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Einleitung


Vor mindestens 15.000 Jahren entschlossen einige Wölfe sich dazu, die Menschen für ihre Zwecke einzusetzen und sie sich zu halten, damit sie ihnen das Leben erleichterten. Sie freundeten sich mit den merkwürdigen Zweibeinern an, die ganz anders waren als alle Kreaturen, mit denen sie sonst ihren Lebensraum teilten. Die Menschen waren sehr geschickt in der Nahrungsbeschaffung, sodass die Wölfe sich dachten: Wenn wir uns da hinzugesellen, brauchen wir selbst keine Zeit mehr mit der Futtersuche zu verschwenden, es fällt doch immer etwas für uns ab.

Allerdings war es nicht so einfach, die Zweibeiner in die richtigen Bahnen zu leiten, damit sie die Wölfe mit Nahrung versorgten und ihnen beistanden, wenn Hilfe nötig war. Deshalb halfen auch die Wölfe den Menschen, so gut es ging; z.B. konnten sie herannahende Gefahren besser und eher erkennen. Sie warnten die Zweibeiner und als Gegenleistung bekamen sie ihr Fressen. Schnell hatten die Wölfe, die sich Menschen hielten, erkannt, wie sie die Zweibeiner beeinflussen konnten. Sie änderten ihr Aussehen und zum Teil auch ihr Verhalten und nannten sich fortan nicht mehr Wolf, sondern Hund. Die Fähigkeit, das Lebewesen Mensch zu verstehen und so zu manipulieren, dass es der eigenen Art nutzte, beherrschten die Wölfe, die jetzt Hunde hießen, mit Perfektion. Doch im Gegensatz zu den Hunden, die die Menschen verstanden oder zumindest immer bemüht waren, diese zu verstehen, war der Mensch ganz anders. Menschen wissen zwar auch, wie sie das Verhalten der Hunde beeinflussen können, haben aber nie gelernt, sie wirklich zu verstehen. Trotzdem funktionierte die Symbiose Mensch/Hund lange Zeit relativ problemlos und zu beiderseitigem Nutzen.

Seit einigen Jahren kann man allerdings eine andere Entwicklung beobachten. Die Menschen sind heutzutage bestrebt, sich viel mit Hunden zu beschäftigen und sie in ihrem Verhalten durch und durch begreifen zu wollen, wodurch sogar eigene Berufe entstanden sind. Unter anderem der des Hundepsychologen, den ich selbst mit viel Hingabe ausübe. Alle Menschen, die sich Mühe geben, ihren Hund besser zu verstehen, sind natürlich zu unterstützen. Das Bemühen um Verständnis und Verständigung mit dem Hund ist jedoch von unterschiedlichem Erfolg gekrönt. Darum habe ich während meiner Tätigkeit als Hundepsychologe und Mittler zwischen Hunden und ihren Menschen immer wieder auch mit skurrilen, teilweise amüsanten, manchmal aber auch traurigen Begebenheiten zu tun. Einige davon, die in ihrer Aussage meist für sich sprechen, möchte ich hier vorstellen, abseits eines reinen Sachbuchs. Ich schildere Fälle aus meiner täglichen Praxis, die wirklich so passiert sind. Nur die Namen – auch die der Hunde – habe ich verändert und teilweise wurden die Orte umbenannt oder verlegt, um die Persönlichkeitsrechte der Menschen zu wahren. Die Begebenheiten sind absolut echt, wenn auch manchmal nicht zu glauben. 

Begleiten Sie mich jetzt also in meinen beruflichen Alltag, vielleicht helfen Ihnen diese kleinen Geschichten auch dabei, Ihren Hund besser zu verstehen.

