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» Bibliographie: Dieter Wellershoff

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1
Eine plötzliche Erinnerung

Manchmal denke ich, daß ich nicht sie erklären muß, sondern mich, mein Interesse an ihr, das so spät, fast sechs Jahre nach ihrem Tod, wieder in mir erwacht ist. Doch vielleicht muß ich erst vom Vergessen sprechen, das gewaltsam als Abwendung und Trennung begann und dann allmählich in Beruhigung überging. Ich habe immer weniger, immer flüchtiger an sie gedacht und irgendwann dann nicht mehr. Wann das war, weiß ich nicht. Man vergißt auch noch das Vergessen, wenn man etwas vergißt. Es ist wie eine doppelte Wand oder wie etwas, das es in Wirklichkeit nicht gibt – eine doppelte Dunkelheit. Inzwischen weiß ich: Man kann nicht sicher sein. Sie war verschwunden in diesem doppelten Dunkel, bis ich sie plötzlich wiedersah. Sie erschien mir in jener bannenden Ausdrücklichkeit, mit der eine Schauspielerin im Lichtkegel eines Scheinwerfers, unbeirrt von den auf sie gerichteten Augen im verdunkelten Zuschauerraum, über die Bühne schreitet.

Wenige Schritte vor mir, bei einer Verkehrsampel, die gerade auf Rot schaltete, kreuzte sie inmitten anderer Fußgänger meinen Weg und verschwand in der Seitenstraße. Ruhig, ohne den Kopf zu wenden, ging sie an mir vorbei, in dem unangetasteten Reiz ihrer längst vergangenen Erscheinung Jahre vor ihrem Tod. Sie erschien mir in dem seltsamen Zwielicht einer nahen Ferne: unwirklich und selbstverständlich und, wie jene Schauspielerin, nicht anrufbar.

Es war eine andere, eine fremde Frau, in der ich sie wiedererkannte. Doch das wußte nur mein Verstand, der den Schrecken, der mich durchfuhr, mit kurzer Verzögerung beiseite schob. Sie war es nicht. Sie konnte es nicht sein. Es konnte nicht noch einmal beginnen. Erleichterung oder Enttäuschung – ich wußte nicht, was ich empfand.

Während die Frau im rechten Winkel zu meinem Weg sich entfernte – eine ganz andere Person, die nichts von den Phantasien ahnte, die ich ihr aufgebürdet hatte –, riß auch meine Verbindung zu der Umgebung, deren Mittelpunkt sie gewesen war. Ich fühlte mich wie im Inneren einer durchsichtigen Blase, an deren Außenhaut der Verkehr, die Menschen und die Schaufenster der Geschäfte schillerten – eine zerflossene farbige Illusion. Dann wechselte die Ampel auf Grün, und angestoßen von der Bewegung um mich herum ging ich weiter in der einmal eingeschlagenen Richtung, Schritt für Schritt weg von dem sich ebenfalls entfernenden Anlaß meiner Halluzination. Nach zwanzig, dreißig Schritten hatte ich den Impuls, umzukehren und der nun schon ein großes Stück entfernten Frau nachzueilen. Ich wollte ihr ein Stück folgen, um festzustellen, worin sie Anja glich und ob die Ähnlichkeiten oder die Unterschiede überwogen. Das sei wichtig, damit die ins Wanken geratene Wirklichkeit sich wieder festigte, sagte ich mir. Doch eigentlich verstand ich diesen Gedanken nicht. Ich wußte ja, daß ich mich getäuscht hatte. Deshalb brauchte ich jetzt nicht noch hinter der Frau herzulaufen. Es sei denn … Ja, es sei denn, daß dies nur ein Vorwand war, hinter dem sich der entgegengesetzte Wunsch verbarg, den ich mir zögernd eingestand: Wie ein Schläfer, der, hinausgefallen aus einem unabgeschlossenen Traum, noch einmal die Augen schließt, hatte ich gehofft, daß sich die Täuschung noch einmal wiederholte.

 

Ich hatte mir vorgenommen, ins Kino zu gehen, und obwohl ich keine Lust mehr verspürte, war ich zu schwerfällig, mich anders zu entscheiden. Dies war mein erster freier Nachmittag nach einer Reihe von anstrengenden Arbeitstagen mit vielen schweren, und wohl nur zum Teil erfolgversprechenden Operationen. Ein Patient, ein 76jähriger Mann, bei dem ich, zusammen mit einem dicken, runzligen Karzinom, Magen, Bauchspeicheldrüse, Milz und Querkolon und alle Lymphdrüsen der Umgebung herausgenommen hatte, war mir noch auf dem Operationstisch gestorben. Es war der Abschluß einer schrecklichen Woche. Ich hatte mich danach flau und abgenutzt gefühlt und das Bedürfnis gehabt, mir für zwei Stunden im Dunkel eines Zuschauerraums aus dem Weg zu gehen, zuverlässiger als es mir in meinem Apartment mit Lesen, Musikhören und Telefonieren gelungen wäre. Aber schon als ich die Eintrittskarte löste – bei einer etwas schwammig gewordenen Schönheit, die als ein mit Goldkettchen und Amulett behangenes Brustbild in dem Kassenhäuschen saß und mir mit einer trägen Handbewegung Billett und Wechselgeld zuschob –, und dann noch mehr, als ich den dünn besetzten Zuschauerraum betrat, in dem gerade die letzten Werbespots über die Leinwand liefen, hatte ich das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Ich hatte mir das falsche Medikament, die falsche Behandlung verordnet, weil ich nicht wußte, was mir fehlte.

