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Gerhard Schnitter

Du gibst das Leben

…das sich wirklich lohnt

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Bestell-Nr. 395.283

ISBN 978-3-7751-7056-7 (PDF)

ISBN 978-3-7751-7055-0 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5283-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:

CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2011

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG ∙ 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer

Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz;

www.oha-werbeagentur.ch

Titelbild: Thommy Mardo, Mannheim

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Inhalt

Vorausgeschickt

1. Start ins Leben

2. Lehr- und Studienjahre

3. Ich möchte die Welt verändern

4. Überraschungen …

5. Ich beginne zu schreiben

6. Geistliche Lehrjahre …

7. Ich entdecke den ERF

8. Familienzeit

9. Singtouren

10. Mein Wechsel zum Verlag

11. Auf nach Paraguay

12. Ich möchte zum Fest einladen

Quellennachweise

Vorausgeschickt

Diese Aufzeichnungen erzählen von Erlebnissen, Gedanken und Entwicklungen aus meinem Leben. Sie sind keine Biografie im eigentlichen Sinn, denn dann hätte ich genauer erzählen müssen. Ich hätte auch manche unangenehmen Erfahrungen und schuldhaftes Versagen nicht verschweigen dürfen. Vielleicht hätte ich dann am besten auch überhaupt nicht erst anfangen sollen zu schreiben. Aber weil Gottes Gnade in meinem Leben immer wirksam war, berichte ich gern davon, wie er mich von Anfang an genial und treu geführt hat. Vieles hatte ich anders geplant oder mir anders vorgestellt, als es dann tatsächlich gekommen ist. Gott hat mich oft überrascht. Ich selbst hätte nicht im Entferntesten schöner, abwechslungsreicher, erfüllter und gesegneter planen können.

Dankbar erinnerte ich mich beim Schreiben an die vielen zum Teil hier genannten und manchmal auch nicht erwähnten Menschen, denen ich begegnet bin, mit denen ich gesungen und musiziert, gearbeitet und gelebt habe – Freunde, Verwandte, Kollegen und Schüler. In den verschiedenen Zeitabschnitten waren sie wunderbare Wegbegleiter. Ganz oben auf dieser Liste stehen natürlich meine liebe Frau Elisabeth und unsere geliebten Kinder.

Die Anregung für diese Aufzeichnungen kam von SCM Hänssler* und brachte mich dazu, die verschiedenen Stationen meines Lebens noch einmal zu reflektieren. Dafür möchte ich den Verlagsmitarbeitern ganz herzlich danken – natürlich auch für die gute Zusammenarbeit bei der Ausarbeitung. Vielleicht lassen sich manche Leser durch diese Zeilen zu einem »Leben, das sich wirklich lohnt« ermutigen.

1. Start ins Leben

Ich lebe, weil du mich gemacht hast,

du hast auch einen Plan für mich.

Welche Freude, dass ich lebe!

Herr, ich danke dir dafür.

Ich lebe, weil du mich gemacht hast

mit einem Plan für mich.

Das Elternhaus

»Jetzt komm’n se!« – dieser Ruf einer Frau mit einem Schäferhund an der Leine hat sich mir tief eingeprägt. Es war im Mai 1945, als die Rote Armee in unser Dorf einzog. Wir hörten noch die Einschüsse von versprengten Resten der Waffen-SS, die von unserem Hausberg aus auf die russischen Soldaten und auf diejenigen Häuser im Dorf schoss, die eine weiße Fahne als Zeichen der Kapitulation gehisst hatten. Wegen dieser gefährlichen Scharmützel und weil die meisten ehemaligen Leineweberhäuser unseres Orts in der Bauweise der Oberlausitzer Umgebindehäuser keinen Keller hatten, suchten nun viele Dorfbewohner und zahlreiche Flüchtlinge aus Schlesien in unserem Keller Schutz. Wir bewohnten mit etwa hundert obdachlosen Männern und dem Personal das Wanderarmenheim in Obercunnersdorf.

Diese Frau stand direkt an der Kellertür und hatte als Erste die russischen Soldaten gesehen, die in unseren Hof einbogen. Was würden die Russen jetzt mit uns machen? In den Keller hineinschießen? Gespannte Ruhe. Da nahm meine Mutter als amtierende Heimleiterin meinen damals dreijährigen jüngsten Bruder Albrecht auf den Arm und ging mit ihm die Kellertreppe nach oben, um die russischen Soldaten irgendwie zu begrüßen. Vielleicht ist sie damit tatsächlich einem Beschuss in den Keller hinein zuvorgekommen. Wir anderen Kinder und alle Wartenden schauten ihr die Treppe nach oben hinterher und verhielten uns vor lauter Angst ganz still. Hatten die Russen Respekt vor einer Mutter? Ganz sicher war es auch Gottes bewahrende Hand, dass sie von den Soldaten höflich und zuvorkommend behandelt wurde. Die Russen wollten alle Räume des Hauses sehen, wahrscheinlich um Reste der deutschen Wehrmacht zu finden. Nach Abschluss dieser Hausbegehung durften wir alle aus dem Keller herauskommen.

