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Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Andreas Decker

 

 

ISBN 978-3-492-97108-9

Oktober 2015

© 2014 Sebastien de Castell

Die kanadische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Knight’s Shadow« bei Quercus, England.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Karte: Sebastien de Castell

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

 

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Was bisher geschah ...

Einst sorgten die Greatcoats von Tristia für Gerechtigkeit – reisende Magistrate und Duellkämpfer, die ihren Namen den besonderen Ledermänteln verdankten, die ihnen als Uniform und Schutz dienten. Intrigen führten zur Auflösung des Ordens.

Hundert Jahre später leidet das Land unter der Willkür der Herzöge. Nachdem Aline, die Frau des Bauern Falcio val Mond, von den Schergen eines Herzogs ermordet wurde, führt Falcio einen blindwütigen Rachefeldzug gegen den Adel und will den jungen König Paelis töten. Aber die beiden ungleichen Männer schließen einen Pakt, um den alten Idealen und dem Gesetz des Königs neue Geltung zu verschaffen. Sie gründen die Greatcoats erneut. Falcio val Mond wird ihr Anführer.

Aber die Herzöge verbünden sich gegen den König. Paelis stirbt durch ihre Hand, und die nun verfemten Greatcoats werden in alle Winde zerstreut, jeder von ihnen ausgestattet mit einem letzten, geheimen Befehl ihres Königs.

Falcio und seine treuen Kameraden, der Fechter Kest und der Bogenschütze Brasti, spüren Paelis’ Tochter und Thronerbin auf, die der König zu Ehren von Falcios ermordeter Frau Aline nannte. Unterstützt von der geheimnisvollen Schneiderin, der Mutter von König Paelis, machen sie die Intrigen der grausamen Herzogin Patriana zunichte. Nach Patrianas Tod greift deren Tochter Trin nach der Krone und schreckt dabei vor keiner Schandtat zurück.

Nachdem die Schneiderin erste Scharmützel gewonnen hat, müssen die von ihr mobilisierten Kämpfer, die sie ebenfalls Greatcoats nennt und deren Herkunft unklar ist, im Kampf gegen Trin den Rückzug antreten. Falcio wurde vergiftet; ihn erwartet ein langsamer, schleichender Tod. Nach seinem siegreichen Duell mit Caveil, dem Heiligen der Schwerter, wird Kest der neue Heilige, aber seine neu gewonnenen übermenschlichen Fähigkeiten drohen ihn von innen heraus zu verbrennen. Dariana, eine der neuen Greatcoats, die die Schneiderin den Männern an die Seite gestellt hat, verfolgt ihre eigenen Pläne.

Falcio kämpft noch immer darum, die junge Aline auf den Thron zu bringen. Unterstützung sucht er bei Isault, dem Herzog von Aramor. Einen unerwarteten Helfer findet er in Shuran, dem Ritteroberst des Herzogs. Obwohl die Ritter von Tristia im Dienst ihrer Herren ihre einstigen Ideale schon lange vergessen haben und nicht besser als eine Mörderbande sind, erweist sich Shuran als klug und ehrenvoll.

Aber die Greatcoats können nicht verhindern, dass Isault und seine Familie ermordet werden. Kurz darauf sterben im benachbarten Herzogtum Luth Herzog Roset und seine Familie. Aber wer sind die Mörder? Sind es die Dashini, ein Orden legendärer Meuchelmörder? Oder abtrünnige Greatcoats im Auftrag ihres toten Königs? Falcio und seine Getreuen wollen weiteres Blutvergießen verhindern, aber sie kommen zu spät. Ritter haben das Dorf Carefal, das gegen den Herzog rebelliert, dem Erdboden gleichgemacht und sämtliche Bewohner erschlagen.

Falcio val Mond und seine Getreuen nehmen die Verfolgung auf, um weiteres Morden zu verhindern. Es wird ein Rennen gegen die Zeit …

Prolog

Im Herzen von Schloss Aramor gibt es eine kleine Privatbibliothek, die als das Königliche Athenäum bekannt ist. (Oder auch als »dieser komische kleine runde Raum, in den der König gern adlige Damen zu führen pflegte, um ihnen zu zeigen, wie schlau er doch war«, wie Brasti es gerne beschrieb). Nicht lange, nachdem die Herzöge dem König den Kopf abgetrennt hatten, plünderten sie die meisten seiner Bücher – vermutlich weil auch sie niedere Adlige und edle Damen mit ihrer Brillanz beeindrucken wollten. Aber wenn man nur lange genug in dem von den Herzögen zurückgelassenen Müll kramt und den Staub und die Spinnweben beseitigt, stößt man mit etwas Glück auf ein wenig beeindruckendes Buch mit dem Titel Über die Tugenden der Ritter.

Nun sollte man eigentlich annehmen, dass jedes der aufgeblasenen herzoglichen Arschlöcher den Wunsch verspürt, dieses Buch stolz auf dem Kaminsims zu präsentieren. Welcher Adlige schwafelt schließlich nicht selbstgerecht und ausführlich über die Ehre und Loyalität seiner Ritter? (Ganz zu schweigen von dem Geld, das sie ihn kosten). Sollte ein Buch mit dem verheißungsvollen Titel Über die Tugenden der Ritter da nicht von allen Herzögen heiß begehrt und umkämpft sein?

Allerdings ist der Einband dieses speziellen Bandes ziemlich abgenutzt. Die Farben sind verblichen, und der nicht besonders angenehme Duft von verschimmeltem Leder überdeckt den Gestank der stockfleckigen Seiten.

Hätte einer der Herzöge das Buch in die Hand genommen, wäre ihm vermutlich der Name des Verfassers aufgefallen: Arlan Hemensis, und selbst die flüchtigste Nachforschung hätte ergeben, dass Arlan ein ehemaliger Schreiber im Haushalt eines unbedeutenden Adligen gewesen war, der aufgrund eines Disputes mit einem herzoglichen Ritter die meisten seiner späteren Jahre im Kerker verbracht hatte. Der fragliche Ritter hatte sich über die beharrliche Weigerung des alten Mannes geärgert, für einen neuen Wappenrock zu zahlen, nachdem das Blut von Veren Hemensis, dem einzigen Sohn von Arlan, den alten unwiderruflich versaut hatte. Der Wappenrock war während des Duells zwischen dem Ritter und dem jungen Veren mit Blut beschmiert worden. Der Junge war gerade mal siebeneinhalb Jahre gewesen und hatte es für ein Spiel gehalten, den Ritter zum Duell herauszufordern. Aber das hatte nicht den geringsten Unterschied gemacht. Schließlich ist das Duell eine der heiligen Pflichten der herzoglichen Ritter.