Der Film, den ich mir ausgesucht hatte, war in der Presse hervorragend besprochen worden, und ich konnte, durch einen Schleier von Gleichgültigkeit, seine Qualitäten erkennen, war aber nicht imstande, mich auf ihn einzulassen. Je suggestiver die Szenen und Bilder waren, um so stärker fühlte ich, daß etwas in mir verschüttet wurde. Es war ein Angriff der Unwirklichkeit auf meine Erinnerung, der mich zwischendurch nötigte, die Augen zu schließen. Ich konnte mich aber erst nach etwa zehn Minuten aufraffen hinauszugehen.

Ich schob mich aus der Sitzreihe, vorbei an Leuten, die automatisch ihre Beine einzogen, um mich durchzulassen. Hinter mir auf der Leinwand entwickelte sich ein heftiger Wortwechsel zwischen einem Mann und einer Frau, der, bis zur Unverständlichkeit gedämpft, noch weiter zu hören war, als ich mich schon wieder in dem mit einem schmutzigen dunkelroten Stoff bespannten Gang befand, an dessen Wänden wie verblaßte Erinnerungen alte Filmplakate hingen. Der Gang kam mir anders vor als vorhin, als ich eilig hindurchgegangen war, beschleunigt noch dadurch, daß er merklich, vielleicht um ein Viertel der Geschoßhöhe, zum Ende hin abfiel. Jetzt stieg er an und bremste mich und ließ mich fühlen, daß ich nicht wußte, wo ich hinwollte.

Ich hatte mich mit meinem Entschluß, die Vorstellung zu verlassen, selbst überrumpelt. Und anders wäre es auch nicht möglich gewesen, nicht mit Gründen, die mich hätten überzeugen können. Denn wenn ich mir gesagt hätte, ich wolle das Bild retten, in dem du mir, wie in einem plötzlichen Rücksprung der Zeit, an einer beliebigen Straßenkreuzung erschienen warst, dann hätte ich mir geantwortet: Wozu? Sie ist seit sechs Jahren tot. Und mehr als ein Jahr vor ihrem Tod hast du dich von ihr getrennt. Du hast die besten Gründe dafür gehabt. Es hat keinen Sinn, daran zu rühren. Das ist ein Knäuel, das sich nicht entwirren läßt, ohne daß man in Gefahr gerät, sich wieder darin zu verstricken.

Doch ich war nicht gefeit gewesen gegen dein plötzliches Erscheinen in Gestalt einer anderen Frau, die im Moment der Täuschung dir etwas hinzugefügt oder geliehen hatte, das mich denken ließ, daß ich dich zum ersten Mal richtig sah.

Draußen erwartete mich nun wieder der normale Zustand der Welt: Straßen ohne Geheimnis, das übliche Menschengewühl. Alles, was ich jetzt tun konnte – zum Beispiel essen gehen und einen guten Wein trinken –, hatte im Augenblick den faden Geschmack des Notbehelfs. Mißmutig blieb ich bei den in der Vorhalle ausgehängten Programmen stehen, ohne mir irgend etwas einzuprägen. Als ich mich gleich danach abwandte, fing ich den neugierigen Blick der Kassiererin auf, die mich aus ihrem Kassenhäuschen heraus beobachtete. Sie hatte mich anscheinend wiedererkannt, weil ich der letzte Besucher der laufenden Vorstellung gewesen war und sie als erster wieder verlassen hatte.

»Hat Ihnen der Film nicht gefallen?« fragte sie.

»Ich habe ihn mir nicht genau angeschaut«, antwortete ich und lächelte sie an, um die feindselig klingende Schroffheit meiner Worte abzumildern.

Sie sah jetzt ein wenig ratlos aus. Und als wolle sie ihre Neugier rechtfertigen, sagte sie: »Ich habe gehört, es sei ein sehr guter Film.«

»Kann schon sein«, sagte ich.

Auch das war eine hingeworfene Floskel, die Unlust ausdrückte, mich auf das Gespräch einzulassen. Ich hatte aber angefangen, sie anzuschauen und abzuschätzen. Sie war eine Frau von Mitte Vierzig, mit einem nicht mehr ganz zu verhehlenden Doppelkinn und vollen Brüsten, wie ich sie schon oft operiert hatte. Sie konnte genausogut verheiratet oder geschieden sein, in beiden Fällen war das vermutlich längst ein Dauerzustand, der sie nicht mehr beunruhigte. Die träge Üppigkeit ihrer Erscheinung machte mir den Eindruck, daß sie in sich selbst ruhte, obwohl ich ihr jetzt eine kleine Unsicherheit anmerkte. Sie wußte nicht, was sie von mir halten sollte.