Hier in Obercunnersdorf wurde ich 1939 geboren. Mit diesem schönen Dorf in der Oberlausitz verbinde ich viele glückliche und natürlich auch manche unangenehme Kindheitserinnerungen. Doch zunächst ging für uns Kinder nach dem Einmarsch der Russen auf unserem Hof das unbeschwerte Leben im ungewöhnlich warmen Maiwetter von 1945 weiter. Die Bemerkung meiner Mutter »Der Krieg ist jetzt aus« war das Signal, unsere Kletter-und Versteckspiele auf den abgestellten Erntewagen und in den Scheunen wieder aufzunehmen. Die Kindergruppe bestand hauptsächlich aus meinem älteren Bruder Christfried, unserer Schwester Dorothea und dem jüngsten Bruder Albrecht. Immer mit dabei waren natürlich auch andere Kinder aus dem Dorf und Flüchtlingskinder.

Wanderarmenheim Obercunnersdorf war auch unsere postalische Adresse. Die Innere Mission hatte das Haus zur Betreuung verarmter Wanderburschen am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Später gehörten zu den Heimbewohnern – im Ort wurden sie Wanderheimer genannt – auch Obdachlose oder sonst gestrandete, meist ältere Männer. Eine für dortige Verhältnisse ziemlich große Landwirtschaft mit etwa 60 Hektar Acker- und Weideland bot den Heimbewohnern die Möglichkeit zur Mitarbeit und sicherte gleichzeitig ihre Versorgung. Für uns Kinder des Heimleiters war die bäuerliche Umgebung mit Rindern, Schweinen, Pferden, Kleinvieh und sogar einem Traktor – damals noch eine Seltenheit – ein idealer Tummelplatz. Mein Großvater hatte die Leitung der Einrichtung 1927 übernommen und sie wirtschaftlich saniert. 1938 übernahm mein Vater auf dringenden Wunsch seines Vaters die Verantwortung, obwohl er eigentlich andere berufliche Pläne für sich hatte. Denn nach einer Schlosserlehre und Diakonenausbildung in Moritzburg bei Dresden studierte er Kirchenmusik in Berlin-Spandau und war bereits als Gemeindediakon und Kirchenmusiker tätig. Aber mein Vater hatte wohl auch Ahnung von Landwirtschaft, Verwaltung und Menschenführung. Jedenfalls funktionierten Ackerbau, Viehzucht und der Heimbetrieb auch unter seiner Leitung. Das Heim wurde dann allerdings von den Nationalsozialisten enteignet und verstaatlicht. Unsere Eltern durften jedoch vorläufig weiter als Heimleiter im Amt bleiben.

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Ortsansicht von Obercunnersdorf in der Oberlausitz

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Mein Geburtshaus: das Wanderarmenheim
in Obercunnersdorf

Wir Kinder hatten an dem bunten Treiben auf dem schönen Hof unbeschwerten Anteil. Höhepunkte waren, wenn wir mit dem Vater auf dem Traktor oder mit dem Pferdewagen mitfahren durften. Große Freude kam bei uns auch immer dann auf, wenn Ausfahrten mit der Kutsche oder im Winter mit dem Pferdeschlitten angekündigt wurden. Im Sommer genossen wir die aufregenden Versteckspiele in den Tennen der Scheunen. Zu den Tieren, besonders zu den Pferden, hatte mein Bruder Albrecht die engsten Verbindungen geknüpft.

