Jorge Bucay

Drei Fragen

Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?

Aus dem Spanischen von Stephanie von Harrach

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jorge Bucay

Jorge Bucay ist ein angesehener Psycho- und Gestalttherapeut. 1949 in Buenos Aires, Argentinien, geboren, hat er im Lauf seines bisherigen Lebens verschiedene persönliche und berufliche Wege beschritten - als Schauspieler, Clown, Straßenhändler, Psychiater, Psychotherapeut, Professor, Redner und als Schriftsteller von Werken mit großem internationalen Erfolg. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und haben sich in der spanischsprachigen Welt fast zehn Millionen mal verkauft. Bislang erschienen auf Deutsch: ›Komm, ich erzähl dir eine Geschichte‹, ›Geschichten zum Nachdenken‹, ›Liebe mit offenen Augen‹ und ›Zähl auf mich‹.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Coverabbildung: Marcelino Truong

Die spanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

›Las 3 preguntas. Quién soy? Adónde voy? Con quién?‹

The translation follows the edition by RBA Libros, S.A., Barcelona 2006bei RBA Libros, S.A.

© 2007 Jorge Bucay

Für die deutsche Ausgabe:

© 2011 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-10-400901-8

Fußnoten

El camino de la autodependencia. Barcelona 2002.

Manual de jardinería humana. Editorial Serendipidad, Buenos Aires 1994.

Tu, was du willst: Ethik für die Erwachsenen von morgen. Beltz und Gelberg, Weinheim 2001.

Einige Spezialisten sind der Ansicht, »Koabhängigkeit« bestehe darin, dass die Partner der Kranken in deren Nähe eine spiegelgleiche Pathologie entwickeln, indem sie sämtlichen Anforderungen des »Abhängigen« entsprechen und sich ihrerseits nicht von ihm loslösen können.

RBA Libros, Barcelona 2006.

Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs. Carl Hanser Verlag, München 1994, 2008.

Herder, Freiburg im Breisgau 1972.

Grijablo, Barcelona 2003.

Ammann Verlag, Zürich 2008

Eines Abends, vor ziemlich langer Zeit, berief Gott eine Versammlung ein.

Von allen Lebewesen war ein Abgesandter aus jeder Gattung geladen.

Nachdem sie alle zusammengekommen waren und Gott sich viele Klagen angehört hatte, stellte er eine einzige schlichte Frage: »Und, was möchtest du nun gerne sein?«

Unverblümt und frei heraus gab jeder seine Antwort darauf:

Die Giraffe sagte, sie wäre gern ein Pandabär.

Der Elefant wünschte sich, eine Mücke zu sein.

Der Adler eine Schlange.

Der Hase wäre gern eine Schildkröte gewesen und die Schildkröte eine Schwalbe.

Der Löwe bat darum, Kätzchen sein zu dürfen.

Der Otter Wasserschwein.

Das Pferd eine Orchidee.

Und der Walfisch wäre gern eine Drossel gewesen …

Schließlich war der Mensch an der Reihe, der zufällig gerade vom Weg der Wahrheit kam.

Er überlegte eine Weile, dann hatte er endlich die Erleuchtung und rief:

»Herr, ich wäre gerne … glücklich.«

 

Vivi García

Ein Großteil der Gedanken dieses Buches wie auch die meisten Geschichten darin sind bereits vor zehn Jahren innerhalb der Reihe der vier Wege publiziert worden, einer Essayfolge, erschienen im Rahmen einer Sammlung namens Hojas de ruta (Wegweiser), in der ich die Wege beschreibe, die ich persönlich für unumgänglich halte bei unser aller und immerwährenden Suche nach dem Glück.

Aktualisiert und neu geordnet sollen diese Überlegungen zur Beantwortung der drei Fragen beitragen, die seit Urzeiten sämtliche Völker der Erde beschäftigen. Es geht um die drei Grundfragen des Lebens:

Wer bin ich?

Wohin gehe ich?

Und mit wem?

 

In einem dieser Bände habe ich selbst im Vorwort gestanden, dass ich es mir niemals hätte träumen lassen, einmal über das Glück zu schreiben. Wie damals befürchte ich noch immer, der Leitsatz, unter dem die Hojas de ruta stehen, könnte missverständlich sein:

 

Eine Anleitung zur Suche nach dem Weg zum Glück.

 

Noch heute stört mich, was dieser Satz scheinbar impliziert. Solange ich das nicht richtigstelle, könnte man meinen, es gäbe EINE Formel, EINEN Weg oder EINE Art und Weise, glücklich zu sein. Außerdem könnte man annehmen, ich

Ich fürchte, auch jetzt einige Menschen enttäuschen zu müssen, wenn ich sage, dass ich auch heute, viele Jahre später und nachdem ich die verschiedensten Wege ausprobiert habe, die Formel für das Glück noch immer nicht gefunden habe. Vielleicht zweifele ich auch deshalb daran, dass es überhaupt eine solche gibt. Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, wir sollten uns womöglich gar nicht so lange mit der Suche nach einem Rezept aufhalten. Ich bin überzeugt davon, es würde mehr als ausreichen, wenn wir uns aufmerksamer, in zuträglicherer Weise und mit größerem Nachdruck um all das kümmern würden, was uns davon abhält, glücklich zu sein.

