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Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, so lautet eine oft zitierte politische Weisheit. Schön wär’s, kann man da nur sagen. Seit einiger Zeit besteht die Politik in Deutschland und in Europa vor allem darin, die Wirklichkeit zu verdrängen, zu beschönigen und nicht zu sagen, was man denkt.

Fast so, wie ressentimentgeladene Populisten sich »die da oben« immer vorstellen und heimlich wünschen. Doch, um hier gleich einem grassierenden Vorurteil entgegenzutreten, auch einer möglicherweise falschen Erwartung an dieses Buch: Es kommt natürlich auch in einem vergleichsweise »sauberen« Land wie diesem vor, dass Politiker Dinge bewusst verheimlichen, weil sie kriminell sind, dass sie sich bestechen oder erpressen lassen, das alles gibt es leider auch. Allerdings macht diese dunkle Seite der Politik hierzulande nur selten das Wesen des Regierens aus. Das Schweigen, von dem hier die Rede sein soll, verhüllt keine Machenschaften, sondern Ratlosigkeit und Verunsicherung, es enthält der Öffentlichkeit manchmal vielleicht unfertige, aber interessante und wichtige Gedanken vor. Die Politik im Deutschland des Jahres 2015 zieht nicht verborgen vor dem Volk und der Öffentlichkeit die Fäden, vielmehr ist sie dabei, die Fäden aus den Händen zu verlieren. Versteckt wird weniger die wahre Macht als echte Ohnmacht. Die markantesten politischen Ereignisse dieses Jahres erweisen sich bei genauerem Hinsehen hierfür als Beleg.

Ein besonders dramatisches, auch schmerzliches Beispiel für verdrängte Nöte und Gefahren ist die Flüchtlingspolitik. Sie erlebte in diesem Frühjahr nach dem Tod von 800 Menschen, die allein am 7. Mai im Mittelmeer ertranken, ihren Fukushima-Moment: völlige Richtungsumkehr binnen weniger Tage. Was eben noch dazu dienen sollte, die Grenzen der EU zu verteidigen, auch wenn es viele Flüchtlinge das Leben kostete, soll nun im Handumdrehen genau den gegenteiligen Zweck erfüllen: die Rettung von möglichst vielen Flüchtlingen, auch wenn die Grenzen damit durchlässig werden.

Im Unterschied zu Fukushima war es diesmal allerdings keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, die den Wandel einleitete, sondern eine leicht prognostizierbare Tatsache: Wenn immer mehr Menschen aus den destabilisierten Nachbarschaften der EU nach Europa kommen und immer weniger Schiffe bereitgestellt werden, um sie zu retten, werden immer mehr Flüchtlinge sterben. Die Politiker wussten das, haben es sogar selbst herbeigeführt, nur laut gesagt haben sie es nicht.

Stattdessen erfahren wir bei dem Thema eine misstrauisch stimmende Sprachverwirrung. Ausgerechnet der als besonnen geltende deutsche Außenminister glaubte nach dem Schiffsunglück anlässlich eines Flüchtlingsgipfels der EU sagen zu müssen: »Wir können mit dem Flüchtlingsproblem nicht militärisch fertigwerden.« Tatsächlich? Das ist eine Formel, die Frank-Walter Steinmeier bis dahin nur für den Ukraine-Konflikt und die arabischen Bürgerkriege verwendet hatte. Und jetzt wird das ­Militärische aufgerufen im Angesicht von hilflosen, unbewaffneten, auf rostigen Booten zusammengepferchten Menschen. Da fragt man sich: Warum musste das überhaupt gesagt werden? Auf wen antwortet er hier? Wer in aller Welt hat denn möglicherweise die Idee aufgebracht, mit Kriegsschiffen gegen Flüchtlingsboote vorzugehen? So ist es immer öfter in letzter Zeit: Hinter dem Gesagten öffnet sich, wenn man genau hinhört, ein Abgrund von Ungesagtem.

Zweites Beispiel: Geheimdienste. Seit Längerem schon jagt eine Affäre die andere, verunsichert viele Menschen und schafft Misstrauen zwischen denen, die regieren, und denen, die sich regieren lassen müssen. Was offenbar in zunehmendem Maße auch heißt: abgehört und durchleuchtet zu werden. Warum ist das so und warum gelingt es der Politik nicht, damit vernünftig umzugehen?