Als man Arlan schließlich im Alter von siebenundsechzig Jahren aus dem Kerker entließ, lebte er gerade noch lange genug, um sein kleines Buch zu schreiben.

Oberflächlich betrachtet preist das Buch die Ehre und Effektivität der Ritterschaft, obwohl das genauere Studium in den Gedanken der eher zynisch veranlagten Leser möglicherweise ein paar Fragen aufwirft. Meine Lieblingspassage ist die letzte, in der Folgendes steht:

 

Ein wahrer Ritter ist so großartig, dass – sollte er auf dem Schlachtfeld niedergeschlagen werden und seine Rüstung von, sagen wir, einem Dutzend Pfeilen durchbohrt und der Helm so hart getroffen worden sein, dass der Stahl, der einst den Kopf des Ritters beschützte, ihn nun zerquetscht hat und das Gehirn aus seinem Kopf tropfen ließ … Selbst wenn es sich so verhalten sollte, verehrter Leser, ist ein wahrer Ritter so großartig, dass das laute Klirren seiner Rüstung, wenn der zerschlagene Körper zu Boden kracht, trotz allem einen so edlen und gehaltvollen Ton macht, dass man jedem verzeihen möge, der ihn immer wieder hören möchte.

Natürlich muss man festhalten, dass die Geschichte den Tod von tausend Bauern vermutlich nicht zur Kenntnis nehmen würde, aber sollten diese erbärmlichen Schurken ihre Höhergestellten angreifen und durch Zufall einen Ritter zu Fall bringen, wirft seine in Stahl gehüllte Leiche in der Tat einen sehr langen Schatten.

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1

Die Heilige der Gnade

In bitterem Schweigen ritten wir, fünf verzweifelte, erschöpfte Greatcoats, den nördlichen Dörfern von Luth entgegen und jagten vierzig herzoglichen Rittern hinterher. Trotz der schweren Rüstungen, die sie mit sich herumschleppten, hatten sie Kest zufolge einen ganzen Tag Vorsprung. Immer wenn mich der Schlaf zu übermannen drohte, stellte ich mir die Männer, die wir verfolgten, als grinsende Schakale vor, die mit Begeisterung unschuldige Dorfbewohner in Stücke rissen. Tatsächlich war das Massaker vermutlich recht methodisch und leidenschaftslos erfolgt. Schließlich handelte es sich hier um Ritter: Männer, die nur Befehle befolgten – oh, und nicht zu vergessen das Diktat ihrer Ehre oder was sie dafür hielten. Ich würde jeden Einzelnen von ihnen töten.

Unsere Feinde bemühten sich nicht, ihre Spuren zu verwischen. Jeder Hufabdruck war wie ein in den Staub eingeprägtes Grinsen, das uns zur Verfolgung aufforderte. Jeder Blick zurück schien mir die Toten von Carefal zu zeigen – die Männer, Frauen und Kinder starrten mich mit toten Augen an und formten mit ihren toten Lippen unablässig die Worte Feigling und Verräter, als würde mich das zu größerer Schnelligkeit anspornen. Aber wir ritten bereits so schnell, wie es die Pferde und die raue Straße erlaubten. Und wir konnten nicht das Risiko eingehen, dass die Tiere vor Erschöpfung tot zusammenbrachen.

Dariana und Kest übernahmen abwechselnd die Spitze und hielten nach Anzeichen dafür Ausschau, dass die Ritter von ihrer nördlichen Route abwichen. An diesem ersten Tag sagte Brasti kein Wort, und er sah uns auch nicht in die Augen. Am Ende war es Valiana, die zu ihm durchdrang. Sie ignorierte einfach sein Schweigen und ritt neben ihm, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Am nächsten Tag tat sie das Gleiche, und nach ein paar Stunden glaubte ich ihn etwas murmeln zu hören – ich konnte es nicht verstehen, aber was auch immer es gewesen war, sie reagierte nicht darauf. Ich hielt mich fern, aber nach einer Weile konnte ich Brasti sprechen hören. Dann wütete er und schluchzte. Und noch immer hörte Valiana einfach nur zu. Als er endlich schwieg, machte sie nicht den Versuch, seine Probleme zu lösen oder seine Ansichten zu korrigieren oder ihm zu sagen, dass er ein Narr war.

»Sprich weiter«, sagte sie.

Ich wollte mich zu ihnen gesellen, etwas Schlaues oder Witziges sagen, das unseren Brasti zur Rückkehr zwingen würde, das – wenn auch nur reflexartig – den lachenden, arroganten Bastard zurückholte, der für gewöhnlich den Rest von uns bei geistiger Gesundheit hielt. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass jedes Wort aus meinem Mund die Dinge nur verschlimmern konnte, also hielt ich den Blick auf die Straße gerichtet und dachte nach.

Jemand ermordete mein Land.

Hier kann es unmöglich nur darum gehen, die Ordnung zu bewahren, dachte ich. Irgendwie müssen die Morde an Isault und Roset und ihren Familien mit den Aufständen in den Dörfern in Verbindung stehen.

Es wäre nicht schwergefallen, das alles Trin anzulasten. Sie verfügte über die bösartige Verdorbenheit, so etwas zu befehlen und sich am Ergebnis zu berauschen. Aber wenn sie in der Region einen derartigen Einfluss hatte, warum hatte sie dann nicht schon längst die Kontrolle über das ganze Land übernommen? Und wenn sie Tristia in einen Bürgerkrieg mit all seinem Chaos trieb, worüber wollte sie dann noch herrschen?

Ich verfluchte jeden einzelnen Heiligen.

Ich brauchte mehr Informationen. Ich musste mit jemandem darüber reden, musste die vielen sich widersprechenden Worte und Bilder aus meinem Kopf bekommen und sehen, was eine andere Person darüber dachte. Valiana hatte ihr ganzes Leben an Trins Seite verbracht und wusste mehr über sie und ihre Art als sonst jemand, aber ihre Aufmerksamkeit war auf Brasti gerichtet. In der kommenden Schlacht würde ich ihn dringend brauchen, also ließ ich sie in Ruhe.

»Weißt du, eigentlich wollte ich sie hassen.«

Ich blickte zur Seite. Dariana ritt neben mir.