Denn was sind unsere Probleme anderes als Hindernisse oder Hürden auf dem Weg zu unserer persönlichen Entfaltung? Welches andere Thema könnte uns stärker beschäftigen als ebendiese Aufgabe, auch wenn es vielen, mich selbst eingeschlossen, schwerfällt, sie mit einem Wort zu umreißen?

Manche bezeichnen es als »Selbstverwirklichung«, andere als »ganzheitliches Bewusstsein« oder »Gewahrwerdungsprozess«, für einige kommt es dem Zustand der Erleuchtung oder spiritueller Ekstase nahe, für ein paar wenige bedeutet es, inneren Frieden zu finden, und andere nennen es einfach Erfüllung.

Ob wir nun groß darüber nachgedacht haben oder nicht und wie wir es auch nennen mögen, eins steht fest: Glücklichsein ist eine unserer größten Herausforderungen. Daher ist die Suche nach dem Glück ein ebenso wichtiges und ergründenswertes Thema wie die Liebe, die Bedeutung von Kommunikation, der Umgang mit dem Tod oder die Frage, welcher Irrglaube manche Menschen annehmen lässt, über das Leben anderer verfügen zu dürfen.

Möglicherweise bleiben auch diese Meister uns die magische Formel schuldig, doch von ihnen können wir lernen, dass es die verschiedensten Wege gibt, um ans Ziel zu gelangen, unendlich viele Herangehensweisen und Vorgehensarten sowie Dutzende von Marschrouten, die uns auf den rechten Pfad führen.

Viele dieser Meister haben mir gezeigt, dass jeder Weg seine Berechtigung hat und dass es sehr unterschiedliche Wege gibt, doch auf sie alle trifft eins zu: Es ist ein durch und durch menschliches Bedürfnis, Antwort auf die wichtigsten Fragen zu erhalten, auf jene Fragen, die wir uns früher oder später alle einmal stellen und die der Anlass für dieses Buch sind.

Unter all diesen Fragen gibt es ein paar unausweichlich wichtige.

Es handelt sich um die drei existentiellen Fragen, die die Menschheit beschäftigen, seit sie begonnen hat, logisch zu denken.

Fragen, die sich unweigerlich auf jedem der eingeschlagenen Wege stellen und daher nicht umgangen werden können.

Fragen, die es der Reihe nach zu beantworten gilt, angesichts jener Herausforderung, die Carl Rogers »Die Entwicklung der Persönlichkeit« genannt hat. Denn nur wer aufrichtig nach ihrer Beantwortung sucht, lernt all das, was für das spätere Weiterkommen unverzichtbar ist.

Mit anderen Worten, jede dieser Fragen konfrontiert uns mit der zwingenden Aufgabe, Antworten darauf zu finden. Das Bewusstsein zu schärfen für einen Prozess, der zwar oft über verschlungene und sich überschneidende Wege ablaufen mag, die sich aber immer wieder deutlich abzeichnen und in ihrer immer gleichen Abfolge begangen sein wollen.

 

Wohin gehe ich?

Und mit wem?

 

Drei Aufgaben, drei Wege, drei Fragen, die es strikt der Reihe nach zu beantworten gilt.

Um der Versuchung zu widerstehen, dass, wer auch immer der Mensch an meiner Seite sein mag, darüber bestimmt, wohin ich gehe.

Um nicht den Fehler zu begehen, mich über den Menschen zu definieren, der mich begleitet.

Um gar nicht auf den Gedanken zu verfallen, meinen Weg mit deinem in Übereinstimmung zu bringen.

Um nicht zuzulassen, dass ich aufgrund der von mir eingeschlagenen Richtung definiert werde, und noch viel weniger, dass man mich mit diesem Teil der Wegstrecke gleichsetzt, auf der ich mich befinde.

 

»Immer mit dem Ersten anfangen«, pflegte mein Großvater zu sagen, und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Das Letzte kommt nämlich erst zum Schluss.«

Und die erste Aufgabe ist es, herauszufinden, wer ich bin.

Die definitive Begegnung mit mir selbst.

Zu lernen, von niemandem abhängig zu sein.

 

Die zweite Aufgabe besteht darin, mich zu entscheiden, wohin ich gehe.

Die Suche nach Erfüllung und Sinn.

Unsere Bestimmung im Leben zu finden.

 

Und als Drittes gilt es, sich auszusuchen, mit wem.

Die Begegnung mit dem anderen und der Mut, all das zurückzulassen, was sich nicht stimmig anfühlt.

Sich der Liebe zu öffnen und die passenden Wegbegleiter zu finden.

