobs Bürofenster ist von Laub bekränzt, das dem Licht einen angenehmen grünen Schimmer verleiht, wie in einem Baumhaus. Doch jetzt im November hängt an der Wand nur noch ein dürres Geflecht aus Zweigen. Jacob ändert seine Richtung und steuert auf eine feuchte Kellerkneipe zu, die er mag. In der winzigen Wohnung, in der Joan und Harry auf ihn warten, haben sie einen Heizkörper, der jedes Mal dämonisch kreischt, wenn Jacob versucht, ihn auszustellen; die Hitze verstärkt die Babygerüche ins Unerträgliche, macht seine Haare brüchig und trocknet seine Haut so aus, dass sie ständig juckt. Joan, die immer friert, liebt die Hitze und will nicht, dass er den Hausmeister ruft. Sie saugt sich mit ihr voll wie ein Reptil und setzt sich provokant seitlich auf die abblätternden silbernen Rippen des Heizkörpers.

Der Krug voll Old Style, den der Mann hinter dem Tresen zapft, besteht größtenteils aus Schaum, aber der Blick, mit dem es zu Jacob hingeschoben wird, hält ihn davon ab, sich zu beschweren. Er freut sich trotzdem, auf einem Hocker mit einem Riss im Kunststoffpolster zu sitzen, die Ellbogen auf klebriges Resopal zu stützen und auf zerlöcherte Dartscheiben und ein Gewirr aus Baseballsouvenirs der Bears und der Cubs zu starren. Hinter dem Tresen steht ein Fernseher, aber er ist so gedreht, dass nur der Kellner ihn sehen kann. Das Licht flackert über die Flaschenreihen.

Die Kneipe kennt Jacob durch die Frau, mit der er vor und, um ehrlich zu sein, auch noch eine Weile nach Joans schicksalhaftem Besuch zusammen war. Liesel, eine Chemie-Doktorandin. Am Tresen sitzt außer ihm nur ein Mann, um die dreißig, füllig, an einem Whiskey nippend.

»Guter Laden, oder?«, sagt Jacob. Die gestohlene Stunde macht ihn, nachdem er sich dafür entschieden hat, mitteilsam und fröhlich.

»Ja«, sagt der Mann, »ein echter Geheimtipp.« Er hat einen starken Chicago-Akzent und ein rundes Gesicht, dessen freundliche Miene anzeigt, dass mit ihm nicht zu spaßen ist.

»Ich war früher öfter mit meiner Ex hier«, sagt Jacob.

»Ach ja?«

»Es war mehr ihre Kneipe. Ich war seit unserer Trennung nicht mehr hier.«

»Schlimme Trennung?«

»Eher unschön.« Zur Erklärung fügt Jacob an: »Ich habe eine Balletttänzerin geheiratet.«

Beim Wort Balletttänzerin stockt das Lächeln des Mannes. »Ach ja?«, sagt er. »So richtig von Beruf?«

Jacob nickt. »Ja.«

Dass Joan Tänzerin ist, beeindruckt die meisten Männer und wurmt die meisten Frauen. Wobei sie Tänzerin war, aber Jacob hat nicht vor, diesem Fremden zu erzählen, dass sie aufgehört hat. Während der Schwangerschaft hatte Jacob geglaubt, dass sie nach der Geburt zum Ballett zurückkehren würde, aber sie hatte das kategorisch abgelehnt. Ihre Karriere sei vorbei. Sie werde Unterricht geben, aber nicht mehr auftreten. Wenige Wochen bevor Harry geboren wurde, hatte Elaine ihnen Karten fürs Joffrey geschickt. Während der Rückfahrt im Chicago El hatte Joan geweint und sich mit ihren dünnen Armen den Bauch gehalten, aber nur den Kopf geschüttelt, als Jacob meinte, es müsse doch nicht vorbei sein. Er habe keine Ahnung, sagte sie. Sie sei ohnehin nie wahnsinnig gut gewesen, und es weiter zu versuchen, wäre lächerlich.

