Die Reise nach Larstetten

Die Turnachkinder im Winter

Der Mittwoch, an welchem die Familie Turnach in die Stadt ziehen wollte, rückte heran. Aber die Kinder hatten nicht Zeit, an den Umzug zu denken. Am Montag war ganz plötzlich ein Brief von Tante Doktor gekommen, in welchem sie Hans, Marianne und Lotti für die Herbstferien einlud.

»Papa, Papa, bitte, gelt, wir dürfen –!« riefen die drei, als Papa ins Zimmer trat.

»Ja, das ist nun die Frage«, sagte Mama zu Papa gewendet. »Niemand hat am Mittwoch Zeit, die Kinder nach Larstetten zu begleiten –«

»O, Mama, wir können allein reisen!« bat Hans. »Ich will gewiss acht geben und alles recht machen! In Konradzell müssen wir aussteigen und auf der andern Seite vom Stationshaus eine halbe Stunde warten. Der Zug für Larstetten steht dann schon da, und man kann zusehen, wie sie die Lokomotive heizen.«

»Ja, Mama!« flehte Lotti. »Es ist so furchtbar lustig, allein zu reisen! Ich will aber mein Billett selber haben, Hans!« Sie zog ein dickes altes Portemonnaie heraus. »Da, in das Extrafach kommt es.«

»So«, meinte Hans, »und dann, wenn du es dem Kondukteur zeigen musst, ist es natürlich nicht mehr da. Ich wollte wetten.«

»Vielleicht verlierst du deines noch vorher!« erwiderte Lotti kampflustig.

»Kinder, das heisst man nun, um die Haut des Bären streiten, bevor man ihn hat!« sagte Papa. Aber die Kinder merkten, dass er nichts Ernstliches gegen die Reise hatte.

»Sie sollen es einmal versuchen«, wendete er sich zu Mama.

»Wenn sie in Konradzell aus Versehen den Zug nehmen, zurückfährt, dann behalten wir sie eben wieder da.«

»Nein, nein, Papa, wir passen schon auf! Also dürfen wir ja –? Juhuh!«

»Mama«, rief der kleine Werner, der merkte, dass es sich um ihn gar nicht handle, »ich will auch mit!«

»Ach, Wernermännchen, du bist noch zu klein; du bleibst bei mir und bei Sophie und bei dem Schwesterlein.«

»Nein!« rief Werner kläglich. »Ich will auch nach Larstetten! Ich will auch sehen, wie man die Loko – die Lokomotive heizt!«

Es dauerte lange, bis Werner sich zufrieden gab mit dem Versprechen, er dürfe im nächsten Jahre ganz bestimmt nach Larstetten reisen.

Am Dienstag nachmittag wurde gepackt. Hans rannte mit den Schwestern hinauf in die Bodenkammer, um das Handköfferchen zu holen und die Rolle.

»Die Botanisierbüchsen hängen wir auch um; da geht viel hinein!« beschlossen die Kinder.

»Und ich brauche eine Schachtel, Sophie«, erklärte Lotti. »Ich will Trudi alle meine Muscheln mitbringen.«

»Ich wüsste für Otto etwas«, sagte Hans, »– etwas ganz Feines. Eigentlich hat Fritz Völklein ihn für mich gemacht; aber weil am Samstag Ottos Geburtstag ist – ja, ich bringe Otto den Bogen mit den Pfeilen!«

Marianne aber ging, ihre Puppe, das Julchen zu holen, das nun auch einmal auf der Eisenbahn fahren sollte.

»Das gibt ein hübsches Handgepäck!« sagte Mama lachend, als zu dem Köfferchen, der Rolle, den zusammengeschnallten Schirmen und den Botanisierbüchsen noch der Bogen, die blaue Schachtel und die Puppe kamen. »Ich will gern hören, wie viel von dem allem wirklich in Larstetten ankommt.«

»Wir lassen nichts liegen«, versicherte Marianne. »Onkel Alfred hat mir ein gutes Mittel gesagt: Wie er nach London und noch viel weiter gereist ist, habe er immer beim Aussteigen gedacht: Jetzt nur ruhig Blut; vier Stück müssen es sein.«

»Eins – zwei – drei«, zählte Hans »– neun; das ist eine Zahl, die man gut im Sinn behält.«

»Man wird den Kindern etwas zum Essen mitgeben müssen, Frau Turnach?« meinte Sophie. »Sie fahren über Mittag.«

»Mama«, bat Hans, »in Sommerweil hält der Zug zehn Minuten; da hat uns Papa das letztemal warme Würstchen geholt und Semmel. Bitte, dürfen wir's auch so machen, Mama! Weisst du, alles ganz wie rechte Reisende.«

»Also, Hans! wie rechte Reisende, vernünftig und besonnen!«

Der Zug fuhr um elf Uhr ab. Aber schon um halb elf standen die Turnachkinder in der Einsteigehalle.

»Das Ganze dauert dann länger«, erklärten sie.

Die Turnachkinder reisten selten. So eine Eisenbahnfahrt mit allem, was drum und dran hing, war ein ungeheures Vergnügen.

»Ah, das riecht schon so schön nach Reisen!« rief Lotti, die mit der Schachtel unterm Arm und den Schirmen in der Hand neben Hans stand. Sie schnupperte den Rauch ein, der die Halle erfüllte.

Hans aber war in die Betrachtung einer Lokomotive versunken. Ein Mann wischte mit einem Lappen an den Rädern und Stangen; es sah aus, als ob er das schwarze Ungetüm streicheln wollte, weil es so brav gelaufen war.

