Katrin Seddig

Runterkommen

Roman

 

Für Katrin McClean

ERSTER TEIL

Blätter und Blüten

Dani

Als er in seinem schwarzen Mercedes-Benz um die Ecke summt, kneift sie die Augen zusammen und umarmt den sonnenwarmen Stamm.

Mein Freund, der Baum.

Sie pult ein paar Stücke aus der weichen, moosigen Rinde und tritt vor Aufregung mit der Fußspitze gegen das Holz. Von vorn das Ploffen der Wagentür, das Knacken der Verriegelung, sie kennt sein Auto, auf dem Nummernschild seine Initialen und ein Aufkleber: Ich bremse auch für Rentner. Er streckt sich, Arme Richtung Himmel, eine unglaubliche Bläue heute, wie glühendes Metall, Flecken unter den Achseln, sein Ehering blitzt – Ehe, da war doch was – und macht dabei ein Geräusch wie ein Tier aus einem Zeichentrickfilm.

Während er sich bückt, um seinen Schnürsenkel zu binden, das hätte er nicht gemusst, er ist ja gleich zu Hause, stolpert er, sie hat es kommen sehen, hüpft, um sich zu fangen, und läuft während des sich Fangens gegen die Tür. Schönes, wunderschönes Zuhause. Blumenkübel am Eingang.

Hier. Wohnt. Familie.

 

Sie kennt seinen Arbeitsplatz, und sie kennt seinen goldenen Kugelschreiber, auf dem ist eingraviert: Alles Liebe im neuen Jahrtausend.

Alles, das ganze Liebe, was es überhaupt gibt.

Sie weiß, wie er tippt, draufhauen, verschreiben, zurückspringen und neu schreiben, immer zu schnell, und er muss eigentlich wissen, dass er sich gleich wieder verschreiben wird, aber darum geht es nicht, ums Richtigschreiben.

 

Sein Umriss zerfließt hinter dem dicken Glas der Haustür. Sie muss woandershin, hinter das Haus. Knistern unter ihren Sandalen, lackweiß wie seine Eingangstür, und ihre Zehennägel pinki.

Sie ist mit zwei Jugoslawinnen aus ihrer Arbeit bei Martina gewesen, und deren Nachbarin hat eine Farbberatung für sie gemacht. Die eine, deren Namen sie nicht kannte, weil sie erst seit zwei Tagen in der Firma war – zwei Tage später war sie wieder weg –, hat mehrmals gesagt: «Rot ist eine schöne Farbe», dabei trug sie alles in Schwarz. Die Farbberaterin hat Dani gesagt, grelle Farben stünden ihr nicht, wegen ihres blassen Teints. Findet Dani eigentlich nicht. Grelle Farben stehen ihr manchmal sehr gut, sieh dir mal deinen eigenen Teint an, wie Bierschinken und Butter, aber das sagte sie nicht, sie sagte: «Mein Teint ist blass, aber auf eine frische Art», die Farbberaterin sagte nichts mehr dazu, sie sah zur Seite, wo Martinas Sohn in Rot, Gelb, Blau mit den Händen wirbelte und lachte, farblich gesehen war er eine Attraktion. Sonst auch.

«Ich mein ja nur», sagte die Farbberaterin zum Schluss, «muss ja jeder selbst entscheiden, mir ist es ja egal, aber um was zu sagen, wurde ich schließlich gebucht.»

«Ich fand es sehr schön», sagte Dani. «Ich mag nun mal grelle Farben, weißt? Das ist mehr schockig, manchmal.»

 

Der Wald ist knistertrocken. Ein Streichholz würde genügen.

Die Büsche, der Zaun, der Grasstreifen neben den versetzt angeordneten, bläulich schimmernden Steinplatten, die fettigen Blätter des Rhododendrons, die Tannen vor dem Schlafzimmer … das Fenster würde platzen, die Hauchgardine schmelzen, alles würde brennen, auch der Beton und die Schindeln.

Und er kommt heraus, sieht sein Haus in Flammen aufgehen, zu Asche werden, sein ganzes, schönes Leben.

 

Sie geht zu ihrem Baumstumpf, ihrem Moosthron hinter dem mattgelben Busch. Sie muss warten. Sie ist schweißnass, er wird es auch sein. Er wird sich ausziehen, alles in die Wäsche – in den Wäschekorb der Familie zwischen die Frauensachen und Kindersachen und Katzensachen und Hundesachen –, alles von sich schleudern und unter die Dusche gehen.