Maske aus Glas

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Eigentlich bin ich der Typ Mensch, der eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren sucht. Aber es gibt merkwürdige Eigenschaften, die Menschen tatsächlich zu einmaligen Wesen machen. Dazu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, sich ständig neuen Trends und Moden anzupassen. Mode gibt es nur unter Menschen. Psychologen erklären dieses Phänomen gern mit dem Grundbedürfnis nach Einzigartigkeit und Aufmerksamkeit, aber auch mit dem Wunsch nach Zugehörigkeit und Zusammenhalt. Ein Widerspruch? Natürlich, aber ist der Mensch nicht ein solcher an sich?

Eines Tages wurde ich zu einem solchen Widerspruch auf zwei Beinen gerufen. Angeblich war der Hund dieser Dame aggressiv geworden. Unser Termin sollte im Geschäft der Hundebesitzerin stattfinden, welches sich in einer belebten Fußgängerzone einer mittelgroßen Stadt befand. Der Hund, eine Englische Bulldogge, verbrachte den Tag immer bei seinem Frauchen im Laden, der „modische Accessoires für die Frau“ anbot. Beim vorausgegangenen Telefongespräch erfuhr ich noch, dass die Bulldogge den wohlklingenden Namen Sir Lanzelot trug und seine Besitzerin seit einigen Wochen anknurrte, wenn sie sich ihm näherte – allerdings nur tagsüber im Geschäft.

Mit derartigen Informationen ausgestattet, suchte ich den Laden der jungen Frau auf. Ich stand vor dem Geschäft, verglich den Namen mit der Adresse und trat ein. Doch ich ging sofort wieder rückwärts hinaus, um mich noch einmal zu versichern, dass ich tatsächlich im richtigen Geschäft war. Accessoires für die Frau sollten hier verkauft werden und auch die Anschrift war korrekt. Also wagte ich den zweiten Versuch, trat erneut ein und betrachtete ein weiteres Mal die Dame, die mich hinter der Ladentheke in Empfang nehmen wollte. Und wieder kamen mir Zweifel, ob ich am vereinbarten Ort war. Ich schaute nämlich nicht in das Gesicht einer jungen Frau, sondern in eine riesige Fläche aus dunklem Glas mit einer noch riesigeren Umrandung aus Kunststoff. Ich dachte, ich sei in einem Kostümverleih für Alienkostüme oder in einem Versuchslabor, in dem Gasmasken für die Feuerwehr getestet wurden.

„Kommen Sie doch herein, ich habe Sie schon erwartet“, hörte ich plötzlich eine freundliche Stimme, die aus dieser dunklen Maske zu kommen schien. Und als sich meine Wahrnehmung nach dem optischen Schock wieder erholt hatte, konnte ich noch etwas anderes feststellen: Mir war, als würden hinter der Theke Handwerker arbeiten, die das Mobiliar zersägten …

Um Sie nicht weiter auf die Folter zu spannen: Ich war durchaus im richtigen Geschäft angelangt. Die Besitzerin trug eine riesige Sonnenbrille, die fast ihr gesamtes, recht zart anmutendes Gesicht verdeckte – was durchaus bedauerlich war, denn das wäre sicherlich ein schönerer Anblick gewesen als diese Glasfront. Die Sägegeräusche hinter der Theke stammten von Sir Lanzelot, der dermaßen schnarchte, dass sich die Balken in dem mit Fachwerk ausgestatteten Laden bogen. 

Wir begannen unser Gespräch, indem wir das Problem der Kundin, die meine Hilfe suchte, zunächst erörtern wollten. Ich erfuhr viel über die junge Dame, ihre Vorlieben und Besonderheiten sowie über ihren Hund. Auch Sir Lanzelot war ein Opfer der Wesensmerkmale seiner Besitzerin. Die spontane Frau hatte sich nämlich, ohne nachzudenken, eine Englische Bulldogge zugelegt, nachdem ihr ein solcher Hund in einem Fernsehbeitrag so gut gefallen hatte ...