»He – phäs – tos, was heisst das?« fragte Hans den Fritz Völklein, der auf Frau Turnachs Bitte die Kinder begleitet hatte. »Hephästos hiess bei den Griechen der Gott der Schmiedekunst«, erklärte Fritz. »In seiner Werkstätte war viel Feuer und Getöse; also passt der Name nicht schlecht für eine Lokomotive.«

Marianne war vorn stehen geblieben und sah dem Strom von angekommenen Leuten nach. Männer rollten Handwagen vorbei mit hochaufgetürmten Koffern. »Rom« stand auf dem einen. Das war ziemlich unten auf Papas Wandkarte. »Frankfurt, Dresden« buchstabierte Marianne weiter. Wie viel Städte es gab und eine Menge fremder Menschen darin! Draussen in der Seeweid dachte man gar nicht an das ...

»Hallo, Marianne! Einsteigen!« rief Fritz Völklein. »Einsteigen oder dableiben!«

Er brachte die Kinder in den Wagen. Marianne und Lotti eroberten glücklich zwei Fensterplätze, und Hans stellte sich zwischen sie; so konnte man alles sehen und besprechen.

Die Gepäckstücke machten einige Schwierigkeiten. Der Bogen wollte nicht oben auf dem Köfferchen bleiben, und Lottis Botanisierbüchse fiel auch zweimal herunter, ihr fast auf die Nase.

»Na, ich muss sagen – so ein Kram!« brummte ein älterer Herr mit grauem Backenbart und grauer Reisemütze. »Ihr wollt wohl nach Amerika auswandern –? Übrigens seid ihr dann nicht im rechten Zug!«

»Nein, wir reisen nur nach Larstetten in die Ferien!« sagte Lotti und sah den Herrn vergnügt an. Der aber faltete eine grosse Zeitung auseinander und verschwand dahinter mit samt seinem Backenbart und seiner Mütze.

Fritz gab noch Ermahnungen:

»Nicht zum Fenster hinauslehnen, Lotti! Weisst, auf der Eisenbahn geht alles rasend geschwind. Im Hui saust man an eine Telegraphenstange und – weg der Kopf! Ja, lach nur!«

Dann schüttelte er den Kindern die Hand:

»Lebt wohl, lebt wohl! Grüsst mir den Otto und das Trudi! Otto soll ordentlich umgehen mit dem Bogen. Au – Hans! lass los!«

Fritz sprang ab. Der Zug tat einen Ruck und fing an zu pusten und zu rasseln: Tem-tem-tem- langsam und dann immer rascher: Temteretem, temteretem – Die Kinder sahen einander strahlend an; jetzt ging's los! Fast vergassen sie draussen Fritz Völklein, der schon weit zurück war und den Hut schwenkte.

»Ade, ade!« Die Kinder winkten mit den Taschentüchern, und Lotti liess das ihre flattern, als schon lange kein Fritz mehr zu sehen war, bis plötzlich – hui! nicht zwar Lottis Kopf, aber das Taschentuch davon flog. Die Kinder schrien auf.

»Das fängt gut an!« brummte der Herr mit der Mütze.

»Es war nur ein altes mit zwei Löchern; Mama hat mir's mitgegeben, die Hände abzuwischen«, beruhigte Lotti.

Aber das Gesicht des Herrn war schon wieder hinter der Zeitung. Nicht ein einziges Mal sah er hinaus, und es gab doch so ungeheuer viel zu sehen: Die Geleise mit den Weichen und Signalen, die Schuppen und Werkstätten, ein halbrunder Raum, in dem die Lokomotiven standen wie Pferde im Stall. Dann sauste der Zug hinaus aus der Stadt an Gemüsegärten und Wiesen vorbei; von ein paar neuen Häusern lachten Kinder herunter; am Bahndamm arbeiteten Italiener.

»Guckt, guckt!« rief Lotti. »Die Telegraphendrähte sind lebendig! Sie hüpfen hinunter, da – ganz tief! und wenn die Stange kommt, springen sie wieder hinauf! Nein, wie lustig!«

Aber als der Zug an einem grossen Walde vorbeifuhr, wurde es noch lustiger. Die Bäume tanzten; alle wirbelten durcheinander, hohe Buchen und niedrige junge Tannen; diese drehten sich wie Mädchen in grünen Röcken. Zuletzt wurde einem selbst wirblig zu Mut. Marianne schloss die Augen und hörte auf das Temteretem des Zuges:

»Jetzt ist mir, als führe der Zug rückwärts – nein, das wäre grässlich, wenn es wieder zurückginge –!«

Marianne riss die Augen auf, um sich zu versichern, dass man in der Richtung nach Larstetten fahre, und Lotti machte das Experiment nach. Dann fingen beide an zu singen nach dem Takte des rasselnden Wagens. Draussen flogen die Hügel vorbei und die Felder, wo die Bauern pflügten und einen Augenblick aufsahen nach dem Bahnzuge. Hin und wieder hielt man an einem mit Weinlaub umsponnenen Stationshaus. Hans schrieb sich die Ortsnamen in sein Notizbuch und allerlei dazu; später sollte das eine Reisebeschreibung geben.

Nun ging's an einer grossen Fabrik vorbei; links und rechts standen Häuser und Warengebäude; die Schienen verzweigten sich; der Zug pfiff und bremste.

»Sommerweil!« rief Hans und steckte sein Notizbuch ein. »Jetzt also die Würstchen! Ihr bleibt ruhig sitzen, Marianne! Die Restauration ist weit vorn.«

Er sprang ab und verschwand in der Menge der Reisenden.