In dieser Kindheitsidylle merkten wir zuerst kaum etwas vom Kriegsgeschehen. Mein Vater konnte sich als Verantwortlicher für eine soziale Einrichtung mit Landwirtschaft, die auch Lebensmittel für die Bevölkerung abzugeben hatte, immer wieder der Aufforderung zum Kriegsdienst in der Wehrmacht entziehen. Aber 1944, also kurz vor Kriegsende, wurde er doch noch zum Militär eingezogen. Nach einer kurzen Ausbildungsphase durfte er uns noch einmal besuchen. An diesen letzten Besuchssonntag habe ich eine peinliche Erinnerung: Die Eltern hatten einen Freund gebeten, die Familie im Garten zu fotografieren. Mein Vater weckte mich dazu vom Mittagsschlaf auf. Ich verstand aber seine liebevolle Zuwendung nicht und verhielt mich entsprechend bockig und störrisch. Dieses Verhalten wurde auf einem Foto festgehalten, das später gern als Nachweis für meinen eigensinnigen und aufbrausenden Charakter in der Kindheit hervorgeholt wurde. Tröstlich für mich war es später, dass meine Mutter auch davon berichtete, wie ich meinem Vater nach einem schlimmen Unfall an seinem Bett die Geschichten meiner Bilderbücher mit frei erfundenen Melodien vorgesungen hätte. Er selbst beschrieb mich in einem Brief an Verwandte als »liebenswürdiges, verschmitztes Bürschle, das viel Sinn für Humor hat, aber auch schnell mit anderen im Kriegszustand lebt«.

Obwohl die Briefe von der Front ausblieben, hielt meine Mutter an der Hoffnung auf eine Heimkehr ihres Mannes fest. Sie betete jeden Abend mit uns Kindern um seine Bewahrung und Rückkehr. War er in Gefangenschaft geraten? Sie wusste, dass er als Beifahrer eines LKW eingesetzt war und so vielleicht nicht in Kampfhandlungen verstrickt werden würde.

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Auf dem Arm meines Vaters

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Unsere Familie: Mutter, mein jüngster Bruder Albrecht,
meine Schwester Dorothea, mein ältester Bruder Christfried und ich,
auf dem Schoß meines Vaters (v.li.)

Nach dem Einmarsch der Russen in unseren Hof kam mein Großvater aus dem nahe gelegenen Sudetenland zu uns, um meiner Mutter beizustehen. Er hatte aber auch den Plan, dass wir mit ihm in sein dortiges Ruhestandshaus flüchten sollten, um vor den Russen sicher zu sein. Heimlich wurde also in aller Eile ein Erntewagen mit wichtigen Sachen bepackt. Den Pferden wurden Lappen um die Hufe gebunden, damit unsere nächtliche Flucht nicht von den bei uns einquartierten russischen Soldaten gehört werden konnte. Mitten in der Nacht ging es dann los. Wir fuhren nicht den normalen Weg auf der Dorfstraße, sondern auf einem Feldweg hinein in den schützenden Wald unseres Hausberges Kottmar. Beim Zurückschauen auf das Dorf sahen wir, wie ein Haus gerade in lodernden Flammen aufging – als wollte es den Flüchtenden ein letztes Lichtsignal nachsenden.

Die Entfernung zum Haus der Großeltern betrug etwa 35 Kilometer und wäre für einen Pferdewagen gut an einem Tag zu schaffen gewesen. Nicht aber in jenen Tagen, als sich alle Welt auf den Straßen zu bewegen schien. Pferdefuhrwerke mit Flüchtlingen aus Schlesien, Fahrzeuge der Roten Armee, Fußgänger mit Gepäck, dazwischen Kamelwagen mit mongolischen Soldaten und Menschen, die ihr Hab und Gut im Handwagen irgendwohin zogen – es war ein unbeschreiblich chaotisches Getümmel. Am Straßenrand lagen oft verendete Tiere, meistens Pferde. Manchmal erinnern mich bis heute Massenszenen in Hollywoodfilmen an dieses Durcheinander damals. Immer wieder wurde mein Großvater, als unser männlicher Begleiter, einer Leibesvisitation unterzogen, wobei ihm Uhren, Taschenmesser und andere Gegenstände abgenommen wurden. Plünderei war schließlich das Recht der Sieger nach einem Krieg. Auch unsere guten und gesunden Pferde weckten Begehrlichkeiten. Sie wurden uns einfach ausgespannt und dann mit älteren, schwächeren ersetzt. Ein Vorgang, der sich mehrere Male wiederholte und uns Kinder oben auf dem Wagen empörte und zugleich verängstigte. Allerdings hatten wir dann bei der Ankunft statt zwei sogar drei Pferde – ein herrenloses Tier hatte sich uns angeschlossen. Mehrere Tage fuhren oder standen wir in diesem Gewimmel, bis wir schließlich das Haus der Großeltern erreichten. Wo wir unterwegs übernachtet haben, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich daran, dass russische Soldaten meiner Mutter, die meist neben dem Wagen lief, für uns Kinder Büchsenmilch schenkten. Das waren unerwartet freundliche Gesten inmitten von Chaos und Angst!

