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Stark gegen Stress

GUY BODENMANN | CHRISTINE KLINGLER

STARK

gegen STRESS

Mehr Lebensqualität im Alltag

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Beobachter-Edition

© 2013 Axel Springer Schweiz AG

Alle Rechte vorbehalten

www.beobachter.ch

Herausgeber: Der Schweizerische Beobachter, Zürich

Umschlaggestaltung und Reihenkonzept: buchundgrafik.ch

Umschlagfoto: fotolia

Autorenfoto Christine Klingler Lüthi: Patrick Rohr

Satz: Cornelia Federer

e-Book: mbassador GmbH, Luzern

ISBN 978-3-85569-587-4
eISBN 978-3-85569-723-6

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

image Mehr Spielraum im Umgang mit Stress

Das Modell des Stresshauses

Widerstandskraft, Wind und Wetter

Warten und pflegen

Die Ebenen des Stresshauses

Fertig gebaut ist nie

Zwischenfrage: Ist jeder an seinem Stress «selber schuld»?

image Der alltägliche Stress mit dem Stress

Stress früher, Stress heute

Stressquelle Nummer 1: tägliche Widrigkeiten

Die Abschaffung der Langeweile

Gestresst = wichtig?

Was im Job besonders stresst

Arbeitsbedingungen, die Stress entgegenwirken

Mutterstress, Familienstress

Volle Agenda auch beim Nachwuchs

Selbsttest: Mein persönliches Stress-Manhattan

Stress als subjektives Geschehen

Das moderne Stressverständnis

Eine Frage des Gleichgewichts

Innere und äussere Anforderungen

Selbsttest: Wo fühle ich mich über-, wo unterfordert?

Zum Überlegen: Innere Stimmen, die Unrealistisches verlangen

Innere und äussere Ressourcen

Selbsttest: Über welche inneren und äusseren Ressourcen verfüge ich?

Zum Überlegen: Schätze ich meine Ressourcen richtig ein?

Wie die Gedanken, so die Gefühle

Faktoren, die das Stresserleben beeinflussen

Was uns stresst – und wie wir reagieren

Scheidung und Lottogewinn: kritische Lebensereignisse

Berufswahl, Lebensbilanzierung & Co.: Entwicklungsaufgaben

Tägliche Widrigkeiten: die vermeintlichen Banalitäten des Alltags

Bedrückt oder beschwingt: emotionale Reaktionen

Selbsttest: Mein Stressfass

Gar kein Stress? Auch nicht gut

Wohin mit all dem Ärger?

Kleine Ursache, grosse Wirkung: Stressintensität

Konstrukte: alte Geschichten mit Tiefenwirkung

image Stress und die Folgen

Folgen für die Gesundheit

Erbe der Evolution

Sofort-Alarm und Energiemobilisierung

Stress und die Formbarkeit des Gehirns

Wie Stress die Gesundheit schädigt

Auswirkungen auf Körper, Psyche, Verhalten

Selbsttest: Welche Stresssymptome beobachte ich zurzeit an mir?

Folgen für die Partnerschaft

Wie Stress von aussen die Paarbeziehung belastet

Die schwierigen Seiten des Partners

Und die Kinder?

Selbsttest: Leidet meine Partnerschaft unter meinem Stress?

Die Eltern als Modell

Folgen für das Berufsleben

Selbsttest: Färbt der Stress auf mein Wohlbefinden am Arbeitsplatz ab?

image Fundamental: der Selbstwert

Bindungssicherheit und Stresserleben

Bindung und Selbstwert

Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter

Selbstwert und Kontrollüberzeugung

Selbsttest: Meine Kontrollüberzeugung

Kann man eine ungünstige Kontrollüberzeugung verändern?

Schein und Sein

Sieht man mir an, wie gut mein Selbstwert ist?

Selbsttest: Wie steht es mit meinem Selbstwert?

Das Hochstapler-Selbstkonzept

Der unersättliche Drang nach Bewunderung

Weitere Ausprägungen eines mangelnden Selbstwerts

image Wertschätzung und Anerkennung

Wie Wertschätzung und Selbstwert Zusammenhängen

Wenn die Andockstellen für Wertschätzung fehlen

Anerkennung im Alltag

Geben und Nehmen in Ausgewogenheit

Sich selbst anerkennen, von anderen geschätzt werden

Zum Überlegen: Mein Umgang mit Fremd- und Selbstanerkennung

Gratifikationskrise und Burn-out-Alarm

Zum Überlegen: Mangelnde Gratifikation?

Ausgebrannte Familienfrauen

Die tendenz, sich zu verausgaben

Zum Überlegen: Verausgabungsneigung und Distanzierungsunfähigkeit

image Aktuelles Befinden: Leisten, Lieben, Geniessen

Leistungsfähigkeit und Stress

Wieso Leistungsfähigkeit so wichtig ist

Leistungsfähig durch Motivation

Leistungsfähig dank Kompetenzen

Sich abgrenzen können, fokussiert bleiben

Leistungsfähigkeit ade: Burn-out

Verbunden mit anderen: Liebesfähigkeit

Was es bedeutet, liebesfähig zu sein

Tragfähige Beziehungen pflegen

Geniessen können

Im Reich der Sinne

Stress und Exzess

Ein alter Grieche als Stressexperte

Der Drang nach mehr

Selbsttest: Leistungs-, Liebes-, Genussfähigkeit

image Bewusste Lebensführung

Zeit zählt

Ein dehnbarer Begriff

Zum Überlegen: Mein Umgang mit Zeit

Zeit für die Kinder

Zeit für den Partner, die Partnerin

Zum Überlegen: Zeit für andere

Zeit, um anderen Wertschätzung zu geben

Ernährung und stressausgleichende Aktivitäten

Anti-Stress-Ernährung

Das verstärkt den Stress

Was sonst noch guttut

Zum Überlegen: Meine stressausgleichenden Aktivitäten

Bewegung, Bewegung

Ich weiss ja, dass ich sollte

Zum Überlegen: Mein Körpergefühl

Genussmomente gegen die Widrigkeiten des Alltags

image Strategien der Stressbewältigung

Vermeidbaren Stress auch wirklich vermeiden

Kontrollüberzeugungen verändern

Negativen Denkweisen eine neue Richtung geben

Das Über-Ich humanisieren

Prioritäten setzen, eigene Grenzen respektieren

Zum Überlegen: Sich abgrenzen und Perfektionismus vermeiden

Nicht vermeidbaren Stress konstruktiv bewältigen

Probleme lösen sich selten von allein

Schritt 1: Ruhe bewahren

Schritt 2: Situation auf ihre objektiven Merkmale überprüfen

Schritt 3: Probleme wirksam lösen in sechs Schritten

Blitzableiter: Wenn Sie selber nicht weiterkommen

Paare: Gemeinsam gegen Stress

Den Partner, die Partnerin verstehen

Emotionale Selbstöffnung: die Trichtermethode

Selbsttest: Wie gehe ich mit meinem Partner/meiner Partnerin bei Stress um?

