INGE UND WALTER JENS

Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn

Die Südamerika-Reise der Hedwig Pringsheim 1907/08

Erweiterte Ausgabe mit neuen Dokumenten

Inhaltsverzeichnis

Hedwig Pringsheim und ihr verlorener Sohn

Eine Spurensuche

«Niederschmetternde Enthüllungen»

Die Verbannung

Karneval in Buenos Aires

Wiedersehen mit Eti

Über die Anden

Heimreise – und Nachrichten aus Virorco

«Das entsetzliche Telegramm»

Mutmaßungen und offene Fragen

Familienbilder

Hedwig Pringsheims Reisetagebuch

20. November 1907–29. Februar 1908

Editorische Nachbemerkung

Anhang

Rechenschaft und Dank

Konsultierte Archive

Benutzte Literatur

Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe

Hedwig Pringsheim und ihr verlorener Sohn

Eine Spurensuche

Er hat Schulden gemacht, mit ungedeckten Wechseln bezahlt, am Ende sogar den Familienschmuck versetzt: Dieser Sohn war nicht mehr tragbar. Seine Eltern, der Mathematik-Ordinarius Alfred Pringsheim, und Frau Hedwig, Tochter der Berliner Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des Kladderadatsch-Redakteurs Ernst Dohm, zählten zu den ersten Adressen der Münchener Gesellschaft; Thomas Mann hatte wenige Monate vor Beginn unserer Geschichte die einzige Tochter des Hauses, Katia, geheiratet. In einen solchen Clan passte kein Bankrotteur. Den Verfall einer Familie – bitt schön nicht in den eigenen Reihen! Erik, der Erstgeborene, musste fort. Folglich wurde «Onkel Erik», wie die Mann-Kinder den Bruder ihrer Mutter in ihren Erinnerungen nennen, «von seinem Vater nach Argentinien verbannt». Dreieinhalb Jahre später, im Januar 1909, wird er dort unter mysteriösen Umständen sterben – und nach seinem Tod wie ein düsterer Geist im Pringsheim-Palais in der Arcisstraße weiterwohnen.

«Dieser Tote, den ich im Leben nie gesehen hatte», schreibt der Neffe Golo, «gehörte für mich zu den langen, düsteren Korridoren, den knarrenden Dielen des Pringsheimschen Hauses.» Überall Erik. Der kleine Golo traut sich, wenn die Dämmerung einbricht, beim allsonntäglichen Besuch der Großeltern kaum mehr ins obere Stockwerk mit den «längst unbewohnbaren Zimmern, schweren samtenen Portieren, dunkeln Winkeln und Stufen – denn dort mochte der Onkel Erik auf mich lauern». Und nicht nur er hatte Angst, daran wird sich Golo Mann noch mit bald 80 Jahren erinnern. «Auch scheint es, dass meiner Großmutter diese Furcht so fremd nicht war, weil sie dem Sohn gegenüber kein schuldenfreies Gewissen hatte.»

Hedwig Pringsheim hatte sich dem Entschluss ihres Mannes, den Sohn in die Pampa zu verbannen, nicht widersetzt. Zwei Jahre später unternahm sie eine Reise um die halbe Welt, um Erik in der Fremde beizustehen und ihm zu helfen, sich ein neues Leben zu schaffen. Doch am Ende waren alle Anstrengungen umsonst.

Am 12. November 1907 war sie nach Lissabon gefahren – wieder, wie zwei Jahre zuvor, mit Zwischenaufenthalt in Paris, und hatte am 17. den Postdampfer Cap Arcona nach Buenos Aires bestiegen. Drei Monate lang, von Anfang Dezember 1907 bis zum Februar des darauffolgenden Jahres, reisten Mutter und Sohn durch Argentinien, in der Hoffnung, eine passende Estancia für Erik zu finden. Während dieser Zeit führte Hedwig Pringsheim ein Tagebuch, das hier zum ersten Mal publiziert wird.