Diese Entscheidung bedeutet für Jacob eine Enttäuschung, die er ihr niemals gestehen würde. Solange er Joan kennt, fast seit Kindertagen, hat sie ein Doppelleben geführt, als Tänzerin und Alltagsmensch, und ihr Rückzug bedeutet, dass sie etwas Wesentliches verliert. Ihm wird es fehlen, sie auf der Bühne zu sehen, und er wird das Geheimnis um ihre Trainingsstunden und die Proben missen, ihre Nähe zu anderen schönen Frauen und den Händen anderer Männer. Ein bisschen Eifersucht macht ihn lebendig, gibt ihm auf angenehme Weise Biss.

Allerdings gilt das nur in gewissen Grenzen. Während der Monate, in denen Joan mit Arslan Rusakov zusammen war, hatte Jacob tierisch gelitten. Ihre anderen Freunde, auf der Highschool und danach, hatten ihn verstimmt, aber nicht gequält; Joan hatte nie den Eindruck gemacht, als wäre sie ihnen besonders zugetan, und geliebt hatte sie gewiss keinen von ihnen. Doch als dann Rusakov sie vollkommen zu verschlingen schien, hatte Jacobs Vertrauen darauf, dass sie eines Tages zusammenkommen würden, wenn sich für sie beide die zweifelhaften Freuden von Beziehungen mit Leuten, die sie nicht liebten, endlich erschöpft hatten, einen argen Knacks bekommen. Seine Mutter, die Joan nie gemocht hatte, hatte ihn mit schöner Regelmäßigkeit angerufen, wenn Joan in Illustrierten oder Zeitungen mit Rusakov zu sehen war, woraufhin er am Zeitungskiosk verlegen auf die Fotos gestarrt hatte, bis der Inhaber sagte: Die Bücherei ist dahinten, Freundchen. Joans Briefe waren immer seltener geworden, und die wenigen, die sie ihm schrieb, hatten alles nur schlimmer gemacht.

Der Mann mit dem Schnurrbart bestellt noch einen Drink, und der Kellner reagiert überraschend eilfertig. »Wo haben Sie sich kennengelernt?«

»Auf der Highschool. In Virginia.«

Jacob und seine beiden älteren Schwestern waren hochintelligent. Und durch die häufigen Versetzungen des Vaters, der Marineoffizier war, hatte die ehrgeizige, wenig häusliche Mutter es geschafft, ihre Kinder mehrere Klassen überspringen zu lassen, sodass sie schon mit zwölf auf die Highschool kamen und mit sechzehn aufs College. Zum Glück war Jacob früh in die Länge geschossen (aber dann stehen geblieben – er ist nicht groß) und dank seines Aussehens, seines freundlichen Wesens und seiner guten Leistungen im Sport nicht als hoffnungsloser Streber abgestempelt worden. Im ersten Jahr der Highschool hatte Joans Schließfach seinem gegenübergelegen, und sie war so klein gewesen, so langbeinig und scheu wie ein Kitz, dass er anfangs gehofft hatte, auch sie wäre jünger.

»Verzeihung«, hatte sie gesagt, als sie am ersten Tag neben ihm auftauchte, während er seine Bücher und Hefte sortierte. »Weißt du, wo Raum 319 ist?« Sie trug ein rot-blau kariertes Kragenkleid mit einem roten Gürtel und sah ihn mit besorgtem Ernst an, als wäre er ein unbekanntes Alphabet, das sie zu entziffern suchte.