Etwas davon liegt in der Natur der Sache, genauer: im Grundwiderspruch zwischen der notwendigerweise geheimen Arbeitsweise der Dienste auf der einen und dem Kontrollanspruch eines demokratischen Rechtsstaats auf der anderen Seite. Transparenz und Effizienz stehen in einem kaum zu überwindenden Zielkonflikt. Darum wird es mit absoluter Sicherheit immer wieder Geheimdienstaffären geben und sie müssen immer wieder enttarnt und aufgeklärt werden. So weit, so schlimm, so ­normal.

Zweierlei ist jedoch hinzugekommen, was die Sache mit den Geheimdiensten für die deutsche Politik mehr und mehr zu einem Albtraum werden lässt. Zum einen ermöglichen das Internet, die immer ausgefeilteren Algorithmen und die schier grenzenlosen Speicherkapazitäten mittlerweile Überwachung in einem Ausmaß, von dem selbst totalitäre Regime nicht zu träumen wagten. Immer mehr Menschen können bei immer mehr Lebensäußerungen immer effizienter überwacht werden. Zum anderen, und da wird es dann richtig heikel: Deutschland produziert weit weniger nachrichtendienstliche Informationen, als es (ver)braucht. Ohne die Informationen der NSA wäre der BND niemals in der Lage, Deutschland vor terroristischen Gefahren zu schützen. In den meisten Bereichen mögen die Deutschen Exportweltmeister sein, hier sind sie eher Importweltmeister, böser gesagt: Die Bundesrepublik ist ein informationeller Schuldenstaat. Auf dem Feld der geheimen Dienste verhält sich Deutschland zu den USA wie beim Geld Griechenland zu Deutschland, mit dem selben Effekt: eingeschränkte Souveränität.

Deutsche Regierungen wissen oft nicht, was ihre eigenen Geheimdienste tun, noch weniger allerdings wissen sie, was die amerikanischen anstellen. Ob sie sich, nur so als Beispiel, an die deutschen Gesetze halten. Und ob sie Bürger, Kanzler und Unternehmen hierzulande nur zu dem Zweck ausspähen, Terrorgefahr abzuwehren, oder etwa auch, um sich sonstige Vorteile zu verschaffen, politische oder wirtschaftliche. Wenn man Politiker vertraulich danach fragt, sagen sie: Natürlich werden wir alle abgehört! Selbstverständlich geht es den Amerikanern nicht nur um unsere Sicherheit, sondern auch um ihren Vorteil! Aber was sollen wir denn machen? Ohne deren Hilfe steigt die Terrorgefahr bei uns, wer könnte das verantworten? Und sollen wir den Bürgern etwa sagen, dass Deutschland hier nur eingeschränkt souverän ist? Auf den Einwand, dass der BND dann eben gestärkt werden müsse, lachen die zuständigen Politiker nur: Wie um Himmels willen soll man das denn durchsetzen?!

Statt aber offen über diese Dinge zu reden, wird geeiert und gemogelt, die Regierung macht sich verdächtig. Und selbst die Opposition lässt Vorsicht walten bei ihrer Kritik, denn alle wissen ja: Jeder, der irgendwann mal regiert, steckt in demselben ­Dilemma, bis zum Hals.

It’s history, stupid!

Vorgänge und Zustände dieser Art nähren einen Verdacht, den viele schon lange hegen: Sagen die Regierenden in Berlin und Brüssel auch bei anderen wesentlichen Fragen nicht alles, was sie wissen und denken, was sie bewegt und verunsichert? Die Antwort lautet nach zahlreichen Hintergrundgesprächen mit führenden Politikern und Spitzenbeamten: Ja.

Vor einer Weile richtete die SPD eine Feier zum 75. Geburtstag ihres alten Häuptlings Franz Müntefering aus. Ein Abendessen im kleinen Kreis, darunter seine Frau, zwei führende Genossen, ein Soziologie- und ein Geschichtsprofessor, zwei Journalisten. Mehr Feier wollte Müntefering nicht. Gleich zu Anfang erklärte er, warum. Er wolle nur reden, es geschehe zurzeit so viel Grundstürzendes und Markerschütterndes, und so wenig werde darüber diskutiert. So kann es nicht gehen, befand der ehemalige SPD-Chef und legte gleich eine These vor:

EUNSAUSAEUSPD