In diesen Aufzeichnungen erzählt die Chronistin höchst anschaulich und gescheit von Land und Leuten, beschreibt eine abenteuerliche Andenüberquerung und berichtet, nicht zuletzt, von ihrer Fahrt als Erste-Klasse-Passagierin auf einem der modernsten Überseeschiffe der Zeit. Die Schilderungen haben bis heute nichts von jenem Reiz verloren, den sie vor rund hundert Jahren auf Thomas Mann ausübten. Der Romancier war damals gerade mit einem neuen Buch beschäftigt: der Geschichte des wohl bekanntesten Hochstaplers der Weltliteratur, Felix Krull, den seine Profession in die Zentren aller Kontinente treiben sollte. Da boten sich die präzisen und einfühlsamen Beschreibungen der Schwiegermutter für eine Zwischenstation in Argentinien geradezu an.

Thomas Mann erbat sich – ob sofort oder erst, als er 1910 mit der ernsthaften Konzeption des Krull begann, bleibt ungewiss – das Büchlein, das schon äußerlich gut in Felix’ Ambiente passte: ein poesiealbenähnlicher, in festem Umschlag gebundener Kalender «Werk- und Tagebuch für allerlei gebildetes Volk», grau-blau getönt und mit Jugendstilemblemen versehen. Jedes Blatt war oben mit einem poetischen Text von Brockes, Hoffmann von Fallersleben oder Rückert, gelegentlich auch von unbekannten Autoren versehen. Am 12. Januar war Emanuel Geibel an der Reihe: «Schlägt die Zeit dir manche Wunde,/​Manche Freude bringt ihr Lauf;/​Aber eine sel’ge Stunde/​wiegt ein Jahr von Schmerzen auf.»

Die Schreiberin ließ jedoch Motto und Datumszeile durchgehend unbeachtet, sodass man den Eindruck gewinnt, sie habe bei ihrer Suche nach einem für Reisenotizen geeigneten Heft auf ein zufällig wiedergefundenes, für ihren Zweck brauchbares Gelegenheitsgeschenk zurückgegriffen. Dennoch darf man annehmen, dass die ehemalige Schauspielerin und leidenschaftliche Rezitatorin die Verse, die offenbar als eine Art Lebenshilfe von Tag zu Tag gedacht waren, aufmerksam zur Kenntnis nahm, ehe sie mit der Niederschrift ihrer eigenen Eindrücke und Erlebnisse begann, die den Schwiegersohn später so intensiv beschäftigten.

Thomas Manns handschriftliche Exzerpte sind erhalten und ermöglichen interessante Vergleiche. In der Endfassung des Romans ist allerdings nur eine einzige Episode nachzulesen. Sie stützt sich bis in die Formulierungen hinein auf Hedwig Pringsheims unter dem 5. Januar 1908 beschriebenen Besuch bei der Familie des Schweizer Konsuls Meyer. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Reiseplans, den der Autor seinen Professor Kuckuck während eines Nachtessens in Lissabon für Felix entwickeln lässt, gelingt es, die Tagebuch-Schilderung des Besuchs im Meyer’-schen Stadthaus zu Bahía Blanca und auf der bei Tornquist gelegenen Farm «El Retiro» nahezu wörtlich in den Roman zu integrieren.

Doch Auskunft darüber, warum Hedwig Pringsheim, die zum Zeitpunkt ihrer Reise immerhin zweifache Großmutter war, diese fast dreiwöchige und trotz eines modernen Luxusdampfers anstrengende Exkursion überhaupt unternahm, geben Thomas Manns Exzerpte nicht. Alles Persönliche, das die eigentliche Geschichte des Reisejournals ausmacht, ist fortgelassen. Warum?