Sie kann leider nicht in sein Badezimmer sehen. Einmal war er nackt im Wohnzimmer. Das war nur einmal. Da war er total nackt.

Sie streckt die Beine aus und fokussiert einen Fleck zwischen den Gräsern, eine Spiegelung von Himmel im Panoramafenster seines Wohnzimmers. Es verschwimmt und löst sich auf. Sie nimmt das Fernglas.

In seinem Wohnzimmer ist es wie immer, sauber, schwarz-weiß. Schwarz ist das Ledersofa, weiß ist der Teppich. An der Wand ein Aquarell mit einem galoppierenden Pferd. Es galoppiert so daher, seit sie es kennt, und wirbelt in der untergehenden Abendsonne Staub auf, nur – der scheiß Staub bleibt in der Luft hängen. Das ganze Bild ist erfüllt von Staub, Staub, Staub, so sieht man keine Landschaft, obwohl sie gerne wissen würde, welche Landschaft da ist, wo das Pferd langläuft die ganze Zeit.

Es ist nur Leinwand dahinter, das weiß sie eigentlich, aber in echt war da eine Landschaft, und gedacht ist da auch eine Landschaft, es läuft ja nicht in der Luft, das Pferd.

Hinter ihr knackt es, und ein Vogel mit einem richtigen Menschengesicht steht auf dem Moos, ein Bein arrogant angewinkelt, und verharrt. Er will sie überlisten, er glaubt, sie sieht ihn nicht, wenn er sich nicht bewegt, nicht mal die schwarzen Knopfaugen in seinem Gesicht, angenäht an das Federgesicht, das freche. Sie gibt sich Mühe, so zu tun, als würde sie ihn tatsächlich nicht sehen, aber sie kann ihn nicht täuschen, er schreit und fliegt weg. Wahrscheinlich hat sie ihm irgendwas versaut. In die folgende Stille ratscht sorgfältig eine Grille. Schweißrinnsale schlängeln sich an ihrem Körper hinab, zwischen den Brüsten, auf ihren Wirbeln den Rücken hinunter, und dünsten Lockstoffe in die Atmosphäre.

Sie hebt das Fernglas, aber das Sofa steht verlassen auf dem Teppich, die Tür ist geschlossen, das Zimmer leer, das Pferd staubt unermüdlich allein in dem Bild.

Sie legt den Kopf auf ihre Knie.

Als sie vom Baumstumpf kippt, wacht sie auf. Blick auf die Uhr. Gleich sieben. Mist, sie muss los, aber sie sieht noch einmal durch das Fernglas.

Sein weißer Slip leuchtet auf dem schwarzen Leder, sonst ist er nackt.

Nackt, wunderbare Hitze. Er sieht fern.

Seine Frau kommt von irgendwo und setzt sich neben ihn.

Er greift nach der Fernbedienung, hält sie vor sich und schüttelt sie. Er schüttelt, schüttelt wieder. Seine Frau rutscht an das andere Ende des Sofas, beleidigt vielleicht, und schlägt die Beine unter ihren dicken Hintern wie ein Mädchen. Nützt auch nichts, du. Die schlafen dir gleich ein – und dann 

Ihre Lippen bewegen sich, ihr Mund öffnet und schließt sich. Er sieht nicht zu ihr hin, schüttelt nur die Fernbedienung, wirft sie auf den Boden – mach nur, schmeiß alles in Scherben –, steht auf und tritt ans Fenster. Er mit seinem ganzen Körper und seiner Haut und seinen Härchen überall.

Sie nimmt ihr Fernglas von den Augen, dann wieder hoch, er steht noch da, hundert Jahre später, und betrachtet seinen Garten oder die Scheibe oder auch gar nichts, während seine Frau sich im Hintergrund eine Zigarette anzündet. Er streicht sich über den Bauch und über seine weiße Unterhose.

Sie verharrt wie ein Vogel, der andere über sein Vorhandensein täuschen möchte. Sie muss jetzt gehen, Spätschicht, aber sie verharrt. Sie kann sich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken.

Er lässt sich wieder neben seine Frau fallen, die teilnahmslos rauchend ins Nichts schaut, und packt die Fernbedienung wie eine Waffe. Hundertachtundsiebzig Sender. Scheint endlich zu gehen, geht doch, sie lässt die Hände mit dem Fernglas sinken. Sie sieht auf die Uhr. Viertel nach sieben. Renn, Dani, renn!