»Natürlich hatte ich von Valiana gehört«, fuhr sie fort. »Es hieß, sie sei ein hochnäsiges Miststück – die ach so mächtige Tochter der verfluchten Herzogin Patriana, die ihr ganzes Leben lang davon ausging, eines Tages Königin zu sein. Selbst als das mit Trin ans Licht kam, dachte ich mir: ›Achtung. Jetzt wird sich diese Valiana zur betrogenen Heiligen stilisieren‹. Aber das tat sie nicht.«

»Nein«, erwiderte ich. »Das tat sie nicht.«

»Man drückt ihr einen Mantel und ein Schwert in die Hand, und sie … Weißt du eigentlich, dass sie nicht einmal wütend ist? Natürlich will sie Trin tot sehen, aber auch das hauptsächlich nur, weil Trin Aline umbringen will.« Sie warf einen Blick zurück auf Valiana. »Wie soll man das verstehen? Da entreißt man ihr sämtliche Privilegien des Adels, und sie wird …«

»Edel?«

Dariana schnaubte. »Vielleicht.« Sie schwieg ein paar Sekunden lang. »Sie sollte völlig außer sich vor Zorn sein! Sie sollte versuchen, jeden umzubringen, der ihr je …«

Dariana verstummte. Schweigend ritten wir ein paar Minuten lang weiter. »Es stimmt, was Nile über dich sagte, oder? Du bist die Tochter von Shanilla, dem Kompass des Königs«, sagte ich dann.

Dariana kniff die Augen zusammen. »Spielt das eine Rolle?«

»Ich bin ihr nur ein paarmal begegnet.« Ich rief mir die kleine, rothaarige Frau mit den dunkelgrünen Augen zurück ins Gedächtnis. »Der König ernannte sie zur Greatcoat, als ich gerade in Domaris für Gerechtigkeit sorgte, also standen wir uns nicht besonders nahe, aber ich kannte sie gut genug, um sie zu respektieren.«

»Und, erkennst du viel von ihr in mir?«, wollte sie wissen.

»Ich …« Shanilla war eine der besten Magistrate der Greatcoats gewesen. Ihre meisterhafte Beherrschung der Wechselfälle des Gesetzes kam niemandem gleich – nicht einmal Kest. Auch als Fechterin war sie nicht schlecht, obwohl darin sicher nicht ihre größte Stärke gelegen hatte. »Du ähnelst ihr ein bisschen, um die Augen. Aber nein, ich kann mir kaum zwei unterschiedlichere Menschen vorstellen.«

Dariana lächelte. Es war kein fröhliches, glückliches Lächeln. »Gut.«

In ihrem angespannten Ausdruck glaubte ich eine Zerbrechlichkeit zu spüren, was mir das Gefühl gab, irgendwie eine Verbindung zu ihr aufgenommen zu haben. Shanilla hatte nie versucht, sich jemanden zum Feind zu machen – für gewöhnlich hatte sie sich alle Mühe gegeben, jeden Konflikt zu vermeiden. Und doch hatte sich ein Herzog oder Markgraf oder Lord genug darüber geärgert, wie sie in einem Fall entschieden oder zur Durchsetzung des Urteils seinen Champion besiegt hatte, dass er ihr eines Nachts kaum eine Meile von der Sicherheit Schloss Aramors entfernt zwei Dashini auf den Hals gehetzt hatte, um sie zu ermorden. »Als sie starb, warst du noch sehr jung, richtig?«

Dariana nickte.

»Wie alt warst du, vierzehn, fünfzehn?«

Wieder nickte sie, ohne genaue Angaben zu machen.

Ich dachte an Valiana und wie sie es geschafft hatte, zu Brasti durchzudringen. Vielleicht gelang mir bei Dari das Gleiche. »Es ist in Ordnung, darüber zu reden«, sagte ich so sanft, wie ich konnte.

»Darf ich dir eine Frage stellen, Falcio?«

»Natürlich.«

»Deine Frau ist vor ungefähr fünfzehn Jahren gestorben, ist das richtig?«

»Ja.«

»Hättest du etwas dagegen, mir jede Einzelheit des Tages zu beschreiben, an dem sie starb? Und vielleicht auch von den folgenden Tagen? Hat sie deinen Namen geschrien, als sie ermordet wurde?«

Meine Hände verkrampften sich um die Zügel. »Warum solltest du …«

Dariana lehnte sich näher zu mir. »Sie wurde doch auch vergewaltigt? Hast du dir genau vorgestellt, was sie mit ihr gemacht haben? Jede Entwürdigung und Schändung ihres Körpers? Hast du dir die Gesichter jedes einzelnen Mannes vorgestellt, als er …«

»Hör auf!«, rief ich. »Was bei allen Höllen stimmt nicht mit dir?«

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich nehme an, die Erinnerungen erfüllen dich nur mit Schmerz.«

»Sie bringen mir jeden Tag Schmerz, verflucht.«

Dariana lehnte sich so nahe heran, dass unsere Gesichter nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt waren. »Gut. Denk an deine Frau, wenn du unbedingt alte Wunden wieder aufreißen willst. Und lass meine verdammt noch mal in Ruhe.«

Sie trieb ihr Pferd an und ritt ein paar Meter voraus.

Ein paar Minuten später lenkte Kest sein Tier an meine Seite. »Ich glaube nicht, dass sie dich mag.«

»Wir haben uns nur unterhalten.«

»Nein, du verstehst nicht. Wenn sie dich ansieht, liegt Zorn in ihrem Blick, vielleicht sogar Hass. Das habe ich nicht zum ersten Mal beobachtet.«

»Glaubst du, sie will mir schaden?«

»Ich weiß es nicht, aber ich würde sie im Auge behalten.«

Ich dachte an all die Kämpfe zurück, die wir ausgefochten hatten, von Trins Kundschaftern in Pulnam zu den luthanischen Rittern in dem Gasthaus vor wenigen Tagen. »Sie hatte viele Gelegenheiten, mich zu töten«, sagte ich. Ich erinnerte mich an den Morgen, an dem ich mit ihrem Messer am Hals aus meiner Lähmung erwacht war. »Sie hätte es auch tun können, als wir allein waren.«

»Das stimmt«, meinte Kest. »Trotzdem.«

»Ich weiß. Sie hasst mich. Das ist im Augenblick nichts Besonderes. Alle werden besser über mich denken, wenn ich tot bin.«

Eine normale Person hätte das vielleicht eine Weile nachwirken lassen, bevor sie darauf antwortete, aber Kest verschwendet nie gern Zeit. »Wie fühlst du dich?« Sein Blick bohrte sich in mein Gesicht, als könnte er durch meine Haut sehen.