 

Vielleicht können die verschiedenen Antworten, auf die ich dabei gestoßen bin, ermutigen und dem einen oder anderen nützlich sein, der – wie ich – froh ist zu erfahren, dass andere auf ganz unterschiedlichem Weg an den gleichen Ort gelangt sind. Hoffentlich sind sie auch denen dienlich, die keine Antworten suchen, sondern lieber ihre eigenen Fragen finden wollen.

Selbstverständlich geht es nicht darum, sich sklavisch an irgendein Konzept zu halten, das ich hier aufstelle. Wie jeder weiß, entspricht die Karte niemals exakt dem Gebiet, und so ist auch jeder Leser aufgerufen, den vorgeschlagenen Kurs zu korrigieren, wann immer der Autor seiner Meinung nach falschliegt.

Nur so werden wir am Schluss zueinanderfinden. Du mit deinen Antworten und ich mit meinen.

Das heißt, du hast deine Antworten gefunden.

Und ich die meinen.

Wer bin ich?

1

Eines Tages klingelt das Telefon.

Der Anruf ist für mich.

Kaum habe ich meinen Namen gesagt, da höre ich auch schon eine sehr vertraute Stimme:

»Hallo, ich bin’s. Geh mal raus auf die Straße, da wartet eine Überraschung auf dich.«

In freudiger Erwartung trete ich auf den Bürgersteig, und vor mir sehe ich das Geschenk. Eine kostbare Kutsche steht direkt vor meiner Haustür. Sie ist aus poliertem Nussbaum gefertigt, hat bronzene Verzierungen und Lampen aus weißem Porzellan, alles sehr fein, sehr elegant, sehr chic.

Ich öffne die Tür zur Kabine und steige ein. Ein großer halbrunder Sitz mit bordeauxrotem Cordbezug und weiße Spitzenvorhänge geben dem Innenraum etwas Vornehmes. Ich setze mich und merke, dass alles für mich maßgefertigt ist: auf meine Beinlänge abgestimmt, mit passender Sitzbreite und Dachhöhe … Alles ist ausgesprochen bequem, und Platz ist hier nur für mich.

Ich schaue also aus dem Fenster und betrachte »die Landschaft«: auf der einen Seite die Fassade des Hauses, in dem ich wohne, auf der anderen diejenige meines Nachbarn … Und ich sage: »Was für ein wundervolles Geschenk! Fabelhaft, so schön …« Und genieße dieses Gefühl.

Ich frage mich: »Wie lang kann man sich eigentlich dieselben Sachen anschauen?« Und langsam komme ich zu dem Schluss, dass dieses Geschenk eigentlich nicht besonders viel taugt.

Lauthals beschwere ich mich darüber. Irgendwann kommt mein Nachbar vorbei, und als könnte er Gedanken lesen, sagt er:

»Merkst du denn nicht, dass an dieser Kutsche was fehlt?«

Mit dem Was-fehlt-denn-wohl-Ausdruck im Gesicht schaue ich mir die Polsterung und die Vorhänge an.

»Na, die Pferde fehlen«, sagt er, noch bevor ich überhaupt nachfragen kann.

Ach, deshalb sehe ich immer dasselbe, denke ich, darum ist es so langweilig …

»Ja, stimmt«, sage ich.

Und ich mache mich auf den Weg zum Fuhrpark und erstehe zwei kräftige, junge, schneidige Pferde. Ich spanne die Tiere vor die Kutsche, steige wieder ein und brülle von drinnen:

»Hüüaahh!!«

Die Landschaft wird phantastisch schön, außergewöhnlich, sie verwandelt sich permanent und überrascht mich immer wieder neu.

Trotzdem spüre ich schon ziemlich bald eine gewisse Vibration, und auf der einen Wagenseite entsteht ein tiefer Riss.

Die Pferde ziehen mich über die schlechtesten Pisten, sie springen über jeden Graben, holpern über Bürgersteige, bringen mich in die übelsten Gegenden.

Mir wird klar, dass ich nicht die geringste Kontrolle über die Lage habe, diese Biester zerren mich dorthin, wohin es ihnen beliebt.

Ich bekomme es mit der Angst zu tun und stelle fest, dass auch das nicht wirklich weiterhilft.

Da sehe ich meinen Nachbarn, der ganz nah in seinem Auto vorbeifährt, und schimpfe auf ihn ein:

»Was hast du mir da eingebrockt!«

Er schreit zurück:

»Was dir fehlt, ist der Kutscher!«

»Aha!«, sage ich.

Unter größten Schwierigkeiten und nur mit seiner Hilfe gelingt es mir, die Pferde zu stoppen, und ich mache mich auf die Suche nach einem Kutscher.

Ich habe Glück. Ich finde einen.

Er ist ein zurückhaltender, zuverlässiger Mann, und aus seiner Miene lässt sich schließen, dass er vielleicht nicht gerade Spaß, dafür aber umso mehr von seinem Handwerk versteht.

Sofort tritt er seinen Dienst an.

Mir scheint, erst jetzt weiß ich mein Geschenk wirklich zu schätzen.