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»Ich bin bockig«

Aber was war mit unserem Vater? Was, wenn er heimkommen würde, ohne uns vorzufinden? Meine Mutter hielt es im schützenden Haus ihrer Schwiegereltern nicht aus. Schon nach zwei Tagen machte sie sich mit meinem jüngsten Bruder wieder auf den Rückweg nach Obercunnersdorf. Irgendwie hat sie das auch geschafft. Sie erreichte das Wanderarmenheim gerade noch rechtzeitig, bevor unter den Heimbewohnern die völlige Anarchie ausbrach. Es gelang ihr, wieder Ordnung herzustellen, die Arbeiten in der Landwirtschaft einzuteilen und durchreisende oder gestrandete Flüchtlinge zu versorgen. Heute denke ich: Was für eine Frau! Und immer wartete sie dabei auf die Heimkehr ihres Mannes.

Unser Großvater brachte schließlich auch meine beiden älteren Geschwister und mich zwei Wochen später wieder nach Obercunnersdorf zurück. Hier in der alten Umgebung waren wir zu Hause und lebten weiter unser kindlich unbeschwertes Leben. Von der Heimleiterwohnung wurden einige Zimmer für Flüchtlinge abgetrennt. Ansonsten genossen wir die warmen Sommerwochen auf dem Hof. Jeden Abend betete meine Mutter mit uns Kindern um die Rückkehr des Vaters.

Im Herbst 1945 wurde ich eingeschult. Aus dem Kapitel Grundschule, damals die erste bis achte Klasse, lässt sich insgesamt von mir nur wenig Erfreuliches berichten. Deshalb werde ich es einfach überspringen. Ein Jahr nach der Einschulung durfte ich aber mit dem Klavierunterricht beginnen. Eine Hamburger Pianistin, die es in unser Dorf verschlagen hatte, legte dabei ein gutes Fundament für das, was ich später als Musiker brauchen würde.

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Erste Versuche am Klavier

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Am Klavier mit etwa
15 Jahren

Es vergingen erst Monate, dann Jahre – aber noch immer hörten wir nichts von unserem Vater. Meine Mutter erzählte uns von ihm oder las aus alten Briefen vor. Endlich, nach drei Jahren, bekam sie 1948 den Brief eines Mitgefangenen mit der Nachricht, dass unser Vater bereits im Herbst 1945 auf dem Heimtransport von Russland verstorben sei. Er sei in der Gefangenschaft am Kaspischen Meer erkrankt und deshalb nach Hause entlassen worden. Von den 900 in Viehwagen geladenen Gefangenen seien aber nur 400 in Deutschland angekommen. Unser Vater war einer der unterwegs Verstorbenen. Er hätte jedoch noch in der Krankheit andere zu trösten versucht und ihnen von seinem Glauben erzählt.

Nun begann für meine Mutter in mehrfacher Hinsicht eine schwere Zeit. Denn sie war eigentlich keine Powerfrau, sondern eher eine ängstliche Person. Zum Beispiel war sie gegenüber Tieren ängstlich. Als Stadtkind hatte sie nie eine Beziehung zu Tieren gehabt und diese Beziehung auch auf dem Hof nicht aufgebaut, weder zu Rindern, Pferden oder Schweinen noch zu Hunden oder Katzen. Mäuse waren ihr ein Graus. Um das liebe Federvieh machte sie gern einen Bogen. Sie war auch dann ängstlich, wenn es um Fragen unserer Erziehung ging. Oft sagte sie: Wie hätte unser Vater wohl gedacht und entschieden? Das Warten und die Hoffnung auf seine Rückkehr hatten ihr aber Kraft und Durchhaltevermögen gegeben.

Als nun sein Tod offiziell bestätigt wurde, begann für meine Mutter eine Zeit mit demütigenden Erfahrungen. Zuerst wurde ihr die Leitung des Wanderarmenheimes von den sowjetisch gelenkten Behörden entzogen. Sie durfte vorübergehend noch als Wirtschaftsleiterin tätig sein, bis man sie schließlich als einfache Köchin im Schichtdienst einsetzte. Nie hat sie gegen diese Degradierungen angekämpft. Wir Kinder wussten, dass sie trotz dieser Erniedrigungen Trost und Hilfe bei ihrem himmlischen Vater suchte und fand. Sie hatte auch Glaubensgeschwister, mit denen sie sich austauschen und beten konnte. Offenbar bedeuteten ihr auch die Kontakte zu anderen Moritzburger Diakonenfrauen, einige davon waren selbst verwitwet, sehr viel. Der Glaube an Gott war ihre Kraftquelle und der Grund dafür, dass sich ihre ängstliche Zurückhaltung mit einem überaus freundlichen Wesen verband. Deshalb haben sich wohl auch andere Kriegs- und Flüchtlingswitwen an ihrem Beispiel orientiert. Ich fühlte damals durchaus so etwas wie Stolz, als ich einmal eine Frau in breitem Schlesisch sagen hörte: »So eene fin’st de nich alle Tage.«