»Gut, schätze ich. Ich glaube, ich bin etwas langsamer als gewöhnlich. Meine Gedanken schweifen öfter ab. Meistens wache ich mit einer solchen Angst auf, dass ich mich vollpinkeln würde, was die Lähmung aber wohl verhindert.«

Kest nickte. »Dann ist es ja nicht so schlimm.«

Ich musste kichern. »Ach, alles hat auch seine guten Seiten, selbst der Tod durch Lähmung. Zum Beispiel muss ich mir keine Sorgen darüber machen, alt zu werden und Falten zu bekommen.«

Er tat so, als würde er mich voller Ernst von Kopf bis Fuß mustern. »Du würdest bestimmt einen schönen Leichnam abgeben, Falcio.«

»Das liegt an der Lähmung. Ich bekomme jeden Tag viel Schönheitsschlaf.«

»Angeblich sind Schlaflosigkeit und Schlafwandeln ein weitverbreitetes Leiden.«

»Damit habe ich kein Problem.« Ich hob ein imaginäres Glas in die Luft. »Auf Herzogin Patriana und die vielen unerwarteten Vorzüge einer Neatha-Vergiftung.«

Er hob ebenfalls ein imaginäres Glas. »Die sie immerhin zuerst umgebracht hat.«

Wir lachten beide und ignorierten, wie seltsam es doch war, die Gewalt hinter sich zu lassen, nur um zur nächsten Gewalt zu eilen, von einem Massaker in die Schlacht zu reiten. Und dabei nur einen kurzen Augenblick des Trostes durch die Gesellschaft der anderen vergönnt zu bekommen, um das Muster zu brechen. Aber wenn die kleinen Momente des Glücks die Dunkelheit durchbrechen, versucht man sein Bestes, sie nicht zu ruinieren. Darum wartete ich ein paar Minuten, bevor ich Kest eine Frage stellte, vor der ich mich schon seit Tagen drückte. »Was glaubst du, wie lange ich noch habe?«

Sein Blick flackerte in meine Richtung und richtete sich dann wieder auf die Straße. »Ich bin kein Heiler. Ich weiß nicht …«

»Komm schon«, sagte ich. »Du hast mal den Unterschied berechnet, wie lange es dauert, ein Schwert im Regen zu ziehen und im Trockenen. Wenn ein Mann uns auch nur schief ansieht, berechnest du die Chancen. Willst du mir ernsthaft erzählen, du hast nicht versucht auszurechnen, wann mich das Neatha umbringt?«

»Es ist … Ich kenne nicht alle Faktoren. Sicherlich hält die Lähmung jeden Morgen länger an, und je länger du gelähmt bist, umso flacher wird offenbar deine Atmung. Manchmal scheint sich deine Kehle zu verkrampfen, als könnte sie sich nicht weit genug öffnen …«

»Wie lange?«

Kest sah mich an und holte tief und gequält Luft, als würde der Gedanke an meine Symptome seine Atmung beeinflussen. »Sechs Tage, würde ich sagen. Es könnten auch sieben sein.« Wieder blickte er nach vorn, wie er es immer tut, wenn er nicht wirklich von dem überzeugt ist, was er gleich sagen wird. »Es könnte eine Medizin geben, die etwas dagegen ausrichtet. Das Gift könnte auch endlich aus deinem Körper verschwinden. Es könnte besser werden, falls …«

»Schon gut«, sagte ich. »Sechs Tage.«

»Vielleicht auch sieben.«

Ich nickte. »In dieser Zeit muss ich herausfinden, wer zwei Herzöge und ihre Familien ermordet hat und warum in Carefal zweihundert Bauern gestorben sind.«

»Möglicherweise hat das gar nichts miteinander zu tun«, sagte Kest. »Wer auch immer diese Ritter sind, die Carefal massakriert haben, ich bezweifle, dass es Dashini sind.«

»Sie könnten für dieselben Leute arbeiten«, hielt ich dagegen, obwohl sich die Worte schon falsch in meinen Ohren anhörten, als ich sie aussprach. »Aber nein. Das ergibt irgendwie keinen Sinn.«

»Warum?«

»Die Dashini sind präzise. Schnell und tödlich wie eine Stilettklinge. Ein Werkzeug für den Fall, dass Verstohlenheit erforderlich ist – wie ein Flüstern im Dunkeln.«

Kest lächelte merkwürdig. »Ein Flüstern im Dunkeln? Schreibst du in deiner Freizeit jetzt Verse?«

»Die verfluchten Bardatti färben auf mich ab!«, beklagte ich mich. »Hör einfach zu. Ritter sind nichts anderes als Zorn und nackte Gewalt – eine von einem starken Arm geschwungene Keule. Ihr Einsatz ist eine klare Ansage. Etwas, das man von den Dächern ruft.«

»Also sind die Bauern zwischen der scharfen Klinge der Dashini und dem schweren Hammer der Ritter gefangen.«

»Und wer redet jetzt wie ein Bardatti?«, zog ich ihn auf. »Aber da steckt mehr dahinter. Jemand hat die Dorfbewohner bewaffnet, und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal. Das erste Mal, bevor wir überhaupt von Carefals Existenz erfuhren, und dann bewaffnete sie jemand erneut, nachdem wir ihre Stahlwaffen konfisziert hatten.«

»Jemand will das Land unbedingt in einen Bürgerkrieg stürzen«, sagte Kest.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Darauf steuert es bereits zu. Und zwar seit Jahren. Jemand will es beschleunigen.«

»Trin ist noch immer die beste Verdächtige.«

»Aber warum? Sie will Tristia beherrschen, nicht auf einem hübschen Thron sitzen und zusehen, wie sich das Land selbst zerfleischt.«

»Sie ist verrückt.«

»Sie ist verrückt. Aber nicht dumm.« Ich warf wieder einen Blick auf die Fährte der Männer, die wir verfolgten. »Kest, jemand führt dieses Land ins Chaos. Jemand will es brennen sehen.«

Jeder Stunde, die wir in den nächsten beiden Tagen ritten, wohnte ihr eigenes Gift inne: Sie machte müde und unvorsichtig. Ich verbrachte so viel Zeit mit dem Versuch, nicht einzuschlafen, dass ich Schlaglöcher übersah, aus dem Halbschlaf hochfuhr und hektisch nach dem Hals des armen Pferdes griff, um nicht aus dem Sattel zu fallen. Die Zeit wurde dehnbar. Zuerst schrumpfte sie und ein halber Tag verschwand in einem Blinzeln, dann zog sie sich auf unverzeihliche Weise in die Länge, während mein Verstand die Bilder der Schreckenstaten heraufbeschwor, die die Ritter anrichten würden, die das Massaker in Carefal verübt hatten.

»Dort vorn steht jemand«, sagte Brasti und riss mich aus meinen Gedanken.

Wir zügelten die Pferde. Ich beschattete meine Augen gegen die Sonne. »Wie viele?«

»Nur eine Person. Eine Frau!«

»Trägt sie eine Waffe?« Ich zog ein Rapier und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in die Brasti zeigte. Ich beneidete ihn um seine Sehkraft, obwohl sie lediglich angemessen war – ein kurzsichtiger Bogenschütze würde nicht viel im Kampf taugen.