Ich steige in die Kutsche, mach es mir bequem, nicke mit dem Kopf und sage dem Kutscher, wo ich hin will.

Er hält die Zügel in der Hand und hat die Lage völlig unter Kontrolle. Er bestimmt die angemessene Geschwindigkeit, er wählt den besten Weg.

Während ich drinnen in der Kabine sitze … und die Fahrt genieße.

Diese kleine Allegorie aus Der Weg der Unabhängigkeit[1] veranschaulicht das ganzheitliche Konzept des Seins, wie es in dem vorliegenden Buch verstanden werden soll.

Eine Art Kutsche, maßgefertigt für jeden von uns. Ein Gefährt, das Veränderungen unterliegt, mit der Zeit gewisse Modifizierungen erlebt, aber dazu bestimmt ist, uns ein Leben lang zu begleiten.

Kaum haben wir uns aus dem Schutz des »Mutterhauses« begeben, verspürt dieser unser Körper ein Begehren, ein Bedürfnis, eine instinktive Notwendigkeit und setzt sich in Bewegung.

Der Körper ohne Wünsche, Bedürfnisse, Regungen und Affekte, die ihn zum Handeln antreiben, wäre wie eine Kutsche ohne Pferde.

Schon von den ersten Lebensstunden an haben wir durch Weinen auf beinahe tyrannische Weise die Befriedigung unserer Bedürfnisse erlangt. Wir brauchten bloß die Ärmchen auszustrecken, den Mund aufzumachen und mit einem winzigen Lächeln das Köpfchen zu heben, um ungehindert zu bekommen, was wir wollten.

Ziemlich rasch hat man jedoch die Erfahrung gemacht, dass mancher Wunsch, lässt man ihm erst einmal freien Lauf, auf ziemlich riskante, frustrierende, ja sogar gefährliche Wege führen kann. Und schon bald stellt sich die Notwendigkeit der Mäßigung ein.

Hier kommt die Figur des Kutschers ins Spiel: in Form unserer selbst, unseres Geistes, unseres Verstandes und unserer Fähigkeit, rational zu denken.

Ein tüchtiger Kutscher, der die Aufgabe hat, uns den Weg zu bahnen und vor Strecken zu bewahren, auf denen mancherlei unnötige Gefahr und übergroße Risiken lauern.

 

Jeder von uns vereinigt in sich jene drei Instanzen aus der Allegorie, das heißt, auf der gesamten Strecke unseres Lebensweges

 

Und nun gilt es, all diese Elemente miteinander in Einklang zu bringen, ohne dass einer der Beteiligten vernachlässigt wird.

 

Den Körper seinen Impulsen, Anwandlungen oder Leidenschaften zu überlassen kann äußerst gefährlich sein. Und meist ist es das auch. Wir brauchen den Verstand, um eine gewisse Ordnung in unser Leben zu bringen.

Der Kutscher ist dazu da, den Weg und die Strecke einzuschätzen. Wer die Kutsche aber tatsächlich zieht, das sind die Pferde. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kutscher sie vernachlässigt. Sie müssen gefüttert und gepflegt werden, denn … Was täten wir ohne die Pferde? Was wären wir, wenn wir bloß aus Körper und Gehirn bestünden? Wenn wir ohne Begehren wären, wie sähe unser Leben dann aus? Es wäre wie das Leben von Leuten, die ohne Kontakt zu ihren Gefühlen durch die Welt gehen und ihre Kutsche allein vom Gehirn ziehen lassen.

Natürlich dürfen wir auch die Kutsche nicht vernachlässigen. Und das bedeutet, sie zu reparieren, zu pflegen, herauszufinden, was zu ihrer Instandhaltung beiträgt, denn sie muss die ganze Fahrt lang halten. Wird sie nicht ausreichend gewartet, erleidet sie Schaden, und die Reise kann ein vorzeitiges Ende nehmen.

 

Erst wenn ich all das verinnerlicht habe,

wenn mir bewusst ist, dass ich mein Körper bin, meine Hände, mein Herz, meine Kopfschmerzen genauso wie mein Hungergefühl,

wenn ich akzeptiere, dass ich genauso gut auch meine Überlegungen bin, mein denkender Geist und meine Erfahrungen …

Erst dann bin ich in der Lage, den für mich am besten geeigneten Weg zu begehen, das heißt ebenjenen Weg, der in diesem Augenblick für mich bestimmt ist.

2

Jedes Lebewesen, vom primitivsten Einzeller bis zu den am höchsten entwickelten Tieren, hat – so verletzlich es in diesem Moment auch sein mag – bei seiner Geburt eine gewisse mehr oder weniger hohe Überlebenschance, selbst wenn zu diesem Zeitpunkt keiner seiner Elternteile in der Nähe ist, um sich um seinen Schutz und seine Nahrung zu kümmern.