»Wenn er nur recht warme bringt!« sagte Lotti, indem sie sich auf den Magen klopfte.

Es stiegen Leute aus und ein; Marianne sah immer nach Hans aus.

»Hoffentlich kommt er bald. Es ist, glaub' ich, höchste Zeit; alles rennt hin und her.«

Da, auf einmal – die Mädchen sahen sich starr an – begann der Zug zu fahren, wegzufahren ohne Hans –! Entsetzt schrien beide:

»Hans! Halten, halten –! unser Bruder ist noch nicht da –«

Unter lautem Weinen liefen sie an die Türe des Wagens.

»Hans, Hans –!« schrie Lotti und wollte vom Tritt abspringen. Ohne Hans konnte man doch nicht fahren!

Aber da stand breit ein Kondukteur auf der untern Stufe und versperrte den Weg:

»Oha, mein Fräulein! im Fahren springt man nicht ab!«

Und Marianne wurde ebenfalls zurückgehalten, und zwar von dem Herrn mit der grauen Mütze, der sie fest am Rockzipfel gepackt hatte.

Von aussen aber ertönte auch ein Geschrei. Es war Hans, der im grössten Schrecken dahergerannt kam.

»Halt, halt!« rief er atemlos. »Ich muss mit; ich muss zu meinen Schwestern –«

Vor Aufregung und Jammer bemerkte keins von den Kindern, dass der Zug seinen Lauf wieder verlangsamte.

»Da!« sagte der Herr mit der Mütze. »Jetzt steht er! Sie hängen ja bloss einen Wagen an. Wie kann man gleich so den Kopf verlieren –!«

Er liess Marianne los und setzte sich wieder mit seiner Zeitung. Die andern Reisenden lachten. Hans aber kam hereingestürzt; er konnte noch kaum reden vor Überraschung und Schrecken, und den Schwestern liefen die Tränen herunter. Doch als dann Hans das Papier aufmachte, wischte sich Lotti die Augen.

»Hast du doch keine Wurst verloren?« fragte sie.

Nein, es waren alle drei da und auch die Semmel. Und nun schmeckte nach der überstandenen Angst das Mittagessen doppelt gut; dazu erzählte man sich immer wieder, wie furchtbar es gewesen sei, als der Zug plötzlich angefangen hatte zu fahren.

»Das brauchst du nicht aufzuschreiben, Hans! das behältst du gewiss im Sinn«, sagte Marianne, während sie die Botanisierbüchse aufmachte, in welche die gute Frau Völklein Butterbirnen und Fenchelbrötchen gepackt hatte.

In Konradzell nahm Hans sich vor, recht vernünftig und besonnen zu sein, wie Mama ihm anempfohlen hatte, und stellte sich mit den Schwestern nahe zum Larstetter Zug. Es war nicht seine Schuld, dass gegen Ende der halben Stunde Wartezeit vorn beim Güterschuppen ein Kälbchen jämmerlich zu brüllen anhub.

»O, das Arme!« sagte Marianne und lief hin. Hans und Lotti folgten und entdeckten, dass das Kälbchen über eine Stufe hinuntergerutscht war und nicht mehr aufstehen konnte, weil der Strick zu straff zog. Es lag auf den Knien und sah die Kinder mit seinen grossen Augen an. Hans legte das Gepäck weg und versuchte, das Kälbchen hinaufzubringen. Es ging aber schwer. Das Kälbchen, das vielleicht auf seiner Reise schon allerlei Böses von groben Leuten und grossen Hunden ausgestanden hatte, begriff nicht, dass die Turnachkinder ihm helfen wollten. Es benahm sich störrisch und brüllte fort und fort. Schliesslich, als Lotti und Marianne mit aller Kraft von hinten schoben, kam es doch wieder auf die Beine. Hans band den Strick fester, damit das Kälbchen nicht noch einmal die Stufe hinunterfalle.

»Reiss halt nicht so, sondern steh still!« mahnte er, indem er das Tier auf den rauhhaarigen Rücken patschte.

Da ertönte eine laute, ärgerliche Stimme; die Kinder wandten sich zurück; es war der Herr mit der Mütze, der zu einem Waggonfenster hinaussah:

»Was ist –? wollt ihr nach Larstetten oder nicht? Im Augenblick fahren wir ab!«

Die Kinder rafften ihre Sachen zusammen und rannten zum Zug; der Kondukteur schob sie scheltend hinein, pfiff, und fort ging's!

»Grad noch recht!« sagte Marianne aufatmend.

Hans aber fuhr sich übers Haar. Das Reisen war doch eigentlich schwieriger, als man meinte. Indessen begegnete nun weiter nichts mehr, und nach einer kleinen Stunde sah man schon den Weissberg und die rote Turmspitze von Larstetten. Die Kinder griffen nach ihrem Gepäck.

»Nur ruhig Blut!« sagte Marianne. »Neun Stück müssen es sein.«

Wahrhaftig! alle neun Stück waren noch beisammen.

»Und Mama hat gemeint, wir verlieren die Hälfte«, sagte Marianne draussen, als ihr plötzlich aus dem Fenster ihre Jacke, die sie ausgezogen hatte, auf den Kopf flog.

»So«, sagte der Herr mit der Mütze, der die Jacke nachgeworfen hatte, »jetzt ist es mir dann aber recht, wenn ich nicht mehr Kindswärterin sein muss!«

»Er hat immer gebrummt; aber eigentlich war er doch nett!« fand Lotti, als sie hinter Hans über die Schienen hüpfte.