Bin ich jetzt auch Therapeut?

Gedanken, Gefühle, Konstrukte: ein Beispiel

Unterstützung geben

Zum Schluss eine Rückmeldung

image Selbstverwirklichung, Werte und die Sinnfrage

Entscheide, Entscheide

Freiheit und Kreativitätsdruck

Generation Option

Do the right Thing. Oder einfach nicht das Falsche?

Zum Überlegen: Wie entscheide ich?

Sich üben im Risikomanagement

Zum Überlegen: Meine Entscheide und Werte

Werte als Orientierungshilfe

Was es bedeutet, gegen die eigenen Werte zu handeln

Zum Überlegen: Verbindlichkeit und Loyalität

Eine Frage des Vertrauens

Zum Überlegen: Wie reagiere ich auf einen Vertrauensbruch?

Werte und das Gefühl der Ohnmacht in einer globalisierten Welt

Engagement in Paarbeziehung und Familie

Zum Überlegen: Wie halte ich es mit dem Commitment?

Stress und die Sinnfrage

Was hat Sinn mit Stress zu tun?

Plus eine Dimension

Schicksalsschläge und Sinnkrisen

Zum Überlegen: Die Frage nach dem Sinn

Sinn suchen – und eventuell finden

image Anhang

Progressive Muskelentspannung (Anleitung)

Links

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser

Bücher zum Thema Stress gibt es Dutzende. Was also hat uns dazu bewogen, ein weiteres zu schreiben?

Eines unserer Hauptanliegen war, den Stressprozess als den komplexen und vielschichtigen Vorgang nachzuzeichnen, der er ist. Dabei spielen der Selbstwert und die Sozialisationsgeschichte eines Menschen eine Rolle, aber auch die Wertschätzung dessen, was er tut, seine Fähigkeit, zu leisten, zu lieben und zu geniessen, seine Werte, die Sinnfrage und die Dimension der Zeit. In jahrelanger eigener Forschung und klinischer Arbeit wuchs der Wunsch, einen neuartigen Ratgeber zu schreiben, welcher für diese vielfältigen Aspekte des Stressgeschehens sensibilisieren kann.

Im Gegensatz zu anderen Ratgebern fokussieren wir nicht ausschliesslich auf das Individuum und seine Stressbewältigungskompetenzen, sondern beziehen den Bereich Partnerschaft und Familie, in welchem wir seit Jahren intensiv forschen, mit ein. Gerade für die Schnittstelle zwischen Individuum und Partnerschaft bieten wir eine Fülle von wertvollen Anregungen für eine bessere Stressbewältigung.

Es geht in diesem Ratgeber nicht primär um Tipps und Anleitungen – obwohl solche Elemente durchaus vorhanden sind. Unser zentrales Anliegen ist, Verständnis dafür zu wecken, dass es manchmal nicht so einfach gelingen mag, eine Kritik wegzustecken, eine Aufgabe zielstrebig anzugehen, einen Misserfolg leicht zu verdauen oder eine Hürde mit links zu nehmen. Und wir möchten zeigen, wie Sie dies eben doch hinkriegen können, wenn Sie besser verstehen, wo die Fallstricke liegen.

Stress sitzt vielfach tiefer, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Warum das so ist und weshalb tägliche Widrigkeiten so nachhaltig stressen können, das sind Schlüsselfragen. Wenn Sie ein Verständnis für diese Zusammenhänge entwickeln, dann werden Sie sich und anderen wirksame Hilfestellungen und Unterstützung angedeihen lassen können. Dann werden Sie stark gegen Stress.

Guy Bodenmann, Christine Klingler Lüthi

Zürich, im März 2013

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Mehr Spielraum im Umgang mit Stress

Gestresst zu sein ist die zeitgenössische Befindlichkeit schlechthin – kaum jemand, der sich nicht darüber beklagen würde. In diesem Buch wird Stress als vielschichtiges Phänomen beschrieben, dem Sie in ebenso vielschichtiger Weise begegnen können.

Das Modell des Stresshauses

Ein einsames Haus auf einer Klippe am Meer – oder ein kleines Stadthaus in einem netten Quartier? Lassen Sie Ihre Fantasie spielen. Denn eins ist Ihr Stresshaus sicher nicht: gewöhnlich.

Dieser Ratgeber verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der sich nicht allein auf die konkrete Handlungsebene beschränkt, sondern tiefer zu gehen versucht. Stress beruht auf einer Verzahnung von äusseren Ereignissen, inneren Reaktionen und Persönlichkeitsmerkmalen – dieser Gedanke steht im Fokus dieses Ratgebers. Die äussere Welt mit ihren Anforderungen lässt sich oft genug kaum beeinflussen, die persönlichen Reaktionen darauf hingegen schon. Hier kann jeder Einzelne aktiv werden, den eigenen Spielraum abstecken und hoffnungsvollerweise erweitern.