 

Beim Sprung über einen Baumstamm knickt sie um, fällt mit dem Knie auf einen Stein. Ihr Schrei bleibt in der Luft hängen. Sie versucht, so einen Schrei nochmal hinzukriegen, aber es gibt einen Unterschied zwischen echten und unechten Schreien. Echte sind echter.

Unecht schreiend humpelt sie weiter.

Als sie die Tür zu ihrem Auto aufmacht, zu ihrem Zuhause, Geruch von Bonbons, Kaugummi und Duschbad mit Meeresalgen, weil ihr das auf den Rücksitzen ausgelaufen ist, murmelt sie: «Scheiße, Mann.»

Der Wagen springt nicht gleich an.

Sie startet und startet, erst mit und dann ohne Gefühl, und bei ohne Gefühl klappt es irgendwann. Sie dreht das Fenster herunter, Nadeln und Äste knacken unter den Reifen, als sie auf die Straße fährt. Im Radio Oasis. (Today is gonna be the day, that they’re gonna throw it back to you, by now you should have somehow, realized what you gotta do …) Sie singt leise mit, und ihre Augen tränen vom Fahrtwind.

 

Sie parkt auf dem Parkplatz vor dem Haus, in dem sie wohnt. Der Fahrstuhl gähnt sie an. Innen, an die Wand gelehnt, liest sie jeden Tag das Gleiche: «Fuck Frau Gör. Frau Gör. ist Sau»

‹Frau Gör Punkt› ist ‹Frau Göring›, abgekürzt. Frau Göring wohnt ganz unten. Sie fegt den Eingang mit einem roten Besen, freiwillig, das wissen alle, weil sie oft sagt: «Ich mach das freiwillig, nicht dass hier einer denkt …», was hier einer denken könnte, sagt sie nicht.

Die Kinder beschmieren ihre Wohnungstür mit Eis. Sie gehen mit Eis vorbei und schmieren es einmal an ihrer Wohnungstür ab. Es ist selbstverständlich geworden. Es ist der Kindereintrittscode in dieses Haus. Dani hat gehört, wie ein Kind das andere fragte: «Schmierst du bei Gör?», und das Kind sagte: «Ich hab heut schon.»

Frau Göring schreit durch das Haus, sie weiß, wer das war.

Aber sie weiß es nicht. Alle waren es.

Oasis immer weiter. (I said maybe, I said maybe, you’re gonna be the one that saves me, saves me …) In ihrem Kopf.

Im neunten Stock, wo sie wohnt, ist es feucht und riecht zitronig. Die Frau neben ihr hält Ordnung. Aber sie nimmt zu viel Reiniger, das schmiert schon an den Schuhen. Wo die Frau wohnt, hängt ein Kranz aus getrockneten Blumen und ausgesägten Igeln, und auf ihrem Abtreter steht: «Tritt ein, bring Glück herein.» Kommt aber keiner.

 

Dani schließt die Tür auf, und dumpfe Luft klatscht ihr ins Gesicht, obwohl sie Durchzug gemacht hat. Sie geht gleich rüber ins Schlafzimmer, wo auf ihrem zerknüllten Bett noch der Overall liegt. Sie zieht ihre verschwitzten Sachen aus, Jeans, T-Shirt, und wirft sie auf den Boden. Auf dem Boden liegen noch andere Sachen, Waschtag naht, Aufräumtag naht, hurra, dann steigt sie in den hellblauen Overall, auf dem Rücken: natuerlich-sauber-martinariese.de. Sie krempelt die Beine hoch, Martina legt Wert auf die Overalls. Auch im Sommer. Die Mitarbeiter haben die richtige Einstellung zu haben.

Haben zu haben.

«Wir sind ein Team», sagt sie auch, Nurcan sagt dazu: «Du bist vielleicht ein Team, ich nicht.»

«Türkinnen sind aufmüpfig», findet Martina, aber Nurcan sagt: «Rassistin, ich bin nicht aufmüpfig, ich sag meine Meinung, ich mach meine Arbeit, und Schluss ist.» Aber der Overall kommt Nurcan entgegen, so ist sie bedeckt, dazu trägt sie Kopftuch, freiwillig, weil sie will. Sie hat keinen Mann. «Weil ich keinen will», sagt sie, «ich bin kein Team. Nich mit Mann und nich mit euch.»

Ich bin auch kein Team, Nurcan, ich bin ein Vogel.