»Wie kommst du nur zurecht, wo du so kurzsichtig bist?«

»Indem ich die Leute ersteche, die sich darüber beschweren. Beantworte die Frage.«

Er beugte sich auf dem Pferd ein Stück vor und spähte die Straße hinunter. »Ich kann keine Waffen sehen. Sie steht einfach nur da. Ihr Haar ist blond, fast weiß. Sie trägt ein weißes Kleid, das … ich kann es schwer beschreiben, es wogt um sie herum wie durchsichtige Vorhänge in der Abendbrise.«

»Bei allen Heiligen, verwandelt sich denn jeder in einen Bardatti?«, sagte ich, aber dann fiel mir plötzlich wieder die kleine Kirche auf der Straße nach Pulnam ein, wo Trin ein unschuldiges Mädchen als Folterinstrument benutzt hatte, um uns zu quälen. »Brasti, ist da etwas …«

Aber er war mir voraus und schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nichts an ihrem Kopf befestigt.«

Ich trieb mein Pferd zu einem langsamen Schritttempo an. Man musste keinen Ärger schaffen, wo keiner gebraucht wurde. Ein paar Augenblicke später konnte ich sie besser sehen. Aus der Ferne hatte sie das weißblonde Haar wie eine alte Frau aussehen lassen, aber jetzt wurde ersichtlich, dass sie jünger als wir war, vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre alt.

»Halt«, sagte Kest.

Brasti und ich zügelten die Pferde.

»Was ist? Was siehst du?«, fragte ich.

Dariana schlug ein Zeichen in die Luft. »Ist sie eine Hexe?«

»Nein«, sagte Kest. Er stieg aus dem Sattel.

»Was dann?«, wollte ich wissen.

»Sie ist nicht wegen dir gekommen«, erwiderte Kest. Dann ging er langsam, beinahe schon misstrauisch, auf sie zu. »Sie ist wegen mir gekommen.«

Nachdem er den halben Weg zwischen uns und der Frau zurückgelegt hatte, fragte Valiana: »Was meint er damit, ›Sie ist wegen mir gekommen‹?«

»Keine Ahnung.« Ich wandte mich Brasti zu. »Mach deinen Bogen bereit.«

Er stieg ab, zog Ausschweifung, den längsten seiner drei Bögen, vom Sattel, stellte den Köcher auf den Boden und lehnte ihn an sein Bein. Er nahm ein paar Pfeile und verteilte sie an jeden von uns. »Wenn ich einen Pfeil brauche, sage ich euren Namen. Ihr legt ihn mir in die geöffnete Hand, die Befiederung mir zugewandt und die schwarze Feder nach links gerichtet.«

»Sonst noch was, Meisterschütze?«, fragte Dariana.

»Ja. Stell dich nicht vor mich.«

Kest hatte die Frau mittlerweile erreicht und sprach mit ihr. Durch die Entfernung konnte ich nichts verstehen, aber irgendwie wirken die beiden vertraut miteinander, beinahe schon intim. »Ist es möglich, dass Kest sie kennt?«

Brasti schnaubte. »Eine Frau? Wie würde ihm das beim Fechten helfen?«

Die Frau schüttelte den Kopf, und Kest wurde aufgeregter – er bewegte die Hände, wie er es immer tat, wenn er einen Kampf erklärte oder einen Angriff plante. Die Frau blieb völlig reglos, so ruhig, als würde sie am Strand auftreffende Wellen beobachten.

Nach ein paar Minuten verstummte Kest, und die Frau sprach. Das tat sie eine Weile. Nach einiger Zeit erweckte es den Anschein, als würde Kest am ganzen Leib zittern.

»Was tut sie da?« Ich zog das zweite Rapier. »Brasti, schieß ihr einen Pfeil ins Bein. Etwas stimmt nicht mit Kest.«

Ich setzte mich in Bewegung, aber Brastis Hand hielt mich zurück. »Warte«, sagte er, »ich glaube nicht, dass sie ihm etwas antut.«

»Was ist dann mit ihm?«

»Er weint.«

»Kest? Weint?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, Kest jemals weinen gesehen zu haben. Zumindest nicht seit wir zehn gewesen waren, und auch dann nur wegen Dingen, die Zehnjährige zum Weinen brachten: in den Fluss fallen, von einem Älteren und Stärkeren verprügelt werden. Nichts davon war seit vielen Jahren passiert.

»Er kommt zurück«, sagte Brasti.

Kest ging ganz langsam, als würde er dem Boden unter seinen Füßen nicht trauen.

»Was ist geschehen?« Ich griff nach seiner Schulter. »Hat sie dir etwas angetan?«

»Nein, nichts.« Seine Augen waren gerötet, aber er machte sich nicht die Mühe, die Tränen abzuwischen. »Sie will mit dir reden.«

»Mit wem?«, fragte Dariana.

»Falcio. Sie sagt, sie muss mit Falcio reden.«

Ich setzte mich in Bewegung, ich wollte wirklich wissen, was hier eigentlich los war, aber Kest griff nach meinem Handgelenk. »Lass deine Rapiere hier.«

»Warum?«

Kest streckte die Hände aus und wartete. Aus irgendeinem Grund konnte ich es ihm nicht verweigern. »Warum?«, wiederholte ich die Frage, als ich ihm die Waffen reichte.

»Weil du manchmal wütend wirst. Ich will nicht, dass du etwas Dummes anstellst.«

»Von mir aus.« Absurderweise verletzte mich die Feststellung.

Ich ging zu der Frau, die mich nie direkt anblickte, sondern immer an mir vorbei zu sehen schien. Vielleicht beobachtete sie ja noch immer Kest.

»Hallo«, sagte ich, als ich sie erreichte.

Sie wandte mir ihre Aufmerksamkeit zu und lächelte. Ihre Schönheit zwang mich beinahe in die Knie.

Greatcoats knien vor niemandem, ermahnte ich mich.

»Hallo, Falcio.« Sie streckte die Hand aus, also nahm ich sie und beugte mich vor, um sie zu küssen.