Eheschließungen

Die erstaunliche Geschichte der Eheschließung meiner Großeltern Erwin und Elisabeth Schnitter verdient es, hier eingeschoben und festgehalten zu werden. Erwin Schnitter stammte aus einer Bauernfamilie in Oberoderwitz. (Dass der in der Berliner Nikolaikirche begrabene Carl Constantin von Schnitter und die Görlitzer Schnitters auch irgendwie zu unserer Familienlinie gehören, sei hier nur beiläufig erwähnt.) Als jüngster Sohn hatte er keinen Anspruch auf den Hof. Stattdessen begann er mit einer Schusterlehre, die er aber aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste. Er wurde zum Militärdienst eingezogen, während sein ältester Bruder, der als Hoferbe nicht abkömmlich war, davon befreit wurde. Schließlich begann er als einer der ersten Brüder eine Ausbildung am neu gegründeten Diakonenhaus in Moritzburg bei Dresden. Eine der Regeln für die jungen Brüder in der Ausbildung war, dass sie sich nicht verloben durften und auch sonst keine Beziehungen zu jungen Frauen pflegen sollten. Daran hielt sich mein Großvater. Doch als die Ausbildung zu Ende ging, sollte er innerhalb weniger Wochen die Leitung eines Trinkerheimes, also eines Rehabilitationszentrums für Suchtkranke, übernehmen – mit der Vorgabe, dass eine Hausmutter mitzubringen sei. Eine solche aber war bisher bei ihm nicht in Aussicht. In seiner Ratlosigkeit besprach er sich mit einem älteren Freund. Dieser empfahl ihm, sich an einen Verwandten von ihm in Rothenburg ob der Tauber zu wenden, denn der hätte einige Töchter. Mein Großvater schrieb also einen Brief mit seinem Anliegen an diesen Landwirt in Rothenburg und bekam zur Antwort, dass dafür am ehesten die älteste Tochter Elisabeth infrage käme. Sie sei aber nicht mehr zu Hause, sondern in einer Anstellung im Allgäu. In einem weiteren Brief schrieb der Großvater also direkt an Elisabeth und schilderte ihr seine Situation. Ihre Antwort: Dem Herrn Jesus in der Inneren Mission zu dienen, könne sie sich schon vorstellen, aber um eine Ehe zu schließen, sollte man sich doch vorher einmal kennenlernen. Es wurde also ein Treffen in Rothenburg vereinbart. Danach folgte sehr schnell die Verlobung und innerhalb weniger Wochen die Hochzeit in der Rothenburger Jakobskirche. Was nun diese Geschichte heute noch erzählenswert macht, ist die Tatsache, dass die ersten Ehejahre dieses Paares nicht wirklich harmonisch genannt werden konnten. Zwei starke, aber völlig verschiedene Charaktere begannen mit nur wenig Vorbereitung eine Ehe. Eine Scheidung kam natürlich nicht infrage. Also mussten sich die beiden Streiter zusammenraufen. Und es gelang: Sie hatten dann nicht nur fünf Kinder und haben viel in ihren verschiedenen Diensten innerhalb der Inneren Mission bewegt. Sie wurden zudem auch ein äußerst liebenswertes und sich liebevoll verbundenes Ehepaar. Als solches konnte ich selbst sie noch viele Jahre genießen, denn beide wurden über 90 Jahre alt. Und beiden ist ihre Liebe zu Jesus bis ins hohe Alter erhalten geblieben. Sie waren darin wunderbare Vorbilder für uns.

Die Geschichte der Eheschließung meiner Eltern war zwar weniger dramatisch, trotzdem haben wir sie uns immer wieder gern von meiner Mutter erzählen lassen. Mein Vater, Ernst Schnitter, der älteste Sohn seiner Eltern, wohnte und arbeitete nach seiner Schlosserlehre für einige Zeit in Rothenburg ob der Tauber. Dort gründete er einen CVJM und leitete den gemischten Chor. Dabei fiel ihm die junge Sängerin Emma Meider in der ersten Reihe auf. An eine nähere Beziehung war aber nicht zu denken, denn vor ihm lagen noch lange Jahre der Ausbildung als Diakon in Moritzburg. Als der Tag seines Abschieds aus Rothenburg gekommen war, stellte er Emma die Frage, ob er Auf Wiedersehen sagen dürfe. Damit begann eine lange Phase des Briefeschreibens und näheren Kennenlernens, während der mein Vater seine Ausbildung absolvierte und meine Mutter ihren kleinen Betrieb als Schneidermeisterin aufbaute. Endlich, nach sechs Jahren, kam es dann zur Verlobung und Heirat. – Ich persönlich denke gern und dankbar an solche Geschichten. Unsere Eltern haben uns damit große Geborgenheit und viel Segen weitergereicht.

