Jörg Magenau

Martin Walser

Eine Biographie

Für Barbara

DER TEPPICH IM WOHNZIMMER.

Ein Vorwort.

Zum ersten Mal begegnete ich Martin Walser 1992. Damals war ich Redakteur der Wochenzeitung Freitag. Zusammen mit einem Kollegen reiste ich nach Kornwestheim, wo wir in einem Hotel verabredet waren. In einem Konferenzzimmer, das aussah wie ein evangelisches Gemeindezentrum, sprachen wir über das neue Deutschland und die grassierende Gewalt gegen Ausländer. Walser wehrte sich heftig dagegen, den alltäglichen Rassismus aus historischen Gründen gefährlich finden zu müssen oder darin etwas typisch Deutsches zu sehen. Unsere Fragen, die auf die Gegenwart der deutschen Geschichte und die besondere deutsche Verantwortung zielten, regten ihn sichtlich auf. Plötzlich griff er sich an die Brust, warf sich in seinen Stuhl zurück, erstarrte und verstummte. Uns schien: minutenlang. Wir fürchteten das Schlimmste und fragten so hilflos wie dümmlich, ob ihm nicht gut sei. Doch, doch, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, es geht gleich wieder.

Die zweite, weniger dramatische Begegnung fand rund zehn Jahre später in Halle an der Saale statt, wieder in einem Hotel. Das ist der natürliche Treffpunkt mit einem, der ständig unterwegs ist. Ich hatte ihm geschrieben, daß ich eine Biographie über ihn verfassen möchte. Ihm erschien das zumindest nicht ganz und gar undenkbar. «Ich fände es auch sinnvoll zu überprüfen, ob meine Kurven nicht doch eine schwankende Gerade waren. Es müßte eine gelüftete Intimität sein», hatte er geantwortet. Nun begrüßte er mich wie einen guten, alten Freund mit herzlichem Händeschütteln und dem Satz: «Ich brauche erst mal ein großes Bier.»

Es war ein sonniger, warmer Spätsommernachmittag, Anfang September 2002. Auf einer geranienbestückten Veranda oberhalb der Saale fanden wir einen freien Tisch. Eine riesige Jacht fuhr vorbei und erregte seine Verwunderung: So ein großes Schiff auf so einem kleinen Fluß? Wo wollen die Leute denn hin? Am anderen Ufer blickten wir auf ein verfallenes Fabrikgelände mit hohem Schornstein. Ein paar Jugendliche lungerten um ein Auto herum, aus dem «Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront» in einer Punk-Version herüberdröhnte. Zu meinem Biographiebegehren sagte er nur: «Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‹Roman› genannt.» Weiter schien er sich nicht dafür zu interessieren – es war wohl meine Sache. Ich nahm das als eine Art Einwilligungserklärung und als Beweis souveräner Professionalität. Dieser Mann wußte, daß das Resultat biographischen Schreibens etwas Fiktives sein würde, die Konstruktion eines Lebens, mein Walser-Bild. Auf dieser Basis müßte sich doch arbeiten lassen.

Er begann dann auch gleich zu erzählen. Weil ich ihn nach seiner Freundschaft mit Uwe Johnson gefragt hatte, erklärte er mir, warum er über Uwe Johnson nicht sprechen könne, und sprach aus diesem Grund lange über Johnson. In den folgenden Stunden, in denen wir einige Biere tranken und er es sich nicht nehmen ließ, erst Salat, dann Steaks zu ordern, kam ich nur selten zu Wort. Während er sprach, streichelte er immer wieder über meinen Handrücken, faßte mir zärtlich ans Kinn, teilte freundschaftliche Tätschel-Watschen aus und fuchtelte mit seinen Händen unmittelbar vor meinem Gesicht herum. Es war ein buchstäbliches Betasten und Befühlen, eine aufwendige Näheproduktion, wie sie unabdingbar ist, wenn es um so Umfassendes gehen soll wie Leben und Werk und die Tätigkeit, die beides verbindet: das Schreiben. Um 20.15 Uhr verabschiedete er sich ins Hotelzimmer. Er mußte unbedingt das Kanzler-Kandidaten-Duell zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber verfolgen – vorausgesetzt, es gelänge ihm, das Fernsehgerät mit dieser blöden Plastikkarte in Gang zu setzen, die man in Hotels neuerdings dazu benötigt.