»Danke, dass du deine Rapiere zurückgelassen hast. Ich weiß, dass du es verabscheust, sie nicht bei dir zu haben.«

Ich ließ ihre Hand los. »Ein Mann in meinem Handwerk wird ständig mit Gelegenheiten konfrontiert, bei denen er ihr Fehlen bedauert.«

»Vielleicht. Aber ein Mann, der überall Waffen trägt, macht solche Gelegenheiten oft unausweichlich.«

Toll, als hätte ich nicht bereits genug Probleme mit Dichtern, jetzt habe ich es auch noch mit einer Philosophin zu tun. »Ich bin nicht gekommen, um mit dir zu tanzen. Wolltest du mich deshalb sprechen?«

Sie musterte mich mit großer Sanftmut. »Sie hätten dir an diesem Tag nicht geholfen, weißt du. Selbst wenn du sie gehabt hättest, als diese Männer kamen. Selbst wenn du die Waffen und Fertigkeiten gehabt hättest, über die du nun verfügst. Aline wäre trotzdem gestorben, und du mit ihr.«

»Sag nicht …«

»Du musst mir nicht drohen, Falcio val Mond.«

»Ich wollte nicht …«

Sie hob die Hand. »›Sag nicht noch einmal ihren Namen‹, wolltest du sagen. ›Wiederhole ihn noch zweimal, und du wirst sehen, was du davon hast‹. Du bedrohst Menschen viel zu oft, Falcio, und beinahe immer wegen der falschen Dinge.«

»Du scheinst mich zu gut zu kennen.«

»Und du kennst mich nicht gut genug.« Dieses Mal lag ein energischer Unterton in ihrer Stimme.

Wieder musterte ich ihre Züge, blickte hinter die Schönheit, die mich zu überwältigen drohte, bemerkte die Form ihrer Nase und ihrer Lippen. Eine Frau konnte sich das Haar färben, aber sie konnte nicht ihr Gesicht verändern. Doch je intensiver ich die Frau in dem weißen Kleid betrachtete, umso sicherer wurde ich mir, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. »Wir sind uns noch nie zuvor begegnet.«

»Das ist richtig«, sagte sie. »Aber ich habe dich schon oft gerufen.«

»Wann denn? Und wenn wir uns noch nie begegnet sind, welche Antwort hättest du dir erhoffen sollen?«

Sie schloss die Augen und strich die Fingerspitzen aneinander. Augenblicklich verschwanden Frau und Straße aus meiner Sicht, um durch Schlachten und Duelle ersetzt zu werden – verzweifelte und wütende Kämpfe. Ich erkannte die Gegner. Es waren Männer, die ich getötet hatte.

»In der Hitze des Kampfes«, hörte ich ihre Stimme wie aus der Ferne sagen. »Immer rief ich nach dir, wenn der Sieg feststand, aber bevor der Todesstoß geführt wurde.«

Ich fühlte den letzten Stoß, mit dem mein Rapier in den Bauch meines Gegners eindrang, wie die Klinge seinen Hals durchtrennte. »Warum zeigt Ihr mir diese Dinge?«

»Ich sagte, du kennst mich nicht. Ich wollte dir den Grund dafür zeigen.«

»Weil ich meine Kämpfe gewinne?« Ich war verwirrt und mehr als nur etwas gereizt, aber ich wusste, dass das hier wichtig war – was auch immer dahintersteckte.

Sie öffnete wieder die Augen. Jetzt lag Zorn in ihrem Blick. »Weil du mich ignorierst, wenn ich nach dir rufe.«

»Ich …« Ich wollte sagen, dass ich dieses Spiel leid war. Es war nicht das erste Mal, dass ich Magie erlebte. Ich hasste sie. Die Frau wollte, dass ich ihr die Frage stellte, sie bat, mir zu verraten, wer sie war. Das gefiel mir sogar noch weniger als Magie. Sie ist nicht wegen dir gekommen, hatte Kest gesagt. Sie ist wegen mir gekommen. Also wer würde wegen Kest kommen und nicht wegen mir? Das war der erste Hinweis. Ich weiß, was du bist, jetzt muss ich nur noch wissen, wer du bist. »Ich soll Mitleid mit den Männern haben, die mich töten wollten?«

»Am Ende brauchen wir alle etwas Mitgefühl.«

»Oder vielleicht auch Gnade?«, schlug ich vor.

Sie lächelte. »Ich war oft der Ansicht, dass Gnade praktischer ist als Mitgefühl.«

»Dann kenne ich Euch, meine Lady«, sagte ich.

»Ach ja? Wie heiße ich denn?«

»Euer Name ist Birgid.«

Sie machte einen Knicks. »Ich bin in der Tat Birgid. Ein ganz gewöhnlicher Name, trotzdem eine beeindruckende Mutmaßung. Beherrschst du auch noch andere Tricks, Falcio?«

»Der zweite Teils Eures Namens ist weniger gewöhnlich, meine Lady.«

»Dann sprich ihn aus und zeige der Welt, wie weise du bist.«

»Die heilige Birgid, die Flüsse weint. Ihr seid die Heilige der Gnade, zumindest behauptet man das.«

Sie lachte. »Ach, es stimmt, was ich hörte. Du bist in der Tat ein schlauer Mann, Falcio, Erster Kantor der Greatcoats.«

Ich verspürte eine Regung in der Brust, als wäre mein Herz plötzlich voller Lachen, voller Trauer und Erwartung. Voller Bedauern. »Hört auf damit«, sagte ich unwirsch.

»Ich kann nicht verhindern, dich zu rühren, Falcio. Mut wird stets von Mitgefühl angezogen. Du hast mich erkannt, und das bringt es einfach mit sich.« Sie berührte meine Wange. »Ich bedaure, dass ich dich nicht überzeugen kann, wenn es am dringendsten nötig ist.«

»Und warum müsst Ihr mich von etwas überzeugen?«

Sie ignorierte die Frage. »Weißt du, wo wir sind?«

Wir standen an einer Kreuzung. Die Hauptstraße führte nach Norden, schmale Seitenstraßen bogen nach Osten und Westen ab. »Mittlerweile sind wir im Herzogtum Rijou.«

»Das sind wir in der Tat.« Sie zeigte nach Osten. »Weißt du, was an dieser Straße liegt? Vielleicht ein Ritt von sechzig Meilen?«

»Nichts, das eine Rolle spielen würde, denn die Spuren der Männer, die wir verfolgen, führen weiter nach Norden.«

»Dort gibt es eine Stadt. Sie ist klein, aber ganz idyllisch gelegen. Ich glaube, sie begann als Kaufmannslager für die Leute, die auf die Erlaubnis warteten, die Stadt Rijou betreten zu dürfen.« Sie sah mich mit diesen Augen an, die so jung aussahen und einem doch das Gefühl vermittelten, uralt zu sein. »Angeblich ein hübscher Ort für einen Besuch.«

Plötzlich erschien ein Gesicht vor meinem inneren Auge. Dunkles Haar und rote Lippen, die zum Lächeln und Küssen geschaffen waren. Ethalia. »Die Stadt ist Merisaw«, sagte ich. »Ihr sprecht von Merisaw.«

Sie nickte.