Widerstandskraft, Wind und Wetter

Das Modell des Stresshauses, dem Sie in diesem Ratgeber begegnen, steht für Ihre Widerstandskraft gegen Stress. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Stresshaus Ihrer gesamten Persönlichkeit mit all ihren Eigenheiten entspricht. Stellen Sie sich weiter vor, dass der Stress die Form unterschiedlichster Witterungseinflüsse annimmt: Wind in verschiedenen Stärken, vom Säuseln bis zum Orkan; Wasser in Form von Regen, Hagel, Schnee, vielleicht sogar Sturmfluten oder Lawinen; Erdbeben, die manchmal kaum wahrnehmbar, manchmal aber im eigentlichen Sinn des Wortes erschütternd sind. All diesen Einflüssen ist Ihr Stresshaus sinnbildlich ausgesetzt; sie repräsentieren Stress in seinen verschiedenen Schattierungen, Ausprägungen und Intensitäten im Alltag und in Ihrer Biografie.

Warten und pflegen

Wer für einen regelmässigen Unterhalt seines Stresshauses sorgt, stellt sicher, dass es nicht verlottert oder anfängt, Schwachstellen zu entwickeln, die zerstörerischen Witterungseinflüssen leichtes Spiel verschaffen. Viele Wartungsarbeiten können Sie selber erledigen, einiges können Sie auch selber reparieren, zum Beispiel anhand dieses Ratgebers; für anderes brauchen Sie möglicherweise die Unterstützung von Fachpersonen. Wie bei Unterhaltsarbeiten an einem gewöhnlichen Haus kann man nicht alles selber bewerkstelligen, doch grössere Reparaturen können durch eine gute Pflege des Hauses vermieden oder minimiert werden. Ein gut gebautes, solides Haus kann gut eine Generation ohne nennenswerte Schäden überstehen.

Ungewöhnliche Architektur

Das Stresshaus ist kein 08/15-Haus mit klar getrennten Stockwerken und Räumen; es ist im Gegenteil in besonderer Weise verschachtelt und komplex angelegt. Weder die Etagen noch die Räume sind strikt voneinander abgetrennt, sondern alle Ebenen gehen ineinander über und sind ineinander verzahnt. Es gibt Zwischenebenen, Durchgänge und Treppenverbindungen an Orten, wo man sie kaum erwarten würde. Und jeder Raum ist auf mehr oder weniger direkte Weise mit den meisten anderen Räumen verbunden.

Es ist ein Haus, in dem alles mit allem zusammenhängt, eine Glanzleistung der Architektur, kühner als alle Bauten von Häusern, die Sie kennen. Ihr Stresshaus ist etwas Besonderes, eine Schöpfung spezieller Art. Es ist einzigartig.

imageHINWEIS Ein gutes Stresshaus ist kein Fertigbau, der in wenigen Wochen hochgezogen wird. Es ist ein über Jahre solide aufgebautes, sorgfältig unterhaltenes, von Leben erfülltes Haus, an dem der Bewohner immer mal wieder Veränderungen und Anpassungen vornimmt; ein Haus, das in allen Räumen die ganz individuelle Persönlichkeit des Besitzers, der Besitzerin widerspiegelt.

Die Ebenen des Stresshauses

Stellen Sie sich Ihre Widerstandskraft gegen die Witterungseinflüsse als Haus mit mehreren Stockwerken vor, von denen jedes eine bestimmte Funktion in Ihrem Umgang mit Stress hat. Wie bei einem Gebäude kommen nicht nur Einflüsse von aussen zum Tragen, sondern auch im Innern des Hauses kann es zu Funktionsstörungen, Verschleisserscheinungen, Materialermüdung und Schäden kommen. Es gilt also, drinnen und draussen anzusetzen.

Das Stresshaus

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imageHINWEIS Nur darauf zu achten, dass die Fassade gut ausschaut, reicht nicht, um Stress wirksam zu bewältigen.

Das Fundament für Stabilität

Das Fundament eines Hauses ist massgebend für seine Stabilität und für die Qualität aller weiteren Stockwerke. Es entspricht beim Menschen dem Selbstwert. Dieser wird im Wesentlichen in den frühen Kinderjahren und in der gesamten späteren Lerngeschichte einer Person ausgebildet. Zu dieser Lerngeschichte gehören positive und negative Erfahrungen, die jemand in Bezug auf den Stellenwert macht, den man bei anderen – insbesondere bei den Eltern – hat; dazu gehören auch Erfahrungen eigenen Wirkens, Erfahrungen von Erfolgen und Misserfolgen in verschiedenen Lebensbereichen und Rückmeldungen dazu von wichtigen Bezugspersonen (Eltern, Lehrpersonen, Freunde, Geschwister, Verwandte).

Für das Stresserleben ist dieses Fundament entscheidend (siehe Kapitel 4, Seite 89): Ein guter Selbstwert und eine realistische Einschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten (internale Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung) verleihen einem psychische Stabilität und Stressresistenz – es sind wirksame Puffer gegen Stress.

imageINFO Wer aus was für Gründen auch immer seinen Selbstwert nicht vorteilhaft entwickeln konnte und sich häufig unsicher, ängstlich, überfordert, ohnmächtig und ausgeliefert oder wertlos fühlt, der ist auch anfälliger für Stress.

Im ersten Stock: Wertschätzung und Anerkennung

Der Selbstwert hat viel mit eigener und fremder Wertschätzung zu tun. Gleich oberhalb des Fundaments, im ersten Stock, sind daher Wertschätzung und Anerkennung angesiedelt. Die zentralen Fragen hier sind, ob eine Person sich selber Wertschätzung entgegenbringen kann und ob sie im Alltag von anderen Wertschätzung erfährt, die sie für sich verbuchen kann und die ihr guttut, etwa vom Partner, von der Partnerin; von Vorgesetzten, von Arbeitskolleginnen und -kollegen; von Menschen, die ihr wichtig sind (Freunde, weitere Familie, Bekannte).

imageINFO Selbstwert und Wertschätzung sind eng ineinander verzahnt. Denn ob jemand sich selber Wertschätzung entgegenbringen und die Wertschätzung anderer für sich «verbuchen» kann, hängt direkt mit dem Selbstwert zusammen (mehr dazu auf Seite 110).

Im zweiten Stock: das aktuelle Befinden

In der zweiten Wohnebene sind drei Elemente angesiedelt: Ihre Leistungsfähigkeit, Ihre Liebesfähigkeit und Ihre Genussfähigkeit. Sind diese drei Funktionen intakt, so ist ein Mensch psychisch und physisch gesund und gut gerüstet gegen Stress. Dieser kann angemessen bewältigt werden und führt weniger häufig zu Störungen und Ausfällen in den drei Bereichen.