Eine Biographie ist eine Anmaßung. Sie geht von der Fiktion aus, man könne ein Leben in 17 Kapiteln übersichtlich ordnen und ihm eine Logik verpassen. Ein Menschenleben wird sortiert nach Maßstäben, die Weltanschauung, Geschichte oder auch bloß die gegenwärtige Zeitstimmung vorgeben. Würde man dasselbe Leben zehn Jahre früher oder später erzählen, käme etwas anderes dabei heraus. Auf pathetische Begriffe wie «Wahrheit» oder auch nur «Wirklichkeit» sollte man also von vornherein verzichten, wenn man dieses Puzzle aus unzähligen Einzelteilen zusammensetzt. Trotzdem ist eine Biographie eben kein Roman. Jedes Faktum muß stimmen, damit die Fiktion entsteht: So war es. Nichts läßt sich erfinden, alles muß gefunden werden. Seltsamerweise wachsen mit den gefundenen Teilen aber auch die Lücken. Der Porträtierte verbirgt sich im Material. Man muß in die richtige Distanz gehen, um das entstehende Bild zu erfassen. Eine Biographie will feststellen und festhalten, was doch immer im Fluß und in Bewegung ist, weil es lebt. Walser drückt das so aus: «Das Leben will nicht gerinnen in Momente, die man dann exemplarisch nennen könnte. Man muß es hineinzwingen in diese Momente. Das ist die Kühnheit der Sprache an sich. Sie hält etwas fest, was eigentlich weiter will.»1

Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur. Nur so, in dem er der Wirklichkeit eine andere, bessere Version entgegensetzt oder sie wenigstens in seinen Worten erzählt und formt, ist sie überhaupt auszuhalten. Seine Romane sind eine fortgesetzte Autobiographie als Chronik seines Empfindens. Das Werk ist also die wichtigste und die intimste Quelle dieser Biographie. Literaturwissenschaftlich betrachtet ist es streng verboten, von Romanen auf den sich darin ausdrückenden Lebensstoff zu schließen. Aber welche Auskünfte über die inneren Zustände eines Menschen könnte es geben, die genauer wären als die bewußtseinsseismographische Literatur Martin Walsers? Wann ist ein Schriftsteller mehr er selbst, als wenn er schreibt? Leben und Literatur hängen so unmittelbar zusammen, daß auch er selbst gelegentlich beides miteinander verwechselt. Als ich ihn einmal in Nußdorf besuchte, zeigte er voller Stolz auf einen Teppich im Wohnzimmer, einen Keshan mit dunkelblauem Grund, mit Ranken- und Blumenmuster, und sagte: «Das ist der Teppich, den Gottlieb Zürn für 8000 Mark in Stuttgart gekauft hat.» Doch wie kommt der Teppich der Romanfigur ins Wohnzimmer des Autors?

Sein Schreiben ist ein «Entblößungs-Verbergungs-Spiel»2. «Ich kann nur verbergen», sagt er. «Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.»3 Exhibitionismus und Scham, Mitteilungsdrang und Verschwiegenheit sind in einem feinen Spiel der Kräfte ausbalanciert. Im Roman «Brandung» aus dem Jahr 1985 schrieb er über seinen Helden Helmut Halm, als der einen Konversationskurs in Kalifornien leitet: «Vor Konversation habe er Angst, das habe er gestanden, aber Konversation über Konversation ziehe ihn an. Er schlage vor, jeder sage jetzt, ob er immer das sage, was er denke, und wenn nicht, was sage er dann statt dessen, und hängt das, was man statt dessen sagt, mit dem, was man denkt, aber nicht sagt, zusammen, und wie? Will man also mit dem, was man sagt, auf das, was man denkt, hinweisen und es doch verheimlichen …»4 Im jüngsten Essayband über die «Verwaltung des Nichts» findet sich als erster Hauptsatz der «menschlichen Wärmelehre» und als Quintessenz von Walsers Denken der Grundsatz: «Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen.» Für einen doch eher auskunftsfreudigen Schriftsteller ist das ein merkwürdiges Bekenntnis. Es wäre falsch zitiert ohne die Ergänzung: «Dieser Satz macht es nötig zu behaupten, es sei leicht, in dem, was ein Mensch sagt, das festzustellen, was er verschweigt. Und wenn man sich angewöhnt hat, den Text eines Menschen Wort für Wort als Mitteilung eines verschwiegenen Textes zu verstehen, dann werden auch die fadesten oder banalsten Sätze dramatisch interessant.»5