»Ja«, sagte er. »Es liegt auf meinem Weg. Komm einfach mit.«

»Bist du schon im zweiten Jahr?«, fragte sie im Gehen. »Wieso weißt du schon, wo alles ist?«

»Ich habe letztes Jahr hier einen Kurs besucht«, sagte er und bemühte sich, vertrauenerweckend zu klingen. »Da habe ich mich umgesehen.«

»Du Glücklicher.« Sie wich schüchtern einer Gruppe älterer Schüler aus. »Ich wäre gern an einem Wochenende hergekommen, um zu sehen, wo die Räume liegen, aber dann dachte ich, vielleicht sieht mich jemand und hält mich für verrückt. Du hältst mich wahrscheinlich für verrückt. Na ja, ich habe einfach das Gefühl, ich werde alles falsch machen.«

»Was wirst du falsch machen?«

»Alles. Hier in der Schule.«

»Ach, das wird schon. Du musst einfach so tun, als wärst du hier richtig.« Er plapperte nach, was seine Schwester Marion ihm am Morgen mit auf den Weg gegeben hatte. »Es geht doch allen gleich.« Er legte eine kurze Pause ein. »Wie alt bist du?«

»Ich werde im Oktober vierzehn. Ich bin ein bisschen zu jung. Wann hast du Geburtstag?«

»März«, sagte er und ließ wohlweislich weg, dass er dann erst dreizehn wurde.

»Warum hast du gefragt?«

»Ich war bloß neugierig. Du siehst jung aus.«

»Hoffentlich bleibt das immer so«, antwortete sie unerwartet heftig. »Ich bin beim Ballett. Ich darf nicht groß und nicht alt sein.«

Jacob, der gern größer und älter gewesen wäre, sagte: »Das Älterwerden zu vermeiden könnte schwierig werden.«

»Das weiß ich«, sagte sie spitz. Sie war nicht so kleinlaut, wie sie zuerst gewirkt hatte, und gefiel ihm dadurch besser. »Wichtig ist nur, wie man aussieht.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete er nach kurzem Zögern, »wenn man es im Großen und Ganzen betrachtet.«

Er fürchtete, sie könnte beleidigt sein oder ihn für einen braven Langweiler halten, doch sie grinste schief. »Ich rede vom Ballett«, sagte sie. »Das ist mein großes Ganzes.«

Sie landeten in unterschiedlichen Freundeskreisen – Joans Zierlichkeit und Schönheit und Fügsamkeit machten sie beliebt –, aber sie unterhielten sich weiterhin bei den Schließfächern und grüßten sich auf den Gängen. Sie wohnten nicht weit voneinander, und manchmal gingen sie zusammen zur Schule oder nach Hause. Das Ballettstudio lag auf dem Weg zu Jacobs Haus, und wenn er nicht zum Baseball musste, begleitete er sie und trug ihr die Tasche. Doch er ging nie mit hinein. In seiner Fantasie war das unauffällige Ladenlokal ein klösterlicher Ort der Riten und Rätsel. Durch die glatten weißen Vorhänge vor den Fenstern waren schattenhaft Mädchen in schwarzen Trikots zu ahnen.

»Ist das dein Bruder?«, hörte Jacob eine Freundin von Joan beim Mittagessen in der Schule fragen.

»Sozusagen«, antwortete Joan, und er fühlte sich zugleich geehrt und gekränkt.

Er mochte ihre Zielstrebigkeit und Disziplin, und sie weckte seinen Beschützerinstinkt, der ihm neu war und erwachsen und männlich erschien. Als jüngerer Bruder von zwei selbstsicheren Schwestern war er es gewohnt, von Mädchen bevormundet zu werden, doch Joan schien darauf zu vertrauen, dass er für sich selbst und wenn nötig auch für sie sorgen konnte. Diese Rolle sagte ihm zu. Joans Mutter war alleinstehend und berufstätig und verstand weder Joan noch ihre Liebe zum Ballett. Ihre Tanzlehrerin Madame Tchishkoff war streng und unnahbar und bot ihr wenig mehr als eiserne Härte und die Motivationskraft, die ständiger unerbittlicher Enttäuschung entspringen kann. Ihre Freundinnen in der Schule waren hübsche Mädchen, die im Kollektiv auftraten, um gemeinsam stark zu sein. Sie waren Kameradinnen und Staffage, aber keine Vertrauten.