Dieser kleine unscheinbare Widerspruch eines vielleicht irritierbaren Gleichgewichts forderte mich heraus. Ich spürte den Wunsch, diese gerade erst beginnende Aufregung zu verstärken, obwohl ich mir gleichzeitig sagte: Was soll's? Laß die Finger davon. Sie ist nicht dein Fall.

Doch das waren Einwürfe, die nur mein Interesse schürten. Denn immer schon war es das Besondere und leicht Unangemessene gewesen, was mich am meisten faszinierte. Das Unangemessene, um dessentwillen ich das Richtige verriet. So habe ich Marlene an dich verraten, vor allem deshalb, weil ich wußte, daß es falsch war. Die Grenzen des Gesicherten und Achtbaren zu überschreiten, war für mich die Bedingung der Leidenschaft geworden, seit mich als 16jähriger Schüler eine mehr als doppelt so alte Frau in die Liebe eingeführt hatte, der es genauso gegangen war. Leidenschaft, das ist die Kraft, alles zu verwandeln und auf den Kopf zu stellen. Daran allein kann man sie messen.

Ich sah die Frau an und wußte, daß sie nicht zu mir paßte. Doch sie hatte eine angenehme Stimme mit Unter- und Obertönen, von der ich noch andere Laute hören wollte, wenn das scheinbar Unangemessene für Augenblicke zum einzig Richtigen geworden war. Und in der Ungeduld meines Wunsches fragte ich: »Wie lange müssen Sie hier noch sitzen?«

»Warum wollen Sie das wissen?« fragte sie.

»Weil ich Sie zum Abendessen einladen möchte.«

Ich glaubte sehen zu können, daß sie darauf nicht gefaßt war. Doch dann sagte sie etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: »Sie wissen wohl heute gar nichts mit sich anzufangen?«

»Stimmt«, sagte ich, »bis gerade eben nicht. Aber jetzt habe ich Ihnen ja einen Vorschlag gemacht.«

Sie schaute mich an, als wolle sie hinter meinem Vorschlag etwas Verborgenes, vielleicht Bedrohliches erkennen und schätze Gründe und Gegengründe ab, aus denen sie ihre Antwort gewinnen wollte. Und in diesen Sekunden, es waren wohl nur Sekunden, in denen ich alles zugleich erfaßte ihre blondgefärbten Haare, ihren glatten, weichen Hals mit der Goldkette und dem Amulett, den rosafarben geschminkten, ziemlich großen Mund und ihre graublauen, immer noch skeptischen Augen –, dachte ich, daß es mir gefallen würde, dieses sorgfältig abgestimmte Bild in einem jetzt schon vorausgeahnten Aufruhr zu sehen.

»Ich werde um 19 Uhr abgelöst«, sagte sie.

»Gut, dann komme ich und hole Sie ab.«

Aber sie schlug ein Café in der Nähe als Treffpunkt vor. Wahrscheinlich wollte sie von ihren Kolleginnen nicht mit mir zusammen gesehen werden. Wer weiß, was für Gründe sie hatte. In puncto Geheimhaltung dachte sie wohl genauso wie ich.

Es blieben noch anderthalb Stunden Zeit. Ich kaufte mir eine Zeitung und ging gleich in das vereinbarte Café, um dort auf sie zu warten. Ich bestellte eine Portion Kaffee, überflog die letzte Seite der Zeitung mit den kurzen Berichten von Skandalen und Unglücksfällen, überflog die Sportnachrichten und legte die Zeitung wieder weg. Ich hatte einen kleinen Zweiertisch gewählt, an dem man sich ziemlich dicht gegenübersaß, und ich versuchte, mir das vorzustellen. Aus dem Brustbild war eine vollständige Frau geworden. Sie hatte mich gleich beim Eintreten gesehen. Ich war aufgestanden und hatte sie empfangen. Immer schon habe ich gefunden, daß es ein besonders aufregender Moment ist, wenn eine immer noch fremde Frau aus dem Hintergrund der unzähligen Möglichkeiten des Lebens hervortritt und zum ersten Mal auf einen zukommt. Aber so konnte ich es ihr nicht sagen, allenfalls später, wenn man mit einander zugewandten Gesichtern auf einem gemeinsamen Kopfkissen lag. Die richtige intime Sprache, das, was sagbar ist, so heißt das wohl, mußte man immer erst allmählich erfinden. Zunächst einmal würde ich es bei einem freundlichen »Schön, daß Sie da sind« belassen. Und sie würde vielleicht erzählen, welche Schwierigkeiten sie gehabt habe, pünktlich zu sein. Danach würde man den gemeinsamen Abend planen. Ich hatte meinen Wagen ganz in der Nähe in der Tiefgarage des Holiday Inn abgestellt. Wir konnten also, wenn sie Lust hatte, in irgendein auswärtiges Restaurant fahren. Aber dort traf ich vielleicht eher auf Bekannte oder Kollegen aus der Klinik, und es war anonymer, in ein kleines Lokal in der Innenstadt zu gehen. Im Grunde war mir das alles gleichgültig. Auf sie war ich gespannt.