Wer in Walser bloß einen dröhnenden Meinungsbekunder und Politprovokateur sieht, sollte bereit sein, sich durch solche Einsichten irritieren zu lassen. Eine Biographie ist nun eine Entbergung, die gerade das Verborgene im Werk zu lesen versucht. Sie erzählt etwas davon, was im Erzählen verschwiegen wird. Der Biograph ist damit der natürliche Feind des Autors. Er verdeutlicht, was doch verheimlicht werden sollte. Martin Walser weiß das und hat mich dennoch in dieser Arbeit freundlich unterstützt. So gespannt sein Verhältnis mit «den Medien» auch ist, so sehr bedarf er der Öffentlichkeit, in der er zu agieren und taktieren versteht wie kaum ein anderer Autor hierzulande. Es fällt ihm schwer, das Öffentliche und das Persönliche auseinanderzuhalten. Was er öffentlich vorträgt, sagt er nicht als Meinungsproduzent, sondern als einer, der erklären will, wie ihm zumute ist. Sein Empfinden ist der Maßstab, von dem aus er die Welt und sich selbst beurteilt. Das macht ihn angreifbar. Vielleicht zieht er deshalb so viele Emotionen auf sich, weil er selbst so emotional agiert. Im 4. Hauptsatz der «menschlichen Wärmelehre» schreibt er: «Jeder Mensch wird zum Dichter dadurch, daß er nicht sagen darf, was er sagen möchte.»6 Als Dichter sagt er es aber doch. Entblößung, wenn auch als Verborgenes. Der Ärger mit einer überwachenden und strafenden Öffentlichkeit ist damit vorprogrammiert.

Es geht mir weniger darum, Entsprechungen zwischen Literatur und Wirklichkeit aufzuspüren – das wäre ja banal –, als darum, literarische und politische Entwicklungslinien aufzufinden. Das hat bei Walser immer auch mit Gefühl und Leidenschaft zu tun. Sein Wort von der «gelüfteten Intimität» gibt den Maßstab vor. Wie kein zweiter Schriftsteller eignet er sich dazu, die Geschichte der Bundesrepublik und die Entwicklung der westdeutschen Öffentlichkeit nachzuzeichnen, die Herausbildung einer literarischen Elite zu beschreiben und die wechselnden Erregungszustände der Intellektuellen verständlich zu machen. Der Handlungsverlauf führt von einer Kindheit im Nationalsozialismus über Adenauers Wirtschaftswunderland in die politisch unruhigen sechziger Jahre, in denen es zwei geographische Regionen sind, die seine Aktivitäten und seine politische Moral bestimmen: Auschwitz und Vietnam. Von hier aus läßt sich eine gerade Linie zum Deutschlandthema ziehen, das er seit Mitte der siebziger Jahre politisch artikuliert, und weiter zur Paulskirchenrede von 1998 und zum Skandal um den Roman «Tod eines Kritikers». Ob «Gesellschaftskritiker», «Kommunist» oder «Nationalist» – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an. Für einen, der sich selbst als «harmoniesüchtig» bezeichnet, ist das nicht unbedingt ein Vergnügen.

Freunde und Bekannte, denen ich von meiner Arbeit erzählte, betrachteten mich häufig mit einem strengen Stirnrunzeln. Wenn ich ihnen die Freundlichkeit, die Offenheit, die Gastfreundschaft, die Bereicherungspotenz Walsers beschrieb, schüttelten sie ungläubig den Kopf. Zu Walser hatten immer alle eine Meinung, und jeder glaubte, ihn zu kennen. Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider. Selten dauerte es lange, bis die Paulskirchenrede erwähnt wurde, von der im Publikum ein vages Schlußstrichgefühl zurückgeblieben ist. Seit «Tod eines Kritikers» hängt ihm auch noch ein giftiger Antisemitismusverdacht an. Und über so einen ein ganzes Buch?

Diejenigen, die Walsers Romane kennen, haben eine andere Meinung von ihm. Doch die Skandale sind wie Bahnschranken vor seinem Werk niedergegangen, das dahinter zu verschwinden droht. Oder war es umgekehrt? Mußte sein Werk erst in Vergessenheit geraten, bevor man ihn für einen Antisemiten halten konnte? Frank Schirrmacher schrieb 1998, in der Aufregung um die Paulskirchenrede: «Vielleicht erleben wir hier, daß Biographien nichts mehr bedeuten. Vielleicht werden wir gerade die leicht gelangweilten Zeugen des Zerfalls von so pathetischen Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts wie Lebenswerk und Werkbiographie.»7 Werk und Leben Martin Walsers sprechen für sich. Man muß nur darauf hören. Und vielleicht muß man sie tatsächlich schon jetzt wiederentdecken. Das rechtfertigt ein so altmodisches Unterfangen wie das Schreiben einer Biographie, die Werk und Leben in untrennbarem Zusammenhang begreift. Unbeeindruckt von strukturalistischen und anderen Theorien hält sie an der «Person» als einer Orientierungsgröße fest, die wie ein Schiff im Ozean der Geschichte ihren Kurs einschlägt – auch wenn im Falle Martin Walsers eher der heimatliche Bodensee die Richtung vorgibt, und nur ausnahmsweise einmal die Nordsee bei Sylt oder der Pazifik vor der kalifornischen Küste.