Der zweite Stock des Stresshauses repräsentiert damit die aktuelle Verfassung einer Person, ihr allgemeines Befinden. Tatsächlich kann man auch mit einem geringen Selbstwert als Fundament im Alltag eine einigermassen gute Funktionsfähigkeit erreichen – sofern man ausreichend Kompetenzen und Ressourcen hat, die gewissermassen kompensatorisch wirken.

Im dritten Stock: Kompetenzen, Ressourcen, Strategien

Im dritten Stock sind Ihre Stressbewältigungskompetenzen lokalisiert, die praktischen Ressourcen, die Ihnen im Umgang mit Stress zur Verfügung stehen. Hierbei handelt es sich einerseits um Ihren Stressbewältigungsstil, aber auch um Ihre situativ verfügbaren Strategien und aktuellen Bemühungen um ein gesundes und stresserträgliches Leben. Konkret geht es hier um Ihre Fähigkeiten, sich gegen vermeidbaren Stress zu schützen und bei nicht vermeidbarem Stress angemessen zu reagieren.

imageINFO Das dritte Stockwerk entspricht Ihrem Stressbewältigungsrepertoire in all seinen Facetten. Dieses Repertoire ist ständig im Fluss, in Veränderung begriffen; es kann trainiert und ausgebaut werden. Die meisten Ratgeber setzen vor allem auf dieser Ebene an.

Der Dachstock: Werte und die Sinnfrage

Der Dachstock schliesslich entspricht weiteren wichtigen Komponenten bei der Stressentstehung und dem Stresserleben, nämlich Ihren persönlichen Werten und Ihrer Sinnstiftung in Bezug auf Alltagssituationen, aber auch ganz generell auf Ihren Lebensentwurf. Welche Rollen spielen Werte und Sinnhaftigkeit in Stresssituationen, und welche Ressourcen bieten sie?

Bei den einen ist der Dachstock besonders wichtig, ein Herzstück des Hauses und ein Refugium, das inneren Halt und Orientierung bietet. Andere betreten ihn fast nie – im Modell des Stresshauses bedeutet das, dass sie eine geringe Wertorientierung haben, Philosophie und Religion als unbedeutend erleben und/oder hier vor allem Unrat deponieren (Speicherung negativer Gesinnungen und destruktiver Vorbilder). Ein solcher vernachlässigter Dachstock taugt wenig als Ressource im Umgang mit Belastungen, denn Orientierungslosigkeit bezüglich Werten kann zu zusätzlichem Stress führen.

Das Leitungssystem für Ernährung, stressausgleichende Aktivitäten und Zeit

Durchs ganze Haus hindurch zieht sich wie der lebenswichtige Blutkreislauf im Körper ein System von Leitungen und Rohren. Heizungsrohre, Stromkabel und Wasserleitungen machen das Haus erst bewohnbar und speisen es mit lebenswichtigen Elementen. Das Leitungssystem versinnbildlicht all das, was es braucht, damit Sie im Alltag angemessen funktionieren und dem Stress die Stirn bieten können:

Die Elektrizität steht für die Zeit, welche Sie aufwenden müssen, um gesund zu bleiben, sich regenerieren zu können, für andere da zu sein.

Die Wasserversorgung ist Symbol für eine gesunde Ernährung, die Stress entgegenwirkt.

Die Heizungsrohre repräsentieren die Energie, welche Sie brauchen, um gesund und stressresistent zu bleiben. Konkret meinen wir damit Ihre Fitness, aber auch die Energie, welche Sie aus Hobbys, Entspannung, Genuss und dem Zusammensein mit anderen Menschen ziehen können.

Blitzableiter für Notfälle

Dass der Blitz einschlägt und eine Verwüstung anrichtet, ist selten. Doch gerade für solche Notfälle braucht es den Blitzableiter: Damit sind unterstützende Fachpersonen gemeint (Ärztin, Psychotherapeut, Seelsorgerin, andere professionelle Vertrauenspersonen), bei denen man die Sorgen und Nöte abladen kann, wenn sie die eigenen Bewältigungsressourcen übersteigen. Wie wenn der Blitzschlag ein Haus trifft, braucht es hier Hilfe von aussen.

Fertig gebaut ist nie

Im und am Haus gibt es immer etwas zu tun; es ist nicht ein für alle Mal gebaut und bleibt in Ewigkeit unverändert bestehen. Das ist auch gut so, denn es bedeutet, dass Sie auf allen Ebenen Ihres Stresshauses immer wieder etwas verbessern können:

Nehmen Sie sich ausreichend Zeit für sich, zur Regeneration, für Ihre Partnerschaft, für die Pflege von Freundschaften? → Prüfen Sie die Ausstattung des zweiten Stockwerks Ihres Hauses und verbessern Sie sie gegebenenfalls. Anregungen finden Sie auf Seite 132.

Kommen die schönen Dinge des Lebens bei Ihnen genügend zum Zug? → Es ist gar nicht so schwierig, das Zimmer der Genussfähigkeit besser auszustatten. Ideen finden Sie ab Seite 136.

Können Sie die Komplimente Ihrer Umgebung nicht ernst nehmen? Grämen Sie sich über jedes kritische Wort? Haben Sie öfters das Gefühl, den Geschehnissen des Lebens einfach ausgeliefert zu sein, ohne selber etwas verändern zu können? → Ihr Fundament braucht Unterstützung. Es gilt, den Unterbau mit geeigneten Massnahmen dauerhaft zu stabilisieren und den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Mehr zu den zentralen Themen Selbstwert, Kontrollüberzeugungen und Wertschätzung sich selbst gegenüber siehe Kapitel 4 und 5.

Fühlen Sie sich häufig ausgelaugt, dem Alltagsstress ausgeliefert? Machen Ihnen Kleinigkeiten das Leben schwer? → Lesen Sie ab Seite 161, wie Sie Ihre Stressbewältigungskompetenzen verbessern können.

Wie steht es um Ihre Leistungsfähigkeit? → Wünschen Sie sich dazu Impulse, dann lesen Sie ab Seite 124.