Das allein Wichtige war, wo gingen wir nach dem Abendessen hin? Wenn ich sie im Auto nach Hause fuhr, mußte ich hoffen, daß sie mich einlud, noch auf einen Drink mit in ihre Wohnung zu kommen. Vielleicht war das nicht möglich, denn ich wußte ja nicht, wie sie lebte und ob sie überhaupt allein war. Kam also wohl nur die eigene Wohnung in Frage. Dort war ich der Gastgeber und hatte bessere Möglichkeiten, die Regie zu führen.

Meine Wohnung war nicht groß: zwei geräumige Zimmer, plus Wohnküche und Bad. Ein Zimmer mehr wäre mir lieber gewesen. Aber ich hatte das Apartment gemietet, weil es zufällig frei wurde, als Marlene sich von mir trennte und das große Haus, in dem wir gewohnt hatten, verkaufte, um sich als Internistin niederzulassen, mit all den diagnostischen Geräten, die heute dazugehören. Das Haus war ihr Familienerbe gewesen, und ich hatte, als ich mit Marlene verheiratet war, nie ganz das Gefühl verloren, daß ich darin nur ihr Gast war. Nach unserer Trennung war ich zunächst ganz zufrieden mit der vergleichsweise kleinen Wohnung, denn sie erschien mir nach zwei gescheiterten Ehen als eine Versicherung gegen die Gefahr, es noch einmal zu versuchen.

Für einen Abend zu zweit war sie gut geeignet. Man rückte in ihr von selbst näher zusammen und fühlte sich nicht so verloren, wenn man wieder allein war. Eine meiner Besucherinnen, die mich gefragt hatte, wie ich denn hier so allein lebe, hatte ich geantwortet: My private life is comfort and despair. Sie fand, daß das ein bemerkenswerter Spruch sei, der gut zu mir und der Wohnung passe, was mich dann doch einigermaßen verblüffte.

Ich hatte mir noch eine weitere Tasse Kaffee bestellt und schaute immer häufiger durch das Fenster und die Glastür des Vorraumes mit der Kuchentheke auf den Platz mit dem alten Stadttor hinaus, wo ständig Menschen vorbeigingen, die aus der U-Bahn oder aus einer hier mündenden Einkaufsstraße kamen. Sie mußte von rechts kommen, vom Ring her, an dem die vielen Kinos lagen. Inzwischen saß ich hier wie auf dem Anstand und blickte dauernd zu diesem menschlichen Wildwechsel hinüber, wo ich sie jetzt bald zu sehen hoffte, mit einem, wie ich mir vorstellte, von Erwartung beschwingten, eiligen Schritt.

Es war jetzt eine Viertelstunde über den Zeitpunkt ihrer Ablösung hinaus. So viel Zeit brauchte sie nicht für den kurzen Weg. Also hatte irgend etwas nicht geklappt. Vielleicht war die Kollegin später gekommen, weil sie aufgehalten worden war. Oder die Abrechnung stimmte nicht und mußte noch einmal überprüft werden. Wie auch immer es sich verhielt – mir blieb jetzt nichts anderes übrig, als zu warten. Es kam nicht auf eine Viertelstunde und auch nicht auf eine halbe Stunde an, wenn sie am Ende wirklich kam. Ich würde dann belohnt werden, weil ich gewartet hatte. Bis dahin konnte ich meine Zeitung lesen und mich von den laufenden Weltereignissen unterhalten lassen. Nur daß mich allmählich die Vorstellung beschlich, sie werde mich versetzen. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es war keineswegs mehr unwahrscheinlich. Vielleicht hatte sie Angst bekommen, oder sie hatte von vornherein nicht vorgehabt, auf meine Einladung einzugehen, und dies war ihre Art, aufdringliche Männer abzuwehren. Möglicherweise traf sie sich jetzt mit einem anderen Mann, dem sie erzählte, wie sie mich zum Narren gehalten hatte. »Der sitzt bestimmt immer noch da und wartet«, würde sie sagen, und der andere Mann, den sie mir vorgezogen hatte, würde finden, daß sie eine tolle Frau war.

Nun hör auf, sagte ich zu mir. Es kann so oder so sein, aber es ist auf jeden Fall banal. Ich blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten wollte ich ihr geben. Zehn Minuten und keine Minute mehr. Doch während ich wieder in die Zeitung blickte, mußte ich mir eingestehen, daß ich alles Interesse an dem Abend zu zweit verloren hatte. Nein, ich würde es nicht mehr aushalten, weder die üblichen Präliminarien noch den weiteren Verlauf. Und die Stimme, die mir manchmal lautlos souffliert, gab mir den Satz ein: »Ich will auf keinen Fall mehr hier sein, wenn sie gleich angestampft kommt.« Das veränderte das Bild, das ich mir von ihrem Erscheinen gemacht hatte, so drastisch, daß ich davor zurückwich. Bloß nicht, dachte ich und winkte die Bedienung herbei, um zu zahlen.