Dem Bodensee wurde er immer ähnlicher, je länger er an seinen Ufern saß. Über ihn spricht er mit inniger Zärtlichkeit wie über einen Geliebten, und er benutzt ihn als Spiegel, in dem das eigene Bild erscheint. So könnte auch ein Selbstporträt beginnen: «Auch wenn er sich von allen eingeführten Windstärken hin- und herjagen und aufregen läßt und wild tut wie ein Laienschauspieler, der einen Wildling spielt, auch wenn er dann darauf besteht, daß in ihm auch ertrunken werden kann; seine eigentliche Stärke ist, daß er alles mitmachen kann, was der Himmel gerade will. Und im Aufnehmen, Widerspiegeln und Vermehren von allen Angeboten der Zeit und der Welt ist er groß. Das ist überhaupt seine Größe. Alles aufzunehmen und sich zu eigen zu machen und dann so darzustellen, daß, wer nicht wirklich vertraut ist mit ihm, glaubt, die jeweilige Produktion, das sei nun wirklich er selber, der See. Temperaturen, Farben, Strömen und Ruhen, Wildheit und Schwere – er hat alles irgendwoher, kann aber daraus einen unerschöpflichen Reichtum an Zuständen und Stimmungen machen. Und damit wird widerrufen, daß er ein Laienschauspieler sei. Er ist eine unendliche Naturbegabung, denn alles, was er spielt, wirkt, als sei er das, was er jeweils spielt, ganz und gar. Wer ihn spielend ruhen sieht, hält es nicht für möglich, daß er eine halbe Stunde später wütet, als habe er einen Zorn auszuleben. Die Energien bezieht er von überall her. Korsika, Spanien, Burgund, Island … alles sein Einzugsgebiet. Aber Katastrophen macht er nicht mit. Die sollen sich bitte anderswo austoben.»8

Im Gespräch benutzt Walser häufig das kleine Wort «also». Es bezeichnet bei ihm keine kausale Verknüpfung. Auch Wenn-dann-Sätze benutzt er nur selten. In seinem groß geschriebenen «Also» gehen die Sätze und die Dinge fließend auseinander hervor. Das «Also» steht für sich und faßt das Gesagte noch einmal abschließend zusammen, rund und offen für Neues. Es bedeutet etwa: Ich hab’s doch gleich gesagt. Es kann vorwurfsvoll klingen. Es ist aber auch Ermunterung und Aufforderung: Jetzt, wo alles geklärt ist, sollte mit dem Handeln begonnen werden. Es ist ein freiheitsliebendes Wort. Eine Biographie wollen Sie schreiben? Also.

Ich muß ihm übrigens schon ein allererstes Mal begegnet sein, vor etwa 25 Jahren. In meinem Bücherregal steht ein signiertes Exemplar des Romans «Das Schwanenhaus». Ich kann mich nicht daran erinnern, ihm jemals ein Buch zum Signieren vorgelegt zu haben, aber es muß 1980 oder 1981 gewesen sein, vielleicht in Marbach. Ich war damals Gymnasiast und las Walsers Romane mit systematischer Begeisterung in chronologischer Folge. Alle als suhrkamp taschenbücher. Ich las nichts anderes. suhrkamp taschenbücher bestimmten meine literarische Welt. In ihrer klaren Farbgebung und mit einem kleinen Autorenfoto auf der Vorderseite besaßen sie eine auratische Kulturhaltigkeit, die mich beeindruckte. Von Walsers Lesung aber, die doch womöglich ein wichtiges Ereignis für mich war, fand ich keine Spur in meinem Gedächtnis. Du willst also eine Biographie schreiben, sagte ich da zu mir, und vergißt alles, was dir zustößt. Du bist ja der richtige Lebenskundler! Ich tröstete mich mit dem fünften Hauptsatz der «menschlichen Wärmelehre»: «Das Vergessen, die ideale Form der Geheimhaltung.»9 Also.