Ein lautes Freudengeschrei empfing die Turnachkinder; denn am Stationsgebäude standen nicht nur Otto und Trudi, sondern noch etwa zwei Dutzend andere Larstetter Buben und Mädchen.

Larstetten war ein ganz kleiner Ort. Dass die Doktorskinder Besuch bekamen, war ein Ereignis; alle Freunde und Freundinnen wollten am Abholen teilnehmen. Zuerst zwar liessen sie Otto und Trudi mit ihren Gästen vorausgehen und folgten kichernd und sich stossend. Aber als Otto sich umdrehte, um Lehrers Bernhard den schönen Bogen zu zeigen, kamen alle Buben herzu, und die Mädchen rückten auch näher, um zu hören, was da von einem Taschentuch, einem Kälbchen und von Würsten erzählt wurde.

»Du«, fragte Marianne Uhrenmachers Pauline. »Lebt doch der Peter noch?«

Der Peter war ein zahmer Rabe, den die Turnachkinder von früher kannten.

»Freilich«, sagte Pauline. »Und wir haben jetzt noch eine Merkwürdigkeit in Larstetten. Wir haben eine Amerikanerin –«

»Ja, und sie ist fast immer dabei, wenn wir etwas Lustiges machen«, fiel Otto ein.

»Sie hat einen kuriosen Namen«, erklärte Pauline weiter. »Auf deutsch heisst's Edith; aber wenn man englisch reden will, muss man sagen Idiss –«

»Eigentlich Idifs«, erklärte Trudi.

»Nein, Idids«, verbesserte Otto. Er machte einen seltsamen Mund und steckte die Zunge zwischen die Zähne, um das schwierige englische th herauszubringen.

Nun versuchten alle Larstetter- und auch die Turnachkinder ihre Kunst:

»Idids, Idifs, Idiss –« ging es durcheinander, als die Schar zum Städtchen hinein und über den kleinen Kirchenplatz kam.

»Was wollen Sie?« antwortete eine frische Stimme aus dem Pfarrgarten. »Tun Sie nicht stören mich!«

Die Kinder traten ans Gitter. Vor dem Hause neben Frau Pfarrers Oleanderbäumen stand ein etwa dreizehnjähriges Mädchen mit einer hellblauen Schleife im braunen Haar und versuchte, ein graues Kätzchen auf den Rücken des grossen weissen Pfarrspitzes zu setzen. Der Spitz knurrte. Er war ein wackeres Tier und wusste manches Kunststück zu machen; aber was ihm nun da zugemutet wurde, ging doch über alles Mass. Und das Kätzchen wollte auch nicht, sondern miaute ärgerlich.

»Was machst du?« rief Otto. »Das geht nicht!«

»Ich gebe Lektion an diese Tieren«, sagte Edith. »Ich auch muss lernen bei Onkel Pfarrer jedes Vormittag. Guten Abend, kleine Mädchen! guten Abend, kleine Knabe!« wandte sie sich den Turnachkindern zu, während die kleine Katze die Pause benutzte, um auf das Fenstersims zu springen, von wo sie mit feindselig erhobenem Schwanze auf den Spitz herabsah, der sie anbellte.

Hans bot Edith höflich die Hand, obgleich die Anrede ihn etwas kränkte. Des Mädchens Augen aber fielen auf den Bogen.

»Feiner Gewehr!« sagte sie anerkennend. »Zeig, Otto –«

Sie spannte den Bogen und schoss den Pfeil hoch zum Dach des Waschhauses hinauf.

»Schlecht getrefft!« rief sie. »Ich habe wollen durch den Loch von die Kamin.«

Lotti lachte hell auf, weil Edith alles so verkehrt sagte.

»Warum lachen Sie?« fragte Edith scheinbar ernsthaft. »Es ist sehr traurig, dass deutsche Sprache hat so viel unnütze Worten: der, die, das, dem, den – horrible!«

Edith wollte eben den Bogen noch einmal spannen. Aber um die Ecke kam Tante Doktor.

»Ja – Kinder! wo bleibt ihr denn stecken mit Sack und Pack –? Aha, Edith –! Nun, trennt euch jetzt für einmal. In unserm Larstetten findet man sich ja immer wieder.«

»Wir wollen sein Freunde«, sagte Edith, indem sie den Turnachkindern die Hände schüttelte.

»Gud bei!« rief Otto sich verabschiedend in den Pfarrgarten zurück. »Das bedeutet nämlich, leb wohl«, erklärte er Hans. »Man schreibt es aber g-o-o-d b-y-e. Im Englischen ist die Hauptsache, dass man alles ganz anders sagt, als es eigentlich heisst.«

Die Tante Doktor hatte Mühe, die Kinder vor sich herzutreiben. Immer drehten sie sich wieder um:

»Gud bei, Idifs, gud bei!« Besonders die Turnachkinder fanden es prächtig, nun auf einmal englisch sprechen zu können.

WIE ES AUF DEM LARSTETTER JAHRMARKT ZUGING

Jedes Jahr im Herbst war Markt in Larstetten. Das war immer ein grosses Vergnügen. Schon in aller Frühe wurden die Kinder am Freitag geweckt. Wagen mit quiekenden Schweinen rasselten über das holperige Pflaster. Laut schwatzende Frauen kamen daher mit Körben auf dem Kopfe. Einige Buben mussten bereits Einkäufe gemacht haben; schrille Pfeifen- und Trompetentöne drangen herauf.