Es ist gut vorstellbar, dass die konsequente Reduzierung auf das Unverfänglich-Allgemeine die Bedingung war, unter der die Schwiegermutter dem Romancier überhaupt gestattete, ihre Aufzeichnungen zu verwerten. Die «Affaire Wälsungenblut» lag immerhin erst wenige Jahre zurück: jene große Aufregung um die im Milieu der Arcis- und der Berliner Tiergartenstraße (in der die Verwandtschaft von Hedwig Pringsheim wohnte) spielende Inzestgeschichte Wälsungenblut, deren Hauptakteure den Zwillingen des Hauses, Katia und Klaus, in vielem zum Verwechseln ähnlich sahen. Thomas Mann dürfte sich gehütet haben, einen neuen Eklat zu provozieren.

Und der Skandal wäre unvermeidlich gewesen, wenn der Poet auf die ganze Geschichte der schwiegermütterlichen Reise zurückgegriffen hätte, die eben nicht nur Land und Leuten Argentiniens, sondern in erster Linie dem verstoßenen Sohn gegolten hatte.

«Niederschmetternde Enthüllungen»

Erik war das älteste der fünf Pringsheim-Kinder und, als Erstgeborener, der besondere Liebling der Mutter gewesen, die in ihrem «Kinderbüchlein» voll Stolz die kognitiven und emotionalen Fortschritte des Kleinen beschreibt, an denen die Entwicklung der beiden späteren Buben, Peter und Heinz, gemessen wird. Erst die Geburt der Zwillinge Hedwig Katharina und Klaus bringt diese Hierarchie etwas ins Wanken. Zumindest das einzige Mädchen darf innerhalb der Familie eine dem Ältesten vergleichbare Rolle beanspruchen. Für das oft behauptete besonders enge Verhältnis der Schwester zu dem großen Bruder allerdings gibt es nur indirekte Zeugnisse – die Tatsache, dass Katia Mann ihre wenige Monate nach Eriks Verbannung geborene Tochter «Erika» nannte, mag – neben einer starken Mutterbindung – auch auf die Liebe zu dem entfernten Bruder verweisen.

Wie alle Pringsheim-Söhne hatte auch Erik das renommierte Münchener Wilhelmsgymnasium offenbar ohne große Schwierigkeiten oder besondere Auffälligkeiten absolviert. Fotos der Zeit zeigen ihn in den damals für Kinderbilder üblichen Kostümierungen, am liebsten als Reiter; Thomas Mann berichtet von Konzertveranstaltungen im Kainssaal, zu denen die angebetete Katia stets im Kreis ihrer vier Brüder erschienen sei. Chronisten beschreiben den Erstgeborenen als einen lebenslustigen, etwas leichtsinnigen und unberechenbaren jungen Mann.

Aus Hedwig Pringsheims Notizbüchern (jenen täglichen Aufzeichnungen, die sie – stichwortartig – ein Leben lang in kleine Kalender niederschrieb und auch während ihrer Zeit in Argentinien neben den anspruchsvolleren Berichten des Reisejournals weiterführte) geht hervor, dass Erik ein begeisterter Reiter war, der nur das eine Ziel hatte: Offizier zu werden. Warum er sich diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, bleibt im Dunkeln. Die gängige Behauptung, ihm sei diese Laufbahn wegen seiner jüdischen Abstammung verwehrt gewesen, klingt angesichts der Bemerkung «Reserveleutnant – Eriks nie erreichtes Ziel», die die Mutter anlässlich der Ernennung von Sohn Heinz zum Offizier notierte, wenig überzeugend. Eher ist anzunehmen, dass das «Abwinken» eines vom Vater befragten Regimentskommandeurs, der gelegentlich in Erzählungen über die erweiterte Mann-Familie auftaucht, mit dem Lebenswandel des Jungen, seiner Neigung zum Schuldenmachen oder seinem Umgang mit Frauen zusammenhing.