Sie geht in die Küche, wo die Gardinen zugezogen sind, weil die Sonne voll auf die Scheiben knallt, aber es ist trotzdem heiß. Sie setzt sich auf ihren einzigen Stuhl – ein Plastikstuhl, den sie auch mit auf den Balkon nimmt, ein Drinnen- und ein Draußenstuhl – und trinkt ein Glas Grapefruitsaft. Sie betrachtet den PVC-Boden, Millionen mikroskopisch kleiner brauner Pünktchen auf einem beigen Untergrund, das ist praktisch, weil man die braunen Pünktchen nicht von Krümeln unterscheiden kann. Falls es irgendwann mal zu Krümeln kommen sollte, falls in dieser Küche mal groß gespeist werden sollte.

 

Acht auf ihrer Küchenuhr, sie muss los.

Sie stellt das Glas in den Geschirrspüler, in dem schon ein paar Gläser stehen, es dauert immer eine Woche, ehe sie ihn anstellen kann, und die Reste an dem Geschirr verschimmeln manchmal ein bisschen, und dann geht sie in Overall und rosa Nike-Turnschuhen zum Fahrstuhl und fährt hinab.

Fuck Frau Gör.

Sie steigt in ihr hundert Grad heißes Auto und denkt, dass der Overall jetzt schon klitschnass ist. Immer wie ein Schwein rumrennen, Mann.

Dann denkt sie zurück. Dunkelblaue Schweißflecken, milchige Haut. Ein Ausschnitt von Bläue über seinem Gesicht.

 

Es war spät damals, er saß an seinem Schreibtisch und besah seine Finger, auf dem Schreibtisch Aktenberge, der Computer an, Sauerstoffmangel, bitterer Geruch.

Sie hatte die Tür leise geöffnet, er hatte sie nicht gesehen, sie stand da und wartete, er sah sie immer noch nicht, er stand auf und lief dumme Kreise in seinem Büro, ein kleiner Wolf läuft kleine Kreise in seinem kleinen Käfig. Klein, klein, klein.

Sie stellte sich in der Tür auf mit ihrem Staubsauger und reckte sich, sie bewegte sich, sie wollte seine Aufmerksamkeit erregen, sie erregte seine Aufmerksamkeit in geringem Maße.

Er sagte: «Jaja, hopphopp.»

Sie holte ihren Eimer herein und ihre Sachen, wollte eigentlich saugen, den Staubsauger stellte sie gegenüber von seinem Schreibtisch auf, damit er sich drauf einstellen konnte oder gehen. Er setzte sich wieder hin und starrte und wand sich. Solche Verzweiflung nur wegen Arbeit.

Sie stellte den Staubsauger an. Das riss ihn raus, und er holte eine Apfelsine aus dem Schrank. Sie war so nahe an ihm dran, dass sie das kleine Fell auf seinem Hals sah, und in den Staubsaugergestank mischte sich Rasierwasser.

«Hopphopp», murmelte er.

«Hopphopp, bin ich ein Affe?», murmelte sie, aber er hörte es nicht in all dem Gesumm. Sie saugte zwischen seinen Stuhlbeinen, sie saugte alles weg, was nicht feststeckte. Dann war wieder Ruhe. Er bohrte mit dem Zeigefinger ein Loch in seine Apfelsine und pulte kleine Fitzel von der Schale ab. Er sah sie nicht im mindesten.

Hopphopp.

Hastig verließ sie den Raum. Ein Geruch von Orange in bitterer verbrauchter Luft, das kniff in ihre Eingeweide. Die ganze Verzweiflung in diesem Raum.

 

Viertel nach acht, sie steckt fest im Straßenverkehr.

Hopphopp.

Zwei fette kleine Türken werfen Wasserbomben. Es wäre eine Abkühlung, aber die Leute sind nicht offen dafür. Sie kurbeln die Fenster hoch. Sie auch, sie gehört auch zu den Leuten. Sie will nicht von etwas getroffen werden, das ist es eher. Nicht die Nässe. «Ihr Kröten», sie hebt den Zeigefinger, und die Kröten lachen und zielen auf ihre Scheibe. Sie dreht die Scheibe runter und schreit: «Ihr sollt nicht so viel Döner essen, ihr Kröten.»

«Du Hure!», schreit der eine.

«Ja, isch fig deine Mudder!», schreit sie zurück und fährt weiter.

Die Hits der Sechziger und Siebziger und Achtziger und Neunziger und Zweitausender. Das Beste von heute. Eine Fahne von Eulenmusik. Immer nur Eulenmusik in dieser Stadt.