»Geld habe ich ziemlich viel«, sagte Trudi beim Frühstück. »Ich hab noch zuletzt vier Zehner verdient!«

»Potz! mit was denn?« fragte Hans.

»Ja, es war gar nicht so lustig. Allemal am Samstag haben wir zwei Stunden lang gejätet. Man bekommt einen ganz steifen Rücken. Aber ich hab immerfort an das Karussell gedacht. Im ganzen hab ich 70 Rappen Marktgeld.« Trudi klapperte freudig mit der gelben Hornbüchse, die ihr als Börse diente.

Die andern überzählten auch ihren Besitz. Mama hatte den Turnachkindern zum Glück etwas Taschengeld mitgegeben. Eilig ging's nun auf die Strasse hinunter. Es war kalt und neblig. Undeutlich tauchten die Merkwürdigkeiten des Larstetter Marktes aus der weissen Luft auf. Vor dem Doktorhaus befand sich ein Stand mit Mützen und Hüten, daneben einer mit Schuhen und einer mit geblümten Stoffen; das war nicht besonders interessant. Dann aber kam eine Geschirrbude, von der man die Mädchen nicht wegbrachte; denn sie hatten einen Korb mit Puppengeschirr entdeckt, mit kleinen Tassen, Milchkrügen und braunen Tiegelchen, die man aufs Feuer stellen konnte. Marianne und Lotti kauften zusammen ein weiss und gelbes Töpfchen, und Trudi nahm sechs kleine blaue Teller, die ihr die Händlerin zu 40 Rappen erliess. Dann ging's weiter. Aber auf einmal, als Marianne zurücksah, war Trudi stehen geblieben.

»Was hast du?« fragte Marianne.

»Mir ist –« Trudi schluckte halb weinend. »Mir ist eingefallen, dass ich jetzt schon viel weniger Geld habe. Und ich wollte noch Abziehbilder kaufen und eine Waffel – und dann das K – K –«

Das Karussell blieb im Halse des schluchzenden Trudi stecken.

Da beschlossen Marianne und Lotti, dem von Reue gequälten Cousinchen zwei Teller abzukaufen, worauf Trudi wieder lachte und mit den beiden die Buben einholte, die vor einem Mann in grünem Rock standen. Er hatte keine Bude, nur einen Tisch; aber er redete sehr viel und sagte, er könne alles, was zerschlagen sei, wieder ganz machen.

»Oh, o weh, o weh!« rief er und hielt zwei Scherben in den Händen mit einem schrecklichen Gesicht des Jammers, der sich plötzlich in die grösste Heiterkeit verwandelte, sowie die Stücke wieder aneinander waren.

»Wenn ich nur solche Grimassen machen könnte!« sagte Otto bewundernd und stellte einige Versuche an.

Marianne aber wurde gegenüber festgehalten. Da sass eine Frau vor einem Kissen, in dem sehr viele Nadeln steckten mit Fäden, und an jedem Faden hing ein Hölzchen. Wenn die Frau die Hölzchen recht rasch übereinander warf, so entstand eine schöne Spitze. Es war wie eine Zauberei. Hans musste Marianne schliesslich am Arm fortziehen.

Die Dreissigrappenbude war weiter oben. Viele Leute standen schon davor. Es war aber auch zum Stillstehen. Hier konnte man alles, geradezu alles haben: Puppen, Dominospiele, Malhefte, Federnschachteln, Perlschnüre, Handwerkszeug, nette Taschenmesser, kleine Käfige mit gelbwollenen Vögeln, Uhren, kurz, was sich nur denken liess.

»Hört«, flüsterte Lotti. »Balbine hat einmal gesagt, man solle nie so schnell sein auf dem Markt; sie halte immer die Hand in der Tasche und spaziere zuerst bloss so vorbei.«

Doch kaum hatte Lotti den weisen Rat gegeben, so schrie sie laut auf:

»O, o, ein Kaleidoskop!«

»Ein – was?« fragte Trudi.

»Ein Kaleidoskop!« Und Lotti fuhr mit der Hand, die sie hatte in der Tasche behalten wollen, nach einer kleinen mit lila Papier überzogenen Röhre. »Man guckt hinein und dreht es. Dann sieht man lauter gelb und rot und blaue Figuren, die sich immer bewegen, Trudi! Wie lebendige Sterne. Es ist furchtbar nett!«

»Jetzt geht es dir dann wie vorhin dem Trudi!« warnte Otto; aber im selben Moment fiel sein Auge auf einen Kompass.

»Hans, sieh –!«

»Ach, das kann doch kein rechter Kompass sein für 30 Rappen –« sagte Hans leise.

»Doch, doch«, erwiderte Otto eifrig. »Sieh, das ist Norden, und dann kommt Nordwest! Wenn ich im Sommer wieder bei euch bin und wir im dicken Nebel auf den See hinausfahren, so haben wir mit dem Kompass immer die Richtung!«

»In den Sommerferien gibt es ja gar keinen dicken Nebel.«

Otto liess sich jedoch nicht abbringen. Entschlossen zählte er sein Geld heraus.

»Ich häng ihn gleich um. Hans, gib mir ein wenig Bindfaden!«

Hans hörte nicht. Er hatte einen kleinen Hammer ergriffen und wiegte ihn in der Hand:

»Genau so einen hätte ich eigentlich schon lang gebraucht.«

»Hans!« flüsterte Marianne. »Wir haben ja zwei daheim. Besinn dich doch noch –«

Plötzlich aber entdeckte sie eine kleine Schachtel, hinter deren Glasdeckel vier Strähnchen bunter Perlen lagen. Da vergass sie selbst das Besinnen, und im gleichen Augenblick, da Hans seinen Hammer von der Händlerin in Empfang nahm, bot ihr der Mann die eingewickelte Perlenschachtel herüber.