Welche Rolle spielen Werte oder die Sinnfrage bei Ihnen? → Falls Sie motiviert sind, sich mit diesen Themen im Zusammenhang mit Stress auseinanderzusetzen, dann lesen Sie ab Seite 217.

Alle Stricke reissen? → Falls Sie einen Blitzableiter in Gestalt einer unterstützenden Fachperson benötigen, geben wir Ihnen auf Seite 198 einige Tipps, wie Sie eine geeignete Person finden.

Dieser Ratgeber soll Ihnen helfen, herauszufinden, auf welcher Etage in Ihrem Stresshaus Handlungsbedarf besteht. Sie werden hier keine einfachen Tipps und Ratschläge für behelfsmässige Reparaturen finden, die, kaum sind sie ausgeführt, schon wieder nachgebessert werden müssen. Dieses Buch versucht, den fundamentalen Ursachen für Stress nachzugehen, weil es für eine nachhaltige Stressbewältigung dort anzusetzen gilt. Hier finden Sie Vorschläge, was Sie konkret unternehmen können, wenn Sie in Ihrem Stresshaus Schwachstellen entdecken.

imageHINWEIS Ihr Haus instand halten: Das ist Ihre Aufgabe, bei der wir Sie lediglich anleiten können. Die Arbeit selber können wir Ihnen nicht abnehmen. Doch sind die Wirkmechanismen und ein eventueller Handlungsbedarf erst erkannt, wirken sich stressreduzierende Veränderungen und ein anderer Umgang mit den verschiedenen Themen in allen Lebensbereichen positiv aus.

Zwischenfrage: Ist jeder an seinem Stress «selber schuld»?

Die Kernaussage des modernen transaktionalen Stressmodells nach Richard S. Lazarus, auf dem dieses Buch aufbaut, lautet: Stress und negatives Empfinden sind die direkten Folgen der persönlichen Bewertung einer Situation. Aus dieser Annahme folgt: Jeder schafft sich letztlich viel von seinem Stress selber.

Bedeutet das nun, dass man die Verantwortung dafür auch gänzlich selber übernehmen muss, dass es eine rein persönliche Sache ist, ob man unter Stress leidet oder nicht? Ist diese Sicht vielleicht sogar Munition für eine innere Stimme, die fortan sagen könnte: «Wie, du bist schon wieder gestresst? Selber schuld!»?

Die Antwort auf diese Fragen lautet: Ja und Nein. Es gibt Veränderungen in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt, die eindeutig stressfördernd sind – von ihnen wird in verschiedenen Kapiteln dieses Ratgebers noch die Rede sein. Dazu gehören etwa ein verschärftes Tempo in der Arbeitswelt und die zunehmende Flut von Informationen aller Art, die zu kanalisieren und sinnvoll zu verwerten sind; die hohe Mobilität der modernen Gesellschaft, das omnipräsente Multitasking, die rasanten Entwicklungen in den Bereichen Informatik, Kommunikation und Produktion; der Verlust von Verbindlichkeiten in der Gesellschaft; die Individualisierung und Selbstverwirklichung, die dem Einzelnen zwar mehr Freiheiten geben, ihm aber auch die Auflage machen, daraus nun selber ein gutes Leben zu gestalten; die Globalisierung und viele weitere stressbegünstigende Entwicklungen.

Gegen diese stressfördernden gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen können Sie als Einzelperson nicht viel ausrichten – Sie können sich lediglich darin üben, die Umstände anzunehmen oder im Rahmen Ihrer Möglichkeiten zu beeinflussen. Was Sie allerdings durchaus tun können: sich Ihren eigenen Anteil am Stressempfinden bewusst machen und inmitten schwieriger Gegebenheiten Ihren Spielraum ausnützen, um Ihre Stressresistenz aktiv zu verbessern. Die Dimensionen dieses Spielraums sind nicht bei jeder Person gleich, sie hängen von einer Vielzahl von Dingen ab: von Ihrer Persönlichkeit, von Ihrem (familiären) Umfeld, von Ihrer psychischen und physischen Gesundheit und von der genetischen Veranlagung, aber auch von Ihren finanziellen und zeitlichen Möglichkeiten. Und, ganz wichtig bei der Stressbewältigung, von Ihrer Motivation und Ihrem Engagement.

Den Handlungsspielraum optimal nutzen

Wie Sie Ihren Handlungsspielraum ausloten und zu Ihren Gunsten nutzen können, das ist das Kernthema dieses Buches. Denn Sie sind Eigentümer, Eigentümerin Ihres Stresshauses; Sie allein können, Sie sollen aber auch an Ihrem Gebäude Verbesserungen vornehmen.

Im nächsten Kapitel geht es darum, wie Stress entsteht und welche Faktoren die Reaktion darauf beeinflussen. Mit diesem Wissen können Sie sich aufmachen zur Erkundung Ihres Spielraums. Denn ein Spielraum lässt sich in fast jeder Situation ausmachen – und sei er noch so klein.

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Der alltägliche Stress mit dem Stress

Natürlich gibt es die grossen Ereignisse, die uns belasten – etwa ein Verlust oder eine folgenreiche Entscheidung. Doch im Alltag sind es häufig Banalitäten, die uns zusetzen. Worauf wir reagieren und wie stark, darum geht es in diesem Kapitel.

Stress früher, Stress heute

Stress gibt es in allen Lebensbereichen. Deshalb bringt es langfristig nicht viel, situativ anzusetzen. Wer dagegen den eigenen Mechanismen auf die Spur kommt, der profitiert von der Erkenntnis und kann seine Stressresistenz stärken.

Es ist erst rund 150 Jahre her, seit Menschen aus der Schweiz nach Übersee auswanderten, weil sie hier infolge der textilen Industrialisierung kein Auskommen mehr fanden und sogar unter Hunger litten. Sie waren zweifelsohne in einem grossen Stress – und nahmen beachtliche Strapazen auf sich, um diesem fern der Heimat zu entkommen. Keine Frage: Auch früher waren die Menschen enormen Belastungen ausgesetzt. Die Herausforderungen waren häufig existenzieller Natur. Es gab in Europa immer wieder Kriege, Seuchen und Krankheiten, welche die Menschen dahinrafften und Leid verbreiteten; die körperliche Arbeit war hart, Kinder gebären lebensgefährlich. Die hygienischen Bedingungen waren oft ungenügend, die Sterblichkeit daher hoch. An bedrohlichen und belastenden Situationen mangelte es wahrlich nicht – das Leben war sicherlich nicht weniger hart.