Singen in schwerer Zeit

Einen Zugang zur Kraftquelle ihres Glaubens fand meine Mutter durch Singen. Sie hatte eine wunderbare Stimme. Und sie sang mit meinen Geschwistern und mir, wo immer es möglich war – am Bettrand vor dem Schlafengehen, bei Spaziergängen oder beim Kaffeetrinken. Manche der Lieder sind mir heute noch im Ohr. Sogar als alleinerziehende Witwe mit vier Kindern hörte sie mit dem Singen nicht auf, auch wenn es oft mit Tränen vermischt war.

Sie sang mit uns und mit Freunden, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot. Für sie und für uns Kinder war es ganz wichtig, dass sie die Freundschaften weiterpflegte, die sie schon mit ihrem Mann geknüpft hatte. Zu diesem Freundeskreis gehörten auch Familien mit heranwachsenden Kindern, die in ähnlicher Weise zu Hause geistlich und musikalisch angeregt wurden. Es war ein wichtiger Ansporn für unsere ersten Versuche im mehrstimmigen Singen und zum Üben der Instrumente, wenn andere Kinder und Freunde ebenso ihre Freude daran hatten. Die Freundestreffen an Festtagen oder an besonderen Sonntagen begannen zunächst mit einer Kaffeetafel und gingen dann in eine ausgedehnte Sing-und Musizierzeit über. Das war für unsere Mutter Lob Gottes und gleichzeitig Lebenselixier und Durchatmen im erdrückenden Alltag. Wir Kinder bekamen dabei wichtige musikalische Früherziehung und erlebten an ihrem und dem Beispiel der anderen Eltern, dass das Festhalten am Glauben und am Lob Gottes auch im Leid Kraft gibt. »In dir ist Freude in allem Leide« – sobald wir konnten, hatten wir Kinder Freude an dem mehrstimmigen Satz zu diesem Lied. Allmählich verstanden wir auch seinen Inhalt. Die damals neuen Lieder der großen Dichter aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche im Dritten Reich wie Jochen Klepper, Rudolph Alexander Schröder oder Otto Riethmüller wurden in jener Nachkriegszeit entdeckt und bei unseren Singtreffen immer wieder gesungen. Dabei setzten sich die neuen Melodien von Christian Lahusen, Johannes Petzold, Alfred Stier oder Friedrich Samuel Rothenberg durch ihr Singen in unseren Ohren fest.

Zu diesen persönlichen und familiären Singerfahrungen kamen die öffentlichen. Obercunnersdorf liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Berthelsdorf und Herrnhut. Exulanten aus dem benachbarten Böhmen, die um ihres Glaubens willen ihr Land verlassen mussten, hatten hier 1623 eine neue Heimat gefunden. In Berthelsdorf war es einhundert Jahre später Graf Zinzendorf, der einer anderen Gruppe von böhmischen Glaubensflüchtlingen 1722 Land zum Siedeln zur Verfügung stellte und den Ort Herrnhut gründete. Obercunnersdorf ist zwar ein säkulares Dorf geblieben, aber es gab und gibt lebhafte und freundschaftlich-sympathisierende Kontakte hinüber nach Herrnhut. Dazu gehörte die Teilnahme an besonderen Veranstaltungen der Brüdergemeine. Was mich da als kleinen Jungen schon beeindruckte: Die ganze Gemeine – bis heute nennen sich die Herrnhuter »Brüdergemeine« – sang bei den Versammlungen mehrstimmig. Dies war nicht nur ein musikalisches Erlebnis. Singen war in einer immer mehr vom Sozialismus umzingelten Gesellschaft auch ein Glaubenszeugnis.