Die sehr spärlichen Dokumente aus diesen Jahren lassen vermuten, dass Eriks Leben nach dem Abitur, als Student in England, München und Erlangen, während seines Referendariats und, vor allem, während der Militärzeit nicht problemlos verlaufen ist. Er hatte sich für die Jurisprudenz entschieden, war von 1897 bis 1899 Fellow des berühmten Balliol College in Oxford und anschließend in München inskribiert gewesen. Aus dieser Zeit existiert eine Disziplinar-Akte, deren Inhalt in unserem Zusammenhang weniger interessant ist als die Tatsache, dass die Darstellung des inkriminierten Vorgangs den Betroffenen als einen außerordentlich empfindlichen, aufbrausenden und zu unangemessenen Reaktionen neigenden jungen Mann zeigt, der im Affekt auch vor Tätlichkeiten nicht zurückschreckte. Dennoch steht zweifelsfrei fest, dass Erik Pringsheim im Juli 1902 in Erlangen das erste Staatsexamen mit der Note «bestanden» abgelegt hat – eine Prozedur, die angesichts des Inskriptionsdatums «5. Mai 1902» wiederum nicht der Merkwürdigkeit entbehrt, offensichtlich aber möglich war, denn am 15. Mai erhielt der Student unbeanstandet sein «Abgangszeugnis zur Prüfung». Ob der recht plötzliche Wechsel des Studienortes mit dem Disziplinareintrag in München zusammenhängt, ist nicht mehr zu klären.

Immer öfter aber ist in den Aufzeichnungen der Mutter von Realitätsverlust, menschlichem Versagen, sich steigernden Schulden und einer fast pathologischen Pferdebesessenheit die Rede. Dazu «brach» Erik recht plötzlich mit seiner langjährigen Freundin Emma Schlier. Vorhaltungen und Appelle der Eltern an die Noblesse des Ältesten zeigten offenbar keinerlei Wirkung; es blieb der Mutter überlassen, das gekränkte Mädchen zu trösten – das, als erwachsene Frau, diese Hilfe zurückgeben sollte. Der Name Emma Schlier findet sich regelmäßig in Hedwig Pringsheims Notizbüchern aus der Zeit des Nationalsozialismus: Sie gehörte zu den treuesten Besucherinnen des alten, wegen seines Judentums verfemten Ehepaares.

Ob für Eriks Verhalten wirklich allein die gescheiterte Offizierskarriere verantwortlich war? Hedwig Pringsheim erwähnt im Januar 1905 eine Unterredung mit ihrem Ältesten, die «in bitteren Tränen über seinen verfehlten (Officiers)Beruf» geendet habe. Aber gehörte der Junge deshalb wirklich zu jenen «verlorenen Kindern», die ihre verzweifelte Suche nach Anerkennung nur noch in sogenannter «schlechter Gesellschaft» zu kompensieren vermochten? Sie konnte und wollte es nicht glauben. Doch wenige Tage später kamen «neue Geldschweinereien» ans Licht.

Nachdem die Eltern den Sohn in einer «schrecklich aufregenden Scene» – offenbar erfolglos – zur Rede gestellt hatten, fand ihn die Mutter in seinem Zimmer: «Papiere verbrennend und den Revolver neben sich». Erst nach langen Verhandlungen gelang es, Erik zur Raison zu bringen. – Dafür ließ der Junge dann wissen, er habe sich entschlossen, «in den Krieg nach Süd-West-Afrika» zu gehen – ein Vorhaben, das aber offensichtlich durch familiäre Faschingspläne («Maskenfahrt in Eriks dogcart – nettes Gefährt von Pierrots, weiß und rot. Ich in Eriks Reitkostüm und scheußlicher Maske») sowie das Zureiten neuer Pferde und eine erfolgreiche Teilnahme am traditionsreichen Reiterfest in den Hintergrund gedrängt wurde. Immer wieder suchte der älteste Pringsheim-Sohn nach einer Gelegenheit, sich in Anwesenheit der «crême de la crême», möglichst noch in Gegenwart bayerischer Prinzen, zu «produciren».