Angefangen bei den Insekten, die gleich nach dem Schlüpfen absolut unabhängig sind, bis hin zu den Säugetieren, die, eine Stunde nachdem sie das Licht der Welt erblickt haben, bereits auf eigenen Beinen stehen und nach der Zitze der Mutter oder einem Ersatz dafür suchen können – ein jedes Tier kann überleben, auch wenn die Wahrscheinlichkeit nur eins zu einer Million ist.

Betrachten wir zum Beispiel die Meeresschildkröten. Bei dieser Spezies schleppen sich die Mütter unter größter Anstrengung zweihundert Meter weit an den Strand, um Hunderte von Eiern in den Dünen abzulegen, sie mit Sand zu bedecken und anschließend wieder ins Meer zurückzukriechen.

Von den frisch geschlüpften jungen Meeresschildkröten schafft es der Großteil nicht bis ins rettende Meer. Schutzlos fallen sie Vögeln und Reptilien zum Opfer, oder sie werden von der Sonne verbrannt … Doch trotz all dieser Beschwernisse überleben ein oder zwei von Tausend.

Ein Menschenkind hingegen, das während der ersten Lebensstunden gänzlich sich selbst und seinem Instinkt überlassen bleibt, hat keine Chance. Die Überlebenswahrscheinlichkeit beträgt noch nicht einmal eins zu einer Million. Ein Neugeborenes ist vollkommen abhängig.

Für diejenigen unter uns, die auch nur ein kleines bisschen von Biologie verstehen, liegt es also auf der Hand, dass ein neugeborenes Menschenkind das zerbrechlichste, abhängigste und verletzlichste Wesen der Schöpfung ist. Die Geburt stellt demnach für die Neuankömmlinge der Spezies Mensch, ganz gleich welcher Rasse, welcher Region und welcher Epoche sie auch angehören mögen, eine äußerste Bedrohung und Gefahr dar.

Als Lösung und zum Ausgleich für diese extreme Abhängigkeit der menschlichen Säuglinge hat die Natur eine besondere Art von Beziehung gestiftet, die es den Eltern fast unmöglich macht, ihre Kinder sich selbst zu überlassen. Der Instinkt oder die Liebe (ich stelle es mir lieber als Liebe vor) lässt uns diese »Welpen« als das betrachten, was sie (in biologischer Hinsicht) auch sind: ein Stück von uns selbst. Sie schutzlos zurückzulassen käme der freiwilligen Selbstverstümmelung gleich, als würde man einen Teil des eigenen Körpers verleugnen.

So schaltet sich die Natur zur Sicherung des Lebens ein. Da die Schutzlosigkeit der Neugeborenen tödlich wäre, sorgt sie dafür, dass sich instinktiv immer jemand um das verletzliche Baby kümmert, und sichert es gegen das Verlassenwerden von den Eltern ab.

Die Liebe zum eigenen Kind unterscheidet sich von der Liebe für andere. Mit einer Tochter oder einem Sohn erleben wir Dinge, die wir mit anderen Menschen niemals erleben werden. Nicht nur, dass wir sie bedingungslos lieben, wir lieben sie auch auf andere Art, wir lieben sie wie einen Teil unserer selbst, wie man seine eigene Hand liebt oder sein Augenlicht. Vielleicht sogar noch mehr …

Dieses selbstbezogene Gefühl ist wohl allen Eltern zu eigen, es wird gesteuert durch den Instinkt, der uns – ohne auch nur im Geringsten darüber nachzudenken – die Pflege und den Schutz unserer Kinder übernehmen lässt und der in gewisser Weise auch dafür gesorgt hat, dass wir sie empfangen haben. Der Arterhaltungstrieb, mehr als unser bewusster Wunsch, bestimmt unser »Bedürfnis«, Kinder zu haben, oder eben unsere Frustration im Fall von Kinderlosigkeit.

Besähe man die Sache mal nüchternen Auges, würde man feststellen, dass jemand, der vollständig zufrieden ist mit seinem Leben und dem, was er besitzt, und der nicht das dringende Bedürfnis nach Selbsterweiterung oder Selbstverwirklichung durch Vater- bzw. Mutterschaft samt Gründung einer Familie hat, womöglich keine Kinder bekommen würde.

Unser Kinderwunsch entspringt einer inneren Notwendigkeit – egal ob diese nun anerzogen oder natürlich, übernommen, instinktiv, kulturell oder persönlich ist.

 

Doch wie immer gibt es nichts Menschliches ohne seine Widersprüche: Dieser primitive Instinkt trägt uns neben einer gewissen Fortpflanzungsgarantie und der anschließenden Sorgepflicht für die Kinder vor allem Probleme und Konflikte ein. Ein Mann und eine Frau, die sich dafür entscheiden, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen, unternehmen einen weit über sich selbst hinausreichenden Schritt. Nicht nur, dass sie eine unabweisbare Verantwortung in Hinblick auf die Zukunft auf sich nehmen, sie geraten auch, ob sie nun wollen oder nicht, in einen unlösbaren Interessenskonflikt zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und egoistischen Anwandlungen und den Bedürfnissen des neugeborenen Kindes. Es ist schon generell nicht einfach, Gefängniswärter und Befreier in einer Person zu sein, aber als Elternteil fällt es ganz besonders schwer. Kinder werden als Erweiterung ihrer Eltern behandelt und entsprechend behütet, selbst wenn diese sich darin einig sind, dass ein Teil ihrer Aufgabe (womöglich der wichtigste in ihrer Rolle als Erzieher) darin liegt, aus ihren Sprösslingen eigenständige, unabhängige Wesen zu machen, die es auf den Moment der Trennung vorzubereiten und zu trainieren gilt.

