FERNE UND NÄHE
Aus meinem Journalistenleben
Reportagen, Reden, Kommentare und andere Texte aus vier Jahrzehnten
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Volker Ullrich
Widmung |
Tafelteil |
STATT EINES VORWORTS |
Großvaters Buch |
I. MENSCHEN UND LANDSCHAFTEN |
OSTPREUSSEN |
Masuren und seine Geschichte |
«Das ist der Preis» |
«Irgendwann muss Schluss sein mit dem Hass» |
Eine Reise durch Ostpreußen |
KARELIEN |
Auf dem Onega-See |
Erbe des Gulag: der Weißmeer-Kanal |
GEORGIEN |
«Ein Stück vom Paradies» |
Im Kaukasus |
Gastmahl |
BAIKALSEE |
Auf dem Eis |
Winterfischer |
SIBIRIEN |
Taigamarsch |
Am kältesten Punkt der Erde |
Die Maske des Leids |
Waljagd |
ALASKA |
Das Vermächtnis des Tlingit-Häuptlings |
FEUERLAND UND PATAGONIEN |
Schafe, Gauchos, Herrenhäuser |
Im Namen der Zivilisation |
Kap Hoorn |
II. DIE DEUTSCHEN UND IHRE NACHBARN IM OSTEN |
Ein Autogramm für Nina |
Sympathie für das Land |
West-östlicher Charme: Warschau |
Wut im Bauch und keine Zukunft |
Wo liegt Polen? |
Ankunft in Moskau |
Die Helsinki-Gruppe |
«Russland lieb ich, doch diese Lieb’ ist seltsam» |
50 Jahre Stalingrad |
Deutschland und seine Nachbarn im Osten Europas |
III. WEGGEFÄHRTEN UND ZEITGENOSSEN |
Dort und hier |
Der Tod Wyssozkis |
Willy Brandt in Moskau |
Von der Verantwortung der Vorbilder |
Goethe gehört auch zu unserem Erbe |
Die unverwechselbare Stimme |
Die Geschichte ist voller Überraschungen |
Namen nennen! |
Warum haben wir aufeinander geschossen? |
Brücken bauen |
«Tröste meine Trauer» |
Malen als stiller Akt des Widerstands |
Sternstunde der Mörder |
Schwingrasen |
IV. POLITIK UND JOURNALISMUS |
Über Fehler reden |
Osteuropa gehört dazu |
Die Schuld der Journalisten |
«’s ist Krieg, ’s ist Krieg ...» |
Rassismus, Politik und Medien |
25 Jahre «Monitor» |
Auf dem Weg zum Dudelfunk? |
Eigentlich ein wunderschöner Beruf |
V. ZEITGESCHEHEN IM KOMMENTAR |
Morddrohungen gegen Klaus Bednarz |
Glossen |
Kommentare |
Reaktionen auf den «Solingen»-Kommentar |
Sympathien in alle Himmelsrichtungen |
VI. LITERARISCHE STREIFZÜGE |
Puschkin |
Jiddisches Theater in der Sowjetunion |
Klassikerinszenierungen in der Sowjetunion |
Tödliche Utopie |
Der Andersdenkende |
Die Tragik des Scheiterns |
Wohltäter der Armen |
«Kein Volk liebt seine Dichter wie die Russen» |
Deutschsprachige Literatur Ostpreußens |
Einfach untergegangen |
Deutsch oder polnisch, das ist nicht die Frage |
Blutiges Finale |
Helden der besonderen Art |
NACHWORT |
GLOSSAR |
NAMENREGISTER |
BILDNACHWEIS |
Für Oskar und Mascha
Es war eine schlimme Zeit, dunkel und kalt. Hunger herrschte, und der Krieg, der gerade vorbei war, bedrückte die Menschen noch immer. Viele der jungen Männer waren nicht zurückgekehrt, eine Generation ohne Väter wuchs heran. Um Feuerholz zu beschaffen, zog der Großvater mit einem kleinen Handwägelchen in den Wald und grub Baumstümpfe aus. Aus Schuhcreme und Bindfäden bastelte er Kerzen, die flackerndes Licht verbreiteten und Ruß, der sich klebrig auf die Kleider legte. Seine Pfeife stopfte der Großvater mit bläulich qualmendem, stinkendem Knaster, den er Tabak nannte – mannshohes Gestrüpp, das er im Garten angepflanzt, auf dem Dachboden getrocknet und dann mit Großmutters Wiegemesser gehäckselt hatte.