»Seid Ihr deshalb hier?«

»Ich kam wegen Kest, nicht wegen dir. Und dennoch, ist es nicht seltsam, dass dich deine Jagd ausgerechnet an diesen Ort führt, an diese Kreuzung? Glaubst du, dass die Götter zu dir sprechen?«

»Nein«, erwiderte ich. »Die Götter sprechen nur zu den wirklich Frommen oder wirklich Reichen.«

»Und die Heiligen?« Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Ich habe keine große Erfahrung mit Heiligen, meine Lady, aber mein Instinkt verrät mir, dass sie so ähnlich wie Götter handeln, wenn auch vermutlich zu einem geringeren Preis.«

»Du glaubst, ich würde dich in Ethalias Richtung drängen? Keine Angst, Falcio. Mir wäre lieber, du hältst dich weit von Ethalia fern.«

»Ihr kennt sie?«

»Sie ist ein Kind der Gnade«, erklärte Birgid. »Und sie liebt dich. Aber Gnade wird immer von der Gewalt übermannt.«

»Eine ziemlich zynische Betrachtungsweise von der Heiligen der Gnade«, sagte ich.

»Eine Frau, die versucht hat, die Gewalt mit der Gnade zu vermählen und gescheitert ist. Das Kind dieser Vereinigung ist wieder nur Gewalt.«

Man konnte sich nicht dagegen wehren, von ihr beeinflusst zu werden. Sie war so schön wie die Erinnerung an einen perfekten Kuss. Wenn sie sprach, war es, als kämen in einem die besten Instinkte zum Vorschein. Aber ich hatte aus Erfahrung gelernt, meinen Instinkten nicht immer zu vertrauen. »Ich weiß zu schätzen, dass Ihr Euch die Zeit nehmt, mir zu sagen, was für ein Dreckskerl ich bin, heilige Birgid, aber ich versuche einen Krieg zu verhindern. Wenn es Euch also nichts ausmacht, sagt mir, was Ihr mir zu sagen habt, und dann macht schleunigst den Weg frei.«

»Ich habe es dir bereits gesagt, ich bin nicht wegen dir gekommen.« Sie berührte wieder meine Wange. »Aber selbst ich werde von Mut angezogen. Ich wollte dich persönlich kennenlernen.«

»Ihr seid wegen Kest hier!« Ich lenkte das Gespräch auf ein Thema, das mir etwas weniger unbehaglich war. Wenn auch nicht viel. »Warum?«

Sie nahm die Hand zurück. »Du brauchst mich nicht zu fürchten.«

»Diese Behauptung hat mich noch nie besonders beruhigt. Beantwortet die Frage.«

Kaum merklich flackerte Ärger in ihrer Miene auf, aber vermutlich nicht wegen meiner Grobheit, sondern weil sie irgendwie wusste, dass ich damit nur ihr heiliges Getue brechen wollte. »Ich bin wegen Kest gekommen, weil seine Heiligkeit noch neu ist. Es gibt Dinge, die er wissen muss, Dinge, die ein Heiliger lernen muss. Caveil hätte ihn einweihen müssen, aber ihre Beziehung war notwendigerweise nicht besonders freundlich. Es gibt einen Ort – eine Zuflucht in der Nähe von Aramor. Die Priester dort sind vertrauenswürdig. Kest könnte dort eine Atempause von seinen Trieben finden.«

»Seine Triebe? Ihr meint dieses Heiligenfieber, was auch immer das ist? Er braucht keinen Zufluchtsort. Er hat das Fieber unter Kontrolle.«

»Das hat er nicht. Unterdrückt er es, verbrennt ihn das Fieber von innen. Lässt er ihm freie Bahn, wird es stärker. Die Rote Glut wird ihn lebendig verschlingen.« Sie setzte sich in Bewegung, schlug aber den Weg nach Westen ein und nicht nach Osten. »Begleite mich. Was ich dir sagen muss, wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.«

Ich schloss mich ihr an, schwieg aber, denn ich war noch immer entschlossen, mich keinesfalls zwingen zu lassen, um Antworten zu betteln. Ich war es leid, von Leuten Antworten zu erflehen.

Offensichtlich spürte sie mein Zögern. »Sehr gut, Falcio. Sollte mich jemals jemand danach fragen, werde ich auf jeden Fall sagen, dass du unsere Unterhaltung stoisch hingenommen hast. Du musst Folgendes wissen. Kest griff wegen dir zum Schwert.«

»Wegen mir?« Ich blieb stehen. »Weil wir Freunde waren?«

»Ja. Aber diese simple Erklärung ist nicht die ganze Geschichte.«

»Was dann?«

»Als Kest jung war, besuchte ihn eine Frau. Sie verriet ihm deine Zukunft.«

Wieder schien sie auf eine Frage zu warten. Das wurde langweilig. Wieder spielte ich nicht mit.

»Sie hat ihm gesagt, dass du von der Hand des Heiligen der Schwerter sterben würdest.«

»Was?«

Ich dachte an diesen Tag vor über zwanzig Jahren zurück, an dem Kest an meine Tür gekommen war und mir gesagt hatte, dass er das Schwert ergreifen würde. Den Grund dafür hatte er mir nie genannt, und ich hatte nie gefragt, weil ich immer gespürt hatte, dass er es mir nicht erzählen würde. »Dann …«

»Sie hat ihm gesagt, dass der Heilige der Schwerter sich immer mit einem Gegner duellieren muss, der ihn schlagen könnte. Das ist unser Fluch, musst du verstehen. Wir müssen immer die ehrlichste Verkörperung dessen sein, was wir repräsentieren. Wir können dem widerstehen, wir können versuchen, es zu kontrollieren, aber am Ende wird der Zwang unseren Willen stets überwältigen.«

»Also müsst Ihr stets die gnädigste Person auf der Welt sein?«

»So ähnlich.«

»Was passiert, wenn jemand kommt, der zu einer noch größeren Gnade fähig ist?«

»An diesem Tag werde ich sehr glücklich sein.«

Ich blickte zu Kest herüber, der neben Brasti stand und die Straße herunterblickte. »Also hat er sich zum größten Schwertkämpfer auf der Welt gemacht, nur damit ich nicht gegen Caveil kämpfen musste.«

»Ja«, sagte sie. »Er hat immer dafür gesorgt, dass er besser war als du.« In ihrem Blick lag Trauer.