Beim Stadthundekackpark biegt sie in die City Nord ein, fährt eine Betonauffahrt hoch, durch eine offene Schranke. Nur Martina hat einen Schlüssel, wer zu spät kommt, hat Pech gehabt. Sie steht rauchend am Eingang, sie raucht autoritär, sie muss den Laden in Schwung halten und alles auf ihre Kappe nehmen, Martina im hellblauen Overall, NY-Cap auf den Zöpfen, natuerlich-sauber-martinariese.de.

Die anderen Frauen sitzen auf der Treppe und reden in ihren Sprachen, Nurcan sprüht mit einer Sprühflasche den Frauen Wasser ins Gesicht, sie hat die Sprühflasche von zu Hause mit und sagt: «Das ist meine Klimaanlage.»

«Wo is Tom?»

Tom kommt mit dem Fahrrad. Gerade noch so zur Zeit. Er verspätet sich meistens, und Martina beschimpft ihn dann aufs übelste, aber das macht ihm nichts aus. Er lächelt nur, und Martina sagt, sie schmeißt ihn raus. Nächstes Mal.

Wenn er sein Gesicht wäscht, nimmt er die Brille ab, aber nur dann. Er hat glühend blaue Augen, das glühendste Blau, das jemals jemand bei Augen gesehen hat. Wenn er die Brille abgenommen hat. Seine Brille ist eine große Sonnenbrille mit goldenem Gestell, selbst im Winter, immer trägt er sie. Er kann schlecht sehen, aber dass er immer nur mit der Sonnenbrille rumläuft, das ist sein Ding und macht sein Leben vermutlich etwas dunkel.

«Das ist nur am Anfang, dann gewöhnt man sich dran», sagt er.

«An Blindsein gewöhnt man sich auch, ist auch dunkel am Anfang, und dann gewöhnt man sich dran», hatte sie gesagt, sagt sie öfter zu ihm.

«Ich seh ja was», sagt er, «ich bin nicht blind, ich seh alles, nur anders, im Grunde sieht es besser aus, irgendwie farbiger und mit mehr Kontur.»

Mit mehr Kontur.

Die Gespräche wiederholen sich. Wenn man mit denselben Leuten zusammen ist, wiederholen sich die Gespräche.

«Dann sind wir ja komplett», sagt Martina, auch schon das hundertste Mal, tritt ihre Zigarette aus und klatscht in die Hände. Sie öffnet den Transporter, der vor der Tür parkt, und sie holen ihr Zeug raus, ihre Putzwagen, Eimer, Staubsauger, Lappen und den biologischen Reiniger. Manche Firmen legen Wert drauf, aber kaum welche. Vielleicht später mal. «Das kommt», sagt Martina, «das kommt.»

Die Overalls sind aus der Behindertenwerkstatt, wo Martinas Sohn arbeitet. Deshalb. Leute mit behinderten Kindern sind meistens ökologisch.

«Du nimmst die Linken, Tom die Rechten, und ich gehe mit den anderen in den Dritten und Vierten», sagt Martina.

Da sitzen die Wirtschaftsprüfer, die sind hoffentlich alle weg.

Tom schiebt ihren Wagen und seinen Wagen zu den linken Büros.

«Na», sagt er, weil sie jetzt unter sich sind, und sie sagt:

«Na.»

Er sieht rasch in alle Büros. «Sind alle weg», sagt er dann, winkt mit dem Staubsaugersaugteil und geht rüber zu den rechten Büros. Wie sieht er nur immer aus. Wie schlappt er nur da lang.

 

Das Putzen ist gut. Es ist still und vernünftig. Sie saugt den Boden, leert die Papierkörbe und die Aschenbecher, wischt Fensterbretter und Schreibtische ab, und zuletzt wischt sie den Parkettboden.

Auf den Schreibtischen Fotos von Familie, Freundin, Kind, Hund. Aschereste, Lochkonfetti, Ringe von einer Kaffeetasse. Sie wischt ihre Hände am Overall ab und nimmt Sachen in die Hand. Es ist praktisch eine Sucht von ihr, immer alles ansehen und rumschnüffeln und alles in sich einsaugen.

«Davon kriegt man Kopfschmerzen», sagt Tom.

«Was soll ich machen, das ist Gier nach anderen, sehen, wie die sind und wo die drinstecken. Wie das riecht, wie sich das anfühlt, das Private, das interessiert mich. Ich kann es nicht erklären. Ich bin eben so.»