So, jetzt waren alle fünf Kinder ungefähr gleich weit in ihren Finanzen. Balbine hatte gut reden! Vor diesem Dreissigrappenstand wäre sie gewiss auch nicht vorbeispaziert mit der Hand in der Tasche!

Nun war es aber höchste Zeit, weiter zu gehen. Trudi stand in Gefahr, sich schon wieder in einen Handel einzulassen.

»Trudi, du bist wirklich zu dumm!« sagte Otto. »Eine Uhr, die nicht geht –!«

»Aber man kann ja den Zeiger drehen. Und von meinem Platz in der Schule sehe ich grad auf den Kirchturm; da könnte ich die Uhr immer richten –«

»Bis Herr Fink sie dir wegnimmt! Nein, Trudi –!« Otto zog die Schwester aus dem Bereich der verführerischen Uhr weg. »Komm, jetzt gehen wir zu den Waffeln!«

Die Waffelbude stand an der Ecke des Seilergässchens. Ohne sie liess sich der Larstetter Jahrmarkt nicht denken. Es war ein Hauptvergnügen, da eine frische braungebackene Waffel zu kaufen, nachdem man eine Weile zugesehen hatte, wie die dicke Frau in der Haube die langstielige Form in den Teig tauchte, dann in die Pfanne hielt und hierauf den fertigen Kuchen von der Form klopfte und mit Zucker bestreute.

Von ihren Waffeln herunterbeissend lenkten die Kinder ihre Schritte zur Halde. Die Sonne schien jetzt hell, und von der Sägenwiese herauf tönte lustig und einladend die Musik des Karussells.

»So, und den Lebkuchen für die Josephine!« rief Otto plötzlich anhaltend. Josephine war die Köchin.

»Dort hat's Lebkuchen!« deutete Lotti in eine Seitengasse, wo auch noch ein paar Buden standen. Ein altes Männlein sass da und hielt Lebkuchen feil.

»Beim Rathaus ist ein viel grösserer Stand«, meinte Otto. »Dort kaufen alle Leute.«

»Vielleicht hat der Mann aber auch gern, wenn man zu ihm kommt«, erwiderte Marianne und ging zu dem Alten, der freundlich nickte.

»Brav einkaufen! Lauter gute Ware!« rief er und legte seine Lebkuchen her.

»Wir möchten einen für zehn Rappen«, sagte Otto.

»Fünf Kinder und bloss einen kleinen Lebkuchen –?« Der Alte machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Wir haben eben schon Waffeln gekauft, und jetzt möchten wir zum Karussell«, erklärte Lotti.

»O jeh, o jeh! heut geht das Geschäft doch gar nicht!« jammerte das Männchen. »Es kommt kein Mensch da vorbei, und wenn einer kommt, so hat er schon eingekauft. O jeh!«

Betrübt schob er die Pakete wieder zusammen.

Die Kinder sahen einander an und berieten leise, bis sie zu dem Entschluss kamen, zusammen einen runden Lebkuchen für 25 Rappen zu kaufen.

»So ist's recht!« sagte das Männlein und suchte den bestgeformten Kuchen aus. »Und wenn man etwa bei euch zu Haus noch mehr brauchen sollte, so denkt an mich.«

Die Kinder versprachen es. Es war jedoch schwer, das Lebkuchenmännlein im Sinn zu behalten. Auf der Sägenwiese gab es neben dem Karussell noch ein Kasperletheater; das war über alle Beschreibung lustig. Am Nachmittag war grosse Vorstellung. Es trat ein Sultan Schurimuri auf mit seinem Diener Karabatschi, und dann der freche Kasperle, der eine Reihe von Missetaten ausführte und sich immer hinausredete, ja den stolzen Sultan sogar in eine Kiste sperrte. Auf diese Kiste setzte er sich und sang: »Tirallala, tirallala!« bis der Herrscher der Hölle erschien, schwarz und grauenvoll, und den verbrecherischen Kasperle davon schleppte.

»Wie schade!« riefen Lotti und Trudi, als nach dieser Höllenfahrt das Stück zu Ende war.

Sie trösteten sich dann aber mit der Aussicht auf eine zweite Vorstellung um drei Uhr. Inzwischen konnte man wieder zum Karussell oder ins Städtchen hinauf zu den Verkaufsbuden gehen. So wären die Kinder beständig von einer Herrlichkeit zur andern hin und her gelaufen, wenn nicht schliesslich etwas Besonderes sie festgehalten hätte ...

Der Lärm des Jahrmarktes drang nur von Ferne in den Pfarrgarten. Frau Pfarrer pflückte vom Spalier die letzten Birnen; Spitz sah ihr zu, und die schwarze Katze lag in der Sonne. Beide hatten heute frei; denn Edith war nach dem Essen gegangen, sich den Markt anzusehen. Frau Pfarrer wandte sich ein paarmal nach der Strasse; jetzt sollte das Kind eigentlich zurück sein.

Da kamen Doktors Otto und Hans Turnach herangerannt:

»Guten Abend, Frau Pfarrer –«

»Guten Abend, Otto! Wisst ihr vielleicht, wo Edith ist?«

»Ja, sie steht in einer Bude an der Trümpengasse und verkauft Lebkuchen –«

»Was sagt ihr? Wo steht sie –?«

»In einer Bude und verkauft Lebkuchen. Es ist ein ganzes Gedränge um sie herum, und wir sollen Einwickelpapier holen –«

»In einem Lebkuchenstand – auf dem Jahrmarkt – nein, das ist nun doch zu arg! David –!«

Der Herr Pfarrer sah oben zu dem grün umrankten Fenster heraus und lachte. Er hatte die Geschichte mitangehört.