Gleichermaßen erleben auch die Kinder die symbiotische Erfahrung mit den Eltern sowohl als Freud wie als Leid. Häufig erweisen sich eine allzu häufig erlebte emotionale Bestätigung und ein Übermaß an Zärtlichkeit im frühen Kindesalter in den späteren Lebensjahren als große Belastung.

Erziehung: Lehren und lernen

Einen hohen Anteil aller unserer im Lauf des Lebens erworbenen Kenntnisse verdanken wir der Vermittlung durch unsere Eltern.

Den Teil, den wir durch Anweisungen, Ratschläge, Empfehlungen, Belohnungen und Bestrafung erwerben, bezeichnen wir als »formale Erziehung«. Ein anderer Teil, der nonverbale, vermittelt sich über wortlose Kommunikation und spielt aufgrund der starken kindlichen Bereitschaft zur Nachahmung von Vorbildern eine große Rolle.

Und ein letzter, weder messbarer noch absehbarer Teil ist jenes Wissen, das sich von Generation zu Generation überträgt, die Informationen unseres Genmaterials mit eingeschlossen. Oft diskutiert und verwechselt mit den gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen, erkennen heute fast alle Verhaltensforscher die Existenz eines angeborenen Kenntnisschatzes an, der auch ein »ererbtes« Wissen über Dinge beinhaltet, die wir niemals gelernt haben. Ohne dass uns sein Ausmaß bekannt wäre, noch wie sehr diese Informationen unser menschliches Dasein bestimmen.

 

Auf alldem – zusätzlich zu jenen Erfahrungen, die sie durch Interaktion mit der Welt außerhalb der Familie machen, wozu ihre eigenen Lebenserfahrungen genauso gehören wie

In einer Welt, die sich so schwindelerregend schnell verändert, ist das viel mehr als nur ein Vorteil, es ist schlichtweg eine Überlebensvoraussetzung für die Menschheit an sich.

Ich sage immer, dass wir noch nach dem alten Schlag erzogen wurden, wo Erziehung nicht im Servieren der Fische bestand, sondern darin, dass man Kindern beibrachte, selbst zu fischen. Es ist immer noch ein schönes Bild, aber leider keine sehr gebräuchliche Praxis mehr.

Wenn ich meinen Kindern eine Angelrute schenke und ihnen das Fischen beibringe, mag es ihnen vielleicht für den Moment nützlich sein (oder auch nicht), aber meine Lehre ist schnell überholt, und das Werkzeug – welches auch immer – ist bald veraltet. Womöglich angelt man, wenn sie erwachsen sind, mit einer solchen Rute, in deren Gebrauch ich sie unterwiesen habe, keinen einzigen Fisch mehr. Und wenn ich ihnen sonst nichts beibringe, gebe ich sie sehr wahrscheinlich dem Verhungern preis.

Heute besteht die neue Aufgabe der Eltern darin, den Kindern beizubringen, ihr eigenes Werkzeug herzustellen. Sie zu befähigen, ihre eigenen Angelruten zu bauen, das eigene Netz knüpfen und ihr eigenes Fischfangkonzept entwickeln zu können. Dazu muss man sich als Allererstes bescheiden eingestehen, dass es völlig unzureichend ist und ihnen womöglich niemals nützen wird, wenn man ihnen beibringt, wie man selbst die Fische fängt.

Diese elterliche Unzulänglichkeit, Kindern beizubringen,

Beschützende Eltern. Rebellische Kinder

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts existierte die praktische Psychologie im Grunde nicht als eigenständige Wissenschaft.

Ihr Wirkungsfeld beschränkte sich auf die Beantwortung menschlicher Grundfragen, die Erklärung neurologischer Vorgänge rund um das Thema Wahrnehmung oder Gedächtnis und auf einige wenige andere Dinge. Mit der Entwicklung des Menschen befasste sich die Pädagogik, die Erziehungslehre.

Auf einem französischen Kongress zum Thema Pädagogik und Ehe im Jahr 1894 wurden unter anderem die folgenden Schlussfolgerungen gezogen:

In den für Familie und Ehe so schwierigen Zeiten unseres Jahrhunderts (des 19.) neigen Ehepaare mit Kindern zu derart übergroßer Unsicherheit und Zukunftsängsten, dass sie ihre Kinder unter allen Umständen vor jeglichen Problemen zu bewahren trachten. Es ist jedoch notwendig, auf die Gefahren solchen Verhaltens hinzuweisen, denn tun die Eltern dies allzu eifrig, so werden die Kinder niemals lernen, ihre Probleme selbst zu lösen.