Dieses singende Bekennen des Glaubens habe ich auch beim großen Leipziger Kirchentag 1954, dem singenden Kirchentag, sehr tief erlebt. Damals wurde nicht nur zum Lob Gottes oder zum persönlichen Trost gesungen, sondern der Glaube wurde singend proklamiert. In jeder Straßenbahn, die man bestieg, wurde gesungen – und wenn noch nicht gesungen wurde, begann man einfach damit. Man konnte sicher sein, dass genügend andere Fahrgäste mitsingen würden. Bei der gewaltigen Schlussversammlung auf der Rosentalwiese mit 650 000 Besuchern blies ich im riesigen Posaunenchor mit. Johann Walters »Wach auf, wach auf, du deutsches Land« oder Georg Weissels »Such, wer da will, ein ander Ziel« haben sich mir dabei tief eingeprägt.

Erste musikalische Eindrücke

Schon mit acht Jahren habe ich auf die neugierige Frage Erwachsener »Was willst du denn mal werden?« mit »Radiosänger« geantwortet. Irgendwie gefielen mir damals die meist klassischen Musikübertragungen im DDR-Rundfunk. Zwar hatte ich noch keine Ahnung davon, was dieser Beruf bedeuten würde und welche technischen Abläufe hinter der Musik im Radio nötig waren, aber nach vielen Wegen und Irrwegen kam es später zumindest indirekt irgendwie doch zur Ausübung dieses Berufes.

Einer der ersten großen musikalischen Eindrücke war ein Konzert des Dresdner Kreuzchores im etwa 15 Kilometer entfernten Seifhennersdorf. Schon vorher hatten Bekannte ganz begeistert vom einmaligen Klang dieses weltberühmten Knabenchores unter der Leitung von Rudolf Mauersberger berichtet. Mit knapp 10 Jahren durfte ich erstmals mitfahren und war fasziniert. Ein Chor nur mit Jungs zwischen 10 und 18 im herrlichsten Wohlklang und mit schönster Musik. Könnte ich da nicht auch mitsingen? Zusammen mit einem anderen Jungen aus unserem Freundeskreis schmiedete ich Pläne und wir brachten seine Eltern und meine Mutter dazu, beim nächsten Auftritt des Chores bei Professor Mauersberger für uns einen Termin zum Vorsingen zu verabreden. Ich sang »So nimm denn meine Hände«, ein im Vergleich zum großen Repertoire des Chores einfaches Lied. Aber Mauersberger hörte geduldig zu, prüfte Stimmlage und Gehör und versprach, sich die Sache zu überlegen. Tatsächlich schrieb er wenige Tage später einen persönlichen Brief an meine Mutter. Er gab zu bedenken, dass die meisten Bewerber für den Chor mindestens seit ihrem achten Lebensjahr eine Gesangsausbildung genießen würden. Für einen schwierigen und kostspieligen Wettlauf mit dieser Konkurrenz seien wir zwei Jahre im Verzug. Damit war dieser Traum ausgeträumt. Aber noch viele Jahre später, wenn wir die großartigen Aufnahmen des Dresdner Kreuzchores mit den mächtigen Chor- und Orchestersätzen von Mauersberger hören, freue ich mich darüber, dass ich diesem väterlich-genialen Dirigenten und Komponisten einmal auf kindlich-unbefangene Weise begegnen durfte.

Ein anderer wichtiger musikalischer Eindruck war es, als ich zum ersten Mal einen Klavierabend besuchen konnte. In unserer Kreisstadt Löbau spielte die berühmte Elly Ney. Sie war damals schon fast 70 Jahre alt und immer noch eine bedeutende Beethoven-Interpretin. Der Abend mit dieser eindrucksvollen Pianistin war für mich ein prägendes und anspornendes Erlebnis. Ich begann, mich selbst mehr mit dem Klavier und insbesondere mit den Beethoven-Sonaten zu befassen. Meine Klavierlehrerin war klug genug, mir das nicht auszureden, sondern mich darin zu fördern. Immer wieder seit dieser Zeit stehe ich in der Spannung zwischen meiner Liebe zum Klavier und der Freude am Singen.

Die erste Opernaufführung, die ich sehen konnte, war Der Freischütz im Stadttheater in Zittau. Hier gefielen mir besonders die frischen Chöre, die sich wohltuend vom Klang unseres Kirchenchores unterschieden. Dagegen hat später eine Aufführung von La Bohème mit der Sächsischen Landesbühne keinen besonders tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Dafür umso mehr aber dann mein erstes Weihnachtsoratorium von Bach. Der noch junge Tenor und spätere Leipziger Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch brillierte als Evangelist und in der Hirtenarie. Das stimulierte mein Interesse am Singen ebenso wie die Aufnahmen mit dem damals schon berühmten Peter Schreier, dessen Knabenstimme regelmäßig im DDR-Rundfunk zu hören war. Ich besorgte mir entsprechende Noten und begann, ohne Anleitung zu üben, indem ich sang und mich selbst am Klavier begleitete.