 

Mein Gefühl, aus einer Sackgasse entkommen zu sein, verstärkte sich, als ich an der Ausfahrt der Tiefgarage meinen Parkschein in den Schlitz schob und der hochschnellende Schwenkarm mir die Rampe freigab. Beinahe hätte ich die aufgerichtete Sperre wie einen salutierenden Wachtposten zurückgegrüßt, als ich sie passierte.

Draußen fiel die Dämmerung ein, und die schwindende Helligkeit ließ die Stadtlichter schärfer hervortreten. In der Stadt mußte irgend etwas los sein, denn an den Kreuzungen der Ringe und der Ausfallstraßen staute sich der Verkehr zu langen Lichterketten aus Scheinwerfern und roten Rücklichtern. Ich hatte jetzt nichts mehr zu versäumen und legte, was ich selten tue, eine Kassette ein, um bei Musikbegleitung zu überlegen, wie ich den Abend verbringen wollte. Ich hatte wenig Lust, unter Menschen zu sein, und entschied mich für meine Rodenkirchener Wohnung, wo vom gefüllten Kühlschrank bis zum Rotwein alles vorhanden war, was ich zum Überleben brauchte.

Ich hatte Stoff zum Nachdenken. Wieder einmal hatte ich mich so verhalten, wie es laut Marlene mein fatales Muster war. Du mußt dich immer von anderen Leuten davor bewahren lassen, Dummheiten oder Fehler zu machen. Selbst kannst du das offenbar nicht, vor allem nicht, wenn es sich um eine Frau handelt. So ungefähr hatte sie sich ausgedrückt. Sie, die Frau, um derentwillen ich meine erste Frau und meine beiden Kinder verlassen hatte, und die sich schließlich von mir trennte, als sie glaubte, mich gründlich genug zu kennen, um in allem, was ich tat oder nicht tat, »mein Muster« zu sehen.

Es war schon deutlich dunkler, als ich meinen Wagen in der Garage der Wohnanlage parkte und noch das kurze Stück schräg über die Uferwiesen zum Rhein hinunterging, in dessen dunklem Wasser sich einige verstreute Lichter der Uferbeleuchtung spiegelten. Mit roten und grünen Positionslichtern fuhr die hoch aus dem Wasser ragende dunkle Masse eines leeren Tankschiffes stromaufwärts. Vielleicht würde es in dem nahen Hafen der Godorfer Raffinerie über Nacht vor Anker gehen. Es tuckerte vorbei und ließ als seine Schleppe eine flache Welle ans Ufer plätschern. Das Motorgeräusch wurde schnell leiser und war nicht mehr zu hören, als das Schiff am Campingplatz vorbeifuhr, wo alles still und dunkel war. Als ich mich umwandte und zur Uferstraße zurückging, begegneten mir zwei verspätete Jogger, die aus den Pappelwaldungen des Weißer Rheinbogens kamen. Ich weiß nicht, warum gerade sie ein Gefühl von Einsamkeit in mir aufkommen ließen. Vielleicht, weil sie so schnell und wortlos im Dunkel verschwanden, als seien sie auf der Flucht.

Später dann, in meiner Wohnung, hinter der zweifach verschlossenen Sicherheitstür, machte ich es mir behaglich mit viel Licht und CD-Musik zum improvisierten Abendessen. Ich konnte allerdings nicht verhindern, daß meine Stimmung sich verschlechterte. Der tote alte Mann auf dem Operationstisch kam mir wieder vor Augen, die vergeblichen Wiederbelebungsversuche, mein gereizter Wortwechsel mit dem Anästhesisten und die Bedrücktheit, in der wir schließlich alle auseinandergingen. Heute, das wußte ich, hatte ich Vertrauen verspielt, nicht weil ich bei der Operation etwas verpatzt hatte, sondern wegen meiner Unbeherrschtheit hinterher. Ich hatte nicht mehr viele Freunde in der Abteilung. Und dann, am späten Nachmittag, als ich vorhatte, ins Kino zu gehen, hast du meinen Weg gekreuzt, auch eine Tote, die als Lebende nicht zu retten war, wie ich es ihr bei Gelegenheit gesagt hatte. Zuunterst in meinem Schrank lag ein großer Umschlag mit ihrer chaotischen Hinterlassenschaft, den mir Marlene geschickt hatte, die die wenigen Zeugnisse eingesammelt hatte, die von Anjas Leben übrig waren. Sie hatte sie mir zusammen mit einem kurzen Brief geschickt, der kein Wort des Vorwurfs enthielt, aber als Geste erschreckend gewirkt hatte, als hätte sie mir das Konvolut vor die Füße geschleudert und gesagt: Da hast du es! Anja hatte sich in Sahlenburg, einem kleinen Ort am Wattenmeer, umgebracht, indem sie sich aus dem 14. Stock eines Wohnturms stürzte, der wie einen ironischen Kommentar auf ihr dort zu Ende gegangenes Leben den Namen »Frische Brise« trug. Ich war bisher nie hingefahren. Aber ich wollte es einmal tun.