Stressquelle Nummer 1: tägliche Widrigkeiten

Viele dieser Widrigkeiten früherer Zeiten haben wir weitgehend hinter uns gelassen. Wir sind gut ernährt, die medizinische Versorgung hierzulande ist hochstehend, die Arbeitszeiten sind geregelt, der Sozialstaat funktioniert. Materiell gesehen sind die Lebensumstände zweifellos immer besser geworden.

Aber haben wir deshalb weniger Stress? Es scheint nicht. Noch nie wurde das Wort Stress so häufig in den Mund genommen – bereits Kindern kommt es ganz selbstverständlich über die Lippen. Die Menschheit wirkt gestresster denn je, doch die Gründe dafür haben sich verändert. Der Stress kommt nicht mehr primär von aussen und in Form von einschneidenden lebensbedrohlichen Ereignissen, sondern er hat seinen festen Platz erobert in unserem ganz normalen Alltag – und wir machen ihn uns gar nicht so selten auch selbst. Hektik, Leistungs- und Zeitdruck sowie Mehrfachbelastungen sind an die Stelle der früher häufig existenziellen Stresserfahrungen getreten. Hinzu kommt ein hoher Rhythmus an Veränderungen im technologischen Bereich, der uns zu regelmässigen Updates unserer Kenntnisse zwingt, damit wir den Anschluss nicht verlieren. Stressrelevant sind ferner hohe Anforderungen an die Mobilität – berufsbedingte Umzüge sind an der Tagesordnung – sowie berufliche Unsicherheiten und fehlende Verbindlichkeiten. Diese Stressoren gehen häufig einher mit Ungewissheit, Angst, Hilflosigkeit und dem Gefühl, nicht zu genügen, überholt und ausrangiert zu sein.

Die Menge machts aus

Im Gegensatz zu früheren Zeiten beruht Stress heute nur noch zum Teil auf Ereignissen, die unvermittelt von aussen über uns hereinbrechen. Zwar treten diese nach wie vor auf und stellen weiterhin intensive Belastungen dar, zum Beispiel Naturgewalten (Überschwemmungen, Erdrutsche, Lawinenniedergänge), Wirtschaftskrisen (umfassender Stellenabbau, Umstrukturierungen, Inflation usw.) oder persönliche Schicksale (Tod eines geliebten Menschen, Unfall, schwere Krankheit, Behinderung usw.). Rein quantitativ betrachtet sind allerdings die sogenannten daily hassles, die täglichen Widrigkeiten, relevanter: im Stau stehen, Spannungen mit Mitarbeitenden am Arbeitsplatz, Zeitdruck, Hektik, Mehrfachbelastungen usw. Und, wie Studien zeigen, sind sie in ihren Folgen für Gesundheit und soziale Beziehungen häufig auch destruktiver.

imageINFO Heute stressen uns vor allem die kleineren und grösseren Widrigkeiten des ganz gewöhnlichen Alltags. Sie prägen unser Leben in der Regel mehr als kritische Lebensereignisse. Besonders schlimm ist es, wenn beide gemeinsam auftreten. Kritische Lebensereignisse und tägliche Widrigkeiten – eine solche Kumulation kann auch stressresistente Menschen überfordern.

Die Abschaffung der Langeweile

Nicht nur im Beruf herrschen Hektik und Leistungsdruck; wer nicht als Langweiler gelten will oder keine «leeren» Zeiten erträgt, plant auch die Freizeit durch. Momente der Musse, des Nichtstuns sind rar und tragen vermeintlich den Makel der Faulheit, des Nichtgebrauchtwerdens, der Unwichtigkeit. Etwas überspitzt ausgedrückt: Wer jemand ist, der hat Stress. Wenn Sie ehrlich sind: Wie gut halten Sie es aus, im Tram oder im Wartezimmer beim Arzt zu sitzen, ohne sich Häppchenlektüre zuzuführen oder mit dem Smartphone herumzuspielen? Selbst ein kurzes Nickerchen auf der Heimfahrt in der S-Bahn ist häufig zweckgebunden – man ist nachher wieder voll einsatzfähig.

imageHINWEIS Ob Sie nun Hausfrau und Mutter sind, Angestellter, Selbständigerwerbende oder Rentner: Gestehen Sie sich Momente des (ausgedehnten) Nichtstuns zu? Erlauben Sie es sich, auch mal unproduktiv zu sein? Und geniessen Sie es, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben?

Gestresst = wichtig?

So sehr Stress den Alltag prägt, so sehr ist unser Verhältnis dazu doch auch ambivalent. Einerseits leiden wir darunter, anderseits fällt es schwer, sich einem gewissen gesellschaftlichen Zwang zu entziehen, aktiv und dynamisch zu sein: unterwegs, zu Hause, in der Freizeit, allein, mit der Familie, mit Freunden. Und an der Arbeit sowieso. Wer nie den Anschein erweckt, von einer vollen Agenda terrorisiert zu werden, setzt sich dem Verdacht aus, weder ehrgeizig noch fleissig noch besonders interessant zu sein – dafür ganz sicher unwichtig und bedeutungslos. Wenn Sie also von sich sagen, Sie seien gestresst, schwingt möglicherweise auch die Botschaft mit, dass Sie eine unentbehrliche und besonders gefragte Person sind. Stress verleiht eine gewisse Aura von Wichtigkeit – oder zumindest meint man das.