 

Er hat einen Holzschreibtisch, poliertes dunkles Holz mit Maserung und Astlöchern, darauf liegt ein Kalender, wo wirklich alles drinsteht. Name, Adresse, Telefon, sämtliche Termine, Arbeit und privat. In seiner eckigen Schrift, mal neigt sie sich nach rechts, mal nach links, schwankt durch die Tage, diese besoffene Schrift.

Sein Name ist Erik. Nachdem sie das erste Mal geschnüffelt hatte, sagte sie beim Saugen und dann wieder beim Ausleeren des Papierkorbs «Erik», und Erik fiel aus ihrem Mund in den Schlund des Müllcontainers.

Sie schreibt seine Termine in ihren Minitaschenkalender. So kann sie sich einrichten. Das ist besser. Erik. Sie ist schon oft umsonst zu seinem Haus gefahren und konnte dann seiner Frau beim Saufen zusehen oder den Kindern beim Fernsehen. Aber die sind nicht oft da, in erster Linie ist es sein Haus. Die anderen sind nur zu Besuch, die haben immer was vor und wollen immer weg. Er aber will dort sein. Er will dort sitzen und fernsehen und vergammeln. Was ist los mit dir? Erik.

 

Sie schließt die Fenster und sieht hinunter auf die Stadt. Bonbonschimmer auf den Häusern und auf den Straßen. Langsam wird es Abend.

Tom steht hinter ihr.

«Fertig?»

«Jo.»

«Hättest du Lust, nachher ins Kino?»

Sie weiß nicht, ob sie Lust hat, das stellt sich manchmal nicht so schnell ein, das Wissen, wie sie zu Unternehmungen steht. «Ich kann es dir nicht direkt sagen», sagt sie, «es ist auch ein bisschen abhängig davon, wie ich mich nachher fühle.» Tom nimmt die Brille ab, legt sie auf den Schreibtisch und wischt sich an den Augen herum. So geht der jetzt ran. Ohne Brille, mit seinen Augen. Hammerhart. «Was läuft denn heute?», fragt sie.

«Ein Film über die RAF», sagt er. «Würde dich interessieren.»

«Meinst du, ich interessiere mich für die RAF? Ich interessiere mich vielleicht für spannende Sachen, aber nicht, wenn sie politisch sind. Und RAF ist auch überhaupt nicht spannend, weil man ja weiß, wie es ausgeht.»

«Wie es ausgeht?», fragt Tom.

«Dass sie am Ende alle im Gefängnis sind und Flugzeuge entführen und Bomben bauen und wie sie reden und aussehen.»

«Du spinnst», sagt er. «Wenn sie im Gefängnis sind, entführen sie keine Flugzeuge. Und außerdem will man auch mal wissen, wie das wirklich war.»

«Du willst wissen, wie es wirklich war?»

«Ja!»

«Du willst wirklich wissen, wie es war?»

«Ja.»

«Dann frag doch Moritz Bleibtreu, der war dabei.»

«Du bist so dumm.»

«Du auch.»

«Ich hasse dich.»

«Ich hasse dich.» Er hält seinen Brillenbügel in der Hand und biegt daran herum.

«Du machst sie noch kaputt.»

«Geht’s dich was an?»

«Nein, aber wir sind ein Team. Dann wischst du wieder den Teppich.» Das hatte er einmal getan, Wasser über einen Teppich gegossen, weil er dachte, es sei kein Teppich, aber da war auch noch was anderes im Spiel.

«Das liegt daran, dass ich blind bin», sagt er.

Sie nickt. «Du bist blind und kannst nichts sehen und hast keine Ahnung. Du hast noch nicht mal Geld. Und dabei bist du ein Mann.»

Tom sagt nichts mehr, er biegt die Brille auf seiner Nase gerade. Sie findet die Brille richtig scheiße, das hat sie ihm schon tausendmal gesagt.

«Halb elf», sagt er, «im Abaton.»

«Ich bin nicht da», sagt sie. Aber sie denkt, sie ist doch da. Sie fährt ihren Putzwagen nach unten, stellt ihn in Martinas Transporter, verabschiedet sich von allen und von Tom, der ihr winkt und dann auf seinem Rad verschwindet.

 

Im Kino ist es kalt. Sie kauft Schokolade und Bier, setzt sich im Vorraum an einen Tisch und wartet auf Tom, der reingeschlendert kommt in seinem alten Anzug, den hat er immer an, wenn Gelegenheiten sind wie diese, dazu sein weißes Hemd mit dem gelben Fleck auf der Brusttasche. Das ist eklig, der Fleck geht nicht raus, er hat die Form eines Baumes, aber jeder sieht, dass es ein Fleck ist.

