Hermann Hesse, am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen geboren, starb am 9. August 1962 in Montagnola bei Lugano. Das Werk Hermann Hesses, ausgezeichnet mit dem Nobelpreis 1946, erscheint im Suhrkamp Verlag.

Im Herbst 1922, wenige Monate nach Beendigung seiner indischen Legende »Siddhartha«, hat Hermann Hesse ein Liebesmärchen geschrieben, das ganz aus seinen dazu angefertigten Bildern entstanden ist. Er nannte es eine westöstliche Phantasie, die für den Wissenden eine ernsthafte Paraphrase auf das Geheimnis des Lebens, aber auch dem kindlichen Leser als ein heiteres Märchen zugänglich sei. Unser Band reproduziert die Originalhandschrift, welche Hesse der Mozart-Sängerin Ruth Wenger, für die das Märchen geschrieben und die zwei Jahre darauf seine Frau wurde, geschenkt hat. Da vielen heutigen Lesern die deutsche Handschrift des Manuskripts nicht mehr geläufig ist, wurde der Wortlaut des Märchens anschließend im Druck wiederholt. Unsere Druckfassung ist die von Hesse als letztgültig bestimmte. Sie weicht nur geringfügig vom Wortlaut der reproduzierten Handschrift ab. 22 eigens ausgewählte Hesse-Gedichte greifen verschiedene Aspekte des Piktor-Themas auf und variieren es. In seinem Nachwort erzählt Volker Michels, der Herausgeber der Briefe und nachgelassenen Schriften Hermann Hesses, die Entstehungsgeschichte des Märchens, die zugleich auch wichtige Rückschlüsse zu seiner Deutung ermöglicht.

»Man darf das Piktor-Märchen als eine Huldigung an Mozarts ›Zauberflöte‹ ansprechen … Die Metamorphose, die Piktor durchzumachen hat, ist ganz und gar nicht ungefährlich. Es spielen dabei eigenwillige, seelen- und menschenbildende Kräfte mit, die reines dichterisches Schöpfungsgut sind. Das beweist auch der Stil dieses zum Gleichnis verdichteten Liebesmärchens, seine musikoffene Form, seine übermütige, in besonders glücklichen Momenten sich in wirkliche Reimpaare überschlagende Sprache, und das beweisen die vielen kühnen, mythologischen Anspielungen. Wer weiß: vielleicht fällt es einmal einem begabten Musiker ein, diesen Märchentext als Unterlage für eine Oper zu verwenden. Er ginge ohne die geringste Veränderung – diese wäre auch unerlaubt – wundervoll in Musik und Bühnenbild ein.«

Otto Basler

Hermann Hesse

Piktors Verwandlungen

Ein Liebesmärchen, vom Autor handgeschrieben und illustriert,
mit ausgewählten Gedichten
und einem Nachwort versehen
von Volker Michels

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 19. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 122.

Lizenzausgabe für den Insel Verlag Frankfurt am Main

Piktors Verwandlungen: Copyright 1954 by Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Für die Gedichte: Copyright 1953 by Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.

Illustrationen und Nachwort © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1975

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-458-74375-0

www.insel-verlag.de

Inhalt

Piktors Verwandlungen,
Faksimile der Handschrift
für Ruth Wenger

Piktors Verwandlungen,
der Wortlaut des Märchens

Ausgewählte Gedichte

Nachwort

Faksimile

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Piktors Verwandlungen

»In ewigen Verwandlungen

begrüßt uns des Gesangs

geheime Macht hienieden …«

Novalis

Kaum hatte Piktor das Paradies betreten, so stand er vor einem Baume, der war zugleich Mann und Frau. Piktor grüßte den Baum mit Ehrfurcht und fragte: »Bist du der Baum des Lebens?« Als aber statt des Baumes die Schlange ihm Antwort geben wollte, wandte er sich ab und ging weiter. Er war ganz Auge, alles gefiel ihm so sehr. Deutlich spürte er, daß er in der Heimat und am Quell des Lebens sei.

Und wieder sah er einen Baum, der war zugleich Sonne und Mond.

Sprach Piktor: »Bist du der Baum des Lebens?«

Die Sonne nickte und lachte, der Mond nickte und lächelte. Die wunderbarsten Blumen blickten ihn an, mit vielerlei Farben und Lichtern, mit vielerlei Augen und Gesichtern. Einige nickten und lachten, einige nickten und lächelten, andere nickten nicht und lächelten nicht: sie schwiegen trunken, in sich selbst versunken, im eigenen Dufte wie ertrunken. Eine sang das Lila-Lied, eine sang das dunkelblaue Schlummerlied. Eine von den Blumen hatte große blaue Augen, eine andre erinnerte ihn an seine erste Liebe. Eine roch nach dem Garten der Kindheit, wie die Stimme der Mutter klang ihr süßer Duft. Eine andere lachte ihn an und streckte ihm eine gebogene rote Zunge lang entgegen. Er leckte daran, es schmeckte stark und wild, nach Harz und Honig, und auch nach dem Kuß einer Frau.

Zwischen all den Blumen stand Piktor voll Sehnsucht und banger Freude. Sein Herz, als ob es eine Glocke wär, schlug schwer, schlug sehr; es brannte ins Unbekannte, ins zauberhaft Geahnte sehnlich sein Begehr. Einen Vogel sah Piktor sitzen, sah ihn im Grase sitzen und von Farben blitzen, alle Farben schien der schöne Vogel zu besitzen. Den schönen bunten Vogel fragte er: »O Vogel, wo ist denn das Glück?«

»Das Glück?« sprach der schöne Vogel und lachte mit seinem goldenen Schnabel, »das Glück, o Freund, ist überall, in Berg und Tal, in Blume und Kristall.«

Mit diesen Worten schüttelte der frohe Vogel sein Gefieder, ruckte mit dem Hals, wippte mit dem Schwanz, zwinkerte mit dem Auge, lachte noch einmal, dann blieb er regungslos sitzen, saß still im Gras, und siehe: der Vogel war jetzt zu einer bunten Blume geworden, die Federn Blätter, die Krallen Wurzeln. Im Farbenglanze, mitten im Tanze, ward er zur Pflanze. Verwundert sah es Piktor.