Diese mehr als hundert Jahre alte Prognose überrascht uns heute durch ihre Treffsicherheit.

Wir Eltern, vor allem diejenigen unter uns, die selbst aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, haben ein eher entmündigendes als behütendes Verhalten unseren Kindern gegenüber entwickelt, eins, das stärker von Angst geprägt ist als von Beschützerinstinkt. Anstatt unsere Kinder zu befähigen, ihre Konflikte und Schwierigkeiten selbst lösen zu lernen, haben wir uns vor allem darum bemüht, ihnen eine unbeschwerte und sorglose Kindheit zu bescheren. Anstatt sie für die Lösung ihrer eigenen Probleme auszurüsten, haben wir sie regelrecht daran gehindert.

Stattdessen und möglicherweise im Ausgleich dafür haben wir – die heute über Fünfzigjährigen –, jenseits unserer eigenen Defizite und Beschränkungen, vielleicht ein einziges, aber nicht unwesentliches Verdienst – wir haben unsren Kindern etwas Neuartiges zugestanden:

die Erlaubnis zu rebellieren.

Erinnern wir uns daran, dass die meisten von uns aus Familienverhältnissen stammen, in denen Rebellion verboten war.

Sobald ihnen die Argumente zur Rechtfertigung ihrer seltsamen Ansichten ausgingen, haben selbst die liebevollsten und zärtlichsten unter unseren Eltern mit einer gewissen Bestimmtheit gesagt: »Ihr Rotzlöffel haltet den Mund«; und nach der unvermeidlichen Pause kam der Satz, den sie schon von ihren Eltern kannten: »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, bestimme ich, wo’s langgeht.«

Meine Kinder wie auch die meiner Altersgenossen haben permanent alles hinterfragt … Und sie tun es immer noch.

Wir haben ihnen diesen Rebellionsgeist beigebracht, der sie vor uns rettet, vor allem vor der bereits beschriebenen Manie, ihnen eine anachronistische Weltsicht aufzwängen zu wollen.

Das ist unser großer Beitrag, vielleicht der einzige, den wir in unserer Generation haben leisten können – was vielleicht gar nicht mal so wenig ist, wenn man bedenkt, dass man damit die Welt verändern kann.

Ein klein wenig Theorie: die drei Drittel

Rebellionsgeist hin oder her, irgendwann wird einem klar, dass man nicht ewig eine Mutter haben wird, die einem Essen macht, einen Vater, der auf einen aufpasst, einen Menschen, der die Entscheidungen für einen trifft … Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich um sich selbst zu kümmern. Und das Nest zu verlassen … Man muss sich von seinen Eltern lösen und aus dem Haus begeben, diesen Hort der Sicherheit und des Aufgehobenseins.

Häufig stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt das geschehen wird. Die Antwort ist eindeutig, auch wenn sie vielleicht nicht viel zur Klärung beiträgt: am Ende der Adoleszenz. Damit wandelt sich die Frage, und oft hört man aus Elternmund: »Und wann ist die Adoleszenz zu Ende? In welchem Alter ist sie abgeschlossen?«

 

Als wir Kinder waren, begann die Adoleszenz mehr oder weniger mit dreizehn Jahren und endete mit zweiundzwanzig. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, beginnt sie häufig bereits im Alter von zehn Jahren und kann sich hinziehen

Über das Mysterium der verlängerten Adoleszenz hat inzwischen jeder Idiot seine eigene Theorie.

Auch ich habe eine.

Und von der werde ich jetzt erzählen. Vor allem, weil ich weiß, dass so mancher Schlaukopf selbst aus der idiotischsten Idee noch erhellende Schlüsse zu ziehen weiß.

Stellen wir uns einmal vor, jeder von uns erhält ein verwaistes Stück Brachland. Es stehen zwar Wasser, Dünger und Werkzeug zur Verfügung, aber kein Buch oder kein weiser Alter, das oder der uns zu sagen wüsste, was zu tun ist. Wir bekommen Saatgut zum Anbauen und die Anweisung: »Von dem, was der Boden abwirft, müsst ihr leben.«

Wie also gehen wir vor, um uns und unsere Lieben ernähren zu können?

Natürlich werden wir zuerst einmal jäten, den Boden bereiten, ihn umgraben, die Erde rechen … und dann Saatfurchen ziehen.

Anschließend säen wir aus und warten … Und kümmern uns sorgsam um alles … Stellen Rankhilfen auf, damit die Pflänzchen daran hochwachsen können, hegen sie. Am Ende, sollte unsere Arbeit Früchte tragen, kommt gewiss der Moment, an dem wir einen Teil unserer Saat ernten können.

Ich sehe eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Aufgabe, unser eigenes Leben zu meistern, und der, Land urbar zu machen.