Sie hatte ihm zum Geburtstag ein neues Hemd gekauft, ein gutes, weißes Hemd, aber er zog es nicht an. Einmal hat er es angezogen, weil sie gesagt hatte: «Zieh mal dein neues Hemd an», dann hat er es bei sich zu Hause angezogen, aber als sie losgehen wollten, zog er doch schnell wieder das mit dem Fleck an.

Dani würde gerne viel Geld haben und teure Hemden kaufen und sich alles kaufen, was teuer ist. Auch für Tom oder für Martina oder Doreen.

Eigentlich auch nicht. Eigentlich interessiert sie das überhaupt nicht.

Tom sitzt neben ihr am Tisch und bläht seine Nasenlöcher auf.

Eine Frau setzt sich neben Tom und sagt: «Hier ist doch noch frei?»

«Jetzt nicht mehr», sagt er.

«Sie haben da einen Fleck auf dem Hemd.» Er betrachtet den Baum auf seiner Brust und macht dabei ein Doppelkinn.

«Eine Applikation», sagt Dani.

«Ah ja», sagt die Frau.

«Das ist keine Applikation, das ist ein Fleck», sagt Tom.

«Das ist eine Applikation von einem Baum, ein Druck. Er ist Künstler», sagt Dani. Die Frau sagt nichts mehr, sie verrenkt sich nach irgendwem den Hals. «Er schweißt Sachen zusammen», sagt Dani, «er ist Schweißkünstler.» Jetzt haut die Frau ab.

 

Im Saal setzt Dani sich neben Tom, und auf der anderen Seite häuft sie all ihre Sachen auf. Tom knetet seine Hände. Zum Glück liegen sie in seinem Schoß. Einmal hat er im Kino nach ihrer Hand gegriffen. Dani hat seinen Snickersatem an ihrem Ohr gerochen, er wollte etwas hineinflüstern, und sie schaffte es kaum, seine Hand loszuwerden, die warm und feucht und klebrig von dem Snickers wie ein Frosch auf ihrer Hand hockte. Sie war aus dem Kino abgehauen.

Als er hinterher anrief, sagte sie: «Fass mich nicht an. Fass mich nie wieder an, du!» Sie hatte solchen Hass, solchen Hass, deshalb. Sie wusste schon, dass es nicht ungewöhnlich war, dass man Leute anfasste, sie wusste, dass es Tom normalerweise nicht angekreidet werden konnte, aber sie glaubte auch, er müsste sich auskennen mit ihr.

Jetzt zerbricht sie die Schokolade in der Verpackung, öffnet sie dann und hält sie Tom rüber. Er hat immer Hunger, weil er sich nichts zu essen kauft. Er ist schlecht ernährt, das hat der Arzt gesagt. «Ihr Ernährungszustand ist schlecht», hat er gesagt.

Und er könnte mal Turnschuhe tragen oder irgendwas Normales.

Als der Film zu Ende ist, bleiben sie noch sitzen, bis sie die Letzten sind. RAF. Beng, beng, beng.

Draußen ist es warm, die Frau vom Anfang steht mit einem Mann vor der Tür und sieht dem Mann beim Rauchen zu. Tom läuft blind auf sie zu mit seiner Sonnenbrille, blind in der Dunkelheit und von dem Film, er sieht sie gar nicht. Weil sie nicht mehr wegkann, als er mit der Nase vor ihr steht, fragt sie: «Hat Ihnen der Film gefallen?»

«Moritz Bleibtreu», sagt Tom, «mir gefällt, wie der immer so guckt, wenn einer widerspricht.»

«Den hab ich letztens in einer Bar getroffen», sagt ihr Partner.

«Echt», sagt sie.

«Ja, er war da mit so ’ner Frau.» Dann gehen die beiden.

«Draußen ist heute wie drinnen», sagt Dani.

«Ich weiß, was du meinst», sagt Tom. Er krempelt die Ärmel seines Hemdes hoch. Er fragt sie, ob sie spazieren möchte oder irgendwo was trinken oder nach Hause oder was sie möchte.

«Spazieren hätte ich Lust, komischerweise.»

Er knetet seine Finger. Er sagt: «Kann es sein, dass du einen Freund hast?»

«Wieso?»

Er rüttelt am Gestell seiner Brille. Dann sagt er: «Ich habe so das Gefühl.»