Doch schon Ende Mai häuften sich wieder die peinlichen Szenen. Katia übergab ihrer Mutter einen Brief des als Sozius von Carl Fürstenberg in der Chefetage der Berliner Handelsbank residierenden Schwagers Hermann Rosenberg mit «neuen, schrecklichen, völlig niederschmetternden Enthüllungen über Erik». Vermutlich waren es Nachrichten vom Eingang ungedeckter Schecks über sehr hohe Summen, die dem Berliner Institut präsentiert worden waren und deren Zurückweisung unweigerlich strafrechtliche Konsequenzen – sprich die Arretierung des Delinquenten – zur Folge gehabt hätte.

Hedwig Pringsheim, nach ihren eigenen Worten «elend und gänzlich vernichtet», blieb jedoch Herrin der alarmierenden Situation. Ehe sie ihren Mann in die neue Katastrophe einweihte, holte sie sich Rat bei einem der Familie freundschaftlich verbundenen Nachbarn, dem Rechtsanwalt und Starjuristen Max Bernstein. Während Alfred seine Frau in der Franz-Joseph-Straße zu einem ihrer häufigen Besuche bei Tochter Katia glaubte, ließ sie sich vom Zwilling Klaus zum Bahnhof begleiten, um den heimkehrenden Bernstein abzufangen.

Von nun an spielte sich das Drama auf zwei Ebenen ab. Die finanziellen Dinge zu regeln und die Modalitäten in dieser Angelegenheit auszuhandeln, überließ sie Schwager Rosenberg, dem Mann ihrer Schwester Else, und, so steht zu vermuten, ihrem alten Freund Carl Fürstenberg. Der Bankier – während der 1860er Jahre regelmäßiger Gast beim Jour fixe in ihrem Berliner Elternhaus – hatte jede Gelegenheit genutzt, um der vom aufgeweckten Backfisch zu einer von ihm bewunderten Frau herangewachsenen Dohm-Tochter mit einem Strauß weißer Orchideen seine Wertschätzung zu bekunden. Die Financiers würden tun, was immer in ihrer Macht stand und, vor allem, versuchen, Zeit zu gewinnen. Die Mutter kümmerte sich derweil um die juristische Seite der Angelegenheit. Der Sohn im Schuldturm: So weit durfte es nicht kommen!

Das Notizbuch von Hedwig Pringsheim verzeichnet am 30. Mai 1905 eine «herzbrechende Scene» im Garten des Arcisstraßen-Palais, an deren Ende der Sohn abermals versprach, nicht zur Waffe zu greifen – ein Drama, das den Delinquenten offenbar bei weitem nicht so mitnahm wie seine Mutter, die bereits am nächsten Tag notierte, sie habe um 2 Uhr mit Erik zu einem Pferderennen fahren müssen, «das unter anderen Umständen sehr hübsch gewesen wäre», da der Junge sich «bei seinem Debüt sehr bewährt» und «den ersten Preis davongetragen» habe. Dennoch sei das Ereignis für sie «überaus schmerzlich» und deprimierend gewesen, denn der Sohn habe sich, «hoch beglückt», so, als wäre nichts vorgefallen, durch die «Gratulationen der anwesenden Prominenz» ausführlich feiern lassen.

Nun, es sollte noch schlimmer kommen. Am Tag nach dem Rennen reiste Hermann Rosenberg persönlich nach München, um nun auch den Schwager in das ganze Ausmaß der Katastrophe einzuweihen und sich wegen der unweigerlichen Konsequenzen mit den vor Ort zuständigen Rechtsanwälten zu beraten. Das Ergebnis: Der Junge muss unverzüglich fort! Hedwig Pringsheim notiert am 2. Juni: «Erik mitgeteilt, dass er noch heute das Haus zu verlassen hat!»

Dann am Abend die unerwartete Wende: Alfred Pringsheim, der sich bis dahin zurückgehalten und den man erst spät unterrichtet hatte, handelte in einer Weise, die zu diesem Zeitpunkt wohl keiner der Beteiligten mehr für möglich gehalten hatte. Nach einer letzten Konferenz mit Rechtsanwälten und Bankiers teilte er mit, dass er Erik nochmals «rangiren» wolle, allerdings unter der Bedingung, dass der Junge mindestens ein Jahr lang «ins Ausland» ginge. «Hauptsächlich hat ihn wol Rücksicht auf mich bestimmt, noch einmal 50 000 M zu zalen», notierte Hedwig dankbar und erleichtert.