Wenn Joan einsam war oder Kummer hatte, rief sie Jacob an, und er nahm seiner finster blickenden Mutter den Hörer aus der Hand, zog sich in die Speisekammer zurück, zog die dünne Tür über dem Telefonkabel zu und betrachtete, während er zuhörte, Dosensuppen und Crackerpackungen. An den wenigen Nachmittagen, an denen Joan kein Ballett hatte, lud sie ihn zu sich zum Fernsehen ein oder bat ihn, ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. Ihr Haus war immer zu dunkel und so spärlich möbliert, dass es etwas von einem Versteck hatte. Und weil Jacobs Mutter keinen Fernseher im Haus duldete und weder die fehlende elterliche Aufsicht bei Joan noch Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen billigte, sagte er ihr nur, dass er länger in der Schule bliebe.

Joan vertraute ihm ihr finsterstes Geheimnis an: Sie hatte nicht nur das Diaphragma ihrer Mutter gefunden, sondern kontrollierte seither ständig, ob es in der Schublade war, um zu ergründen, wie das, was ihre Mutter sagte, sich zu dem verhielt, was für den jeweiligen Abend in ihrem Filofax stand.

»Siehst du?«, sagte sie einmal zu Jacob, als sie ihn ins Bad geschleppt und eine Schublade so feierlich geöffnet hatte, als enthüllte sie den Eingang zu einem ägyptischen Königsgrab. Er sah Wattebällchen und glänzende Schminktöpfchen, Nagelfeilen, eine vogelförmige Nagelschere. »Es ist weg.«

»Okay«, sagte er und verstand ihre Gefühle genauso wenig wie den Sinn und Zweck eines Diaphragmas.

»Sie macht es!« Joan war den Tränen nahe. »Mit diesem Kerl! Er heißt Rick! Er arbeitet in ihrer Firma.«

Für Jacob waren diese Informationen nicht zum Weinen, sondern Stoff für späteres Nachdenken. Joans Mutter war eine magere, wenig warmherzige Frau, die makellose Kostüme trug und ihr Haar zu kunstvollen Hochfrisuren aufsteckte.

»Nicht aufregen«, sagte er. Er schob die Schublade zu. Joan starrte verloren auf die weiße Vorderseite, den kleinen rosenknospenförmigen Keramikknopf. »Das braucht dich nicht zu kümmern.«

Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, was weniger hilflos wäre, doch sie nickte und verschränkte die Arme über der Brust. »Allein es dir zu zeigen tut schon gut«, sagte sie. »Aber du musst versprechen, es niemandem weiterzusagen.«

Jacob nahm dankbar zur Kenntnis, dass ihre Ansprüche, was gute Ratschläge betraf, rührend bescheiden waren. Er tätschelte ihre Schulter. »Kein Problem.«

Er mochte ihr zartes katzenhaftes Gesicht, ihr langes feines Haar, ihre schmalen Hüften, ihren Entengang, die Lücke zwischen ihren Schenkeln, wenn sie Strumpfhosen trug, ihre kleinen knochigen Hände. Wenn seine Schwester Marion bereit war, ihn zu fahren und der Mutter nichts zu sagen, besuchte er Joans Aufführungen, und ihm gefiel ihre Bereitschaft, auf der Bühne zu stehen und sich anschauen zu lassen. Als er ihr zu seinem vierzehnten Geburtstag gegen Ende des zweiten Highschooljahres beichtete, wie alt er war, änderte das auch von ihrer Seite nichts an ihrer Freundschaft. Er hatte höchstens das Gefühl, in ihrem Ton ihm gegenüber manchmal etwas leicht Herablassendes zu hören, vor allem, wenn es um Verabredungen mit Jungen ging. Sie ging so oft aus, wie ihre Ballettstunden es erlaubten, und ihm schien, dass es dabei ziemlich keusch zuging. Seinem Eindruck nach war sie mehr an dem öffentlichen Sieg interessiert, den es bedeutete, die Aufmerksamkeit beliebter, sportlicher Jungs zu erlangen, als an den anschließenden Begegnungen zu zweit.