2
Spurensuche

Hier war es. Hier ist es geschehen. Nicht unbedingt in dieser Wohnung, aber in einem der seewärts gelegenen Apartments im 14. Stock des Wohnturms, die offenbar alle den gleichen Grundriß haben. Es gibt einen großräumigen Wohnraum, eine Schlafkammer und links neben dem Vorraum mit der Garderobe ein kleines Bad. In dem Winkel zwischen dem Wohnraum und der kleinen Schlafkammer befindet sich die Loggia, die ich bisher noch nicht betreten habe. Zwei zusammengeklappte Liegestühle lehnen dort an der Wand, die ich wohl bald hereinholen muß. Jetzt, Ende Oktober, ist es hier an der See schon zu rauh, um sich draußen hinzulegen.

Als ich vor vier Tagen, anders als angekündigt, erst am späteren Abend hier eintraf, weil ich unterwegs in einen Stau geraten war, hatte ich schon bei der Anfahrt von der Deichstraße aus gesehen, daß nur in wenigen Wohnungen Licht brannte und die oberen Stockwerke des Turms dunkel waren. Auf dem weiträumigen asphaltierten Parkplatz standen nur zehn oder zwölf Autos. Ich konnte mit meinem Gepäck bis dicht an den Eingang fahren.

Der Hausmeister, ein jüngerer Mann, der vermutlich noch nicht lange hier war, hatte beim Fernsehen auf mich gewartet. Irgendein Fußballspiel lief hinter seinem Rücken weiter, während er mich bediente. Er händigte mir die Schlüssel aus, dazu ein Merkblatt für die Mieter und eine Vereinbarung, die ich ihm am Vormittag unterschrieben zurückgeben sollte. Ich überflog den Zettel und unterschrieb gleich. Während er mir dabei zusah, sagte er: »Da oben sind Sie jetzt alleine.« Ich wußte nicht, weshalb er diese Bemerkung machte. Vielleicht weil ich ausdrücklich ein seewärts gelegenes Apartment im 14. Stock bestellt hatte und er etwas herausbekommen wollte über meine Motive, mich da oben für einige Tage einzunisten. Aber ich nickte nur, und er, schon wieder gleichgültig geworden, wünschte mir einen schönen Aufenthalt.

Der Wohnturm ist nach meiner Schätzung etwa vierzig Jahre alt und wegen der vielen wechselnden Menschen, die ihn in den Sommermonaten bevölkern, innen und außen etwas schäbig und brüchig geworden. Aber ich, ein Mann, von dem man das Gleiche sagen kann, störe mich nicht daran. Meistens sitze ich hinter der grau beschlagenen Panoramascheibe des Wohnraums in einem der beiden Sessel, die nach draußen gerichtet sind und ein wenig einander zugedreht, wie sie zwei Menschen hinstellen würden, die gemeinsam auf das Meer schauen und dabei miteinander sprechen. Ich versuche mir vorzustellen, sie säße hier neben mir in dem anderen Sessel und alles würde erst beginnen. Sie sagt: »Nichts habe ich vorausgesehen. Aber immer schien alles schon vorgesehen. Ich konnte immer nur tun, was ich tun mußte.« Es ist ihre Gedankenstimme, die es sagt, ihre Gedankenstimme, die in meinem Kopf spricht. Und ich antworte: »Nicht vorgesehen war – wenn überhaupt etwas vorgesehen ist –, daß wir uns früher trafen, als alles noch offen war.« Sie antwortet: »Vielleicht hättest du mich nicht gewollt.« Ich antworte nicht, und sie schwindet. Der Sessel neben mir ist leer. Ich sitze hier und baue Sätze, die nie gesprochen wurden und nicht mehr gesprochen werden können, denn sie ist tot. Sie hat allem Reden ein Ende gemacht.

Heute bin ich zum ersten Mal im Aufzug anderen Leuten begegnet, einem älteren Ehepaar, das im achten Stock wohnt. Sie hielten mir die Tür auf, als sie mich kommen sahen. Ich bedankte mich, und wir fuhren schweigend hoch, bis sie aussteigen mußten. Vielleicht hätten sie gerne über das Wetter und das Leben im Turm mit mir geredet. Doch sie merkten, daß ich mit mir selbst beschäftigt war, und behelligten mich nicht.

 

Wenn ich draußen gewesen bin und alleine in der großen Aufzugkabine in den 14. Stock fahre, habe ich manchmal das Gefühl, ich kehrte in eine selbstgewählte Einzelhaft zurück.