Auch Unterforderung ist Stress

«Ich bin im Stress»: Wer dies sagt, meint selten, dass er sich besonders wohl, weil motiviert und beflügelt fühlt. Selbst wenn man damit auch ein wenig signalisieren möchte, dass man eine kompetente und begehrte Person ist. Allerdings: Gar keinen Stress zu haben ist auch nicht gut. Eine gewisse Dosis braucht der Mensch, sonst erlahmt der Antrieb. Es ist wissenschaftlich erhärtet, dass das höchste Leistungsniveau bei mittlerem Stress vorliegt. Ist der Stress zu gering, fehlt der nötige Kick für eine gute Leistung; bei zu viel Stress dagegen kommt es häufig zu Blockaden, zu Gefühlen der Überforderung und zu Fehlleistungen (Black-out). Andauernde Unterforderung ist genauso schädlich wie anhaltende Überforderung; Menschen leiden unter beiden Zuständen. Doch Stress per se ist nicht negativ, sondern wie so vieles eine Frage des guten Mittelmasses.

Eine Frage der Souveränität

Vermutlich werden Sie genau überlegen, in welchem Rahmen Sie Ihren Stress offenbaren und wem gegenüber Sie ihn mit Vorteil überspielen oder negieren. Zuzugeben, dass Sie unter Stress leiden, verträgt sich schlecht mit der Ausstrahlung von Kompetenz und Souveränität im Arbeitsalltag. Erwerbstätige, die keine taugliche Fassade haben, hinter der sie ihren Stress gut versteckt halten können, müssen befürchten, als überfordert oder gar als unfähig zu gelten. Vielleicht denken sie sogar selbst, dass sie unzulänglich sind, weil sie es nicht schaffen, ihr Pensum mit links zu bewältigen. Auch Führungskräfte, die in Gegenwart der Belegschaft oder in der Öffentlichkeit Anzeichen von Anspannung zeigen, wirken wenig überzeugend, strahlen Schwäche aus und exponieren sich negativ. Stress zu haben ist hier verpönt, man spricht im Arbeitskontext vielmehr von «guter Auslastung», «vollem Terminkalender» usw.

Was im Job besonders stresst

Wie auch immer man es nennen will: Neuere Studien (etwa die aktuelle Stressstudie des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO) belegen, dass die Belastung am Arbeitsplatz gross ist und in den letzten Jahren zugenommen hat. Wichtige arbeitsbezogene und organisationale Belastungsfaktoren sind etwa:

Arbeiten in der Freizeit, um die Anforderungen zu erfüllen (Stress aufgrund von mangelnder Struktur, Klarheit der Rahmenbedingungen und Abgrenzung)

das Freundlichkeitsdiktat (mehr dazu gleich unten)

unklare Anweisungen von Vorgesetzten (Stress aufgrund von Ambiguität und Unkontrollierbarkeit)

Dazu kommen soziale Belastungsfaktoren wie Schikanen oder Benachteiligung aufgrund von Alter oder Geschlecht.

Stets zuvorkommend – das Freundlichkeitsdiktat

Immer freundlich und locker, auch wenn es im Innern anders aussieht – das ist anstrengend. Das Freundlichkeitsdiktat bedeutet, dass man nach aussen Gefühle zeigen muss, die mit den wahren inneren Empfindungen nicht übereinstimmen. Sie fühlen sich vielleicht nicht besonders fit, etwas bedrückt oder beschäftigt Sie – und trotzdem müssen Sie lächeln und freundlich und hilfsbereit sein.

imageINFO Es braucht unheimlich viel Energie, sich nach aussen souverän, kompetent und zuvorkommend zu geben, wenn man sich innerlich angespannt fühlt. Diese sogenannte emotionale Dissonanz – das Auseinanderklaffen von innerem Empfinden und den nach aussen gezeigten Gefühlen – ist hoch belastend.

Es ist nicht verwunderlich, dass das Freundlichkeitsdiktat an Bedeutung gewonnen hat, seit sich die Arbeitswelt weg von der Produktionsgesellschaft und hin zur Dienstleistungsgesellschaft entwickelt hat. Kundenorientierte Arbeitstätigkeiten und personenorientierte Dienstleistungen nehmen zu, europaweit sind mittlerweile mehr als die Hälfte aller Beschäftigten an Dienstleistungsarbeitsplätzen tätig. An solchen Stellen wird erwartet, dass Angestellte stets zuvorkommend auf die Bedürfnisse anderer Menschen eingehen, sich selber zurücknehmen, die eigenen Ansichten, Gefühle und Befindlichkeiten hintanstellen – auch wenn sie sich nicht danach fühlen. Ein übermässiges Freundlichkeitsdiktat führt häufig zum Gefühl, emotional verbraucht zu sein, und dieses Gefühl wiederum ist ein ernsthaftes Warnsignal für ein Burn-out (mehr zu diesem Thema siehe Seite 128).

imageINFO Die neuste Stressstudie des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) zeigt: Je häufiger Erwerbstätige angeben, sich in den letzten zwölf Monaten gestresst gefühlt zu haben, desto eher geben sie auch an, sich bei der Arbeit emotional verbraucht zu fühlen. Überdurchschnittlich häufig fühlen sich Personen in den Wirtschaftszweigen Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialwesen emotional verbraucht. Diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind somit auch eher Burn-out-gefährdet.

Arbeitsbedingungen, die Stress entgegenwirken

Es gibt in der Arbeitswelt auch Bedingungen, die dem Stresserleben erwiesenermassen entgegenwirken bzw. vor Stress schützen. Dazu zählen insbesondere ein gewisser Handlungs- und Zeitspielraum sowie ein günstiges Führungsverhalten des Vorgesetzten, welches einem diesen Spielraum zugesteht. Wichtige Aspekte dabei sind:

Mitspracherecht bei der Auswahl von Personen, mit denen man zusammenarbeitet;

Entscheidungsmöglichkeiten, die für die eigene Arbeit wichtig sind (z.B. Reihenfolge bei der Erledigung von Aufgaben selber bestimmen oder das Vorgehen bei der Erledigung einer Aufgabe selber festlegen zu können, Pausen nach Bedarf machen zu können; Arbeitstempo und -rhythmus selber bestimmen zu können).