»Aber es hat doch funktioniert, oder nicht? Er hat Caveil besiegt.«

»Das hat er. Und jetzt ist er der Heilige der Schwerter.«

»Also?«

Wieder streckte sie die Hand aus, um meine Wange zu berühren. »Und im Augenblick bist du, Falcio val Mond, der zweitbeste Schwertkämpfer auf der Welt.«

»Ich …« Ich entzog mich ihr. »Ihr spielt mit mir, meine Lady. Es gibt viele Männer, die schneller als ich sind, stärker und bedeutend geschickter.«

»Ich sagte nicht der Schnellste, auch nicht der Stärkste oder Geschickteste. Ich sagte ›der Beste‹. Schließlich bist du der Einzige, der ihn jemals in einem Kampf besiegt hat, nicht wahr?«

»Es war ein Turnier«, erwiderte ich. »Ich habe betrogen.«

»Gibt es da nicht ein altes Sprichwort unter Fechtern? Die entscheidendsten Kämpfe …«

»Gewinnt man nicht durch Geschick«, beendete ich den Satz etwas ärgerlich, weil ich mich nicht davon hatte abhalten können.

»Sieh ihn dir an«, sagte Birgid. »In jeder Sekunde, die er in deiner Nähe verbringt, tobt ein Krieg in ihm. Wie lange wird er das wohl durchhalten, was glaubst du?«

Ich sah zu ihm zurück. Mit gesenktem Kopf stand er sechs Meter von uns entfernt, und als ich mich auf ihn konzentrierte, konnte ich förmlich die rote Hitze spüren, die er verströmte. Bereitete ich ihm wirklich eine Art Hölle, die für Heilige reserviert war, die ihre besten Freunde nicht abschlachten wollten? Ich wollte zu ihm laufen und ihm befehlen, hier zu verschwinden, zurück nach Aramor zu reiten und eine hübsche kleine Kirche zu finden, in der er sich verbarrikadieren konnte. Aber dann wandten sich meine Gedanken Aline zu, der die Wochen des Terrors und abgrundtiefer Erschöpfung die Kräfte geraubt hatten, bis ihr Gesicht hager und ihr Haar dünn geworden waren. Ich dachte an die Leichen, die man in Carefal zu großen Haufen aufgeschichtet hatte.

»Er hält noch eine Weile durch«, sagte ich. »Ich brauche ihn. Das Land braucht ihn.«

So etwas wie Frustration zeigte sich auf Birgids unnatürlich jungen Zügen, nein, etwas viel Schlichteres als Frustration. »Für wen hältst du dich, dass du für ein ganzes Land sprichst?«, fragte sie etwas schnippisch.

Etwas an ihrem Ton trieb mich zu weit. Unbedachter Zorn erfüllte mein Inneres. »Ich? Ich bin niemand. Ich bin nur ein Mann mit einem Schwert in der Hand und Gift in den Adern und viel zu vielen Feinden, die auf meinen Kopf aus sind. Aber ich bemühe mich, heilige Birgid. Während Ihr dort steht und die Welt mit Eurem nutzlosen Glanz erfüllt, gebe ich mein Leben, um sie zu retten. Wer ich bin? Lady, ich bin ein Greatcoat. Wer bei allen Höllen seid Ihr?«

Ich hatte schon Herzöge und Ritter und alle Arten von Schurken niedergestarrt, aber in die Augen der heiligen Birgid zu blicken war, als würde man in eine endlose Wüste der Einsamkeit blicken. Mich überkam ein so mächtiges Gefühl der Verlorenheit, dass meine Knie nachzugeben drohten.

»Auf die Knie, Mann der Gewalt«, sagte die heilige Birgid. Ihre Stimme war noch immer ruhig, und doch kam sie mir wie eine Welle vor, die mich unter sich begrub. »Betrachte mich nicht mit deinen blinden Augen. Betrachte stattdessen den Boden, auf dem du deinem Ende begegnen wirst, wenn du deinen Weg nicht änderst.«

Nein, dachte ich. Ich knie nicht. Nicht vor einer von deiner Sorte. Wann hatten die Götter oder die Heiligen jemals jemand anderem als den Reichen und Mächtigen dieses Landes geholfen? Ich konzentrierte mich auf die Straße unter meinen Füßen und zwang mich dazu, aufrecht stehen zu bleiben. Wenn du willst, kannst du mich töten, Heilige, aber ich beuge mich dir nicht.

Das umfassende Gefühl von Leere wurde immer stärker in mir, bis ich mich so substanzlos fühlte, dass ich mich auf die Steinchen am Boden konzentrieren musste, nur um mich daran zu erinnern, dass ich überhaupt existierte. Ich starrte die Abdrücke im Boden an, die zerbrochenen Zweige und Muster aus Staub und gefallenen Blättern, die über die Straße wehten.

Die Muster waren falsch.

Die Spuren hatten ausgesehen, als führten sie nach Norden, aber jemand hatte Blätter auf die Straße gefegt. Ich blickte nach links und entdeckte erst jetzt die verwischten Spuren, die nach Westen führten. Die Ritter haben uns doch hereingelegt. Sie hatten ihre Verfolgung so einfach gemacht, dass ich ihre falschen Spuren auf der Kreuzung nicht bemerkt hatte. Ich hätte uns nach Norden geführt, während die verfluchten Ritter in anderer Richtung unterwegs waren. Was gab es im Westen? Garniol würde sich etwa zehn Meilen westlich von hier befinden – ein kleines Dorf, etwas größer als Carefal, dennoch mit kaum mehr als ein paar Hundert Einwohnern. Die Ritter hatten es geschafft, Carefal zu zerstören, nun waren sie bereit, ihre Taktik bei einem größeren Ziel auszuprobieren.

Plötzlich lösten sich der Druck und die Leere in meinem Inneren auf. Ich hob den Kopf und sah wieder die heilige Birgid, die Flüsse weint, an. In ihrem Blick lag eine tiefe Traurigkeit, und ich begriff, was gerade passiert war. Uns direkt helfen durfte sie nicht, also hatte sie mich zornig genug gemacht, um sich mit ihrer Macht gegen mich zu wenden – anscheinend hatten die Götter nichts dagegen, wenn Heilige Menschen töteten. Nur ihnen helfen sollten sie nicht. »Es steht uns nicht zu, uns einzumischen«, sagte sie. Plötzlich erschien sie mir viel jünger, so als wäre sie ein Kind, das im Angesicht seiner zornigen Eltern nur noch zu flüstern wagt.

»Wenn sich die Götter dann besser fühlen, in einer oder zwei Wochen bin ich tot. Das weiß ich aus einer guten Quelle.«

Die heilige Birgid drehte sich um und ging. »Du sprichst zu unbedacht, Falcio val Mond. Manche Tode sind schlimmer als andere. Der, der dich erwartet, ist der schlimmste von allen.«