»Rege dich nicht auf, Berta! Ediths Taten sind manchmal etwas ungewöhnlich; aber sie meint's gut.«

»Nein, David, was zu viel ist, ist zu viel –«

»Marianne und Lotti und Trudi sind auch in dem Lebkuchenstand«, fuhren Hans und Otto in ihrem Bericht fort.

Frau Pfarrer seufzte erleichtert auf.

»Und der Mann ist sehr froh, und wenn Sie uns, bitte, Papier geben wollten – Edith hat gesagt, wir sollten schnell wieder kommen –«

»Siehst du, Berta«, sagte der Herr Pfarrer. »Gib den Buben, was sie brauchen. Zu deiner Beruhigung und zu meinem Vergnügen gehe ich nachher gleich hinüber in die Trümpengasse und sehe, wie sie es treiben.«

Das mit der Lebkuchenbude war so gekommen: Edith hatte in der Hauptgasse vor einem Stande, wo man nach Scheiben schiessen konnte, die Turnach- und Doktorskinder getroffen.

»Ich kann nicht verständen«, sagte sie, »dass Tante Pfarrer mich verbietet zu schiessen hier. Ist doch eine sehr hübschen Sache.«

Aber sie widerstand der Versuchung und schlenderte mit den Kindern weiter.

Auf einmal lief Hans um die Ecke. Der Lebkuchenmann war ihm eingefallen. Der kleine Alte stand wie am Morgen da und sah nach Käufern aus.

»Einkaufen, einkaufen!« rief er mit seiner dünnen Stimme, als er die Kinder wieder sah.

Die Kinder waren etwas verlegen; denn sie hatten gar kein Geld mehr. Und der Edith, die sonst immer viel Taschengeld besass, war es heute auch ausgegangen.

»Das ist ein Unglück«, sagte sie. »In zwei oder drei Tage ich bekomme wieder von mein Papa; aber jetzt ich habe nur noch diesen Zwanzig.«

Dafür nahm sie einen Kuchen. Sie sah umher. Warum kamen denn keine Leute?

»Sie haben eine schlechte Platz hier!« sagte sie.

»Ja freilich«, nickte das Männlein. »Sonst geht immer meine Frau auf die Märkte. Sie versteht das besser.«

»Warum Sie haben nicht ein weisses Mütze und Schürze wie die Frau,in der Waffelladen?«

Der kleine Mann sah sie an.

»Warum Sie machen nicht Lärm? In Amerika man hat eine Trommel oder ein Glocke und die Leute kommen und kaufen –. Geben Sie acht –«, man sah, dass Edith ein lustiger Gedanke kam. »Geben Sie acht! ich will Sie zeigen, wie man macht bei uns!«

Sie nahm einen Bogen, weisses Papier, heftete es mit einer Stecknadel zu einer Mütze zusammen und setzte sie auf ihr Haar. Dann schlüpfte sie zu dem kleinen Alten in die Bude hinein. Die Mütze stand ihr sehr gut.

»Edith, wir wollen auch Mützen! wir wollen auch helfen!« rief Lotti, angefeuert durch das Beispiel.

»Ja, ist sehr gut!« erwiderte Edith. »Jeden muss haben ein weisses Mütze. Sechs Bäcker von Kuchen in einem Reihe, und man denkt, es ist ein sehr grosse, gute Geschäft. Otto, wir brauchen eine Glocke. Besinne dir, wer hat ein Glocke!«

Otto rannte davon und kam zurück mit einer laut bimmelnden Kuhglocke.

Es gab ein starkes Gedränge in dem kleinen Lebkuchenstand, als nun alle sechs Kinder drin waren. Der kleine Mann wusste nicht recht, was er sagen sollte, und rieb sich hinter dem Ohr.

Drei Bauern, die in der Hauptgasse vorbeigehen wollten, drehten sich um bei dem lauten Schall der Glocke; ein paar Frauen aus den Nachbarhäusern traten auch näher.

»Meine Herren und Damen, kommen Sie schnell kaufen, vor es ist zu spät!« rief Edith mit heller Stimme. »Hier, nehmen Sie von dieses ausserordentlich schöne Lebkuchen für –« sie wandte sich zu dem Männlein – »für dreissig Rappen!«

Die Leute bildeten schon einen Kreis um die Bude, in der sechs Kuchenbäcker standen mit weissen Mützen und lustigen Gesichtern. Das Männlein dahinter sah man kaum.

»Für dreissig Rappen! Ein ganz unglaubig kleine Preis!«

Das wunderliche Deutsch machte die Leute lachen.

»Ja, Jungfer, wir haben eben schon eingekauft, beim Rathaus drüben«, sagte ein Bauer.

»Ist gut. Jene Mann am Rathaus will verkaufen Lebkuchen, und wir wollen verkaufen, und kleine Kinder zu Hause wollen haben Lebkuchen. Also, bitte, nicht stehen hier und verlieren Zeit!«

Wieder ertönte ein lautes Gelächter, das andere Neugierige herbeilockte.

»Die versteht das Geschäft«, sagte der Bauer und liess sich drei runde Lebkuchen geben. Zwei Frauen kauften kleine Pakete. Und nun rückte eins nach dem andern heran, um der munteren Verkäuferin mit dem Kauderwelsch etwas abzunehmen.