Ich passiere die schwere stählerne Brandschutztür, die mit einem hallenden Schlag hinter mir zufällt, und bin in dem Korridor, an dessen beiden Seiten die Apartments liegen. In dem trüben Minutenlicht sehen die graugestrichenen, mit schwarzen Nummern versehenen Brandschutztüren wie Zellentüren aus. Dahinter verbirgt sich nichts als Dämmerlicht und staubgraue Stille. Die Vorhänge sind zugezogen, der Haupthahn der Wasserleitung ist abgestellt, und in den Sicherungskästen sind die Schalthebel heruntergeklappt, um die Stromkreise zu unterbrechen. Ich gehe auf meine Tür zu, schließe auf und von innen gleich wieder ab, nicht weil ich Angst habe, überfallen und beraubt zu werden, sondern um an den Schlüssel zu denken, wenn ich das Apartment wieder verlasse. Das ist einer der Tricks, die man sich angewöhnt, wenn man alleine lebt.

Als ich nach meiner Scheidung in eine kleinere Wohnung umziehen mußte, habe ich den Vorzug der Beschränkung kennengelernt: Sie konzentriert einen auf das Wesentliche. Hier allerdings spüre ich, wie ich mich verliere. Ich blicke über die Deichstraße und den Strand auf das Wattenmeer, das wie im Atemzug einer ganz anderen Zeit als riesige dunkle Schlickfläche aus dem abrinnenden Wasser auftaucht und ebenso langsam wieder im Wasser verschwindet, wie eine erneut zugedeckte Erinnerung an etwas Dunkles und Wegloses. Die Verwandlung vollzieht sich zu langsam, um sie ständig zu beobachten. Man muß sich zwischendurch abwenden und nach einer Weile wieder hinausschauen, muß den Prozeß in Momentaufnahmen auflösen, um ihn als Ganzes erfassen zu können.

Das ferne Glitzern am Horizont ist das zurückkehrende Wasser. Es kommt auf breiter Front in Rinnsalen und zungenförmigen Ausbuchtungen, überflutet die dunklen Schlickhaufen der eingegrabenen Wattwürmer, führt Federn von Seevögeln, Algenreste, leere Muschelschalen und Treibholz mit. Es läuft in die Priele und kehrt deren Strömung um und füllt die stehengebliebenen Lachen der letzten Flut zu Tümpeln und Seen auf, die allmählich zusammenwachsen. Noch sieht man einzelne Spaziergänger in der weiten Fläche. Sie haben sich umgewandt und waten in Gummistiefeln über den weichen Schlickboden langsam auf das Ufer zu. Hier und da bleiben sie stehen, bücken sich nach etwas oder schauen sich um. Aber das Wasser ist noch weit weg. Der Fahrweg für die Wattwagen, die in den Sommermonaten hinter dem ablaufenden Wasser her zur Insel Neuwerk fahren, ist mit salzverkrusteten Reisigbündeln markiert. Die weiter entfernten besenartigen Zeichen werden bald eins nach dem anderen im Wasser verschwinden, als würden sie von einem geheimnisvollen Mechanismus eingezogen. Nur die näheren ragen noch ein kleines Stück aus dem Wasser und markieren den unwegsam gewordenen Weg, wie ein altes, ungültig gewordenes Versprechen, eine trügerische Lockung.

Ich frage mich, ob sie es auch so gesehen hat. Der Gedanke, dieser Lockung zu folgen, muß sie gestreift haben, hat sie vielleicht sogar hierhergeführt. Doch so ist sie nicht gestorben. Ein anderes Bild hat Macht über sie gewonnen. Sie hat sich von hier oben auf den Parkplatz hinuntergestürzt.

Jetzt ist das Wasser wieder am Strand angekommen, und während seiner allmählichen Annäherung hat sich der Himmel grau bezogen. Es ist eine tiefhängende geschlossene Wolkendecke, unter der einige Seevögel dahinfliegen. Die meisten, die im Watt nach Nahrung gesucht haben, sind verschwunden. Viele versammeln sich während der Flut im Schilf und in den Buchten des kleinen verlandenden Sees, der wenige hundert Meter westlich von hier in einem Kiefernwald hinter den Dünen versteckt ist. Ich gehe manchmal auf dem Rundweg an seinem Ufer entlang und setze mich eine Weile auf eine der Bänke. Vielleicht war sie in den letzten Tagen ihres Lebens auch einmal hier. Oder mehrere Male. Sie kam hierher, weil es ihrer Ziellosigkeit einen Anhaltspunkt gab. Sie hat eine Weile hier gesessen und ist irgendwann wieder aufgestanden, um weiterzugehen, ohne einen anderen Grund als das ständige Hin- und Herschwappen von Unrast und Lethargie.

Wenn ich mir vorzustellen versuche, wie sie dort auf der Bank sitzt und vor sich hinblickt, ist sie nicht viel deutlicher als ein Schatten. Ich weiß nicht, wie sie ausgesehen hat in diesen letzten Tagen ihres Lebens. Die Frau, an die ich mich erinnere, wirkt zerrissen, als bestünde sie aus dunklen und heller beleuchteten Teilen, die sich nicht ineinanderfügen. Und überall, wo ich hier herumgehe, in der Vorstellung, daß sie hier gewesen ist, hat sie mir die leere Gewißheit ihres Verschwindens hinterlassen.