Bulldoggen sind nach meiner Meinung charakterlich sehr gut als Begleithunde geeignet; sie sind sicher etwas stur, ansonsten ist das Potenzial an Verhaltensproblemen oder das, was der Mensch dafür hält, doch als eher gering anzusehen. Trotzdem empfehle ich diese Rasse nie. Heute zwar auf sanften Charakter gezüchtet, sind diese Hunde für mich persönlich ganz arme Geschöpfe. Das fängt schon bei ihrer Geburt an, die meist durch eine Operation erfolgt. Bei Bulldoggen sind nämlich die Köpfe so groß, dass diese den Geburtskanal der Mutter nicht passieren können. So werden die Welpen durch einen medizinischen Eingriff geboren, während die Mutter in Narkose liegt, was sich laut der Meinungen einiger Experten negativ auf die Bindung zwischen Muttertier und Welpe auswirkt. Zudem haben Bulldoggen eine sehr empfindliche Gesundheit – Haut- und Atemwegsprobleme, Herzkrankheiten und Anomalien an den Augenlidern sind keine Seltenheit. Und das alles nur, um menschlichen Modeansprüchen gerecht zu werden.

Doch zurück zu Sir Lanzelot, der hinter der Theke lag und – eine Folge der Atemwegsprobleme – schnarchte. Seine Besitzerin schilderte mir die Probleme, die sie mit ihrem Hund hatte. Sie erzählte mir, dass Lanzelot, wie sie ihn nannte, eigentlich der liebste, friedlichste und tollste Hund der Welt wäre (Hundehalter idealisieren ihre Hunde gern), sich aber seit einigen Wochen verändert hätte. „Immer wenn ich mich ihm nähere, knurrt er mich an. Egal ob ich ihn streicheln will oder ihm am Abend die Leine anlegen möchte, er knurrt“, sagte die Frau, die mir mit ihrer riesigen Sonnenbrille vor mir saß, sodass es mir unmöglich war, ihre Augen zu erkennen. Irgendwie machte mir dieses Gegenüber ein wenig Angst. Durch die Brille konnte ich keinerlei Mimik oder Augenbewegung der Frau wahrnehmen, was in mir bereits eine Vermutung bezüglich des Verhaltens von Sir Lanzelot aufkeimen ließ. Im Laufe des weiteren Gesprächs erfuhr ich, dass die junge Frau seit einigen Wochen einen Exklusivvertrag für den Vertrieb eines bestimmten Produktes hatte. Sie werden erahnen können, um welchen Artikel es sich hier handelte. Seit sie diesen Vertrag hatte, stand sie jeden Tag mit eben einem solch hässlichen Glasmonster von Toilettendeckelgröße in ihrem Geschäft.

Sicher werden sich viele Leser jetzt fragen, warum die Frau nicht einfach die Sonnenbrille ablegte, wenn sie sich auf ihren Hund zubewegte. Denn um ihr Problem zu erkennen – da bin ich ganz ehrlich –, musste man kein Hundepsychologe oder Hundetrainer sein. Wie bereits erwähnt, hatte ich, als ich der Frau gegenübersaß, auch ein komisches Gefühl. Es ist für Lebewesen wichtig, ihre Ansprechpartner einschätzen zu können, und ein wichtiger Faktor dabei sind nun einmal die Augen. Werde ich offensiv angestarrt, ist der andere möglicherweise sehr selbstbewusst; wendet er seinen Blick ab, beschwichtigt er und ist vielleicht unsicher. Augen sind ganz wichtige Kommunikationsmerkmale, das ist absolut artübergreifend bei Säugetieren. Sir Lanzelot konnte sein Frauchen durch die Brille auch nicht mehr einschätzen und teilte ihr bei jeder Annäherung mit, dass er unter diesen Bedingungen keine Kontaktaufnahme wünschte. Er benutzte dabei die Sprache, die ein Hund spricht: Er knurrte. Lanzelot war also psychisch vollkommen in Ordnung. Selten habe ich solch einen einfachen Fall erlebt, bei dem es glasklar auf der Hand lag, dass der Mensch der Problemverursacher war.