 

  1. Ein Drittel zur Bereitung des Bodens.

  2. Ein Drittel für Aussaat, Keimen und Wachstum.

  3. Ein Drittel für die Pflege der Frucht und das Einbringen der Ernte.

 

Schauen wir uns die drei Phasen einmal genauer an.

 

Die erste Phase entspricht unserer Kindheit und Adoleszenz. In dieser Periode stehen das Lernen und das Bereiten des Bodens an, Unkraut jäten, umgraben, düngen, alles vorbereiten für den Zeitpunkt der Saat.

In der ersten Phase gehört es zu den Hauptaufgaben der Psyche, die körperliche und geistige Entwicklung während des Wachstums zu begleiten und die Stabilität und Sicherheit zu schaffen, die man im Umgang mit sich selbst und der Welt benötigt. Es ist die Zeit, in der sich unsere »Identität« ausbildet, ein Konzept, das C. G. Jung ironisch als die Summe all dessen definiert hat, was uns in Wahrheit nicht ausmacht, mit dem wir uns aber ständig produzieren, um uns und andere glauben zu machen, wir wären so.

Bevor er sein eigenes Leben beginnen kann, muss der Jugendliche das Zutrauen entwickeln, dass er den Mut und die Kraft findet, mit dem Alten zu brechen.

Was für ein Fehler, schon säen zu wollen, bevor der Boden entsprechend bereitet ist! Es wäre dumm, bereits in dieser Phase ernten zu wollen. Man würde sich nur aus einem

 

Die zweite Phase steht für die Zeit der Jugend und das Erwachsenenalter. Es geht ums Wachsen. Die Zeit ist reif, den Samen einzupflanzen, zu begießen, zu hegen und ihm beim Wachsen zuzuschauen. Wir befinden uns in der Periode der Saat, der Entfaltung, des Aus-sich-Herausgehens. Dies ist die Phase, in der man sich als Person verwirklicht, auch wenn das oft bedeutet, sich unhinterfragt in gesellschaftliche oder kulturelle Muster zu fügen.

Was für ein Fehler, sich weiter mit der Bereitung des Bodens aufzuhalten, wenn es schon längst an der Zeit wäre, mit der Saat zu beginnen! Was für ein Fehler, bereits ernten zu wollen, was noch nicht gesät ist. Alles zu seiner Zeit.

 

Die letzte Phase ist die der Reife. Die Zeit der Ernte.

Der Moment, da man sich der eigenen Taten bewusst wird und sich ihrer erfreut. Die Zeit, da einem die Endlichkeit vor Augen liegt und man verantwortungsbewusster, hingebungsvoller und mit größerem Weitblick handelt.

Es wäre ein großer Fehler, zum Zeitpunkt der Ernte noch umgraben, weiter aussähen oder gießen und anbauen zu wollen, um das Feld jetzt noch zu vergrößern! Und es wäre ein Fehler, statt sich an der Ernte zu erfreuen, weiter zu säen! Wenn die Ernte reif ist, bleibt nichts weiter zu tun, als die Früchte einzubringen. Denn versäumt man den richtigen Zeitpunkt, dann war’s das womöglich für immer.

 

Natürlich hängt es von der jeweils maßgeblichen menschlichen Lebenserwartung ab, wie lang jedes dieser Drittel dauert.

Zur Zeit unserer Vorfahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei fünfunddreißig bis vierzig Jahren, und

Von diesem Zeitpunkt an befanden sich unsere Großeltern und deren Großeltern bereits im gereiften Lebensalter. Die Frauen bekamen keine Kinder mehr, und den Männern blieb nichts anderes mehr zu tun, als bereitwillig auf ihren Tod zu warten.

Als dann zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Generation meiner Eltern geboren wurde, lag die Lebenserwartung bereits bei sechzig Jahren. Weshalb sich die Adoleszenz zu verlängern begann. Mit zwanzig galt man bei uns als volljährig, und mit sechzig ging man in den Ruhestand (was rein statistisch gesehen mit dem Ende der Adoleszenz und dem Abschluß des aktiven Lebensalters zusammenfiel).

Mehr Details braucht es wohl nicht, um zu verstehen, dass man bei einem heutigen Durchschnittsalter von achtundsiebzig oder mehr Jahren vernünftigerweise nicht davon ausgehen sollte, dass die Adoleszenz bereits vor dem fünfundzwanzigsten oder sechsundzwanzigsten Lebensjahr abgeschlossen ist. Offenbar richtet sich das Erwachsensein nicht nach dem, was im Personalausweis steht oder was das Gesetz bestimmt. Die Adoleszenz endet, sobald man lernt, definitiv für sich selbst geradezustehen und somit die Verantwortung für das eigene Leben und die eigene Zukunft zu übernehmen. Wer die Adoleszenz erfolgreich hinter sich gebracht hat, ist in der Lage, seinen Eltern offen und ohne einen Funken Ironie oder Rache ins Gesicht zu