Zwei Höhepunkte gab es am Tag. Wenn die Mutter den kleinen Bruder gefüttert hatte und ich den restlichen Brei aus seinem Gesicht lecken durfte. Und wenn der Großvater am Abend ein Buch aus dem riesigen Regal zog und ich mich unter seinem Schreibtisch in meine Höhle verkriechen konnte. Dort war es heimelig und warm, und nur eine sonore Stimme mit leicht thüringischem Akzent war zu vernehmen.
Großvater las immer aus demselben Buch vor, einer dicken, großformatigen und in braunen Karton gebundenen Ausgabe der Grimm’schen Märchen. Hänsel und Gretel, Schneeweißchen und Rosenrot, Frau Holle und der gestiefelte Kater, Rumpelstilzchen, Dornröschen, Hans im Glück, Daumesdick, Rotkäppchen und der Froschkönig waren mir bald vertrauter als unsere Nachbarskinder. Ich bewunderte das tapfere Schneiderlein, amüsierte mich über den Knüppel aus dem Sack, litt mit Aschenputtel, gruselte mich vor dem Teufel mit den drei goldenen Haaren, ärgerte mich über Rumpelstilzchen, drückte den Bremer Stadtmusikanten die Daumen und konnte überhaupt nicht verstehen, warum die Frau des Fischers so dumm und habgierig war, dass sie nicht nur Papst, sondern der liebe Gott werden wollte.
Manche dieser Märchen lassen mir noch immer keine Ruhe, beschäftigen mich auch heute noch. Schneewittchen etwa. Welch eine Frau! Eitel und putzsüchtig, lässt sich schon vom Anblick eines Kamms und eines Schnürriemens aus bunter Seide verführen! Die Geschichte mit dem Apfel sei ihr nachgesehen, die hat ja schließlich eine lange Tradition. Doch nicht nur der Not gehorchend, will sie den Haushalt der sieben Zwerge versehen, «kochen, betten, waschen, nähen, stricken und alles ordentlich und reinlich halten», sondern sogar «von Herzen gern»! Mit «großer Pracht und Herrlichkeit» will sie ihre Hochzeit feiern und ist dabei auch noch undankbar. Oder warum wurden die sieben Zwerge, die ihr immerhin zweimal das Leben gerettet haben, nicht eingeladen – zumindest ist nichts bekannt darüber. Und über Folter und Todesstrafe müsste man auch einmal dringend mit Schneewittchen reden – von wegen der eisernen, rot glühenden Pantoffeln, in denen die böse Stiefmutter tanzen musste, bis sie «tot zur Erde fiel».
Ich weiß, ich sollte mich eigentlich an die Herren Jacob und Wilhelm Grimm wenden. Aber denen bin ich – wie meinem Großvater – ganz einfach dankbar. Sie haben mich in einer schlimmen, kalten und dunklen Zeit für ein paar Stunden die reale Welt vergessen lassen. Und mir Figuren geschenkt, die noch heute zu meinem Leben gehören. Mit denen ich rede und streite, über die ich mich ärgere und freue. Von denen ich gelernt habe, dass Märchen Leben sein können. Und umgekehrt. Auch wenn ich gestehen muss, dass ich heute vor dem Einschlafen lieber das hässliche junge Entlein, den standhaften Zinnsoldaten oder das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern treffe. Doch das ist schon eine andere Geschichte.
Beitrag von Klaus Bednarz in: Verführung zum Lesen. Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten, hrsg. von Uwe Naumann in Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen, Reinbek 2003