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Inhalt

Vorbemerkung

1. Eine plötzliche Enthüllung

2. Der Verführer und die Tugend
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Gedichte • de Laclos: Gefährliche Liebschaften • Schiller: Das Lied von der Glocke.

3. Aufstieg eines Außenseiters
Stendhal: Rot und Schwarz. Bekenntnisse eines Egotisten. Leben des Henri Brulard • Über die Liebe.

4. Desillusionierungen
Balzac: Die tödlichen Wünsche. Comédie humaine • Flaubert: Lehrjahre des Gefühls.

5. Ehebrecherinnen
Flaubert: Madame Bovary • Tolstoi: Anna Karenina. Die Kreutzersonate. Der Tod des Iwan Iljitsch • Fontane: Effi Briest.

6. Untergänge
Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit • Borchardt: Der unwürdige Liebhaber.

7. Entgrenzungen
Zola: Nana • Th. Mann: Der Tod in Venedig • D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber. Lady Chatterley’s Lover • H. Miller: Wendekreis des Krebses. Wendekreis des Steinbocks. Sexus. Plexus. Nexus. Insomnia • G. Bataille: Das obszöne Werk • Nabokov: Lolita • Joyce: Ulysses.

8. Glücksucher und Verlierer
Updike: Ehepaare. Selbst-Bewußtsein • Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. Elementarteilchen • Brodkey: Unschuld • Jelinek: Die Klavierspielerin • Ellis: American Psycho.

Vorbemerkung

Ursprünglich hatte ich geplant, im Anschluß an meinen Roman »Der Liebeswunsch« im Jubiläumsprogramm des inzwischen 50 Jahre bestehenden Verlages, der in der längsten Zeit seines Bestehens auch mein Verlag gewesen ist, einen Sammelband mit verstreuten Aufsätzen zum klassischen literarischen Thema Liebe und Leidenschaft herauszubringen. Er sollte durch einen neuen, um einen weiträumigeren Überblick bemühten Essay eingeleitet werden. Da sich dieser Text aus der Logik der Sache heraus zum Umfang eines eigenständigen Buches ausgeweitet hat, scheint es mir nun sinnvoll, ihn gesondert zu veröffentlichen und auf die Beigabe älterer Aufsätze zu verzichten.

Ich habe das Thema aus den jeweiligen Zusammenhängen von Werk, individueller Lebensgeschichte und Zeitgeschichte entwickelt und bin bei der Auswahl der Autoren eigenen Vorlieben gefolgt, um mich nicht in der Ödnis eines vergeblichen Bemühens um Vollständigkeit zu verlaufen. Dabei habe ich mich entschieden, dem essayistisch improvisierenden Text keinen schwerfälligen wissenschaftlichen Apparat aufzubürden und die Informationen auf die im Text erwähnten Namen, Titel und Jahreszahlen zu beschränken.

Dieter Wellershoff
Frühjahr 2001

Der verstörte Eros

Die dunklen Schriftsteller des Bürgertums
haben nicht wie seine Apologeten
die Konsequenzen der Aufklärung durch
harmonistische Doktrinen
abzubiegen getrachtet.

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno
Die Dialektik der Aufklärung

1. Eine plötzliche Enthüllung

Unversehens, als sei man hineingestolpert, steht man vor der lebensgroßen Szene, gebannt und peinlich berührt, als ein entlarvter Voyeur. Die Szene ist hinter Glas, doch zum Greifen nah in ihrer unwahrscheinlichen Drastik oder drastischen Unwahrscheinlichkeit: eine nackte Frau in schwarzer Unterwäsche und schwarzen Strümpfen mit breiter Schmuckborte liegt rückwärts hingebreitet auf einem schön gedeckten Eßtisch, umgeben von edlem Porzellan, geschliffenen Weingläsern, Sektkelchen und Kerzenleuchtern, als sei sie die eigentliche Mahlzeit, zu der hier geladen wurde. Unter ihr ist eine Tischdecke gebreitet, die mit dem braunroten Streifenmuster eines Tigerfells bedruckt ist. Das Muster wiederholt sich in den Papierservietten, die wie kegelförmige Flammen gefaltet in den Rotweingläsern stehen. Die zwischen den Gedecken liegende Frau hat die Ordnung des festlich gedeckten Tisches, auf dem sie wie gewaltsam niedergeworfen liegt, nicht gestört. Noch als ihr äußerster Gegensatz ist sie ein Teil dieser Ordnung. Vor allem die beiden mehrarmigen Leuchter neben ihrer Schulter und über ihrem Kopf machen den Tisch, auf dem sie liegt, zum Bild eines Opferaltars. Die Gewalt, die ihr angetan wurde, bleibt unsichtbar, wenn sie nicht verkörpert ist im rituellen Arrangement eines Festmahls, zu dem die Gäste noch nicht erschienen sind. Bin ich einer dieser Gäste? Schaut sie mich an? Ihr Kopf ist zur Seite gedreht. Ein Bein ist ausgestreckt und berührt noch den Boden, das andere, im Knie gebeugt, ist in obszöner Preisgabe an den Leib gezogen: gefrorener Augenblick mit vielfachen Richtungswechseln eines in unauflösbarer Zweideutigkeit sich windenden und sich darbietenden Körpers, der im Kontrast zu der schwarzen Wäsche gleichmäßig elfenbeinweiß ist – der nach aktuellem Ideal typisierte Kunststoffleib einer Puppe.