Manchmal aber, wenn ich in dem Sessel am Fenster sitze oder nebenan auf dem Bett liege, streift mich das Gefühl, sie sei anwesend. Es ist eine unkörperliche Heimsuchung, lautlos und unsichtbar, und es geschieht nur, wenn ich einige Zeit nicht an sie gedacht habe, so als habe die Abwesenheit meiner Gedanken ihr den Raum gelassen, den sie braucht. Etwas wallt in mir auf wie die Ankündigung von Glück. Aber ich kann es nicht herbeifordern. Das würde sie sofort vertreiben, weil ich dann denken müßte: Sie ist ja tot.

 

Inzwischen bin ich unter dem Vorwand, die Liegestühle hereinzuholen, draußen in der Loggia gewesen. Ich trat an die Brüstung, faßte das braune Eisengeländer mit beiden Händen und beugte mich vor, um in die Tiefe zu blicken. Unter mir wiederholte die Fassade in sausender Verkürzung dreizehnmal die Öffnung der Loggia und stieß wie zusammengestaucht auf dem dunkelgrauen Asphalt des fast leeren Parkplatzes auf. In den weiß umrandeten Parktaschen senkrecht unter mir las ich die Nummern 36 und 37. In eine von beiden oder genau auf ihre Trennungslinie könnte sie gefallen sein. Als ich das dachte, hatte ich für den Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, die weißen Zahlen flögen auf mich zu, und zurückzuckend stieß ich mich von der Brüstung ab, um in mein Apartment zu gehen. Später habe ich die Liegestühle hereingeholt, ohne noch einmal hinunterzuschauen. Statt dessen überblickte ich die Deichstraße, den Strand und die weite, grau und silbern schimmernde Wasserfläche mit den winzigen Silhouetten sich begegnender Schiffe in der Ferne. Die Szenerie wirkte von hier aus klarer, oder soll ich sagen wirklicher, als beim Blick durch die verschmutzte Panoramascheibe meines Wohnzimmers. Dies also, das Wirkliche in seiner unumstößlichen Gegenwart, hat sie wohl noch wahrgenommen, als sie das letzte und vielleicht auch das erste Mal den Sicherungshebel herumdrehte, mit dem sie die winddicht versenkbare Tür aus ihrer Fuge hob, und nach draußen trat.

Lange Zeit habe ich mir vorgestellt, sie habe sich immer weiter über die Brüstung gebeugt, bis sie das Übergewicht bekam. Später habe ich erfahren, daß dies eine falsche Annahme war. Denn durch einen Zufall ist ihr Sturz in die Tiefe beobachtet worden. Der Zeuge war ein älterer Kurgast, der von Duhnen nach Sahlenburg gewandert war, wo er, noch auf dem sandigen Dünenweg, von ferne den Turm sah und im zweitobersten Stockwerk eine kleine Szene bemerkte, die nicht zu stimmen schien, aber seinen Herzschlag sofort hochjagte: Eine Frau saß dort mit dem Rücken zum Abgrund auf dem Geländer einer Loggia, vollkommen unbekümmert, wie er zu denken versuchte, leichtsinnig jedenfalls oder durch irgend etwas gesichert, was er aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Er wollte es nicht wissen, eigentlich gar nicht wahrhaben. Da sah er, daß die Frau das Geländer losließ, beide Arme über den Kopf nach hinten riß und sich mehrfach überschlagend in die Tiefe stürzte. Er habe nicht sehen können, wie sie unten aufschlug, und noch einmal gedacht: Das kann nicht wahr sein. Doch dann sei er keuchend vor Entsetzen losgelaufen und habe sie als erster auf dem Parkplatz gefunden, mit zerschmettertem Schädel und verdrehten, gebrochenen Gliedern in einer großen Blutlache.

Seit ich hier bin, sehe ich oft ihren Sturz, die erste Sekunde, in der sie sich überschlägt und ihr Rock sich öffnet wie eine im Zeitraffer aufspringende Blüte. Gleich danach sehe ich sie zerschmettert auf dem Asphalt des Parkplatzes liegen, so wie der Zeuge sie beschrieben hat. Ich nähere mich diesem Bild, das unversehens mein Bild geworden ist. Ihr Gesicht ist unversehrt, denn sie liegt auf dem Rücken. Wie festgefroren im Augenblick des Aufschlags starren mich ihre weit geöffneten Augen an, und mehr als alles andere sagen sie mir, daß nichts mehr zu ändern ist. Das Bild zerrinnt um so schneller, je mehr ich ihm abverlange. Morgen werde ich abreisen. Es war naiv, hierherzufahren, um der Wahrheit näherzukommen. Es gibt keinen Ort, wo man sie finden kann. Sie ist zerspalten und verborgen in den verschiedenen Köpfen.