Aber auch ihr war klar: Der Junge konnte nicht bleiben: «Sein Leichtsinn im Schuldenmachen, die Form, in der er es betrieb, seine ganze Existenz hat die Grenze des Möglichen überschritten, und er muss fort», schrieb sie wenig später an ihren Freund Maximilian Harden, dem gegenüber sie noch einmal die rücksichtsvolle Generosität ihres Mannes betonte: «Alfred hat sich außerordentlich schön und großmütig benommen.» Die noble Geste kam offenbar für alle überraschend: «Hermann [Rosenberg] war starr. Hätte das nicht für möglich gehalten», steht im Notizbuch – ein Vermerk, dem wenig später das befremdende Fazit folgt: «Erik aß zum erstenmal wieder mit uns zunacht. Allgemeines Aufatmen.»

Doch scheint es, als habe die Erleichterung nicht lange angehalten. Während Eltern und Freunde unablässig berieten, wo in der Welt es den für Erik am besten geeigneten Verbannungsort gäbe, ritt der Junge bereits sein nächstes Rennen und verkaufte, da er erfolglos blieb, anschließend sein Pferd «um 3000 Mark». Ob Shanghai oder Johannesburg: die Diskussion um seinen künftigen Wohnort interessierte ihn offensichtlich so wenig wie die Tatsache, dass sich die Eltern, dem Rat der Berliner Bankiers, überseeerfahrener Industriemagnaten und Großkaufleute wie Emil Rathenau, Carl Fürstenberg oder Hermann Rosenberg folgend, schließlich für Argentinien entschieden.

Die Verbannung

In der Tat galt Argentinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eines der fortschrittlichsten und wohlhabendsten Länder des südamerikanischen Subkontinents: ein Staat mit rapide wachsender Außenhandelsbilanz und einem Pro-Kopf-Einkommen, das – folgt man den Berechnungen des Handbuchs «Argentinien als Ziel für germanische Auswanderung» aus dem Jahre 1906 – bedeutend über dem der Vereinigten Staaten von Nordamerika oder irgendeines der «führenden europäischen Länder» lag.

Buenos Aires schickte sich an, eine Großstadt europäischen Zuschnitts zu werden. Die «Deutsch-Überseeische Elektrizitätsgesellschaft», um die Jahrhundertwende in Berlin gegründet, hatte für eine moderne Straßenbeleuchtung und – gemeinsam mit einem englischen Unternehmen – für ein mustergültiges Straßenbahnsystem gesorgt. Die Schiffe der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft und der HAPAG verkehrten seit den 1870er Jahren regelmäßig zwischen Hamburg und der argentinischen Hauptstadt, in der sie eigene Agenturen unterhielten.

Um die gleiche Zeit gründeten die Berliner Diskontogesellschaft und das Kölner Bankhaus Salomon Oppenheimer gemeinsam mit einer belgischen und einer österreichischen Institution die «Deutsch-Belgische La-Plata-Bank», die bald zu den führenden Geldhäusern des Landes gehörte. Große europäische Handelshäuser etablierten eigene Niederlassungen, oft in Kooperation mit einheimischen Unternehmen. In der Phalanx der diplomatischen Vertreter aller maßgeblichen Staaten Europas residierte auch ein deutscher Botschafter in Buenos Aires, und deutsche Konsulate vertraten die Interessen ihres Landes in aufstrebenden Küstenstädten wie Bahía Blanca oder Puerto Gallegos und wichtigen Zentren im Landesinneren wie Rosario, Mendoza oder Córdoba. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ständig wachsende Einwanderung deutscher Siedler, Handwerker, Techniker und kleinerer Gewerbetreibender hatte in einigen Regionen den Aufbau einer eigenen Infrastruktur gefördert.