Das Lebkuchenmännlein fuhr geschäftig umher. Es kam fast nicht nach mit Geldeinziehen und -herausgeben; Marianne wickelte ein; Hans und Otto handhabten die Glocke, während Lotti und Trudi an den Gestellen hinaufkletterten, um neue Pakete herunterzuholen. Und nun erschien der Herr Pfarrer und lachte herzlich und kaufte natürlich. Und dann langte Tante Doktor an, erstaunt und belustigt, und kaufte auch. Und Frau Pfarrer kam ebenfalls, und Edith sah, dass sie wie die andern lachte, und rief:

»Hier, ich habe dich der letzte Pack Mandelkuchen behalten! Wir mussten diese Mann ein wenig helfen. Er immer stand da und nichts verkaufte!«

Also kaufte Frau Pfarrer die Mandelkuchen und noch drei grosse Pakete dazu. Der kleine Alte hatte sich ganz überwältigt auf seine Kiste im Hintergrund gesetzt. Er wollte immer zählen, was er schon eingenommen; aber beständig kam neues Geld hinzu.

»Es ist unerhört, unerhört!« sagte er vor sich hin. »Was wird doch meine Alte sagen daheim! Die wird mir gesund vor lauter Freude.«

Schon dunkelte es stark. Hans und Otto zündeten ein paar Kerzenstümpfchen an. Als aber der Polizeidiener Drehbaum sich durch die Leute schob und mit strenger Miene erklärte, die Marktzeit sei um, es müsse geschlossen werden, da war der Vorrat des Lebkuchenmännleins zu Ende, rein zu Ende.

»Ausverkauft!« schrien die zwei Buben und warfen ihre Mützen in die Höhe.

»Ihr habt Glück gehabt!« sagte Drehbaum zu dem Männlein.

»Ja, über Verdienen!« sagte das Männlein. »Aber der liebe Herrgott wird es wegen meiner Alten daheim so gerichtet haben. So will ich ihm halt recht danken und dem gescheiten Jüngferlein da auch und den andern, tausendmal!«

Er schüttelte den Kindern ringsum die Hand. Unter Hallo und Glockengeschell krochen die sechs aus der Bude heraus.

»Und nächstes Jahr«, erklärte Lotti dem Lebkuchenmännlein zum Abschied, »wenn wir in den Herbstferien nach Larstetten kommen, helfen wir Ihnen wieder!«

DAS ALTE JAHR GEHT ZU ENDE

Am folgenden Morgen wurde im Tageslicht alles aufs neue mit Jubel begrüsst und bewundert, probiert und ringsum gezeigt. Dann aber begannen Marianne und Lotti gleich mit der Puppenstube zu spielen. Die Familie wurde zum Frühstück an den Tisch gesetzt. Die Puppenmama aber hörte nebenan schreien und ging, um das Kleinste aus dem Schlafzimmer zu holen. Dann kam Besuch: Die drei Badepuppen, die im Winter Kleider trugen wie andere Leute, erschienen, um die neue Wohnung zu betrachten.

»Einen Garten haben Sie wohl nicht?« fragte die Älteste der Badepuppen.

»Nein«, antwortete der Familienvater. »Im Sommer ziehen wir immer aufs Land –«

»Lotti«, unterbrach Marianne das Spiel, »wir könnten das wirklich machen! Wir machen den Umzug in die Seeweid – .« Sie lief zu Haus. »Hans, wir brauchen das Schiff! Es muss alles aufgeladen werden!«

Hans sass auf seinem Schlitten, vertieft in »Sigismund Rüstig«»»Stör' mich nicht immer!« sagte er und las die Stelle fertig, wo der treue Steuermann von dem Wilden tödlich verwundet wurde, als er für die belagerte Familie Seagrave Wasser holte. Dann aber sah Hans hinüber zu der Puppenstube und klappte das Buch zu.

»Ihr müsst es richtig machen«, sagte er. »Ihr braucht den langen blauen Teppich, der den See vorstellt, und dann sollte eine Treppe gebaut werden –«

Marianne brachte den Teppich, während Hans eine breite Treppe herstellte, die vom Fenstertritt herunterführte. Hier landete das Schiff, das einen flachen Boden hatte, und nun wurde der sämtliche Hausrat die Treppe hinunter auf das Schiff geschafft. Als alles hochgetürmt aufgeladen war, setzte sich die Familie oben auf das Sofa und den quergelegten Schrank, und das Schiff fuhr, von Hans an einer Schnur gezogen, ab. Zuerst ging es friedlich und in gerader Linie nach dem Moosgärtchen unter dem Christbaum, das die Seeweid vorstellte. Dann aber geschah, was noch nie begegnet war, so oft man in Wirklichkeit schon zur Seeweid gezogen war: Es erhob sich ein starker Sturm und Wellenschlag, verursacht durch Marianne und Lotti, welche anfingen, an dem Teppich zu ziehen und zu schütteln. Hans liess die Schnur los, so dass das Schiff nicht mehr vorwärts kam, sondern, ganz den Wellen preisgegeben, immer stärker hin- und herschwankte.

»Jetzt kommt eine furchtbare –!« rief Marianne, indem sie den Teppich aufwarf.

»O!« schrie Werner, der auch dabei stand, und im selben Augenblick schlug das Schiff auf die Seite. Alle Habe und, was noch schlimmer war, die ganze Familie stürzte ins Wasser. Es gab ein lautes Jammergeschrei.