All diese Aspekte haben mit der Frage zu tun, ob jemand eine gewisse Kontrolle über seine Tätigkeit hat und Einfluss darauf nehmen kann; des Weiteren damit, ob ein Handlungsspielraum besteht, der es erlaubt, die eigenen Kompetenzen zu nutzen (mehr dazu siehe internale Kontrollüberzeugung, Seite 95). Gesteht der Vorgesetzte, die Vorgesetzte den Mitarbeitenden diesen Spielraum zu, so ist dies ein Ausdruck von Vertrauen und Respekt. Erst unter diesen Voraussetzungen können Mitarbeitende ihre Kompetenzen auch wirklich entfalten und zeigen, was sie zu leisten imstande sind – ein Gewinn für alle.

imageINFO Wenn Mitarbeitende an zu kurzer Leine geführt werden, schränkt dies nicht nur ihr Potenzial ein, sondern führt auch dazu, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen, keine Kontrollerfahrungen machen können und dadurch demotiviert und passiv werden.

Mutterstress, Familienstress

Im privaten Bereich sind besonders Mütter einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt, der nicht selten durch innere Anforderungen (siehe Seite 38) aufrechterhalten wird: Sie sollen – beziehungsweise wollen – perfekte Hausfrauen, prima Köchinnen, Expertinnen in der Kindererziehung, liebevolle Partnerinnen und attraktive Geliebte sein. Dazu kommt: Viele Frauen haben das Bedürfnis, ihren Beruf, der ihnen Spass macht und in dem sie sich vielleicht jahrelang ausgebildet haben, beizubehalten und sich darin auch weiterzuentwickeln. Doch die Erwerbstätigkeit gerät neben der Familienarbeit leicht zum Extra, zum Sahnehäubchen, obwohl sie ihre eigenen Anforderungen mit sich bringt – ein Spagat nach vielen Seiten. Stellen sich dann Gefühle der Unzulänglichkeit ein, so ist der Gedanke «Ich habe das ja selber gewählt» nicht weit, und die Implikation lautet: «Wenn ich schon berufstätig sein will, bin ich auch dafür verantwortlich, dass sich Familie und Beruf vereinen lassen. Deshalb muss ich das alles auch meistern können.» Ein unerreichbares Ziel und ein inhumaner Anspruch an sich selbst – und höchst stressrelevant. Gerade Mütter sind heute eine Risikogruppe für hohen chronischen Stress, dauernde Überforderung und entsprechende psychische und physische Folgen (z.B. Burn-out, Allergien, chronische Beschwerden).

Für Frauen mit familiär prekärer Finanzlage oder niedrigem Familieneinkommen, etwa für alleinerziehende Mütter, stellt sich oft gar nicht die Frage, ob sie erwerbstätig sein wollen oder nicht. Sie müssen einfach, um ein minimales Familieneinkommen mittragen zu helfen. Der Anspruch ist entsprechend hoch, der Weg in die Überforderung kurz. Und die soziale und gesellschaftliche Anerkennung dieser Situation, die Wertschätzung gegenüber Müttern oder Vätern, die sich für Familie und Beruf engagieren, fehlt weitestgehend.

Volle Agenda auch beim Nachwuchs

Bei den Kindern bündelt sich nicht nur der Stress der Umgebung und der Familie. Auch ihr eigenes Leben ist bereits früh überfrachtet: Frühförderung, Schule, Nachhilfeunterricht, Musikstunde, Theaterspielen, Sportverein(e), Lieblings-TV-Sendung – für nicht wenige Kinder ist der Tag voll ausgebucht und durchgeplant, und sie finden nur noch selten eine ruhige Minute für sich selber. sie können kaum mehr innehalten, in Musse das tun, wonach ihnen gerade der sinn steht, und sich selbstvergessen darin vertiefen. Vielleicht gilt manchen Eltern selbstbestimmtes Spielen als verlorene und unproduktive Zeit. Leistung wird immer früher gefordert und gefördert. Viele Eltern stellen hohe Ansprüche an Kinder, gleichzeitig haben sie kaum Zeit für sie.

imageHINWEIS Stress ist universell in der westlichen Kultur. Er fängt bei den Kindern an und hört bei den Pensionierten nicht auf. Alle sind im Stress – ein kollektives Schicksal. Und dennoch ist jeder mit seinem Stress allein und muss selber zusehen, dass er damit klarkommt.

Stress als subjektives Geschehen

In diesem Kapitel geht es um die Balance zwischen den aktuellen Anforderungen an Sie und den Ressourcen, die Sie ihnen entgegensetzen können. Erkunden Sie, wie diese Elemente bei Ihnen ineinanderspielen.

Dieser Ratgeber möchte Sie dazu befähigen, sich gegen Stress besser zu wappnen. Damit dies möglich ist, braucht es ein Verständnis dafür, was Stress denn nun genau ist und was er in uns auslöst. Im vorhergehenden Kapitel wurde das Wort im umgangssprachlichen Sinn verwendet: Im täglichen Sprachgebrauch bezeichnet «Stress» sowohl ein unerwartetes belastendes Ereignis (ein Kind ist krank, Sie finden keine Betreuung) oder widrige Umstände (z.B. Zeitdruck) als auch die Reaktion darauf («Ich bin im Stress»).

Das moderne Stressverständnis

Die moderne Psychologie sieht das Stressgeschehen als ein Zusammenspiel zwischen den Anforderungen einer Situation und der subjektiven Einschätzung dieser Anforderungen durch die betroffene Person, wobei physiologische Prozesse (hoher Blutdruck, schneller Pulsschlag, Schweissausbrüche usw.) Begleiterscheinungen sind.

imageDER ARBEITSPLATZ VON CLAUDE O. befindet sich in einem Grossraumbüro. Manche seiner Kollegen hören zu gewissen Arbeiten gerne Radio. Die Hintergrundmusik macht, dass sie sich wohlfühlen und vermeintlich besser arbeiten können. Für Claude O. ist es andersrum: Er reagiert sensibel auf Geräusche, und so leise die Musik auch sein mag, sie stresst ihn und hindert ihn daran, sich zu konzentrieren.

So hat dieselbe Situation für verschiedene Menschen eine unterschiedliche Bedeutung und führt zu unterschiedlichem Erleben. Bei komplexeren Situationen, zum Beispiel wenn jemand eine Prüfung ablegen muss oder kritisiert wird, spielt die subjektive Einschätzung eine noch wichtigere Rolle.

Eine Frage des Gleichgewichts

KEIN STRESS

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