Um 1900 gab es in Argentinien ungefähr einhundert deutsche Schulen, darunter – wenn auch vorwiegend auf Buenos Aires konzentriert – Gymnasien und sonstige weiterführende Lehranstalten. In der Hauptstadt existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein deutscher Turnverein, ein Gesangverein, ein Reiterclub und, seit 1880, sogar ein deutsches Hospital. Deutsche Gelehrte trugen zum internationalen Renommee argentinischer Universitäten bei.

Das gesellschaftliche Leben in Buenos Aires war, kein Zweifel, europäisch geprägt. Die Einrichtungen der Wohnungen von gutsituierten Neubürgern unterschieden sich in nichts von der Ausstattung der Villen im Grunewald oder in München. Zudem existierte seit mehr als einem Vierteljahrhundert – wenn auch in Schweizer Herausgeberschaft – eine deutschsprachige Zeitung, das Argentinische Tageblatt, das bis heute in einer wöchentlichen Ausgabe erscheint. Schließlich waren Grund und Boden – noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts – billig zu erwerben, wenngleich die Preise für die Areale in der Provinz Buenos Aires seit der Konsolidierung der politischen Verhältnisse nach dem Börsenkrach von 1890 um ein Vielfaches angestiegen waren.

Kein Wunder, dass sich Alfred Pringsheim unter diesen Voraussetzungen für Argentinien entschied. Auch Erik stimmte dem Plan ohne erkennbare Einwände zu. Er interessierte sich nur für Rennpferde. Für seine Leidenschaft schreckte er nicht einmal vor fragwürdigen Transaktionen mit Schmuckstücken von zweifelhafter Herkunft zurück. Den Erlös gab er später der Mutter gegenüber als Geschenk der Berliner Großmutter aus. Als Hedwig Pringsheim die wahren Zusammenhänge erkannte, trug sie die Preziosen zum Juwelier, um sich Gewissheit über Wert und mögliche Eigentümer zu verschaffen und die Ansprüche von Wucherern zurückzuweisen, die ihren Sohn verfolgten.

Erfahrungen dieser Art bestärkten sie in ihren traurigen Erkenntnissen über den Zustand ihres Ältesten. Sie hatte keinen Zweifel mehr: Der Sohn kompensierte nicht nur Misserfolge, er war, schlimmer, «partiell unzurechnungsfähig». «Bei Erik handelt es sich nicht um nur gewöhnlichen Leichtsinn und verschwenderischen Lebenswandel eines jungen Mannes aus sogenannt reichem Haus. Das liegt bei ihm viel tiefer», schrieb sie an ihren Freund Harden. «Seine ganze Art ist nicht die eines Verbrechers, sondern eines partiell – nur partiell – Irrsinnigen, und er gehört vor den Psychiater. Bei dem ich übrigens auch war.»

Gleichzeitig mit dem Schreiben an Harden hatte sich Hedwig Pringsheim bei Emil Kraepelin angemeldet, der in Deutschland zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches gehörte. Sie hat ihn zunächst allein aufgesucht. Das Ergebnis der Unterredung war offenbar niederschmetternd. Der Arzt erkannte in den Darstellungen der Mutter eine unheilbare, «leider häufig vorkommende Form ‹psychopathischer Minderwertigkeit›».

Die Exploration des Sohnes am Tag darauf bestätigte diese Diagnose. Das Notizbuch jedenfalls vermerkt: «Nachtisch zu Kräpelin, der den Eindruck Eriks als ‹pathologische Persönlichkeit› durchaus bestätigt fand». Dem Patienten allerdings machte der Professor einen eher «quatschen» Eindruck, eine Reaktion, die bei der Mutter die traurige Einsicht verstärkte, dass ihr Junge sich der Situation immer mehr verschloss, denn ein «Quatsch» war ein breitmäuliger Schwätzer und, zumal im Bayerischen, eine Person, die beim Gehen wie eine Ente watschelte.