Ist das eine nachgestellte Szene aus der imaginären Folterkammer des Sexus, die der berühmte Marquis de Sade, »eingesperrt hinter 19 eisernen Türen«, wie er aus dem Staatsgefängnis Vincennes an seine Frau schreibt, mit den Regieeinfällen seiner ausschweifenden, aber immer zeremoniell geordneten Phantasie erfüllt hat, um während seiner endlosen Haft seelisch am Leben zu bleiben? Heißt die auf dem Tisch hingestreckte Puppenfrau Justine oder Juliette? Werden gleich die vier adeligen Lüstlinge aus den »120 Tagen von Sodom« auf dieser Bühne auftreten und nach der strengen Hausordnung des Marquis ihre Orgien beginnen? Aber vielleicht ist es auch der abenteuerliche Kavalier Giacomo Casanova, den wir in dieser Szene erwarten können? Das wäre mir jedenfalls sympathischer.

Ich stehe vor einem Schaufenster des Kaufhofes in der Kölner Schildergasse. Auch in den anderen Schaufenstern der breiten Straßenfront des Gebäudes präsentieren weibliche Schaufensterpuppen Unterwäsche in szenischen Arrangements, die ein beträchtliches Maß an erotischer Phantasie verraten. Es sieht aus, als habe der Dekorateur Varianten zum Thema der modellierbaren Sexualität dargestellt, über die es bei Bertolt Brecht in einem Mackie-Messer-Song heißt: »Es geht auch anders, doch so geht es auch.« Doch das bezog sich bei Brecht auf unterschiedliche Stellungen bei der geschlechtlichen Vereinigung. Dies hier ist etwas ganz anderes. Das Interesse hat sich von der Urszene auf die szenischen Voraussetzungen und Begleitumstände verlagert, die mit großem Phantasieaufwand erfunden wurden. Es sind oft geradezu surreale Reizmuster, die im Unterschied zu den Grobschlächtigkeiten trivialer Pornographie Spielräume freihalten für eine unbegrenzte Vielfalt individueller Phantasien. Ihre Wunschenergie soll auf die Ware übertragen werden, die von den posierenden Puppenleibern präsentiert wird. Alles ist möglich, suggeriert die Inszenierung. Und es kostet nicht viel, sagen die Preisschilder. Dazu fällt mir ein Satz von de Sade ein, der die Libertinage als Natur verteidigt hat, um daraus ein Bürgerrecht abzuleiten: »Wir müssen uns bemühen, es den Bürgern zu ermöglichen, sich völlig sicher den Gegenständen ihres Begehrens hinzugeben.« Da spricht der Marquis aus dem Ancien régime, den die Französische Revolution aus der Bastille befreit hat, als frisch überzeugter Republikaner. Doch bevor er in Gefahr geriet, zum beflissenen Ideologen der Revolution zu werden, wurde er unter der jakobinischen Schreckensherrschaft wieder ergriffen und zum Tode verurteilt. Nur durch Zufall entging er der Guillotine. Unter Napoleon sperrte man ihn wieder ein: zunächst in eine Strafanstalt und dann zur Sicherheitsverwahrung in die Irrenanstalt Charenton-Saint-Maurice in Paris. Dort inszenierte er mit den Insassen der Anstalt Theateraufführungen meist eigener Stücke, die auch von einem prominenten Pariser Publikum besucht wurden. De Sade war ein geborener Regisseur; nicht einer von der einfühlsamen, sondern von der herrscherlichen Sorte. Auch seine Prosawerke kann man als ausgedehnte Regieanweisungen für ein totales Theater der Lust lesen. Ihm hätte dieses Schaufenster, bei dem Regieeinfall und Werbeidee nicht zu unterscheiden sind, sicher gefallen. Und die Botschaft ohnehin: Hab keine Angst, entwickle Phantasie, folge deiner Phantasie. Jeder kann sich dieses Traumzubehör leisten, sagen die Preisschilder. Habe keine Angst. Aber etwas untergründig Bedrohliches und Skandalöses ist in der Szene aufbewahrt, ein von weit her aus anderen Zusammenhängen abgeleiteter, in die Gegenwart reichender Schock. Wer weiß, ob die Werbeleute gut beraten waren. Es ist zwei Tage vor dem Sommerschlußverkauf, und eine dichtgedrängte Menschenmenge schiebt sich an den Schaufenstern vorbei. Die Leute gehen durch das Spalier der Reize und Appelle, als seien sie immunisiert.