Im Frühjahr 1956 wurde in Löbau ein Volksmusikwettbewerb angesetzt. Ich nahm daran teil und hatte hier meinen ersten Auftritt als Sänger mit »Mein Mädel hat einen Rosenmund«. Es gab sogar Applaus! Bei mir reifte deshalb die Idee, es mit einem Gesangsstudium zu versuchen. Obwohl ich erst 16 Jahre alt war, meldete ich mich zum Vorsingen in der Dresdner Musikhochschule. Diesmal sang ich Schubertlieder. Hatte mich die gute Akustik in dem kleinen Vortragssaal inspiriert? Jedenfalls meinten die Prüfer, ich solle nächstes Jahr wiederkommen: »Dann werden wir einen tüchtigen Sänger aus Ihnen machen.«

Auf Wunsch meiner Mutter begann ich auch mit Orgelunterricht. Sie hielt den Beruf eines Kirchenmusikers für weitaus erstrebenswerter als den eines Sängers oder Pianisten. Zudem äußerte sie auch behutsam, aber deutlich ihre Meinung, dass bei mir die Begabung für einen Podiumskünstler wohl nicht ausreichen würde. Natürlich hatte sie damit recht und vielleicht hat mich ihre damals zunächst unangenehme Einschätzung später vor größeren Enttäuschungen bewahrt. Mit dem Orgelunterricht bei unserem Dorfkantor war auch ein Basisunterricht in Tonsatz und Harmonielehre verbunden. Beides waren für mich dann auch wichtige Voraussetzungen für den Einstieg ins Musikstudium.

Mütterliche Erziehung

Wie schaffte es eine alleinerziehende Mutter, vier ganz unterschiedlich begabte und lebhafte Kinder zu erziehen? Einige Erinnerungen, die ich daran habe, würde ich so beschreiben: Sie war durch ihr Vorbild eine liebevolle Pädagogin. So war sie uns zum Beispiel ein Vorbild darin, dass ihr die Teilnahme am Gottesdienst ein Bedürfnis war, auch wenn sie oft zwischen den Liedern, die sie voller Hingabe mitsang, bei der Predigt vor Erschöpfung einschlief. Für meine Mutter war es auch selbstverständlich und wichtig, dass wir Kinder alle mindestens ein Musikinstrument erlernten, denn sie meinte, dass »Musik bildet«. Zwar hatte sie wegen ihrer beruflichen Belastung kaum Zeit, um mit uns zu üben. Aber sie ermutigte uns – oft nur im Vorbeigehen: »Schön!« »Spiel das nur recht genau.« Einmal hatte ich den Wunsch, mit dem Klavierunterricht wegen des damit verbundenen Übens wieder aufzuhören. Glücklicherweise hat sie sich nicht darauf eingelassen.

Eines Tages wollten mein jüngerer Bruder Albrecht und ich uns ein Fohlen kaufen. In unserer Fantasie meinten wir, dass wir, wenn wir erst einmal einhundert Pfennige gespart hätten, den Kauf tätigen könnten. Das gewünschte Exemplar hatten wir auch schon bei einem Bauern im Ort angesehen. Nun sammelten wir mit einer Büchse bei Bekannten Pfennige. Eigentlich hätte uns unsere Mutter diese Idee mit dem Hinweis auf alle Folgen, die mit der Haltung und Pflege eines Pferdes verbunden waren, ausreden müssen. Stattdessen ging sie mit uns zu dem betreffenden Bauern, damit wir unser Kaufangebot vortragen konnten. Er meinte, dass wir doch noch etwas mehr sparen müssten. Dann tröstete er uns sehr pädagogisch: Bis wir das Geld beisammen hätten, würde er auf das Tier aufpassen. Nun, irgendwann wurde diese Idee von einer neuen abgelöst. Aber unsere Mutter hatte klugerweise unsere Ziele und Pläne nicht kleingeredet. Wir Kinder haben dabei gelernt, dass Anstrengungen nötig sind, um etwas zu erreichen. Auch wenn es diesmal noch nicht ganz geklappt hat. – Später, während meines Musikstudiums, nahm meine Mutter lebhaften Anteil an meinen Fortschritten oder sie beobachtete auch kritisch zweifelhafte Ideen. So reiste sie zum Beispiel einmal extra nach Stuttgart, um meinem Gesangsunterricht beizuwohnen. Sie wollte sich ihren persönlichen Eindruck von meiner stimmlichen Entwicklung verschaffen.