Kein Zweifel: Den Ernst der Lage dürfte der junge Mann bis zuletzt nicht realisiert haben. Er sah nicht ein, warum ihm die Eltern verwehrten, sich in Stuttgart erneut als Rennreiter zu profilieren: «Ich habe doch schließlich erreicht, was ich wollte.» Hedwig Pringsheim war so empört, dass sie den Satz ihres Sohnes am 10. Juni 1905 wortwörtlich in das Notizbuch eintrug.

Für die Eltern gab es kein Zurück. Erik hatte sich durch seine auch moralisch anstößigen Eskapaden aus jener großbürgerlichen Gesellschaft hinauskatapultiert, der er durch Geburt und Familie angehörte und deren Normen er zu befolgen hatte, wenn er akzeptiert sein wollte. Dieses niemals fixierte, aber innerhalb der tonangebenden sozialen Schicht absolute Gesetz galt auch in München, selbst wenn dort manche Vorschriften und Regeln ein wenig großzügiger gehandhabt wurden als anderswo. Doch auch hier gab es einen Punkt, wo – um der Erhaltung des Grundkonsenses willen – sogar eine angesehene und hochverdiente Familie wie die Pringsheims einen uneinsichtigen Tunichtgut verstoßen musste, wenn sie sich nicht selbst aus der Gesellschaft ausschließen wollte.

Dieses ungeschriebene Gesetz hat seinen Ursprung vermutlich in den vorwiegend nach Übersee orientierten Handelszentren. Dort war es von jeher Brauch gewesen, die herangewachsenen Söhne – vor allem die ältesten, die einmal die Firma weiterführen sollten – zu Geschäftsfreunden ins Ausland und in ein möglichst fremdes Milieu zu schicken. In der Ferne sollten sie sich umtun, den Wind um die Nase wehen lassen und – nach Möglichkeit – neue absatzfördernde Verbindungen knüpfen. Im Laufe der Zeit hatte sich dieser Brauch verselbständigt und galt in gewissen Schichten des gehobenen – keineswegs nur deutschen – Bürgertums als letzte Möglichkeit, sich standesgemäß, das heißt mittels einer gesellschaftlich akzeptierten Methode, etwaiger schwarzer Schafe zu entledigen.

Über die moralische Rechtmäßigkeit solcher Maßnahme bestand innerhalb der Gesellschaft Einigkeit: Das einzige Mittel, den Sohn zu retten, war, ihn in eine Umgebung zu versetzen, die «ihn zurechtstoßen» würde. Um das zu erreichen, gab es zwei Möglichkeiten. Die erste war, den von Hause aus verwöhnten Delinquenten «in die Selbständigkeit zu zwingen» oder – der zweite Weg – ihn «unter strenge Aufsicht» zu stellen. Voraussetzung für beide Methoden: die Geldquellen abzuschneiden oder drastisch zu minimieren, um den Verschwender «auf seine Knochen und seiner Hände Arbeit» zu verweisen.

Trotz gnadenloser ‹Strafversetzung› blieb dem Missetäter die Chance, sich ‹drüben› zu bewähren und als ‹Gebesserter› oder sogar als ‹gemachter Mann› wieder heimzukehren. Auch Hedwig Pringsheim hoffte, wohl wider besseres Wissen, zunächst auf die Rückkehr eines geläuterten Sohns. Immerhin hatte der Vater, dank seiner gesellschaftlichen Beziehungen, erreicht, dass dem Jungen drei Jahre lang eine Staatsstelle offengehalten wurde.

Oravia

Oravia Oravia

Als die Matrosen die Leinen eingeholt hatten und das Schiff vom Kai ablegte, überkam Hedwig Pringsheim nach zwei beinahe heiteren Tagen eine große Traurigkeit. In «glühendem Sonnenbrand» lief sie ihrem Jungen nach, «bis ans offene Meer», auf dem das Schiff «schon weit, weit voraus war». Sie sah ihm nach, bis es am Horizont verschwand. Dann ging sie weinend zurück. In La Rochelle noch einmal neun Stunden langen Wartens: «verbracht wie’s eben gehen wollte».