«Wieso?»

«Du sagst Sachen ab, die wir machen wollten, du bist nicht zu Hause, wenn ich dich anrufe …» Und dann, nach einer Pause, sagt er: «Außerdem denkst du an ihn.»

«An ihn?»

Er nickt.

«Du weißt also, was ich denke und an wen?», fragt sie.

Er rüttelt am Gestell. Er nimmt die Brille ab und schwenkt sie in der Luft, als wollte er sie wegwerfen.

«Du bist ja mein Freund, Tom.»

Er schweigt. Sie gehen eine Straße runter, die sie grad schon mal hochgegangen sind. Dann sagt er: «Du musst mir nichts erzählen.»

 

Sie dreht die Scheiben vom Opel Corsa ganz nach unten und fährt Tom zu seiner Wohnung in Hasselbrook. Er sagt Werkstatt. Er sagt immer: «Ich lebe in meiner Werkstatt.» Sie sagt: «Bis dann», und er sagt gar nichts mehr.

Sie fährt nach Hause, Frau Göring steht im Dunkeln vor ihr wie eine Erscheinung, durchsichtig irgendwie, und nickt stumm.

«Es gab einen Anschlag», sagt sie und nickt wieder.

«Ja?»

«Da vorne haben sie die ganzen Knöpfe rausgerissen», sagt sie.

Dani starrt in die angewiesene Richtung auf eine Wand frei von Knöpfen. Da waren noch nie welche, oder?

«Ja, hab ich gehört», sagt sie vorsichtshalber, «kann man nichts machen», und geht an Frau Göring vorbei in den beschmierten Fahrstuhl.

«Das knallt heut noch!», ruft Frau Göring ihr hinterher.

Während die Fahrstuhltür sich schließt, sieht sie ihr Gesicht überdeutlich im Neonlicht, sie trägt blauen Lidschatten auf den runzligen Lidern. Das stimmt Dani irgendwie milde in Bezug auf Frau Göring.

«Fuck Frau Gör. Frau Gör. ist Sau»

Willkommen in der Zitronenheimat.

Als sie die Tür öffnet, schlägt mit lautem Knall ein Fenster zu. Grummeln am Himmel über der Stadt. Sie öffnet das Fenster wieder und lehnt sich hinaus. Die Luft liegt wie ein dicker, weicher Lappen zwischen den Häusern. Sie atmet tief ein und spürt einen Schmerz über ihrer linken Augenbraue. Eigentlich war der Schmerz schon lange da, aber er hat sich nicht bemerkbar gemacht. Erst jetzt, wo sie allein ist. Der Schmerz nimmt zu, als ein Windstoß sie streift. Irgendwo da unten kreischt ein Mädchen, und ein Junge lacht, dann ist es still wie nie zuvor. Der graue Beton, der Sandkasten, die Bänke und die parkenden Autos verfestigen sich im Blitzlicht, im Taglicht, und es knallt so gewaltig, dass es ihr schwer durch den Körper fährt.

Am Spielplatz brennt ein Baum.

Während es nun schwächer blitzt und donnert, frisst das Feuer sorgfältig Ast für Ast, der aufkommende Wind will es abdrängen, aber es krallt sich in den Baum, der schwarz wird und dessen verbrannte Äste brechen und zu Boden fallen.

Es klingelt. An der Sprechanlage Frau Göring: «Ich wollte nur sagen, ich hab es Ihnen gesagt», sagt sie.

«Stehen Sie immer noch da unten im Dunkeln?», fragt Dani durch die Sprechanlage.

«Ich geh jetzt mal rein», sagt Frau Göring.

Als sie die Sirene der Feuerwehr hört, schließt Dani das Fenster und setzt sich an ihren Tisch. Sie schaltet die Lampe an, nimmt einen Filzstift aus dem Glas und fängt an zu zeichnen. Sie zeichnet Erik, wie er am Fenster steht. Als sie die schwarze Umrandung fertig hat, malt sie alles mit Orange aus. Er sieht ein bisschen aus wie ein Affe im Käfig. Das ist so, die Dinge verändern sich beim Zeichnen, die Realität verbiegt sich zauberhaft unter ihren Zauberstiften. Als sie fertig ist, legt Dani die Zeichnung in die Kiste und schiebt sie unter das Bett, sie zieht sich aus und lässt sich hineinfallen. Vor dem Einschlafen fragt sie sich, ob er sie vielleicht bemerkt haben könnte.